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Die Wander-Geisha

von

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Buddha

Zwei Tage später waren sie wieder auf Reisen und auf der schier endlosen Handelsstraße zum nächsten größeren Dorf. Je südlicher sie kamen, desto weiter lagen die Siedlungen auseinander. Sie würden zu Fuß und mit dem Holzkarren wieder Tage brauchen. Es war das reinste Wettrennen mit dem Winter. Tagsüber gelangten sie immer ein bisschen weiter in die Tiefebene, wo noch kein Schnee lag, und nachts holte sie der Schnee dann wieder ein. Wohl darum trieb Ryuka die Truppe unbarmherzig immer weiter, teils mit weniger Rasten als sie eigentlich nötig gehabt hätten. Er wollte nicht endgültig vom Schnee überrascht werden und in der Einöde verloren gehen, weil sie den Weg dann nicht mehr fanden, von den unwirtlichen Temperaturen ganz zu schweigen. Sie würden einfach erfrieren, wenn sie nachts noch sehr lange in Zelten schliefen. Mit Pferden war man natürlich schneller, aber sie hatten keine.

Ryuka ließ sich ein wenig zurückfallen, bis Zaku zu ihm aufgeschlossen hatte. Es war ungewöhnlich, daß sie so hinterher hing. Sonst war sie immer die, die energiegeladen vornweg marschierte. „Na, noch alles okay bei dir?“

„Hm“, machte sie nur gleichgültig.

„Brauchst du eine Pause?“

„Nein. Ich bin eine Gottheit, ich bin zäh. Frag lieber O-Shikara. Der arme Kerl plagt sich schon wieder viel zu lange mit dem Karren ab.“

Der junge Chef nickte verstehend und musterte noch einen Moment ihr ausdrucksloses Gesicht von der Seite. „Woran denkst du?“

„An die Kerle, die meinen Tempel zerstört haben.“

„Ärgerst du dich immer noch, daß du ihn nicht selber kalt machen konntest?“

Zaku schnalzte unwillig mit der Zunge. „Ist doch mein gutes Recht, oder nicht?“

„Er hat seine gerechte Strafe doch erhalten. Er ist tot. Was verlangst du denn noch?“

„Hätte ich ihn lebend gefangen, hätte ich ihn zumindest noch fragen können, wo die anderen beiden stecken. So tappen wir komplett im Dunkeln. Japan ist größer als es aussieht.“

Ryuka legte den Kopf leicht schief. „Nun gut, das ist ein Argument. Aber sieh es mal so: das nächste Dorf werden wir gerade noch so mit Ach und Krach erreichen. Und dort müssen wir sowieso Winterquartier beziehen, weil der Wintereinbruch es uns unmöglich macht, weiter zu reisen. Stell dir mal vor, du wüsstest, wo die beiden sind. Du könntest doch den ganzen Winter nicht still sitzen und würdest ständig nur darüber brüten, wie du trotz des Schnees dort hinkommen könntest.“

Zaku grinste ihn hämisch an. „Du überschätzt meinen Rachedurst. Ich bin durchaus in der Lage, zu warten. Ich will mir nur das Recht nicht nehmen lassen, meine Rache selber zu üben. Mir soll da keiner zuvor kommen.“

„Mit Verlaub, Zaku, so sehr ich deinen Groll auch verstehen kann, aber du solltest jetzt zu Hause bei deinem Tempel sein, überwachen, daß er wieder aufgebaut wird, und eine neue Priesterin suchen. Du solltest keine Verbrecher jagen, so weit weg von der Heimat. Der Landstrich, über den du wachen solltest, wird veröden, wenn er zu lange von seiner Schutzgottheit verlassen ist.“

„Zur Kenntnis genommen“, erwiderte sie nur kühl. Sie hatte schon seit Shirakawa-Go gemerkt, daß Ryuka keine rechte Lust mehr auf die Jagd nach den Dieben und Mördern hatte. 'Was willst du denn als Göttin der Kunst gegen sie ausrichten?', hatte er sie kürzlich gefragt. 'Willst du sie mit deiner Musik zu Tode foltern? Oder böse Bilder von ihnen zeichnen?' Das hatte Zaku ziemlich gekränkt. Anfangs hatte er sie in ihrem Plan noch voller Überzeugung unterstützt. Er hatte ja auch allen Grund dazu gehabt, immerhin hatte auch er alles verloren. Seine Theater-Leute waren versprengt, nicht wenige auch getötet worden. Aber inzwischen war sein Hass verflogen und er wandte sich zunehmend wieder irdischeren, dringlicheren Problemen zu, wie beispielsweise den Winter zu überleben. Vielleicht hatte auch der Anblick der ersten Leiche ihn wieder etwas in die Realität zurückgeworfen und ihm bewusst gemacht, daß er eigentlich nicht persönlich für den Tod anderer Menschen verantwortlich sein wollte, ganz egal was sie getan hatten.

Ryuka rollte nur mit den Augen und ging dann wieder voraus, um sie in Ruhe zu lassen. Brachte offenbar nichts, mit ihr zu diskutieren. Um O-Shikara ein wenig zu entlasten, stemmte er sich von hinten gegen den Holzkarren und half schieben.

Yoji spazierte neben dem Karren her und jonglierte beim Laufen mit zwei leeren Keramikschüsselchen. Ryuka hatte ihm erklärt, worauf es beim Jonglieren ankam. Gerade Haltung, die Hände unterhalb des Sichtfeldes halten und geradeaus schauen. Man jonglierte ohne hinzuschauen. Und natürlich Rhythmus. Das Jonglieren im Laufen war zwar nicht gerade einfacher, gab aber durch den Schritt-Gleichtakt schon einen verlässlichen, gleichmäßigen Rhythmus vor, an den man sich halten konnte. Die erste Stufe war das Jonglieren mit einem Gegenstand. Man warf das Ding immer von einer Hand in die andere und achtete darauf, gerade zu stehen, nicht hinzuschauen und die Flugbahn halbwegs unter Kontrolle zu haben. Dann versuchte man einen Wurfkreis mit zwei Objekten. Während der geworfene erste Gegenstand von der rechten in die linke Hand flog und sich noch in der Luft befand, übergab die linke Hand den zweiten Gegenstand an die rechte Hand, bevor sie den geworfenen auffangen konnte. Wenn das klappte, versuchte man sich am ersten richtigen Jonglieren mit zwei Gegenständen. Die rechte Hand warf das erste Objekt in die Luft, und wenn es den höchsten Punkt seiner Flugbahn erreichte, warf die linke Hand ihre Sache und fing sogleich das erste, gerade ankommende Ding auf. Daran versuchte sich Yoji im Moment. Damit die Gerätschaften nicht in der Luft zusammenprallten, musste eine Hand näher am Körper und eine weiter vom Körper entfernt werfen und entsprechend entgegengesetzt fangen. Und das erforderte schon ein wenig Geschick und Koordination. „Ich glaub, ich hab den Dreh langsam raus. Wenn ich noch ein bisschen übe, kann ich mich sicher bald an drei Schüsseln versuchen.“

„Leg die Dinger weg und hilf mir schieben!“, trug Ryuka ihm unbeeindruckt auf.

„Hoppla“, machte der Junge, als ihm eine der Schalen in hohem Bogen auf den Karren segelte und zwischen der Bagage verschwand. „Warte, ich hol nur schnell das Schälchen zurück ...“, meinte er und zog sich mit Schwung auf den Karren hinauf.

O-Shikara brummte unwillig, als das Holzgefährt gleich um einiges schwerer wurde, und stoppte genervt, um zu sehen, was los war. „Yoji, komm da runter, du wirst die ganze Ladung ver...“

Weiter kam er nicht, da lösten sich bereits einige Kisten und Holzteile, segelten rumpelnd hinten vom Karren herunter und gingen über Ryuka nieder wie eine Lawine.

„Idiot! Hast du die Bagage denn nicht richtig festgezurrt, als du den Wagen heute früh beladen hast?“, herrschte Zaku den Jungen an und eilte hektisch herbei.

Auch O-Shikara kam erschrocken um den Karren herumgespurtet und begann sofort, die schweren Kisten weg zu wuchten und Ryuka wieder auszugraben.

Ryuka lag auf dem Rücken und rang hustend und blutspuckend um Atem. Sein Brustkorb war seltsam deformiert. Man sah ihm auf den ersten Blick an, daß er schwer verletzt war. Das Gewicht der Ladung hatte ihm mehrere Rippen zerschmettert und ihm die spitzen Enden wahrscheinlich in die Lungen getrieben. Er versuchte, etwas zu sagen, bekam aber nur ein gurgelndes Keuchen heraus und spuckte noch mehr Blut.

O-Shikara wurde kreidebleich und fluchte leise. Da er nicht wusste, was er tun sollte, stand er wie erstarrt in der Gegend herum, die letzte schwere Kiste noch in den Händen. Hilflos, überfordert und in dem noch nicht ganz manifestierten Wissen, daß Ryuka das nicht überleben würde. Nicht überleben KONNTE.

Zaku kniete sich neben den jungen Chef, schob ihm eine Hand ins Genick, um ihn ein wenig aufzurichten, und legte ihm die andere Hand beruhigend auf den Bauch. „Ganz ruhig ... das wird wieder ...“, versuchte sie ihm einzureden.

Ryuka würgte wieder. Es klang ein wenig qualvoll. Langsam wich wohl der Schock und die Schmerzen, die mit solchen inneren Verletzungen einher gingen, bahnten sich einen Weg in sein Bewusstsein.

„O-Shikara, ich brauch Wasser! Geh zu dem Bach da unten!“, trug Zaku ihm auf.

Der Riese nickte abgehackt, unfähig zu denken und daher einfach nur blind gehorchend, stellte seine Kiste weg und griff nach einer Schüssel, um damit loszurennen.

„Wir haben doch Trinkwasser in Krügen hier“, bemerkte Yoji verwirrt.

„Du geh in den Wald da drüben und hol mir Tannenrinde! Beeil dich!“

„Wozu brauchst du Tannenrinde?“, wollte Yoji uneinsichtig wissen.

„GEH!“, schrie Zaku ihn an.

Der Junge sprang vom Karren herunter und sah zu, daß er weg kam. Die Tatsachen, daß er an allem Schuld war, daß Ryukas Röcheln deutlich gefährlicher wurde und daß Zaku zu wissen schien, was sie tat, hielten ihn davon ab, weitere Fragen zu stellen.

Zaku sah sich rückversichernd um. Alle weg, sie war mit Ryuka alleine. Gut. Natürlich brauchte sie weder Bachwasser noch Baumrinde. Wozu auch, bei derart ausweglosen Verletzungen? Sie hatte die beiden Kerle lediglich schnell loswerden müssen. Sie wandte sich beruhigend wieder dem jungen Tengu-Darsteller zu. „Ryuka, du hast mich mal gefragt, was uns Götter von euch Menschen unterscheidet. Jetzt ist es an der Zeit, die Antwort zu erfahren ...“, säuselte sie und fuhr mit der Hand über seinen Oberkörper. Ein diffuses Licht strahlte aus seinem Brustkorb heraus, welcher sich knirschend wieder aufrichtete. Die gebrochenen Rippen fügten sich mit teils ekelhaften Geräuschen wieder zusammen, und sicher ging das auch nicht gänzlich schmerzfrei vor sich. Aber die mehrfach durchstoßene Lunge verheilte ebenso gespenstig wieder wie die anderen inneren Verletzungen.

Ryuka bäumte sich mit einem halben Aufschrei hoch und zog laut Luft ein, wie ein Erstickender.

Zaku lächelte leicht. „Wieder unter den Lebenden?“

Der junge Mann starrte sie entgeistert an, während er immer noch mit seinem Atem und seinem rasenden Herzschlag haderte. Seine Hand zuckte fahrig zu seiner Brust, als wolle sie tasten, ob die noch da war. „Was ...!?“

„Dir ist nichts geschehen, verstehst du mich?“, machte die Gottheit ihm in fast drohendem Ton klar. „Ein Wort zu O-Shikara und Yoji, und du hast keine Gelegenheit mehr, dich über deine neu erlangte Gesundheit zu freuen. Wenn die zwei zurückkommen, wirst du sagen, du hättest nur unter Schock gestanden und dir die Lippe aufgeschlagen, daher das gespuckte Blut.“

Ryuka nickte eingeschüchtert, auch wenn er noch nicht ganz verstand, was hier vor sich gegangen war und was sie da gerade sagte. Viel Zeit zum Sammeln seiner Gedanken hatte er auch nicht mehr, denn da tauchte O-Shikara panisch mit der geforderten Schüssel voll Wasser aus dem Bach neben ihm auf.

Zaku hingegen ließ sich erleichtert rücklings zu Boden sinken und atmete ebenfalls erstmal in Ruhe durch. Trotz allem steckte auch ihr ein gehöriger Schreck in allen Gliedern.
 

An diesem Abend saßen sie wie immer am Lagerfeuer, doch war die Runde schweigsamer als sonst. Überhaupt hatten sie seit dem Unfall kaum noch gesprochen. Ryuka schob sich mit Ess-Stäbchen seinen letzten Reis zwischen die Zähne und ließ sich zufrieden von der Hitze der Flammen wärmen. Zaku war schon fertig, saß auf dem blanken Boden und lehnte mit dem Rücken an dem schlafenden Pandabären. Sie starrte gedankenversunken in das tanzende Feuer. Yoji hatte sich bereits ins Zelt verkrümelt. Er wollte den anderen aus dem Weg gehen, um ihren Ärger nicht abzukriegen. Immerhin war er an dem ganzen Schlamassel Schuld.

Ryuka schaute eher zufällig in die Runde und begegnete dem überaus düsteren Blick O-Shikaras, der auf ihm ruhte. Sofort wurde er ängstlich etwas kleiner. „Mir geht es gut!“, versicherte er, da er diesen Blick durchaus deuten konnte.

„Ja. Etwas ZU gut! Du hast nichtmal einen blauen Fleck!“

„Ich hatte eben Glück.“

O-Shikara zog nur vielsagend eine Augenbraue hoch. Er strich sich immerzu mit einer Hand den Bart glatt. Das tat er gern, wenn er aufgewühlt war. Das gab ihm ein Ventil für seinen Tatendrang, den er auf nichts richten konnte.

„Ach, jetzt lass ihn doch in Ruhe!“, maulte Zaku dazwischen. „Er hat für heute genug durchgemacht.“

„Verrate du mir lieber mal, was du mit Wasser und Baumrinde wolltest!“, stürzte sich der Muskelprotz daraufhin auf sie. „Bei solchen Verletzungen, wie wir sie zuerst angenommen haben, helfen Wasser und Tannenrinde beileibe nicht!“

„Doch, durchaus.“

„Na, im Rahmen der üblichen Medizin jedenfalls nicht. Kannst du vielleicht zaubern? Bist du eine Hexe?“

Zaku rollte mit den Augen. „Ich bin mit Tempelritualen aufgewachsen. Tannenrinde ist eine der harzreichsten Baumrinden, die es gibt. Da kann man notdürftig Weihrauch draus machen. Ich hatte vor, eine Beschwörung für Ryuka abzuhalten“, sog sie sich, ohne mit der Wimper zu zucken, eine plausible Erklärung aus den Fingern.

„Weihrauch, ja? Und wieso dann bitte Wasser, und kein Feuer?“

„Für den Dampf-Aufguss! Feuer wäre meine nächste Anweisung gewesen!“, gab Zaku schnippisch zurück.

„Aufguss? Für Weihrauch? Hab ich ja noch nie gehört“, behauptete O-Shikara.

„Oh ja, du bist bestimmt auch so kompetent in Tempelangelegenheiten, daß du das beurteilen könntest.“

„Jetzt werd nicht gleich frech, Mädchen!“

„Nein! Ich versteh bloß nicht, warum sich keiner einfach mal drüber freuen kann, daß es Ryuka gut geht!“, giftete sie zurück.

Ryuka selbst starrte nur weiter ins Lagerfeuer und schwieg. Zaku hatte ihm schon damals, als sie sich ihm zum ersten Mal offenbart hatte, deutlich genug klar gemacht, was geschah, wenn er ihr Geheimnis ausplauderte.

O-Shikara richtete brummend das Augenmerk in den klaren, sternenübersäten Himmel hinauf. „Na, wenigstens scheint es heute Nacht mal nicht weiter zu schneien“, wechselte er das Thema und stand dann von seinem umgekippten Baumstamm auf, auf dem er gesessen hatte. „Ich hau mich auf´s Ohr.“

Ryuka und Zaku wechselten seufzend Blicke. Nach einem Moment Bedenkzeit lächelte Zaku den jungen Mann warm an. Zumindest sie freute sich, daß alles in Ordnung war. Der junge Mann wurde verlegen etwas rot um die Nase und sah weg, als ihm das Gefühl, Zaku nahe zu stehen, plötzlich unerklärlich absurd vorkam. Ja, er mochte sie. Und ja, sie hatte ihm das Leben gerettet. Aber deswegen sollte er sich noch lange nicht einbilden, ihrerseits irgendeine emotionale Bindung erwarten zu dürfen.

„Ryuka?“

„Ja?“, antwortete er und sah vorsichtig wieder auf.

„Möchtest du die Nacht mit mir verbringen?“

„Bitte was!?“, würgte er schockiert und ertappt hervor, mit dem ekelhaften Verdacht, sie sei in der Lage seine Gedanken zu lesen.

Das Mädchen zog ein bestürztes Gesicht. „Entschuldige, die Frage war taktlos. Ich wollte nur ... Ich dachte ... Tut mir leid.“

Er räusperte sich. „Willst du mich veralbern?“

„Nein, das war eine ernstgemeinte Frage. Ich weiß, daß dir das schon im Kopf rumgeht, seit du in Shirakawa-Go mitbekommen hast, auf welche Art ich zu dem Sack Reis gekommen bin. Und ich meine, warum soll ich dir den Wunsch nicht erfüllen, wenn ich genauso dafür bin wie du. ... Aber ich wollte dir nicht zu nahe treten.“

Ryuka sah sich kurz zum Männerzelt um, in dem O-Shikara und Yoji verschwunden waren, ob auch keiner mithörte. „Ehrlich?“, rückversicherte er sich nochmal, schon etwas ruhiger.

„Ja, ehrlich.“

„Steht das einer Gottheit denn an?“

Zaku zuckte mit den Schultern. „Das wäre nicht das erste Mal. Es gab schon viele Geschichten über die Liebe zwischen einer Gottheit und einem Menschen, oder einem Yôkai und einem Menschen.“

„Ja, aber soweit ich informiert bin, ist keine davon gut ausgegangen.“

„Nun, sie wird nicht von Dauer sein, das ist klar. Aber eine Nacht schadet nicht. Und auf mehr als das bin ich für den Moment auch nicht aus.“

Ryuka nickte leicht und schmunzelte pikiert. „Na, wenn das so ist ...“

„Komm mit“, lud Zaku ihn ein und streckte ihm eine Hand hin. „Lass mich nochmal nach deinen Verletzungen sehen. Nur zur Sicherheit.“
 

„Zaku?“

Die Göttin spazierte gemächlich neben dem Wagen her und schaute verträumt und gedankenversunken auf den Quadratmeter Trampelpfad vor sich, während sie lief. Es hatte was unglaublich Meditatives, Friedliches, einfach nur vor sich hin zu laufen und auf den unbefestigten Weg zu achten. Jeden Stein in der ausgetretenen Erde zu zählen und sich über die immer andere Form zu wundern. Kein Stein war wie der andere. Jeder war ein Unikat. Das war eigentlich total verblüffend.

„Zaku!“, drang es nochmal etwas nachdrücklicher in ihr Bewusstsein.

Aus ihren Gedanken gerissen schaute sie auf. „Was denn?“

Ryuka zeigte nach links in die Ferne. „Chirobi haut schon wieder ab.“

Sie folgte dem Fingerzeig und entdeckte ihren Panda-Tiergeist schon ein gutes Chô entfernt auf dem Weg in Richtung einer Bergkette. Sie zog ein lustloses Gesicht. Sie hasste es, wenn der Panda einfach wegrannte, ohne ihr vorher wenigstens Bescheid zu geben. „Hilft nichts, ich muss sie zurückholen“, entschied Zaku.

„Ich komme mit. O-Shikara, Yoji, ihr bleibt hier und passt auf den Karren auf. Macht eine Pause, ihr könnt es brauchen.“

„Ich will auch mit!“, verlangte Yoji abenteuerlustig.

„Du wirst hier bleiben! Lass O-Shikara ja nicht alleine hier zurück, sonst setzt es was!“

„Und wann gedenkt ihr zurück zu sein?“, hakte O-Shikara nüchtern nach. Seit dem Unfall war er nicht mehr sonderlich aufgeschlossen und zugetan. Er hielt Zaku und Ryuka immer noch vor, irgendwas zu verheimlichen. Entsprechend kühl gab er sich derzeit.

„Es dauert so lange wie es dauert.“

„Sollen wir euch suchen kommen, wenn ihr bis zum Einbruch der Dunkelheit nicht zurück seid?“

„Nein. In der Dunkelheit kann euch sonstwas zustoßen. Sucht uns nach Sonnenaufgang, wenn wir dann immer noch nicht zurück sind“, legte Ryuka fest und eilte Zaku nach, die schon entschlossen vorweg marschierte.

Zaku gab sich keine große Mühe, den Pandabären einzuholen. Sie ging nur so schnell wie sie musste, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Offenbar war sie darauf aus, zu erfahren, wohin Chirobi sie führen würde.

„Glaubst du, sie hat wieder einen dieser Halunken gewittert, die deinen Tempel zerstört haben?

„Wer weiß“, meinte Zaku nur wortkarg und ernst.

Ryuka seufzte resignierend. Die Göttin wurde immer so kühl und verbissen, wenn sie ein Ziel ernsthaft vor Augen sah und nach dessen Erreichung trachtete. Wenn sie entspannt war, war sie irgendwie umgänglicher. Er beschloss, sie machen zu lassen und sich stattdessen aufmerksam den Weg zu merken, damit sie nachher wenigstens wieder zurück fanden.
 

„Zaku, darf ich dich was fragen?“

„Klar“, stimmte Zaku zu, hielt ihre Aufmerksamkeit aber deutlich mehr auf Chirobi, der sie nach wie vor kreuz und quer durch die Einöde folgten.

„War es klug, mir das Leben zu retten?“

Die Gottheit sah ihn prüfend an. Dann, mit einem Augenblick Verzögerung, kicherte sie belustigt los. „Warum denn nicht? Bedauerst du es, noch zu leben?“

„Nein, das nicht. Im Gegenteil. ... Im Übrigen bin ich noch nichtmal dazu gekommen, dir dafür zu danken. Vor O-Shikara und Yoji kann ich ja nicht so offen sprechen“, bekräftigte er, erleichtert über ihre Heiterkeit. Er wollte ja nicht undankbar klingen, wenn er so eine Frage stellte. „Ich habe mich nur gefragt, ob du das überhaupt durftest. Ob du auch keinen Ärger mit anderen Gottheiten bekommst.“

„Warum sollte ich?“

„Ich weiß nicht, ist nur so eine Vermutung. Ihr Götter habt ja auch das ungeschriebene Gesetz, euch den Menschen nicht zu zeigen, damit sie den Glauben an euch nicht verlieren, wenn ihr ihnen mal nicht helfen könnt. Da dachte ich, daß es vielleicht auch den Grundsatz gibt, nicht so offensichtlich und parteiisch konkrete Menschen zu retten und in ihr Schicksal einzugreifen. Immerhin würde das ja bedeuten, daß ihr dann auch immer und überall und jedem helfen müsstet, was ihr aber nicht könnt, weil ihr nicht immer überall gleichzeitig sein könnt.“ Ryuka verengte kurz nachdenklich die Augen. „Kompliziert!“, stellte er dann fest.

Zaku schaute lächelnd wieder nach vorn, um ihren Panda-Tiergeist nicht aus den Augen zu verlieren. „Keine Sorge, ich habe mich damit nicht in Schwierigkeiten gebracht. Es ist mir nicht verboten, Menschen zu helfen. Wie soll ich eine Schutzgottheit sein, wenn ich den Menschen nicht helfen dürfte? Vor allem dir nicht, der du ein Theater-Darsteller bist und damit direkter in meine Zuständigkeit fällst als irgendjemand sonst?“

„Einem Händler hättest du wohl nicht geholfen?“

„Das will ich damit nicht sagen. Aber das wäre nicht meine Aufgabe.“

„Aber ist es denn deine Aufgabe, über Leben und Tod zu entscheiden?“

„Kein Mensch lebt ewig. Daran kann auch ich nichts ändern. Aber Verletzungen heilen, wenn noch Zeit dazu ist, kann ich wohl. Und ja, was das angeht, habe ich die Macht und die Erlaubnis, Schicksale zu verändern.“

Ryuka zog ein etwas trauriges Gesicht.

Die Göttin musterte ihn von der Seite, als er nichts mehr sagte. „Das hätte ich dir nicht erzählen sollen. Jetzt wirst du dir wahrscheinlich ausmalen, daß ich auch deine Männer hätte retten können, die im brennenden Tempel eingeschlossen waren oder von den Räubern erschlagen wurden.“

„Ich mache dir keine Vorwürfe, wenn du das meinst.“

„Doch, tust du.“

„Hättest du ihnen denn helfen können?“

„Glaubst du, ich hätte meine eigene Priesterin sterben lassen, wenn ich dort irgendwas hätte ausrichten können?“, gab sie ruhig und sachlich zurück.

Ryuka schüttelte den Kopf. „Nein, vermutlich nicht.“

„In meinem Tempel war eine Gottheit am Werk, die stärker war als ich. Ich war dort machtlos. Ich hätte nichts tun können. Das einzige, was man mir wirklich vorwerfen kann, und wofür ich mir auch selber Vorwürfe mache, ist, deine Theater-Truppe da mit reingezogen zu haben. Ich habe euch gerufen, in der Hoffnung, daß ihr dort irgendwas ausrichten könntet und meinen Tempel oder mein Orakel retten könntet. Aber ihr konntet es nicht. Wie auch? Wie hättet ihr etwas tun können, wenn selbst ich wehrlos bin? Ich habe euch in den Tod geschickt. Und das macht mich traurig, das kannst du mir glauben. Gewollt habe ich das nicht.“
 

Über eine Bergpass hinweg führte Chirobi die beiden inzwischen zu einer Höhle, in der sie auf direktem Weg und ohne zu zögern verschwand.

Ryuka blieb auf einer Anhöhe stehen und musterte den Höhleneingang aus der Ferne. Das war ihm nicht geheuer. „Berghöhlen sind selten unbewohnt. Wer weiß, in was dein Panda uns da gerade reinreitet.“

„In nichts Gefährliches.“

„Wie bist du dir da so sicher?“

„Chirobi ist ein Feigling. Mit wilden Tieren würde sie sich nicht anlegen. Und mit bewaffneten Menschen nur, wenn richtig was auf dem Spiel steht“, analysierte Zaku stoisch.

„Sagtest du nicht, sie kann sowieso nicht getötet werden?“

„Kann sie auch nicht. Aber ein Feigling ist sie trotzdem.“

Ryuka nickte und hoffte einfach mal, daß sie ihren Tiergeist gut genug kannte. „Na, dann lass uns mal nachsehen, was sie da drin zu finden hofft.“

Gemeinsam traten sie in die geräumige Höhle ein, die zwar durch den großen Eingang gut beleuchtet wirkte, aber sie gingen trotzdem langsam und sahen sich sorgfältig um. Man wusste ja nie. Was sie allerdings fanden, damit hätten sie niemals gerechnet. Mitten in der Höhle saß ein hagerer, alter Mann mit langen, grauen, ungekämmten Haaren, der nur mit einem Lendenschurz bekleidet war. Er saß im Lotussitz auf dem Boden, die Hände locker auf den Knien abgelegt, und die Augen geschlossen. Man hatte unvermittelt den Eindruck, daß er schon jahrelang hier saß. Er war schon fast Eins mit der Umgebung geworden. Fehlte nur noch, daß er Moos angesetzt hätte. Wenn er noch nicht tot war, dann meditierte er wohl. Chirobi hatte sich friedlich neben ihm zusammengerollt und schien glücklich die Ruhe zu genießen.

Der Mann schaute auf, als er die näherkommenden Schritte bemerkte. Ein Lächeln sprang über seine Lippen und gleichwohl in seine Augen. „Hallo“, grüßte er und seine Stimme klang wie raschelndes Laub. Wie lange nicht mehr gebraucht.

„Hallo ...“, gab Zaku zurück und sah sich suchend weiter in der Höhle um. Aber außer dem Alten war hier nichts. Absolut gar nichts. Nichtmal irgendein Gebrauchsgegenstand, der ihm hätte gehören können.

„Was verschlägt denn eine Gottheit in diese trostlose Gegend?“, wollte der Greis wissen, was aber einen sehr rethorischen Anschein erweckte.

Zaku schaute ihn fragend an. „Ihr erkennt, was ich bin?“

„Natürlich. Klar und deutlich. Genauso wie diesen drolligen Tiergeist hier, der Euch zu Diensten ist.“

„Wer seid Ihr?“, wollte sie interessiert wissen, ohne sich daran zu stören, daß er hinter ihre Maske zu schauen vermochte.

Er überlegte kurz hin und her. „Ich habe keinen Namen mehr. Wenn die Leute mich denn irgendwie nennen wollen, dann sagen sie 'der Meister der vier Täler'. Aber mir bedeuten solche Titel nichts. Nennt mich, wie Ihr möchtet.“

Zaku schlief das Gesicht ein. „Ihr seid der Buddha!“

„Jaaa~“, machte er in einem nachdenklichen Tonfall, als müsse er eigentlich erst überlegen, ob man das gelten lassen konnte. „So werde ich bisweilen auch genannt. Wobei 'EIN Buddha' vielleicht korrekter wäre. 'Buddha' bedeutet ja nur 'der Erleuchtete' und die hat es zu allen Zeiten immer wieder gegeben. Ich bin da in der Tat nicht der einzige. Nur einer“, erklärte er zwischen fröhlich und bescheiden.

Zaku pflanzte sich im Schneidersitz ihm gegenüber auf den nackten Steinboden. „Was tut Ihr hier?“

„Meditieren.“

Ryuka staunte. „Ich bin noch nie einem Menschen begegnet, der auf dem Weg des Zen so weit gekommen wäre wie Ihr“, warf er ehrfürchtig in die Runde und war plötzlich dankbar dafür, Zaku und ihrem vermaledeiten Panda hier her gefolgt zu sein. Es war eine Ehre, in so einer Gesellschaft verweilen zu können. Er ließ sich ebenfalls auf dem Boden nieder, wenn auch weniger schwungvoll als Zaku.

Der Buddha lächelte leicht. „Ihr seid vom rechten Weg abgekommen, Herrin. Ich sehe, daß Eure Absichten Euch von dem wegführen, was das höchste Ziel sein sollte. Ihr ehrt das Leben nicht mehr, wie Ihr es tun solltet. Und wenn Ihr erreicht habt, was Ihr wolltet, wird Euch das nicht glücklicher machen“, meinte er an Zaku gewandt. „Erzählt mir doch, was in Euch vorgeht. Was hat Euch so aus dem Gleichgewicht gebracht?“

Und Zaku erzählte bereitwillig und ehrlich, wie sich alles zugetragen hatte. Von ihrem Tempel, der geplündert und niedergebrannt worden war, von ihrer Priesterin, die getötet worden war, von der fahrenden Theater-Truppe, die sie dabei dummerweise mit geopfert hatte, von ihrem unbändigen Rachedurst, und von den Verbrechern, die sie seither jagte, und von denen einer schon für seine Taten gehangen hatte.

Der Buddha hörte sich alles geduldig an, nickte bisweilen verstehend und ließ sie ohne Unterbrechung ausreden. Als sie irgendwann fertig war, neigte er den Kopf zur Seite und lächelte mild. „Ihr habt zweifellos ein hartes Schicksal erlitten, Herrin. Und Eure Trauer ist berechtigt. Aber Rache ist wohl kaum der Weg, der hier angezeigt wäre. Eure Freundin Natsuo hätte bestimmt nicht gewollt, daß es noch mehr Blutvergießen gibt. In Eurem Tempel sind genug Menschen gestorben. Und wenn Ihr diese drei Mörder umbringt, wird Euch das Eure Freundin auch nicht zurückgeben.“

Zaku senkte nachdenklich den Blick. „Zugegeben, sehr buddhistisch ist mein Vorhaben nicht. Ihr meint also, ich sollte davon ablassen?“

„Unbedingt.“

„Aber worauf soll ich meine ganze Trauer und Wut dann richten? Ich bitte Euch inständig, edler Buddha, ratet mir, was zu tun ist!“

Der Alte zog ein betroffenes Gesicht. „Wie könnte ich? Ich bin nur ein unbedeutender, kleiner Mensch. Wie sollte ich einer wahrhaftigen Gottheit raten?“

„Ihr seid ein Buddha. Ein Erleuchteter und Meister. Wenn Ihr es nicht könnt, wer dann?“

Der Mann senkte ehrfürchtig das Haupt. „Ich bin zuversichtlich, daß das große Dao, aus dem die zehntausend Dinge entstehen, alles von alleine zum Besten fügen wird. Jeder Mensch erhält, was er verdient, sei es in diesem oder im nächsten Leben.“

„Das allein gibt mir meinen Seelenfrieden aber nicht zurück. Wie soll ich mich je wieder meiner Aufgabe als Schutzgöttin der Künste widmen können, wenn mein Herz um diese Gräueltaten und diese Ungerechtigkeit weiß und doch zur Untätigkeit verdammt ist? Es waren neben meiner Priesterin immerhin alles Künstler, die da erschlagen wurden! Meine Schützlinge! Damit kann mein Gewissen nicht leben.“

„Das Dao vergisst niemanden. Sicher wirst du jedem von ihnen im nächsten Leben wieder begegnen“, schmunzelte der Mann geheimnisvoll.

„Ich sterbe keines natürlichen Todes.“

„Nein. Aber die Menschen schon.“

Ryuka dämmerte, worauf der Buddha hinaus wollte. „Er meint, wenn du unbedingt eine Aufgabe brauchst, auf die du deinen Ehrgeiz richten kannst, dann sollst du Natsuo suchen gehen. Sie wird sicher wiedergeboren“, mischte er sich ins Gespräch ein.

„So würde ich das niemals formulieren“, lächelte der Alte. „Ich bin nicht in der Position, einer Gottheit Ratschläge zu erteilen. Aber es wäre eine Möglichkeit.“

Zaku überlegte einen Moment sichtlich hin und her, ob sie mit diesem Rat zufrieden war. Eigentlich wollte sie nicht die Übeltäter bestrafen. Eigentlich wollte sie ihr Orakel Natsuo zurück, da hatte der weise Mann Recht. Ja, so sollte sie es machen. Mit einem Lächeln sah sie dem Buddha wieder in die Augen. Und nickte langsam. „Habt Dank, Meister. Ihr habt meiner orientierungslosen Reise und blinden Suche im Dunkeln ein Ende bereitet und mir ein Ziel gegeben.“

„Also wirst du unsere fahrende Theater-Truppe verlassen?“, hakte Ryuka nach.

„Nun ...“, gab Zaku zurück. „Jetzt kommt erstmal der Winter, da kann ich sowieso nicht zurück zu meinem Tempel reisen, oder irgendwo anders hin. Zumindest solange leiste ich euch noch Gesellschaft, bis die Handelswege wieder frei sind. Aber um Natsuo zu suchen, wird mich mein Weg in eine andere Richtung führen als euch der eure.“



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