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Stolen Dreams Ⅻ

von

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3. Kapitel

Es war Freitag und drei Minuten vor sieben Uhr, ziemlich genau vierzig Stunden vor dem Zeitpunkt, an dem Valentin herausfand, dass er sich mit Yuri nicht nur ein weiteres Kind, sondern auch eine Menge Probleme ins Haus geholt hatte. Aber jetzt – Freitag, mittlerweile nur noch zwei Minuten vor sieben Uhr – wussten nicht Valentin, nicht Yuri und erst recht nicht Charles davon.

Charles saß an seinem Schreibtisch und starrte gedankenverloren aus dem Fenster. Es war kalt draußen. Frischer Schnee hatte sich über Nacht auf die Straßen gelegt und viele Nachbarn hatten ihre Häuser für Silvester geschmückt, das nur noch wenige Tage entfernt war. Heute war der letzte Schultag in diesem Jahr.

Charles öffnete die oberste Schublade seines Schreibtisches und holte ein Buch hervor, das einen sehr schönen Einband mit blauen, roten, weißen und schwarzen Streifen hatte. Was Charles daran so faszinierend fand, waren aber nicht die strahlenden Farben, sondern dass alle Streifen gleich groß waren und sich nirgendwo überschnitten. Er mochte es, wenn Dinge geordnet und makellos waren, und hätte Stunden damit verbringen können, dieses Buch zu betrachten.
 

»Bist du dir sicher, dass du das tun willst? Die anderen werden dich mobben. Sie werden dich beleidigen und eventuell auch körperlich angreifen. Das ist eine furchtbare Idee.«

Charles las den kurzen Eintrag aufmerksam durch, ehe er nach einem Kugelschreiber griff und eine Antwort formulierte.

»Mach dir keine Sorgen um mich. Es ist der letzte Tag vor den Ferien – sie werden Besseres zu tun haben, als sich mit mir abzugeben.«

Er verstaute das Buch in der Schublade, ehe er seine Sachen packte und sich auf dem Weg zur Schule machte. Dad lag im Wohnzimmer auf der Couch und schlief. Sein Schnarchen war so stark, dass es seinen Bart leicht zum Flattern brachte. Um ihm herum lagen mehrere Bierflaschen und -dosen und alles roch nach Alkohol.

Charles würdigte seinen Vater keines Blickes, zog sich warm an und verließ das Haus. Seine Schule lag nur wenige Straßen entfernt; der Weg dauerte bloß eine knappe Viertelstunde.
 

Er war mit Absicht zu früh gekommen, um ein wenig Zeit in der Bibliothek verbringen zu können, doch leider erreichte er nicht einmal ihre Eingangstür. Charles hatte das Schulgelände gerade erst betreten, als plötzlich ein paar Jugendliche vor ihm erschienen. Sie waren in seinem Alter, aber einen halben bis ganzen Kopf größer als er.

„Respekt, Wichser. Dass du dich nach der Aktion von gestern noch zur Schule traust... entweder bist du unglaublich mutig oder unglaublich dämlich.“

„Ich bin weder mutig noch dämlich“, antwortete Charles in einem neutralen Ton. Für ihn war das eine ernst gemeinte Antwort auf eine ernst gemeinte Frage, aber die Schüler um ihn herum begannen zu lachen, als hätte er einen lustigen Witz gerissen, was aber nicht der Fall sein konnte. Charles war nicht in der Lage, Witze zu verstehen, geschweige denn selbst welche zu erzählen.

„Behindert oder so?“, kicherte ein Mädchen mit langen blonden Haaren.

Charles verstand nicht, was sie meinte. Dass ihre Mundwinkel sich nach außen und oben zogen und dass man ihre Zähne sehen konnte, musste bedeuten, dass sie glücklich war.
 

Freude war neben Trauer die einzige Emotion, die Charles bei anderen Menschen erkennen konnte. Alles andere war ihm ein Rätsel. Zum Beispiel weinen: Menschen weinten, wenn sie traurig waren, aber manche weinten auch vor Freude oder vor Wut. Woher also sollte Charles wissen, ob eine weinende Person traurig, glücklich oder wütend war?

Charles hatte keine Lust mehr auf das Gespräch. Er wollte an den Jugendlichen vorbeigehen, doch das blonde Mädchen packte ihn am Arm, um ihn zurückzu--

Charles zögerte nicht, sondern schlug zu. So reagierte er immer, wenn ihn jemand anfasste, seien es seine Mitschüler, seine Eltern oder wildfremde Personen.

Das blonde Mädchen taumelte zurück und hielt sich die rechte Wange. Ihre Augen waren weit aufgerissen und ihr Mund formte ein O. War das... Überraschung? Schock? Angst?

„H-hast du gerade Sonja geschlagen?“, fragte einer der männlichen Schüler geschockt.
 

„Ja, das habe ich“, antwortete Charles ruhig. „Ich mag es nicht, angefasst zu werden.“

Während Sonja anscheinend vergessen hatte, wie man seinen Mund schloss, sahen sich die anderen Jugendlichen gegenseitig an und fragten sich, ob das ein Scherz war und wie sie darauf reagieren sollten. Andere Schüler, die eigentlich nichts mit Charles zu tun hatten, waren wegen des Schlags auf die Gruppe aufmerksam geworden und gesellten sich zu ihr.

Charles wurde nervös. Ansammlungen von Menschen waren für ihn ein Problem. Nicht weil er um sich oder seinen Ruf Angst hatte, sondern weil die Informationen zu all den Leuten, ihren Gesichtern, Emotionen, Äußerungen, Kleidung, Gesten und Handlung wie steinharte Hagelkörner auf ihn einprasselten. Er fühlte sich wie ein Computer, der zweitausend Befehle gleichzeitig ausführen sollte und damit so überlastet war, dass er abstürzte.

„Du blödes Arschloch!“, rief Sonja, welche die Kontrolle über sich zurückerlangt hatte, und schlug zu. Charles sah nur noch, wie ihre Faust auf sein Gesicht zusteuerte, dann wurde alles schwarz.
 

~*~
 

Yuri saß in seinem Klassenzimmer und starrte gedankenverloren auf die Tafel, um wenigstens so zu tun, als würde er aufpassen. Nur noch heute, sagte er sich selbst. Nur noch heute und dann sind endlich Ferien. Er holte unauffällig sein Handy hervor und schaute, ob Anna ihm eine neue Nachricht geschickt hatte. Sie war die einzige Person, mit der er freiwillig Kontakt hatte. Seine Klassenkameraden konnten ihn nicht ausstehen, was auf Gegenseitigkeit beruhte, und seinen Vater Oleg konnte man ebenfalls in die Tonne treten.

Nicht selten fragte sich Yuri, ob es an ihm lag, dass er mit niemandem klarkam. Er tat sein Bestes, freundlich und respektvoll mit seinen Mitmenschen umzugehen, aber das schien nicht zu funktionieren. Wenn er seine Meinung für sich behielt, galt er als langweilig, und wenn er sie aussprach, wurde er als zurückgeblieben, dumm und behindert bezeichnet. Besonders schlimm war es gewesen, als Yuri mal geäußert hatte, dass er Homosexuelle nicht als Abschaum, sondern als vollwertige Menschen ansah. Seine Klassenkameraden hatten sofort gedacht, dass Yuri selbst auch schwul sei, und sich über ihn lustig gemacht, aber keiner von ihnen wusste, dass sie damit richtig lagen. Außerdem--
 

„Hallo? Yuri? Ich rede mit dir!“

Angesprochener zuckte erschrocken zusammen, hob den Blick und sah direkt in das verzerrte Gesicht seiner Lehrerin, die sich vor seinem Tisch aufgebaut hatte.

„Was soll das? Bin ich es nicht wert, dass du mir zuhörst?“

„N-nein, ich...“, stammelte er überfordert und ließ sein Handy hastig in seiner Tasche verschwinden. „Es t-tut mir leid. Ich war... gedanklich woanders.“

Yuri spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Seine Mitschüler lachten und einer von ihnen äffte sein Stottern nach.

„Ruhe!“, blaffte die Lehrerin wie eine aggressive Bulldogge, der sie dank ihres hervorstehenden Unterkiefers und ihren hängenden Wangen zum Verwechseln ähnlich sah. „Yuri, ich weiß wirklich nicht, was ich mit dir machen soll. Wie willst du deinen Abschluss schaffen, wenn du dich nicht einmal fünf Minuten lang konzentrieren kannst?“

„Ich--“
 

„Langsam, aber sicher bekomme ich den Verdacht, dass das hier die falsche Schule für dich ist. Auf einer Sonderschule wärst du bestimmt besser aufgehoben.“

Yuri senkte den Kopf und schwieg. Ein Teil in ihm wollte der Lehrerin ins faltige Gesicht schlagen, während ein anderer weinend zusammenbrechen wollte.

„Ich meine das ernst“, fuhr die alte Schachtel gehässig fort. „Kannst du mir diese einfache Frage beantworten?“

Sie fragte Yuri den Stoff ab, den sie in dieser Stunde bereits durchgenommen hatte, aber weil der Junge nicht ganz bei sich gewesen war, konnte er selbst die einfachsten Aufgaben nicht lösen und kam sich wie der letzte Vollidiot vor. Die anderen Schüler lachten, als hätten sie einen Clown gesehen, und die Lehrerin hielt ihm eine weitere Predigt, die ihn fast zum Weinen brachte.

„Warum lassen Sie ihn nicht nachsitzen?“, meldete sich Sonja zu Wort, eine hübsche blonde Schülerin, die Gerüchten zufolge heute Morgen eine Auseinandersetzung mit einem Jungen gehabt hatte.
 

„Weil ich dieses Nachsitzen dann leiten müsste“, knurrte die Lehrerin mit einem missbilligen Blick zu Yuri. „Und ich würde mich lieber vom Dach schmeißen als zwei Stunden lang mit jemandem zu reden, der den IQ einer Erdnuss besitzt.“

Das war zu viel. Yuri warf der Lehrerin eine Beleidigung an den Kopf, ehe er aufstand und den Klassenraum verließ. Niemand hielt ihn zurück, alle lachten nur.

Yuri sperrte sich auf der Jungentoilette ein und kam erst wieder heraus, als es zur Pause läutete. Er ging ins Klassenzimmer zurück, wo er feststellen musste, dass irgendwelche Scherzkekse auf die Idee gekommen waren, seine Sachen zu plündern und sie im ganzen Raum zu verteilen. Genervt seufzend sammelte er sie wieder ein und verstaute sie in seiner Schultasche, als ihm plötzlich auffiel, dass das Wichtigste fehlte.

„Suchst du zufälligerweise das hier?“, vernahm er auf einmal eine höhnende Stimme hinter sich. Er drehte sich um und erblickte Sonja, welche die verkohlten Überreste eines Schlüsselanhängers aus Stoff in den Händen hielt. Er war ein Geschenk von Anna gewesen und Yuri hatte ihn über alles geliebt.
 

~*~
 

Vanya wusste nicht, ob der Brief, den er gefunden hatte, für ihn bestimmt war, aber das hatte ihn nicht davon abgehalten, ihn zu lesen.

»WICHTIGE NOTIZ: Halte dich unter allen Umständen von Sonja fern. Aber wenn du die Gelegenheit bekommst, alleine mit ihr zu sein, dann schlag ihr so feste wie du nur kannst ins Gesicht. Danke.«

Vanya wusste, von wem die Rede war. Er kannte Sonja. Sie war eine laute, arrogante, selbstsüchtige Schülerin, die – wenn überhaupt – erst nachdachte, nachdem sie bereits gehandelt oder gesprochen hatte. Offensichtlich nicht in der Lage, selbst nachzudenken, vertrat sie immer die Meinung, die gerade am populärsten war, auch wenn sie nicht einmal wusste, um was es überhaupt ging. Ihren Freund wechselte sie so häufig wie ihr Outfit und es gab Gerüchte, dass sie bereits mit der halben Schule geschlafen hatte.

Das alles störte Vanya nicht. Wenn Sonja unbedingt als billige, hirnlose Nutte abgestempelt werden wollte, sollte sie das ruhig machen, schließlich war es ihre Entscheidung. Das, was Vanya jedoch störte, war, dass Sonja es sich zum Hobby gemacht hatte, andere Schüler zu mobben.
 

Wahrscheinlich tat sie das in der Hoffnung, selbst höher zu stehen, wenn sie andere runtermachte. Anders konnte sich Vanya dieses Verhalten nicht erklären. Er war noch nie auf die Idee gekommen, einer wildfremden Person ''zum Spaß'' Beleidigungen an den Kopf zu werfen oder sich über Dinge lustig zu machen, für die sie nichts konnte.

Eigentlich war es kein Wunder, dass Sonja verachtet wurde. Wer auch immer den Brief verfasst hatte, den Vanya gerade an seinen ursprünglichen Platz neben einem verbrannten Stück Stoff zurücklegte, schien eine enorme Wut gegen Sonja zu verspüren, und Vanya würde ihm den Gefallen, um den er gebeten hatte, gerne tun. Besser noch – er würde Sonja einen Schlag verpassen, den sie nie vergessen könnte.

Vanya wusste, dass Sonjas Klasse heute Abend eine Party schmiss, um den Beginn der Ferien zu feiern, und er würde seine linke Hand darauf verwetten, dass Sonja auf dieser Party anzutreffen war. Also machte er sich fertig, trottete im Stockdunklen durch den Schnee und kam nach einer Viertelstunde an dem Haus an, wo die Party stattfand. Dieses Haus zu finden, war nicht schwierig gewesen; die Musik dröhnte auch drei Straßen weiter noch unangenehm in den Ohren. Es grenzte an einem Wunder, dass die Polizei diesem Krach noch kein Ende gesetzt hatte.
 

Vanya brauchte nicht lange, um Sonja zu finden. Sie saß in einem viel zu kurzen Kleid – fror sie nicht? – im Schnee bedeckten Garten neben einer umgekippten Mülltonne und schluchzte hysterisch. In der rechten Hand hielt sie eine Wodkaflasche, in der linken eine Zigarette, an der sie gelegentlich zog, während eine Mischung aus Tränen und schwarzem Make-up über ihr Gesicht floss.

Vanya hätte am liebsten den Abstand zwischen sich und ihr überwunden und seinen Fuß auf ihrem Kopf platziert, aber da waren viel zu viele Schüler in der Nähe, die ihn sofort bemerkt hätten. Das machte aber nichts; er wusste sich zu helfen, indem er sein Handy zückte, bei der Polizei anrief, sich als Nachbar ausgab und über den Lärm beschwerte.

Etwa zwanzig Minuten später erschien ein Polizeiauto auf der Straße und parkte vor dem Haus, dessen Wände von der Musik zum Wackeln gebracht wurden. Jeder, der sich in diesem Gebäude aufhielt, würde es sicherlich mit einem Hörschaden verlassen.

Während die Beamten das Haus betraten und die Regulierung der Lautstärke oder sogar den Abbruch der Party verlangten, ging Vanya unauffällig in den Garten, legte Sonjas Arm um seinen Hals und machte sich aus dem Staub.
 

Es war fast schon lächerlich, wie einfach er es hatte. Sonja schien es nicht zu stören, dass ein Fremder sie entführte. Ihre Flasche und ihre Zigarette, die im Schnee sofort erlosch, rutschten ihr aus den Händen und sie nuschelte etwas Unverständliches, aber Vanya ignorierte ihr Lallen und zerrte sie zielstrebig zu einem kleinen Park, der nicht weit entfernt war.

„Weißt du, wer ich bin?“, fragte er, nachdem er sie auf einer Bank abgesetzt hatte.

Sonja antwortete nicht, sondern beugte sich nach vorne und trennte sich von all dem Alkohol, den sie in den letzten Stunden konsumiert hatte, und das war wahrlich nicht wenig. Mit dieser Menge könnte man jemanden, der an Alkohol nicht gewöhnt war, sicherlich ins Koma befördern.

„Weißt du, wer ich bin?“, wiederholte er, aber Sonja reagierte immer noch nicht. Sie und Vanya waren die einzigen Menschen im Park; es war unheimlich ruhig und alles, was man hören konnte, war sein ungeduldiges Atmen, ihr röchelndes Würgen und die Musik im Hintergrund, die jetzt so leise und so weit entfernt war, dass man sie nur vernehmen konnte, wenn man sich konzentrierte.
 

„Schorry, Offescha, isch... isch weisch nisch, wovon Schie reden“, lallte Sonja und wollte einen Schluck aus ihrer Flasche nehmen, als ihr plötzlich auffiel, dass sie gar keine Flasche in der Hand hielt. Sichtlicht irritiert starrte sie auf ihre lackierten Fingernägel, ehe ihr Blick zu Vanya wanderte.

„B-bischt du...?“

„Nüchtern, genervt und momentan ziemlich wütend? Ja, das bin ich“, erwiderte er trocken und verschränkte die Arme vor der Brust. „Es gibt da etwas, das ich dir ausrichten möchte.“

Während sie noch zu verstehen versuchte, was er ihr sagte, holte Vanya aus und schlug Sonja mit voller Wucht ins Gesicht. Sie fiel von der Bank und landete unbeholfen im Schnee.

Damit war Vanyas Arbeit getan. Er wandte sich von ihr ab und hoffte, dass sie zu betrunken war, um sich später an ihn erinnern zu können, doch gerade, als er nur wenige Schritte hinter sich gebracht hatte, nuschelte Sonja: „Warte. Du bischt doch... diesche Schwuchtel.“

Vanya blieb stehen, drehte sich zu ihr um und hob irritiert die dunklen Augenbrauen. Für junge Männer wie ihn gab es so viele Schimpfwörter – warum hatte sie ausgerechnet dieses gewählt?
 

„Y-yuri... du kran... kranke Schwuchtel.“

Er brauchte ein paar Sekunden, um zu überlegen, von wem sie sprach. An ihrer Schule gab es mehrere Schüler mit diesem Namen, aber nur einer von ihnen wurde gemobbt, weil er angeblich schwul war. Wenn Vanya sich nicht irrte, handelte es sich bei Yuri um einen unbeliebten, eher kleinen, leicht pummeligen Jungen, dessen Eltern nie auftauchten, wenn ein Lehrer mit ihnen sprechen wollte. Es gab sogar Gerüchte, Yuri hätte gar keine Eltern und würde sich als Obdachloser durchschlagen.

„Ich bin nicht Yuri“, sagte Vanya deutlich. „Und du solltest wirklich aufhören, ihn zu beleidigen. Er hat es hart genug.“

„Nisch meine Schuld“, nuschelte Sonja und richtete sich langsam auf. „Er isch 'ne Schwuchtel. Und 'n Verschager.“

„Selbst wenn das stimmen würde – das ist kein Grund--“

„Scheine Mutta hat ihn verlaschen, weil Schie ihn nischt wollte... weil er 'ne Mischgeburt ischt.“

„Halt dein Maul.“
 

Sonja stellte sich aufrecht hin und torkelte wie ein Zombie auf Vanya zu, dessen Blick sich allmählich verfinsterte.

„Und?“, lallte sie. „Wo ischt deine Mutta jeschzt?“

Ihren nach Alkohol und Kotze stinkenden Mundgeruch ignorierend ging Vanya einen Schritt nach vorne. Dass er mit Yuri verwechselt wurde, lag vermutlich daran, dass sie beide schwarze Haare besaßen.

„Meine Mutter ist tot“, antwortete er knurrend, woraufhin Sonja zu lachen begann, als hätte sie einen lustigen Witz gehört.

„Gaaar nischt!“, rief sie albern kichernd. „Schie hat disch verlaschen, weil Schie disch nischt auschtehen kann!“

„Noch ein einziges Wort und ich bring dich um.“

Vanya meinte das todernst, aber Sonja war zu betrunken, um ihn zu verstehen.

„Elendesch Muttaschönchen“, brabbelte sie und fiel hin. „Hascht esch verdie--“
 

Das Nächste, was zu hören war, waren zwei hastige Schritte, Vanyas Luftholen und das Brechen von Sonjas Jochbein, dicht gefolgt von einem spitzen Schmerzensschrei, den er erstickte, indem er auf ihren Hinterkopf trat und ihr Gesicht in den Schnee drückte.

Er setzte sich auf ihren Rücken und hielt mit einer Hand ihren Kopf unten, während er mit der anderen auf ihre Schultern einschlug und jedem Hieb ein Schimpfwort folgen ließ. Ganze fünf Minuten lang ließ er seine Wut an ihr aus, ehe er schwer keuchend von ihr herunterstieg und langsam nach hinten ging. Er erwartete, dass sie sich aufrichten, fluchen oder irgendetwas tun würde, aber sie blieb reglos liegen. Fast so, als wäre sie--

Vanya griff nach Sonjas blonden Haaren und hob ihren Kopf an. Schnee und verwischtes Make-up hafteten an ihrem Gesicht, ihrem geöffneten Mund und an ihren Augen, die leer nach vorne starrten. Ihre Haut war noch warm, aber sie atmete nicht.

Vanya ließ sie los und sah sich um. Niemand war hier und konnte den Totschlag bezeugen. So etwas nannte man wohl Glück im Unglück.
 

Scheiße... das musste ja passieren.

Er wischte Sonja die Mischung aus Schnee und Schminke aus dem Gesicht, schloss ihre Augen, damit es so aussah, als würde sie schlafen, ehe er sie auf seinen Rücken verfrachtete und den Park verließ.

Eigentlich hätte er sich denken können, dass das geschehen würde. Dem Mädchen auf den Rücken zu steigen und ihren Mund und ihre Nase in den Schnee zu drücken, war keine gute Idee gewesen. Wie hätte sie denn so atmen sollen?

Zum Glück hatte Vanya bereits eine Idee, wie er die Leiche loswerden konnte. Er zog sich die Kapuze über den schwarzen Haarschopf und bahnte sich seinen Weg entlang selten benutzten Straßen und dunklen Gassen durch die Stadt, bis er bei einem bestimmten Haus ankam, von dem er wusste, dass es von Yuri und dessen Vater bewohnt wurde.

Die Nachbarschaft war ruhig. Die einzigen Häuser, in denen noch ein Licht brannte, waren das am rechten Ende der Reihe und das, an dessen Tür Vanya gerade klingelte.
 

Er hatte keine Angst, dass er auffliegen könnte. Sein Plan war es, sich als Yuri auszugeben und Sonja unauffällig in dem Haus zu verstecken, und sollte das nicht funktionieren, würde er einfach behaupten, dass er sich mit der Hausnummer geirrt hatte, sich entschuldigen und woanders sein Glück versuchen.

Die Tür wurde geöffnet und ein Mann erschien vor Vanya. Wie er aussah, konnte der Jüngere nicht erkennen, weil er zu Boden blickte und sich hinter seiner Kapuze versteckte.

„Wer ist das?“

„Ich bin's, Yu--“

„Ich meinte das Mädel, du Idiot.“

„Oh, das ist Sonja, eine Freundin von mir. Sie ist ziemlich hinüber.“

Jeder andere Mensch hätte schon längst erkannt, dass nicht Yuri, sondern eine ganz andere Person dort stand, aber Yuris Vater war dazu anscheinend nicht in der Lage. Vanya hob zögernd den Blick und sah, dass der Alte nicht nur betrunken, sondern auch schläfrig war. Er kniff die Augen zusammen und stank nach Alkohol.
 

Vanya betrat das Haus, legte Sonja auf der Couch ab und ging nach oben, wo er Yuris Zimmer vermutete, weil sich im Erdgeschoss nur Wohnzimmer, Küche und Gästebad befanden. Seine Vermutung stimmte – ein Raum, dessen Einrichtung nach zu urteilen einem männlichen Teenager gehörte, lag hinter der ersten Tür auf der linken Seite des Flurs.

Mittlerweile war es Freitag und kurz vor elf Uhr abends. In 24 Stunden würde Valentin erfahren, dass man eine Leiche in dem Haus gefunden hatte, in dem sich nicht Yuri, sondern eine andere Person aufhielt. Eine Person, die verdächtig viel über den 16-Jährigen wusste.

Vanya beschloss, dass Yuri damit nichts zu tun haben sollte. Der Arme litt bereits genug.

Er ergriff Yuris Handy, entsperrte es – woher er die PIN kannte, wusste selbst er nicht – und suchte nach Annas Nummer. Sie anzurufen kam nicht infrage; sie würde die fremde Stimme erkennen und sofort verstehen, dass etwas nicht mit rechten Dingen zuging, weshalb er ihr eine Nachricht schickte.

»Ich brauche deine Hilfe. Dad ist betrunken und aggressiv. Er bedroht mich. Ich habe Angst. Soll ich abhauen? Ich würde lieber auf der Straße schlafen, als bei ihm zu sein.«
 

Klang das nach Yuri? Vielleicht nicht, aber es klang auf jeden Fall nach jemanden, der Panik hatte. Vanya legte das Handy an seinen Platz zurück und ging wieder nach unten, wo er sich um Sonja kümmern wollte. Am besten wäre es, sie im Keller zu verstecken, damit--

Er hatte etwa die Mitte der Treppe erreicht, als er plötzlich zwei regelmäßige Geräusche vernahm, die den gleichen Takt besaßen. Das Stöhnen von Yuris Vater und das Quietschen des Sofas.

„Du geile Schlampe... ja... das kommt davon, wenn du zu viel trinkst... und das in diesem Alter... billige Hure...“

Was für ein krankes Schwein, dachte Vanya angewidert und ging wieder nach oben. Wenigstens nimmt Sonja es nicht wahr.

Er schaute nach, ob Anna schon geantwortet hatte, was in der Tat geschehen war.

»Bleib, wo du bist, und geh deinem Erzeuger aus dem Weg. Ich kann dir noch nichts versprechen, aber vielleicht habe ich eine Möglichkeit, dir zu helfen. Sei vorsichtig und pass auf dich auf.<3«
 

»Bitte hol mich aus dieser Hölle. Ich halte es nicht mehr aus!«, schrieb Vanya zurück und schickte noch einen traurigen Smiley hinterher. Danach holte er Yuris Tasche aus dem Schrank und packte seine Sachen. Zwar hatte er keine Ahnung, wie Yuri reagieren würde, wenn er später nach Hause kam und eine gepackte Tasche in seinem Zimmer vorfand, aber... es würde schon hinhauen... irgendwie... hoffentlich.

Nachdem er fertig war, ging er nach unten, wo Yuris Vater seine unaussprechliche Tätigkeit beendet hatte und schnarchend im Sessel hing. Vanya hatte echt große Lust, mit ihm das Gleiche zu tun, das er auch Sonja angetan hatte, aber das würde seinen Plan ruinieren und Yuri in Schwierigkeiten bringen. Er schob seine Mordgedanken zur Seite und trug die Leiche in den Keller, in dem schon seit einem Jahrzehnt nicht mehr geputzt worden war. Wahrscheinlich würde man sie erst entdecken, wenn sie zu faulen anfing.

Während Vanya ins Erdgeschoss zurückkehrte und die Tür zum Keller hinter sich zumachte, hatte Anna einen Entschluss gefasst. Sie ging zur Küche, in der ihr Vater saß, und fragte vorsichtig: „Valentin, kannst du mir einen Gefallen tun?“



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Karokitty
2018-06-13T06:55:38+00:00 13.06.2018 08:55
Multiple persönlichkeit... Interessant. Wobei eine Persönlichkeit wohl recht autistisch ist.
Von:  Onlyknow3
2018-06-12T20:46:45+00:00 12.06.2018 22:46
Also ich denke mal, das es schwer werden wird Valentin davon zu überzeugen das noch jemand seine hilfe braucht.
Yuri eine gespaltene Persönlichkeit? Bin neugierig was dabei noch raus kommt.
Weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3
Von:  Arya-Gendry
2018-06-12T18:03:47+00:00 12.06.2018 20:03
Also ich denken ja das Vanya, und Charles Yuri sind und Yuri somit eine gespaltene Persönlichkeit besitzt. Wenn es so ist bin ich mal gespannt wie lange es dauern wird bis es raus kommen wird.
LG.


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