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Sünde

von

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Veronica

Mit schnellen Schritten eilte ich den kalten Korridor entlang und fragte mich, ob die Zentralheizung mal wieder ausgefallen war oder ob es einen anderen Grund dafür gab, dass es so eisig im Flur war. Trotz meines dicken Pullovers zitterte ich so heftig, dass ich befürchtete, ich könnte den Brief in meiner Hand verknicken.

Wieder warf ich einen Blick auf den blütenreinen Umschlag, den jemand mit blauer Tinte an Greg adressiert hatte. Noch immer fragte ich mich, wie der Brief in Sarahs Besitz geraten war. Nur durch Zufall hatte ich Gregs Namen auf dem Papier entziffert, als Sarah sich nach der Postausgabe mit einem listigen Grinsen davon geschlichen hatte. Schnell hatte ich Greg zugemurmelt, dass ich später bei ihm vorbei gucken würde, und war dem Mädchen gefolgt. Vor ihrem Zimmer hatte ich Sarah dann endlich eingeholt, wo ich ihr nur unter Androhung roher Gewalt den Brief wieder hatte abnehmen können.

Zum wiederholten Mal fragte ich mich, was sie mit Gregs Post gewollt haben könnte. Ihn erpressen? Frei nach dem Motto: Küss mich oder du siehst diesen Brief nie wieder? Eigentlich war das selbst für Sarahs Verhältnisse albern.

Ich betrachtete die kleinen, blauen Buchstaben auf dem Umschlag und fragte mich, wer Greg wohl geschrieben hatte. Da es leider keinen Absender gab, war es schwer, Vermutungen darüber anzustellen. Alles, was ich wusste, war, dass dies ganz sicher die Schrift eines Mädchens war. Mit wild schlagendem Herzen versuchte ich, mir einzureden, dass es bestimmt nur ein Brief von seiner Schwester war und dass es mich auch dann nicht interessierte, wenn es anders sein sollte. Nein, ich war nicht eifersüchtig. Warum auch...?

Inzwischen war ich vor Gregs Tür angekommen, wo ich nur kurz anklopfte und stumm flehte, dass es in seinem Zimmer hoffentlich wärmer sein würde als auf dem Gang. Gregs Aufforderung, ich solle rein kommen, wartete ich kaum ab und drückte stattdessen schnell die Klinke herunter. Die Wärme, die mir aus der Stube entgegen schlug, war wie Balsam und hüllte mich ein wie eine wunderbar flauschige Kuscheldecke. Sofort hob sich meine Laune wieder um ein Vielfaches.

Als ich Greg entdeckte, zog sich mein Herz allerdings gleich wieder ein wenig zusammen. Er lag auf seinem Bett, starrte dumpf an die Decke und auf seiner Unterlippe glitzerte frisches Blut im künstlichen Licht der Deckenleuchte.

Ich näherte mich langsam seinem Bett und er rutschte zur Seite, damit ich mich neben ihn setzen konnte. Trotzdem gab es nicht genügend Platz, damit er einer Berührung unserer Körper ausweichen konnte. Ich fragte mich, ob ihn das wohl sehr störte.

Für einige Minuten musterte ich ihn stumm. Der Schmerz, der sich in seinen Augen spiegelte war ein anderer als der normale wehmütige Glanz, der Greg ansonsten stetig begleitete. Er wirkte realer und akuter, nicht wie eine schattenhafte Erinnerung oder ein unbewusster Teil der Persönlichkeit. Offenbar war irgendetwas passiert, das Greg tief verletzt hatte.

Liebevoll nahm ich seine Hand in meine und fröstelte ein wenig. Gregs lange, feingliedrige Finger waren eiskalt und schlossen sich nur zaghaft um meine. „Was ist passiert?“ Obwohl ich mir große Mühe gab, meine Stimme unbekümmert klingen zu lassen, hörte ich meine Angst und Sorge um Greg heraus. Ich hoffte, dass er so mit sich selbst beschäftigt war, dass er es nicht bemerkte.

Statt mir eine Antwort zu geben, reichte Greg mir stumm eine kleine Karte, die er anscheinend bereits die ganze Zeit über in der Hand gehalten hatte. Sie war mit fröhlichen Farben bemalt und zeigte einen schlittenfahrenden Weihnachtsmann mit einem großen Sack voller Geschenke. Mit einem tiefen Stich im Herzen fiel mir wieder ein, dass bald Weihnachten war – zum dritten Mal seit dem Tod meiner Eltern.

Um mich von meinem eigenen Schmerz abzulenken, klappte ich schnell die Karte auf und las den kurzen Text, den jemand mit klaren, schwungvollen Buchstaben auf die weiße Pappe geschrieben hatte: „Wir wünschen dir alles Gute zum Geburtstag und wunderbare Weihnachten. Komm bald nach Hause, wir vermissen dich. Dein dich liebender Vater und Mel.“ Mit Erleichterung stellte ich fest, dass der Name der Schwester in der gleichen Handschrift geschrieben war wie die Adresse auf dem Umschlag, den ich bei mir trug.

Doch ich konnte nichts erkennen, das den Schmerz in Gregs Augen gerechtfertigt hätte. Ich sah ihn irritiert an. „Aber das ist doch schön. Wo ist dein Problem? Hast du Heimweh?“ Plötzlicher Zorn flackerte über sein Gesicht und ich zuckte kaum merklich zusammen. Was war denn jetzt los? Mit grimmiger Stimme knurrte Greg mich an: „Hast du’s wirklich nicht bemerkt? Dann lies es noch mal.“

Verwirrt überflog ich den kurzen Text noch einmal. Hatte ich etwas übersehen oder falsch gelesen? Nein, auch beim zweiten Lesen stand noch genau dasselbe auf der kleinen Karte. Langsam breitete sich Wut in mir aus. Wo zur Hölle lag Gregors Problem? War ihm der Text zu knapp, die Wortwahl zu lieblos? Eigentlich sollte er froh sein, dass er überhaupt noch eine Familie hatte, die ihm zu solchen Anlässen schrieb... schreiben konnte. Nicht alle von uns hatten dieses Glück.

Ich hob meinen Blick und sah ihn aus funkelnden Augen an. Es war nicht fair, dass er diese Divenshow abzog, während ich versuchte, trotz dem Verlust meiner Eltern für ihn da zu sein und gute Laune zu haben. Doch gerade als ich etwas Bissiges sagen wollte wie „Nein, ich finde nichts sonderbares – abgesehen davon, dass ich bis jetzt noch nicht einmal gewusst habe, dass du bald Geburtstag hast...“, holte Greg seufzend Luft. Der leere, verletzte Ausdruck in seinen Augen ätzte sich wie Säure in mein Herz, bevor er mit belegter Stimme sagte: „Ich habe auch noch – also theoretisch zumindest – eine Mutter...“

Einen winzigen Moment starrte ich ihn verständnislos an, doch dann ging mir endlich ein Licht auf. Schnell warf ich einen Blick auf die kleine Karte, um meinen Verdacht zu bestätigen. Ich hatte das Gefühl, es würden sich scharfkantige Eiskristalle in meinem Magen und Herzen bilden, als ich die Unterschriften las – die seiner Mutter war nicht darunter. Alles, was ich heraus bekam, war ein atem- und tonloses „Oh.“.

Unwillkürlich fragte ich mich, was wohl schlimmer war: Die eigene Mutter an den Tod zu verlieren oder zu wissen, dass sie noch lebte, aber trotzdem nichts mit einem zu tun haben wollte. Nach langem Ringen entschied ich mich für Letzteres und bekam sofort ein schlechtes Gewissen, weil ich wegen seines leidenden Gesichtsausdrucks wütend auf Greg gewesen war.

Gedankenverloren drehte ich seine Hand in meiner und betrachtete sie. Greg hatte schmale, schlanke Hände mit langen, fast filigranen Fingern, mit denen er sicherlich gut Klavier hätte spielen können. Irgendwie ließ ihn das sensibler und verletzlicher erscheinen, als es die grobschlächtigen Hände eines Metzgers getan hätten. Einfach alles an ihm wirkte irgendwie zart und kostbar. Es war merkwürdig, dass er trotzdem nicht unmännlich aussah.

Während ich seine Hände begutachtete, fiel mir wieder ein, dass ich ihn während unserer ersten gemeinsamen Mathestunde mit einem der Fabergé-Eier meiner Mutter verglichen hatte. Heute war mir klar, dass ich mit diesem Vergleich weit daneben gelegen hatte. Denn obwohl Greg so schrecklich zerbrechlich wirkte, war er es nicht. Er war mutig und stark und hatte vor allem einen unbeugsamen Willen. Selbst der sicherlich schier endlose Schmerz, den seine Mutter ihm mit ihrer ignoranten Haltung zufügte, schien ihn zwar tieftraurig zu machen, aber nicht zu brechen.

„Du, Greg? Wieso hast du eigentlich auf diese Schule gewechselt?“ Die Worte kamen einfach so heraus, ohne dass ich groß darüber nachgedacht hatte. Erst als ich meine eigene Stimme hörte, wurde mir klar, warum ich diese Frage stellte: Tief in mir regte sich der Verdacht, dass Greg womöglich vor seiner eigenen Mutter geflohen war. Dann hätte ich seinen Selbsthass gut verstehen können. Wer fühlte sich nicht unzulänglich, wenn die eigene Mutter einen verstieß?

Ein bunter Blumenstrauß an unterschiedlichen Emotionen huschte über Gregs Gesicht: Überraschung, Schrecken, Panik, Zweifel. War ich mit dieser Frage zu weit gegangen? Gerne hätte ich sie zurückgenommen, auch wenn mir die Neugier unter den Nägeln brannte. Schnell formulierte ich um: „Du musst nicht drüber reden, wenn du nicht willst. Aber gehe ich recht in der Annahme, wenn ich davon ausgehe, dass es mit deiner Mutter zu tun hatte?“

Ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass Greg gar nicht reagieren oder nur durch eine Bewegung seines Kopfes antworten würde. Zu meiner Überraschung sagte er jedoch mit leiser, beinah flüsternder Stimme: „Nein. Meine Mutter hat nur etwas über mich erfahren, das sie mir nicht verzeihen kann. Seitdem geht sie mir wann immer möglich aus dem Weg. Wahrscheinlich versucht sie, sich einzureden, dass sie gar keinen Sohn hat.“ Bei diesen Worten breitete sich solch eine Qual auf seinen feinen Zügen aus, dass ich am liebsten meine Stirn gegen die nächste Mauer geschlagen hätte, weil ich das Thema einfach nicht auf sich hatte beruhen lassen können.

Wütend über mich selbst ballte ich meine Hände zu Fäusten, sodass sich mir meine Fingernägel tief in die Handinnenflächen bohrten. War das der Grund, warum Greg sich ständig die Lippe aufbiss? Wollte er sich ebenfalls durch das Zufügen von Schmerz für etwas bestrafen?

Plötzlich war ich nicht länger auf mich sauer, sondern auf ihn. Wie konnte er nur so dumm sein?! Er war so ein wundervoller Mensch... Ganz egal, was seine Mutter über ihn herausgefunden hatte, es rechtfertigte ganz sicher nicht, dass sie ihn durch ihr Verhalten dazu brachte, sich selbst zu hassen und zu verletzen.

Ein weiteres Mal schlug meine Wut um und fokussierte sich nun auf Gregs Mutter. Sie war an allem schuld. Sie verschmähte ihren wunderbaren, einzigartigen Sohn und beschwor so erst diese Situation herauf, in der ich Greg so wehtun konnte. „Was kann denn bitte so schlimm sein, dass eine Mutter ihr Kind verstößt?“ Ich war so sauer, dass meine Stimme vor Gift nur so sprühte. Vermutlich war meine Aura in diesem Moment von einem grellen, leuchtenden Hellgrün.

Egal wie sehr ich auch überlegte, mir fiel höchstens ein Grund ein, weswegen seine Mutter wütend auf Greg gewesen sein könnte – und der war auch noch vollkommen lächerlich. Doch ich kochte so sehr, dass ich ihn einfach aussprach, ohne darüber nachzudenken. Überrascht riss Greg die Augen auf und ich bemerkte zum ersten Mal die kleinen, goldenen Tupfen in dem intensiven Katzengrün.

„Wie bitte? Wie kommst du auf die Idee, ich hätte gekifft?“ Seine Stimme vibrierte leicht, so als fühlte er sich ertappt oder müsste ein Lachen unterdrücken. Irgendwie ließ mich das schmunzeln. Hatte er wirklich geglaubt, dass niemand diesen Gestank bemerken würde? Da konnte er noch so sehr beteuern, dass er noch nie an einem Joint gezogen hatte – das nahm ich ihm nicht ab. Mit einem milden Lächeln sagte ich: „Gregor, du hast an deinem ersten Tag gestunken wie ein 68er Althippie...“ Das hatte ich damals am See sogar trotz der Entfernung zwischen uns gerochen.

Greg, der sich inzwischen aufgesetzt hatte, fuchtelte abwehrend mit den Armen und erklärte mir, er hätte sich für ein paar Tage bei einem Hardcore-Kiffer verkrochen, nachdem es zum großen Krach mit seiner Mutter gekommen war. Obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, dass man allein durchs Passivrauchen dermaßen nach Gras stinken konnte, entschloss ich mich, ihm zumindest für den Moment Glauben zu schenken. „Ich wusste ja gar nicht, dass du so ein Klosterschüler bist.“

Ich lächelte ihn herzlich an, um ihm zu zeigen, dass ich ihn nicht auf den Arm nehmen wollte, doch sofort verdüsterte sich sein Gesicht und ich fragte mich, was ich nun schon wieder falsch gemacht hatte. Manchmal war es wirklich anstrengend, mit Greg befreundet zu sein. Er konnte einfach so schrecklich empfindlich sein...

„Weshalb hast du dich denn so mit deiner Mutter überworfen?“ Wenn er jetzt wegen dieses Scherzes eh schon sauer auf mich war, konnte ich auch das Risiko eingehen und mich noch unbeliebter machen, indem ich weiter nachbohrte. Zu meiner Überraschung blaffte Greg mich jedoch nicht an, sondern schien ernsthaft darüber nachzudenken, ob er mir eine Antwort geben wollte.

Offenbar fiel es ihm sehr schwer, über den Grund für den Streit zu sprechen. Ich fragte mich, ob er sich womöglich schämte und nun mit sich rang, ob er sich mir gegenüber diese Blöße geben sollte. Von plötzlicher Angst erfasst, er könnte sich von mir zu etwas genötigt fühlen, dass er gar nicht wollte, blockte ich eine Antwort ab, bevor er auch nur den Mund aufgemacht hatte: „Vergiss es. Das sind Familieninterna und gehen mich nichts an. Außerdem bin ich eigentlich gekommen, um dir das hier zu geben. Ist heute Morgen bei der Postverteilung irgendwie zwischen die Briefe einer Bekannten gerutscht.“
 

Als er die Handschrift seiner Schwester erkannte, ging ein Leuchten über sein Gesicht, das mich lächeln ließ. Er wirkte plötzlich einfach so glücklich, dass man sich für ihn mitfreuen musste. Auch wenn er selten über seine Schwester sprach, wurde mir angesichts dieses Strahlens sofort klar, dass er sie von ganzem Herzen liebte.

Höflichkeitshalber wollte ich ihn mit seinem Brief allein lassen, damit er in aller Ruhe lesen konnte, was Melanie ihm geschrieben hatte, doch er legte mir eine Hand auf den Unterarm und bat mich stumm, zu bleiben. Also ließ ich mich wieder auf die weiche, weiß bezogene Matratze sinken und betrachtete Gregs Mienenspiel, während er las.

Seine Augen, die freudig funkelten und glänzten, sprangen hin und her, während er Zeile um Zeile las und ab und zu zuckten seine Mundwinkel, so als ob er sich über irgendetwas schrecklich amüsierte.

Aus der Nähe betrachtet war Gregs Äußeres gar nicht so perfekt, wie es aus der Ferne gewirkt hatte. Seine Haare waren eine eigensinnige, unzähmbare Masse goldener Wolle, die sich anscheinend einfach nicht entscheiden konnte, ob sie nun glatt oder lockig sein wollte. Sein linkes Augenlid hing ein so winziges Stückchen zu weit herab, dass man es nur dann bemerkte, wenn man ganz, ganz genau hinsah, einem seiner Schneidezähne fehlte ein kleines Stückchen und er hatte einige Narben, die Geschichten von früheren Unfällen und Raufereien erzählten.

Doch obwohl diese kleinen Fehler die Illusion seiner Perfektion zerstörten, konnte ich mich nicht dazu durchringen, sie als störend zu empfinden – im Gegenteil. Es war genau wie bei einer Skulptur, die eigentlich auch erst durch die Stellen, an denen der Marmor fehlerhaft gewesen oder der Steinhauer abgerutscht war, wirklich interessant wurde.

Zudem war es ja auch nicht so, dass Greg neben seinem Äußeren nichts zu bieten hatte. Er war ein unglaublich intelligenter und witziger junger Mann und ab und zu konnte man einen kleinen Blick darauf erhaschen, was für ein gut gelaunter, lebensfroher Mensch er gewesen sein musste, bevor er angefangen hatte, sich selbst zu hassen. Je länger ich ihn kannte, desto mehr trat sein hübsches Gesicht in den Hintergrund.
 

Plötzlich begannen Gregs Hände so heftig zu zittern, dass das Briefpapier knisternde Geräusche in der Luft machte. Besorgt musterte ich sein Gesicht, das aschfahl geworden war. Seine hellgrünen Augen waren riesig und leuchteten wie LED-Lämpchen zwischen der kalkweißen Fläche von Stirn, Nase und Wangen. Mit wachsender Sorge bemerkte ich die ersten Tränen, die sich hinter seinem unteren Lid sammelten und bereit waren, aus den Winkeln herab zu rollen.

Ängstlich versuchte ich, einen Blick auf den Brief zu werfen, doch ich konnte kein einziges Wort auf dem tanzenden Papierbogen entziffern. Was mochte Gregs Schwester ihm nur geschrieben haben, das ihn so aus der Fassung brachte?

Mit scheinbar plötzlich aufwallender Wut knüllte Greg den Brief zusammen und begann das Papier in unendlich kleine Fitzelchen zu zerreißen, die wie Kunstschnee auf die dunklen Beine seiner Jeans rieselten. Dann endlich brachen die Tränen, die er so krampfhaft zurückzuhalten versucht hatte, hervor und ihm drückte sich ein so schmerzerfüllter Schluchzer die Kehle herauf, dass es mir das Herz zerriss.

Ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass es Greg vielleicht unangenehm sein könnte, dass er vor mir – vor einem Mädchen – weinte wie ein Kind, rückte ich näher an ihn heran und zog ihn in meine Arme, um ihn daran zu erinnern, dass er nicht alleine war. Zu meiner Überraschung klammerte er sich mit voller Kraft an mich und drückte mir die Luft aus den Lungen. Doch anstatt ihn wieder ein wenig von mir weg zu schieben und durchzuatmen, presste ich ihn noch fester an mich, so als könnte ich ihm dadurch einen Teil seiner Seelenqual abnehmen.

Mit einem Anflug eines schlechten Gewissens stellte ich fest, dass es sich trotz der traurigen Situation unglaublich gut anfühlte, ihn im Arm zu halten. Beruhigend wiegte ich uns hin und her und strich ihm sanft über seine straffen, gewölbten Rückenmuskeln, während ich es genoss seinen Duft in der Nase zu haben – eine Mischung aus lockerer, warmer Erde und frisch gemähtem Gras. Mit einem überraschten Lächeln stellte ich fest, dass er nach Sommer roch. Irgendwie passte das zum seinem seltsam goldenen Haar, fand ich.

Ganz, ganz langsam ebbten die Schluchzer ab und Greg begann, wieder ruhiger und gleichmäßiger zu atmen. Obwohl ich mir nicht sicher war, ob es ihm immer noch recht war, hielt ich ihn weiter im Arm. Seine Nähe fühlte sich einfach zu gut an, als dass ich sie freiwillig aufgegeben hätte. Ein prickelnder Schauer lief mir das komplette Rückgrad entlang, als mir bewusst wurde, dass er keine Anstalten machte, sich aus meiner Umarmung zu befreien. Er hatte seine Stirn auf meine Schulter gelegt und sein Atem drang heiß durch die engen Maschen meines gestrickten Pullovers.

Als er schließlich doch den Kopf bewegte, machte sich eisige Enttäuschung in mir breit. Sofort ärgerte ich mich über dieses Gefühl. Es war doch ganz normal, dass wir uns irgendwann los lassen mussten. Wir konnten uns nicht ewig im Arm halten, auch wenn ich mir das vielleicht gewünscht hätte.

Doch anstatt sich von mir zu entfernen, sah er mich mit einem seltsamen Ausdruck in seinen geröteten Augen an und beugte sich zu mir herab. Ich fragte mich, ob er womöglich irgendeinen seltsam aussehenden Leberfleck oder so in meinem Gesicht entdeckt hatte, den er sich genauer ansehen wollte. Bevor ich jedoch fragen konnte, was er vorhatte, legte Greg plötzlich seine Lippen auf meine.

Augenblicklich begann die Welt um mich herum, sich wild zu drehen und zu verschwimmen, während eine heiß prickelnde Welle durch meinen Körper pulsierte. Ich hatte auf einmal das Gefühl, meine Knochen würden ganz weich und gummiartig und ich spürte das heftige Verlangen, Greg noch näher an mich zu ziehen, ihn so lange und fest an mich zu pressen, bis wir miteinander verschmolzen.

Doch nach der ersten Schrecksekunde meldete sich eine kleine Stimme in meinem Hinterkopf, die mich daran erinnerte, dass das hier nicht real sein konnte. „Noch vor weniger als einer Minute hat er sich die Augen aus dem Kopf geweint. Er sucht nur Wärme und Geborgenheit. Er liebt dich nicht.“, wisperte es hinter meiner Stirn.

Seufzend und mit einem sonderbar körperlichen Schmerz, so als würde ich mir ins eigene Fleisch schneiden, schob ich Greg von mir weg. So sehr ich seinen Kuss auch schon immer – wenn ich ehrlich zu mir war, hatte ich das vom ersten Tag an gewusst – begehrt haben mochte, ich wollte nicht, dass es einfach so passierte. Ich wollte, dass er mich küsste, weil er mich liebte und aus keinem anderen Grund!

Kaum dass sich unsere Lippen voneinander gelöst hatten, verloren Gregs Wangen, die sich während des Kusses ein wenig gerötet hatten, wieder alle Farbe und er starrte schuldbewusst auf seine Hände, so als wäre ihm gerade erst bewusst geworden, was er getan hatte. Stumm wartete ich darauf, dass sich mein rasender Herzschlag wieder beruhigte oder Greg etwas sagte.

Da scheinbar keines von Beidem eintreten wollte, saßen wir uns minutenlang schweigend gegenüber. Gerade als ich mich fragte, ob ich irgendetwas sagen sollte, hob Greg langsam den Kopf und sah mich zerknirscht an. „Es... es tut mir leid... es war nur...“, stammelte er und sah dabei so unglücklich aus, dass ich beinah ein schlechtes Gewissen bekam, weil ich seinen Kuss nicht erwidert hatte. Aber es wäre einfach nicht richtig gewesen...

Obwohl ich mich selbst so verwundbar und aufgewühlt fühlte, als hätte jemand mein Innerstes nach außen gestülpt, und mich am liebsten sofort in meinem Bett verkrochen hätte, um mich wieder zu beruhigen, war es mir viel wichtiger, zuerst Gregs offensichtliche Pein zu lindern.

Lächelnd legte ich ihm meine Hand an die Wange und streichelte über die glatte, noch immer leicht feuchte Haut. „Ist schon okay. Du bist gerade verwirrt und aufgewühlt und sehnst dich nach Nähe und Zusammenhalt. Ich versteh das. Der Kuss hatte nichts zu bedeuten.“ Am liebsten hätte ich bei diesen Worten geheult oder laut geschrieen. Denn auch wenn ich wusste, dass es in diesem Moment das Richtige war, Greg zu zeigen, dass ich Verständnis für ihn hatte, war es schlicht und ergreifend gelogen, dass dieser Kuss nichts zu bedeuten hatte. Mir bedeutete er sehr viel und ich hatte das Gefühl, dass er irgendwo in meinem Inneren eine Ader geöffnet hatte und ich nun langsam und schmerzhaft verblutete.

„Wir... wir sind immer noch Freunde?“ Greg sah mich aus großen, leuchtenden Augen an. Vor lauter Hoffnung und Freude schimmerte seine Iris noch ein klein wenig heller als sonst. Ich schluckte und versuchte, einen lockeren Ton anzuschlagen, obwohl sich mein Herz bei der Erkenntnis, dass er anscheinend nur an einer Freundschaft interessiert war und nicht einmal versuchte, um einen weiteren Kuss zu kämpfen, krampfhaft zusammen zog.

Mit einem gekünstelten Lachen verstrubbelte ich ihm seine seidigweichen Haare. „Natürlich, Dummerchen.“ Dann schwang ich mich so schnell wie möglich, ohne dass es wie die Flucht wirkte die es war, aus dem Bett und küsste Greg kurz und unschuldig auf die Stirn. Das hatte ich früher schon getan, aber auf einmal war es merkwürdig schwer, dabei nicht auf seine weichen, vom Blut salzig und Kupfern schmeckenden Lippen zu starren. „Aber ich muss jetzt trotzdem los. Wir sehen uns später, Greg.“

Nur mit Mühe konnte ich mich davon abhalten, im Laufschritt aus dem Raum zu rennen. Doch kaum war die Tür hinter mir ins Schloss gefallen, stürzte ich geradezu panisch den Gang hinab. Ich war froh, dass die dicken Teppiche das Geräusch meiner Schritte schluckte.

In meinem Zimmer angekommen, warf ich mich sofort aufs Bett und begann heftig schluchzend zu weinen. Obwohl ich bekommen hatte, was ich mir von ganzem Herzen gewünscht hatte seit ich Greg kannte, fühlte ich mich todunglücklich. Es hatte sich einfach so unglaublich falsch angefühlt, weil Greg so neben sich gestanden hatte.

Warum nur hatte er mich ausgerechnet in diesem Moment küssen müssen? Jetzt konnte ich nicht einmal mehr davon träumen, ohne dass es einen fahlen Beigeschmack hatte. Wieso hatte er das kaputt machen müssen?!



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