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Remember The Light

von

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The wingless Phoenix

Frei möchte ich fliegen,

hoch in den Himmel hinaus...

 

Doch sind meine Flügel gebrochen,

meine Federn verbrannt,

ihre Enden Schwarz, wie in Ruß getaucht.

 

Für die Ewigkeit gebunden an die Erde,

werde ich niemals die Wolken erreichen.

 

Ich strecke meine Hand nach ihnen aus,

doch balle sie daraufhin verbittert zur Faust.

 

Fallen ist wie fliegen ohne Flügel.

Die Tiefe wie Arme, die dich auffangen.

 

Landen werde ich immer auf meinen Sandalen,

erhobenen Hauptes der Sonne entgegenblickend.

 

Mein Platz ist bei meinen Brüdern und Schwestern,

ihnen habe ich mein Leben gewidmet.

 

Mein Herz gehört der Freiheit.

 

Freisein ist ein Wunsch, keine Realität.

Jedoch können wir sie uns selbst erschaffen.

 

Eines Tages... werde ich meine Fesseln zerstören,

meine losgelösten Flügel ausbreiten und fliegen...

 

...Hin zu dir...

 

 

 

~*~

 

 

 

In meinen Händen hielt ich den kleinen Vogel, den ich vor wenigen Tagen verletzt auf dem Dach der Moby Dick gefunden hatte. Zu jener Zeit war sein helles Federkleid getränkt in Rot, sein rechter Flügel reglos von seinem Körper herabhängend. Sein leises Fiepsen klang schwach und hilflos, sowie seine mutlose Erscheinung wirkte.

Bittend blickten seine halb-geschlossenen Augen mich an, mich um den letzten Gnadenakt anflehend, während sein kraftlos gehobener Kopf auf meine Handinnenfläche fiel. Sein Fiepen wurde mit jedem Laut immer schwächer, das Lied des Todes anstimmend, dessen Kälte das kleine Herz zu gefrieren drohte.

 

Er wäre gestorben, hätte ich ihm nicht geholfen.

 

Heute Nacht stand ich abermals auf einem Gebäudedach, den Vogel noch immer in meinen Händen haltend. Schützend lagen meine Finger locker um seinen gefiederten Körper, sein Federkleid meine Haut leicht berührend. Sein kleiner Körper strahlte die Wärme des Lebens aus.

Nun war es an der Zeit, ihm seine neu gewonnene Freiheit zu schenken.

 

Fliege... und sei frei...

 

Langsam öffnete ich meine geschlossenen Hände, zeitgleich ein kühler Luftzug durch meine kurzen, blonden Haare wehend. Das Tier schenkte mir einen letzten Abschiedsblick, bevor es sich von meiner Handfläche abstieß. Weit breitete es seine Flügel aus, hoch in die Lüfte fliegend, indessen eine einzelne, hellblaue Feder auf meine Hand schwebte.

Fröhlich sang der Vogel die Melodie der Freiheit, sein Zwitschern lebensfroh und verträumt klingend. Dabei stieg er immer weiter Richtung Sterne auf, über ihm eine vereinzelte Sternschnuppe vorbeiziehend.

Tanzend im Wind, ließ er sich von ihm zu seinem nächsten Ziel tragen.

 

Finde deine Familie...

Und lasse dich nie wieder von ihr trennen...

 

Ich beobachtete die kräftigen Schläge seiner Flügel, seine sich entfernende Figur, bis er am nächtlichen Horizont verschwunden war. Zum Abschied formten meine Lippen ein angehauchtes Schmunzeln.

Einen Moment länger stand ich dort, abwesend zum Himmel blickend und meine Unterarme auf das Geländer des Dachs stützend. Bis ich zu der hellblauen Feder schaute, die ich zwischen meinen Fingern leicht drehte.

Meine Hand anhebend, hielt ich die Feder ins Mondlicht, sodass ihre Fasern von den seichten Strahlen durchleuchtet wurden. Ihre blaue Farbe nahm einen schimmernden Diamantton an, während meine Azurblauen Augen sie reflektierte.

 

Das Geschenk der Freiheit ist kostbar...

So, wie Vater sie mir einst geschenkt hat, gebe ich sie weiter...

 

Frei ist, wer sein Herz öffnet und Freiheit fühlt...

 

Mein Blick schweifte hinab zur Straße, auf den orangenen Cowboyhut mit den beiden Smiley-Gesichtern.

Ihre unterschiedliche Mimik spiegelte Ace' Innerstes wieder. Die Zerstreutheit, welche ich in seinen Augen erkannte.

Einzig mir hatte er sie in einem unbedachten Moment offenbart.

 

Ich wollte Ace schützen. Sein ehrliches Lächeln bewahren. Ihn sorglos sehen.

Dies war mein oberstes Ziel.

 

Doch als ich seiner gehenden Figur nachschaute, wusste ich, wie weit ich von ihm entfernt war.

Das, was uns trennte, war Vertrauen. Es aufzubauen unsere Hürde.

 

Nachdem Ace aus meinem Blickfeld verschwunden war, blickte ich abermals auf die Feder, gegen welche ich kurz darauf sanft blies. Sie wiegte stumm in der nächtlichen Luft, in Ace' Richtung getragen werdend.

Ihr Ankommen blieb ungewiss, ihr Weg weit, doch ihr Ziel vor Augen bleibend.

 

Schmunzelnd sah ich ihr nach, ehe ich mich locker von dem Geländer abstieß und ging.

Ich würde Ace zur Freiheit verhelfen. Selbst wenn ich dabei meine eigene aufgeben musste.

 

 

--

 

 

Mein Name war Marco Newgate.

Als Vaters erster und einzig dokumentierter Adoptivsohn machte ich es mir zur Aufgabe, meine Brüder und Schwestern zu beschützen. Von Natur aus hegte ich ein leichtes Misstrauen gegenüber neuen Familienmitgliedern, wie dem kürzlich in unserem Kreis aufgenommenem Marshall D. Teach und Vaters neuestem Sohn Ace.

 

Über ihn wussten wir nichts, außer die drei Buchstaben seines Namens. Was unter Whitebeards Obhut auch nicht von Wichtigkeit war. Hier wurde man als Mensch angenommen, als derjenige, wer man war. Die Vergangenheit spielte dabei keine Rolle.

Vaters Worte lauteten:

`Jeder kann sich ändern, wenn man ihn zum richtigen Weg geleitet. Eine Veränderung beginnt mit dem Willen. Eine Familie ist die stärkste Unterstützung und der treueste Begleiter.´

 

Vater stellte keine Ansprüche an seine Söhne und Töchter und ließ uns alle Freiheiten, sodass wir unser Leben frei gestalten konnten. Sein einziger Wunsch war, dass wir ihn ab und an besuchten, damit er `den Werdegang seiner Gören nicht verpasste.´

Darum erbaute er die Moby Dick, als Treffpunkt. Sie war unser zweites Zuhause.

Für diejenigen, die keine Obdach hatten, sogar ihr Einziges. Im Kellergeschoss gab es genügend Schlafplätze.

 

Thatch trat unserer Familie nach mir bei. Damals waren wir beide fünfzehn Jahre alt. Zu behaupten, wir wären pflegeleichte Söhne gewesen, wäre eine Lüge.

Vater hatte uns oft beim Raufen erwischt. Doch lachte der früher noch grau-blonde Mann ausgelassen, nannte uns seine `unbelehrbaren Satansbraten´ und verdonnerte uns dann dazu, den jeweils anderen zu verarzten.

Die anfängliche Feindschaft zu Thatch wurde eine innige Freundschaft, mit jedem weiteren Jahr an Stärke gewinnend.

 

Ich vertraute Thatch, wie niemand anderem. Allerdings galt dies nicht für alle seine Entscheidungen.

Als er Ace zur Moby Dick einlud, zweifelte ich an seinem gesunden Menschenverstand. Thatch kannte ihn weniger als zehn Minuten, doch beteuerte er `etwas in ihm gesehen zu haben´, was meinen Augen zunächst verborgen geblieben war.

Am selben Nachmittag suchte ich Vater auf, um ihn über seinen neuen Besucher in Kenntnis zu setzen und ihm meine Zweifel mitzuteilen.

 

„Du machst dir wieder zu viele Sorgen, Sohn“, winkte er ab und freute sich über Ace' Kennenlernen, dem ich heimlich zuhörte. Wie ich Vater kannte, wusste er, dass ich in der Nähe war.

Einmal schweiften seine Augen beim Gespräch mit Ace unbemerkt Richtung der Treppe, auf der ich stand, woraufhin seine schnurrbärtigen Mundwinkel leicht nach oben glitten.

 

Vaters Entscheidung war Gesetz, sein Entschluss unanfechtbar;

Er erklärte Ace zu seinem Sohn. Zu unserem Bruder.

Innerlich atmete ich auf, konnte meine Abwehrhaltung für einen Moment ablegen und die Feier zu Ehren unseres neuen Mitglieds in vollen Zügen genießen.

An dem Abend erklärte ich mich selbst zu Ace' Beschützer.

 

Von der Ferne wollte ich über ihn wachen, eine familiäre Grenze zwischen ihm und mir schaffen, damit Emotionen meine Aufgabe nicht beeinflussten.

Ace durchbrach meine Trennwand, noch ehe ich sie vollständig aufbauen konnte. Er überschritt die dünne Linie, als wäre sie nie vorhanden gewesen.

Seine körperliche Nähe traf mich unerwartet. Seine mich umarmenden Arme sich wie Ranken um mich schlingend, bis zu meinem Innersten vordringend. Meine gefrorene Grenzlinie wurde zu einem Kreis aus Feuer, der sich um uns legte.

 

Ace' seelische Flamme ist gefährlich und zerstörerisch...

 

Doch erloschen die aufflackernden Lohen augenblicklich, als ich Ace' Körper nicht mehr an dem Meinen spürte. Einzig dunkle Asche war es, die in mir zurückblieb.

Wie ein Phönix, welcher aus ihr emporstieg, fühlte ich mich wie neu geboren.

Eine Sekunde, in der Ace mir Leben einhauchte... Emotionen gebend, die ich nicht zu leugnen brauchte.

 

Ich war ein Mann mit Ehre und Stolz, zu mir selbst und meinen Empfindungen stehend:

Ich fühlte mich zu Ace hingezogen.

 

 

Das war auch der Grund, warum mein Blick aus dem Augenwinkel hin und wieder zu seiner muskulösen Brust glitt. Wie auch am heutigen Tag.

Nur in Feuer-musternder Badeshorts bekleidet, stand Ace wenige Meter neben mir, der ich im Sand des Strandes saß. Ausgelassen unterhielt er sich mit Thatch, der ihn herbestellt hatte.

 

Heute war der 6te April, Vaters Geburtstag.

So ziemlich alle seine Kinder hatten sich hier versammelt, die Anwesenheit war Pflicht. Der Frühling im Süden Japans trug ein mildes Klima, angenehm für einen Strandausflug.

Für unseren Vater hätten wir selbst im kältesten Winter draußen gefeiert.

 

Aus Prinzip nahm Vater keine Geschenke von uns an, weil `wir sein größtes Geschenk seien.´

Zu Sake sagte er jedoch nie nein. So kam es auch dieses Jahr, dass er von Sake-Flaschen aus aller Welt überhäuft wurde.

Nur von mir erhielt er keinen. Vaters Gesundheit ging vor.

 

„Du starrst ihn an“, wurde ich plötzlich aus meinen Gedanken gerissen, meine Augen von Ace abwendend und zu Izous schmunzelndem Gesicht richtend. Selbst am Strand trug Izou seinen Kimono, nur lockerer um seine Schultern liegend.

Meine violette Bluse lag ordentlich zusammengefaltet neben mir. Oberkörperfrei streckte ich nun meine Glieder auf dem blauen Badetuch aus. Dabei einen Arm hinter meinem Kopf verschränkend und meine Augen schließend.

 

„Ich weiß, yoi“, entgegnete ich meinem Bruder gelassen, der Dialekt meiner alten Heimat wie so oft unbewusst über meine Lippen kommend.

„Wie aufmerksam von dir, dass du mich daran erinnerst.“

 

„Dafür sind Brüder schließlich da“, setzte Izou sich schmunzelnd zu mir und ging nicht weiter auf das Thema ein. Stattdessen den Cocktail trinkend, den er hielt.

„Weißt du“, begann er nach einem längeren Moment des friedvollen Schweigens, seinen Blick auf die schlagenden Wellen vor uns gerichtet.

„Du wirkst anders... ausgeglichener. Wer bist du und was hast du mit meinem Bruder gemacht?“

 

Eine Antwort gab ich ihm nicht. Izou wollte auch keine hören.

Das Wellenrauschen die Ruhe zwischen uns untermalend, bis ein ohrenbetäubendes Platschen ertönte.

Ich brauchte nicht hinzusehen um zu wissen, wer ins Meer gesprungen war. Die riesige Fontäne erzeugend, die bis zu mir reichte und meine sandalierten Füße benässte.

 

„Er hat es wieder getan“, kommentierte Izou amüsiert seufzend das Bild, welches ich mir vor meinem inneren Auge vorstellte.

Unser Vater konnte nicht schwimmen, was ihn allerdings nicht von seinem geliebten Element fernhielt. Weswegen er im Wasser stets einen überaus peinlichen Schwimmring, in Form eines Wals um seinen umfangreichen Bauch trug.

Vater bereute nichts.

 

Frauen und Männer in freizügiger Bademode folgten seinem Beispiel, sprangen ins Meer und gesellten sich zu ihm. Nach dem Sturm von trampelnden Füßen und Platsch-Geräuschen, wurde es erneut ruhig auf unserer Uferseite.

Die lauten Stimmen aus dem Wasser waren nur noch entfernt hörbar, doch dafür Teachs prägnantes Stimmorgan umso deutlicher.

 

„Hey, Schönheit, wie wär's mit uns b-?“, kassierte Teach eine Ohrfeige von der vollbusigen Dame, an deren Bikinioberteil sein grinsendes Zahnlücken-Gesicht etwas zu tief versunken war.

„Du verpasst was... nämlich mich. Ruf mich an!“, rief er ihr noch hinterher, ehe ihm wohl einfiel, dass sie seine Nummer nicht hatte... nicht haben wollte.

Beleidigt ließ er sich seitlich liegend auf den Sandboden fallen und betrank sich stattdessen mit Kirschbier. Seine Augen blieben an dem gehenden Gesäß der Frau. Sein voluminöser Bauch ragte auf dem Sand, beim Anheben seines Arms sichtbar wippend.

Um es milde auszudrücken:

Blackbeard ähnelte einer trächtigen Seekuh, die an den Strand gespült worden war.

 

Ace setzte sich zu Teach in den Sand, wohl Mitleid mit ihm habend. Kräftig haute er ihm mehrmals auf seinen Rücken und lächelte ihn an. Sein Grinsen besaß jedoch wenig Echtheit.

 

„Viel Glück beim nächsten Mal“, versuchte er ihn aufzumuntern, Teach dabei die Bierflasche aus seinen Händen reißend und mehrere Schlucke trinkend.

„Wie heißt es noch gleich... Jedes Fass findet seinen Deckel! ...Oder so.“

 

Im nächsten Moment versperrte mir Thatch mein Sichtfeld, der sich zu Izou und mir gesellte.

Mit seinem Finger schnippte er leicht gegen meine Stirn und sah mich grinsend, doch musternd an.

 

„Wenn du weiterhin so grimmig guckst, werden deine Sorgenfalten der Mondoberfläche bald Konkurrenz machen“, wusste Thatch meine ausdruckslos-müde Mimik zu deuten und warf dann einen belustigten Blick zu Ace, der mit seinem Rücken zu uns saß.

„Lass den Jungen doch trinken und seinen Spaß haben. Man lebt schließlich nur einmal! Stimmt's, Izou?“

 

„Ich enthalte mich“, antwortete unser Bruder ihm entschieden, zückte stattdessen seinen rosa-violetten Lippenstift und zog die Farbe seiner Lippen nach, ehe er einen leichten Kussmund in Thatchs Richtung formte.

Ein paar Essstäbchen aus seinem Kimonoärmel ziehend, nahm Izou eines der Lunchpakete an sich, die Thatch grinsend vor uns auf der Decke ausbreitete.

Thatch war nicht nur ein herausragender Konditor, sondern auch ein hervorragender Koch, sodass er sich bei Familienfeiern freiwillig um die Vorbereitungen für die dutzenden Mahlzeiten kümmerte.

 

So richtete er auch heute mit einem stolzen Grinsen das Picknick an.

Berge an Essenspaketen und Süßspeisen fanden ihren Platz in unserer Mitte, einen süß-deftigen Geruch verbreitend, der zwei hungrige Strandbesucher anlockte.

Ace und Teach lieferten sich ein Wettrennen zu unserem Platz. Allen voran der Cowboyhutträger, der mit einem weiten Sprung über den Sand schlitterte und mitten zwischen uns durchrutschte.

Dabei vier Lunchboxen erbeutend und Sandkörner in alle Himmelsrichtungen verteilend.

 

„Erster!“, rief Ace jubelnd, zwei Meter neben uns auf seinem Bauch liegen bleibend. Noch während dem Rufen verschlang er das erste Paket restlos.

Der zweite Renner folgte ihm, schwer schnaufend nach den Kirschmuffins greifend, von denen er Drei ohne Luftholen in seinen schwarzbärtigen Mund steckte. Hustend klopfte Teach sich auf seine Brust, ehe er sich atemlos-lachend neben Thatch setzte, ihn belustigt ansehend.

 

„Irgendwann werden deine Kirsch-Bomben meinen Tod bedeuten, Thatchi!“, scherzte er und griff nach dem nächsten Muffin, in den er tatkräftig biss.

Beim Kauen schlug er sich leicht auf seinen rundlichen Bauch, ihn stolz mit seiner flachen Hand reibend.

„Von nichts kommt nichts! Mein Körper muss in Topform bleiben!“

 

Wohl eher: `in Topfform´...

 

Izou klappte mit einer lockeren Armbewegung seinen kunstvollen Handfächer auf, sich mit ihm Luft zu wedelnd. Dabei sah er zum Meer, in dem unsere Brüder und Schwestern ein belebtes Wasserball-Match austrugen.

Auch Ace – der seine vierte Portion verzehrt hatte – wurde auf die lachenden Stimmen aufmerksam, sodass er seinen Kopf neugierig in Richtung Spieler-Menge drehte. Die euphorische Stimmung schien sofort auf ihn überzugehen.

Mit einem Satz sprang er auf, seinen Cowboyhut in der Hocke richtend, ehe er stürmisch losrannte.

 

„Was dagegen, wenn ich mitmache?“, rief Ace den Schwimmern in weiter Distanz beim Sprinten zu, sich immer weiter von uns entfernend, bevor seine Füße den Übergang von Wasser und Ufer erreichten.

Als ich ihm nachsah, wollte ich ihn nicht wieder gehen lassen. Wollte nicht, dass er sich noch weiter von mir distanzierte. Kein einziges Wort hatte ich mit ihm wechseln können.

Ich verwünschte mich für meine selbstsüchtigen Gedanken.

 

Ein weiter Sprung, kopfüber ins Meer... dann verschluckten die Wellen Ace.

 

 

...Hm?

 

Will er denn gar nicht auftauchen...?

 

Meine Augen blieben auf der Wasseroberfläche, unter der Ace abgetaucht war. Die ruhigen Wellen das Einzige, was erkenntlich blieb.

Ein ungutes Gefühl überkam mich, mit jedem verstrichenen Moment stärker werdend, ehe sich meine azurblauen Augen leicht weiteten.

 

Sag mir nicht...

Dass Ace-

 

„Er kann nicht schwimmen!“, sprach Thatch meinen Gedanken aus, der mich zum sofortigen Handeln brachte.

Zwei Sekunden. Mehr brauchte ich nicht, um aufzustehen und loszurennen.

 

Ich werde dich beschützen, Ace!

 

Mit einem Tunnelblick fixierte ich die Meeresstelle, wo sein orangener Cowboyhut ohne dessen Besitzer auftauchte. Über den Sand mit rasendem Puls sprintend, die knirschenden Körner unter meinen Sandalen aufwirbelnd und auf nichts und niemand achtend.

Ich dachte keinen Augenblick daran, stehen zu bleiben.

 

Die Rufe von Thatch und Izou drangen nicht zu mir durch, mein lärmender Herzschlag sie übertönend.

Ihre Warnungen kamen zu spät. Ohne Zögern sprang ich Ace hinterher.

 

Marco, du kannst auch nicht schw-!

 

Mein Körper wurde vom Blau des Ozeans umhüllt, meine Ohren vollends betäubend. Eine Wärme aus Schein und Trug mich empfangend, zu sich in die Tiefe ziehend.

Indessen ich meinen Atem anhielt, öffnete ich meine Augenlider. Das Salzwasser in meinen Augen brennend, die sich nur schwer an das Sehen Unterwasser gewöhnten.

 

Wo bist du, Ace?, war es diese eine Frage, die alles andere nichtig werden ließ.

Nichts, als die Dunkelheit konnte ich erkennen. Blind tastete ich mich durch das Wasser, in dem ich immer weiter hinabsank.

Die Warnsignale meiner Sinne ignorierend, suchte ich in dem unklaren Bild meines Blicks nach Ace' Figur... vergeblich.

 

Dunkelheit ohne Licht...

Wasser der Feind eines jeden Feuers...

 

Erstickt durch die Schwärze,

droht die Flamme des Lebens zu erlöschen...

 

Doch wird sie bis zum letzten Atemzug weiterkämpfen...

 

Mehrmals blinzelnd, wurde es erneut düsterer um mich. Krampfhaft versuchte ich meine Augen offen zu halten. Ihr Brennen schmerzlicher werdend, bis ich sie abrupt zusammenkniff.

Und doch suchten meine Hände fieberhaft weiter nach Ace.

 

Nachgeben konnte und wollte ich nicht.

Einzig der schwindende Sauerstoff meinen Willen letztlich brechend.

 

Mein schwebender Körper wurde schwerer, meine greifenden Bewegungen langsamer, indessen ich mir meines bitteren Fehlers bewusst wurde. Emotionen hatten meine Rationalität vollends ausgeschaltet und mich in diese Lage gebracht.

Das, was ich niemals wollte. Was niemals passieren sollte.

 

Ich Narr...

Wie habe ich dies zulassen können...?

 

Eine solch simple Fehlentscheidung...

Seit wann bin ich so leichtsinnig geworden?

 

Ist es, weil-?

 

Plötzlich spürte ich etwas an meiner rechten Wade. Wie Schlingen aus Seetang sich um mein Bein wickelnd und meine Sinkbewegung ruckartig anhaltend. Was mich dazu brachte, meinen Mund reflexartig zu öffnen, aus dem mehrere Luftblasen aufstiegen.

Kurz darauf verschwanden die fünf Schlingen wieder, stattdessen meinen rechten Oberarm umfassend, während ich meine Augen blinzelnd zum Sehen zwang.

 

Ihr Azurblau traf auf dunkles Tigerauge.

Ace' Blick wirkte vollkommen selbstsicher, befremdlich erwachsen, ohne einen Hauch Zweifel.

Im düsteren Meeresblau wurde er mein führendes Licht.

 

Ich war derjenige, der im Irrtum lag; Ace konnte sehr wohl schwimmen.

Wie ich feststellte, als er mich zurück an die Oberfläche zog.

 

Meine Selbstsucht und meine Sorge sind meine größten Schwächen...

Zusammen mit ihm, den ich vergebens versucht habe zu schützen...

 

Zeitgleich durchstießen wir die Wellen, erreichten die Sonne, ehe wir synchron tief einatmeten und angestrengt husteten.

Ace krallte seine Finger links und rechts in meine Schultern, mich oben haltend, während er mich verärgert ansah. Seine Stimme spiegelte seine Erbostheit gleichermaßen wider.

 

„Warum bist du mir nachgesprungen?!“, wollte er wissen, ich meine Lippen zum Antworten öffnend;

„Weil-“, doch ließ er mich nicht zu Wort kommen.

 

„Du hättest ertrinken können, Idiot“, wurde Ace' expressive Stimme milder, nicht brüderlicher Natur, doch hörbar vertrauter.

Sein Griff um meine Schultern verfestigte sich, als sein Blick in Richtung des Wassers sank und sein Stimmton gnadenlos ernst wurde.

„Setz dein Leben nicht für mich aufs Spiel.“

 

Von einem auf den anderen Augenblick verschwand der kurze Funke seines Innersten, den ich in seinen Augen zu erkennen glaubte. Ist es Furcht oder Zweifel gewesen, den sie mir gezeigt haben?

Mit seinem gewohnten Grinsen hob Ace erneut seinen Kopf, mir fest in die Augen sehend. Seine schwarzen Haarsträhnen hafteten wirr an seiner Stirn, sodass einzelne Wassertropfen über seine sommersprossigen Wangen hinab perlten.

 

Urplötzlich legte Ace seinen Kopf in seinen Nacken und lachte lauthals los. Mit seinem ausgelassenen Lachen die Anspannung aus der Atmosphäre weichen lassend.

 

„`Marco der Phönix´ ist also eine waschechte Bleiente?“, stellte er belustigt fest, sein Lachen langsam verebbend, während er mir ein offenherziges Grinsen mit strahlend weißen Zähnen zeigte. Kurz zuckte meine linke Augenbraue gefährlich nach oben, ehe meine Lippen ebenfalls zu schmunzeln begannen.

Ace folgende Worte begleiteten uns in das angenehme Schweigen, welches zwischen uns entstand.

„Danke, Marco.“

 

Ich bin derjenige, der dir Dank schuldet...

Eine tiefe Schuld, die ich zu begleichen weiß...

 

Wenige Momente später sah Ace sich um, ich seinen Augen folgend.

Erst dann bemerkte ich ebenfalls die vielen Blicke, die auf uns ruhten. Viele Mitglieder der Familie waren von der Ferne zu uns geschwommen und umringten uns, Erleichterung sich in ihren Augen widerspiegelnd.

 

„Lass uns zurück ans Ufer“, sagte Ace grinsend, sein Arm den Meinigen um seine Schultern legend, ehe er mich zu besagtem Ort brachte.

Thatch und Izou warteten dort auf uns. Letzterer war einem Ohnmachtsanfall nahe, sich mit seinem Fächer wild Luft zu fächelnd. Neben ihm Thatch mit verschränkten Armen stehend und mit einem Fuß abwartend auf den Boden tretend.

Seine brüderliche Strafpredigt war mir sicher.

 

Jedoch blieben meine Gedanken ausschließlich bei Ace.

 

Ich habe vorschnell über ihn geurteilt...

Nicht er ist es, der mich braucht...

 

Bin... ich es?

 

`Setz dein Leben nicht für mich aufs Spiel´, wiederholte ich gedanklich seine Worte. Meine Unnachgiebigkeit über seine Bitte siegend.

Diese Entscheidung treffe ich selbst...

 

Ich würde es jederzeit wieder tun. Für ihn kämpfen, für das strahlende Licht, welches in ihm ruhte.

Ich wollte es hervorbringen, sodass es ewig anwährte.

Es war die Quelle meines Eigenen geworden.

 

Ohne ihn, wäre das Meinige verdunkelt...

 

 

Zunächst musste ich mich jedoch einer anderen Herausforderung stellen; Meiner eigenen.

So ruhig der feierliche Tag auch ausklang, desto beklemmender wurde der morgige.

 

 

--

 

 

Heute war Vaters Untersuchung, zu der ich ihn begleitete.

Schweigend stand ich neben der geschlossenen Tür im Behandlungszimmer. Meine Arme vor meiner tätowierten Brust verschränkt und meinen Kopf leicht gesenkt, vereinzelte, blonde Kurzhaar-Strähnen über meine nachdenklich verzogene Stirn fallend. Meine gleichgültig wirkenden Augen waren auf den weißen Fußboden gerichtet, ihr Azurblau sich von Sekunde zu Sekunde verfinsternd, indessen ich abwartete.

Warten. Mehr konnte ich für Vater nicht tun.

 

Die Worte der Hexe waren es, die mich meine Finger unmerklich in meine Oberarme krallen ließen.

 

„Deine Zeit ist abgelaufen, Edward“, grinste sie, ihre faltigen Gesichtszüge sich zu einem gar belustigten Ausdruck verziehend, während sie sich auf den runden Holzhocker vor der riesigen Liege setzte und ihre Beine überschlug.

„Ein Jahr... höchstens zwei, dann heißt es Abschied nehmen.“

 

Mit einer lockeren Armbewegung setzte die Hexe die grüne Pflaumenweinflasche an ihren spröden Lippen an, ehe sie ihre zwei Brillen mit ihrem Zeigefinger und Daumen über ihre Rentier-braunen Augen schob.

Dabei wurde ihre gealterte Stimme leise und resigniert, gar leicht schwermütig wirkend.

„Du hast es gewusst, Edward, nicht wahr? Dummkopf... Ihr alten Sturschädel seid unverbesserlich...“

 

An wen sie beim Sprechen noch dachte, wusste nur sie selbst. Gegen den Flaschenhals flüsterte sie jedoch ein kaum hörbares Wort, welches wie `Bader´ klang.

Allerdings konnte ich es nicht deutlich genug erkennen, weil Vaters Lachen es übertönte.

 

Gurarararara, nun schau nicht so betrübt, meine Teuerste“, beugte er sich in seiner sitzenden Position grinsend zu ihr herunter auf Augenhöhe und hob mit der Spitze seines Stabs ihr Kinn sanft an, sodass sie zu ihm aufsah.

„Ich habe ein erfülltes Leben gehabt. Wenn ich heute sterbe, werden meine Kinder meinen Willen morgen weitertragen.“

 

Das Schmunzeln, welches die Hexe daraufhin trug, ließ sie um einige Jahrzehnte jünger aussehen. Passend zu ihrem jugendlichen Kleidungsstil: Ihrem dunkel-violetten Sportanzug und ihrem bauchfreien Top, auf dem das Muster von fünf Kirschblütenblättern abgebildet war.

Ein neckisches Grinsen fand Platz auf ihren runzligen Gesichtszügen, während sie sich mit locker verschränkten Armen zurücklehnte und Vater vorwurfsvoll ansah.

 

„Du umgibst dich immer noch mit diesen jungen Dingern“, schmunzelte sie, auf Vaters Krankenschwestern anspielend, und trank abermals einen Schluck der Weinflasche.

„Da könnte ich fast eifersüchtig werden... Obwohl keine von ihnen an meinen Sex-Appeal heranreicht“, gingen ihre Worte in ein leises Kichern über.

Kikiki~, mit meinen jungen einhundertneununddreißig Jahren bleibe ich die Schönste.“

 

Ich hörte ihrem Gespräch längst nicht mehr zu. Einzig Vaters endgültige Diagnose sich in meinen Ohren wiederholend, dabei alles andere um mich herum vergessend.

Vater wird sterben..., brannte sich die bittere Erkenntnis in meinen Kopf, mit ihr ein Gefühl der Machtlosigkeit aufkeimend, die meine verdrängte Furcht zum Vorschein brachte.

 

Die Angst davor, meinen wichtigsten Halt zu verlieren...

Vor dem Verlust und dem Alleinsein...

 

Davor, dass unsere Familie auseinanderbricht...

Und ich mit ihr-

 

„Marco, mein Sohn“, riss mich seine eindringliche Stimme aus meinen Gedanken, ein streng väterlicher Ton sie begleitend. Weswegen meine azurblauen Augen zu ihm aufsahen.

Ein reumütiges Lächeln umspielte seine schnurrbärtigen Züge, als er ruhig zu mir sprach.

„Verzeih deinem selbstsüchtigen Vater... der dir diese Bürde auferlegt hat“, entgegnete er mir leise, doch blieb sein Stimmklang ernst, einzig seine Augen seinen väterlichen Sanftmut widerspiegelnd.

„Ob du es deinen Brüdern und Schwestern mitteilen wirst, überlasse ich allein deiner Entscheidung.“

 

Nein..., untermalte mein sanftes Kopfschütteln meinen stummen Entschluss, meine Augen meine Entschlossenheit reflektierend, während ich Vater weiterhin unbeirrt ansah.

Seine perlgrauen Augen nahmen einen warmen und mitfühlenden Farbton an, als er verstehend nickte.

„So soll es sein. Ich danke dir. Könntest du uns nun für einen Moment allein lassen?“

 

„Natürlich, Vater“, entgegnete ich ihm, der Hexe dankend zunickend, bevor ich geruhsamen Schrittes aus dem Behandlungsraum trat.

Lautlos schloss ich die Tür hinter mir, mein Blick den menschenleeren Gang unbewusst erkennend, während ich stehen blieb. Mehrere Sekunden verharrte ich reglos vor dem Arztzimmer, ehe ich meine rechte Faust ballte und sie kräftig gegen die Flurwand schlug.

 

Warum kann ich die Menschen, die mir wichtig sind, nicht beschützen?!

 

Im nächsten Atemzug erlangte ich meine Fassung vollständig wieder.

Mit ausdrucksloser Mimik und gefasster Körperhaltung verließ ich die private Praxis, deren Gebäudegröße nicht mit der angrenzenden Klinik zu vergleichen war.

Das mehrstöckige Krankenhaus, links von der Arztpraxis Doktor Kulehas, war das bekannteste der ganzen Stadt. Laut Medien arbeitete dort `der beste Chirurg ganz Japans, der aus unbekannten Gründen nicht als solcher bezeichnet werden will.´

Doch selbst der beste Chirurg konnte Vater nicht helfen, seine Lungenerkrankung war unheilbar.

 

Ich werde es nicht akzeptieren...

Akzeptanz ist lediglich ein anderes Wort für aufgeben...

 

Gegen die weiße Säule des Praxiseingangs gelehnt, sahen meine Augen zu der gläsernen Doppeltür der Klinik herüber. Stumm beobachtete ich die Besucher, die dort ein- und ausgingen um mich abzulenken.

Der Erste von ihnen war ein junges Mädchen, welches mithilfe einer Krücke und der Hand ihrer Mutter das schneeweiße Gebäude humpelnd verließ. Das Mädchen trug blond-grüne Zöpfe, sowie ein großes Stofftier in Form eines blauen Hasen aus ihrer Umhängetasche ragte.

Sie nannte ihre Mutter `Oma Cocolo´, ihre hohe Stimme so laut, dass ich den Namen selbst bis zu meiner Position verstehen konnte.

 

Dann stampfte ein rothaariger Punk-Rocker geräuschvoll durch die Türen, sein irres Grinsen ein älteres Ehepaar in die Flucht schlagend, die ihn eine halbe Sekunde zu lange angeschaut hatten. In seiner Pranke hielt er eine gepunktete Plüschmütze, die er mit seinem Mittelfinger locker rotieren ließ.

Er blickte die Mütze an, wie ein Diebesgut, das er der Welt offen präsentierte.

 

Neben ihm lief ein langhaariger Metaller, der ebenfalls eine Kopfbedeckung hielt; Eine Kappe mit einer Aufschrift, die ich von hier aus nicht entziffern konnte.

Wenn man mich fragte, waren beide Mützen gleich unansehnlich. Izou würde sie wohl als `modisches Dilemma´ bezeichnen.

Zusammen ging das auffällige Diebesduo in aller Seelenruhe die Straße entlang, bis sie aus meinem Sichtfeld verschwanden.

 

Wenige Augenblicke später sah ich den Jugendlichen mit Strohhut aus der verglasten Eingangstür treten. Besser gesagt: rennen. Da er Berge von Essen hatte mitgehen lassen, die er während seiner Flucht lachend vor seiner Brust hielt und – ohne seine Hände zu benutzen – im Eiltempo aß.

`Beweisbeseitigung´, würde ich es auf den ersten Blick nennen.

 

Hängt in der Klinik vielleicht ein Selbstbedienungsschild...?

 

Doch kam der Junge nicht weit. Direkt vor dem Eingang parkte nun ein Polizeiwagen, aus dem ein grauhaariger Polizist stieg, der sich ihm in den Weg stellte. Der Gesichtsausdruck des Strohhut-Jungen wechselte von Überraschung zu beleidigtem Rebellieren, ehe sich seine Mimik aufhellte und sie pure Freude zeigte.

An dem Wachtmeister rannte er unberührt vorbei, winkend auf den Polizeiwagen zusteuernd, neben dessen Beifahrertür er stoppte.

 

„Hey, Ace!“, wurde ich augenblicklich hellhörig und besah die Szene aufmerksamer, dabei unbemerkt näher an das Auto herantretend.

Ohne Vorbehalte reichte der Junge einige belegte Brötchen durch das heruntergelassene Fenster. Den Polizisten in seinem Nacken ignorierend, der ihn mit seiner Größe überragte und nicht besonders erfreut über sein Verhalten war.

„Ich hab Essen gefunden, Ace. Es lag einfach in der Küche herum und sah so einsam aus...“

 

Der breit gebaute Beamte packte ihn von hinten am Kragen seiner roten Weste. Wodurch der Junge den Boden unter seinen Füßen verlor und sich wild in der Luft windend gegen den festen Griff wehrte.

Mit den nächsten Worten seitens des Rauchers, knurrend aus tiefster Brust gesprochen, erstarrte der Strohhutträger jedoch sofort.

 

„Ich werde Garp darüber berichten“, brauchte es nur einen Namen, um den Elan des Jungen auszubremsen. Abgelöst von einem Schmollmund, mit dem er seinen Kopf zur Seite drehte und seine Arme vor seiner Brust verschränkte.

Unschuldig pfeifend, sagte er mit verräterischem Unterton; „Aber ich hab doch gar nichts gemacht...“

Die klägliche Lüge konnte ihm niemand abkaufen.

 

„Das kannst du deinem Großvater erzählen“, murrte ihm der Polizist zu und ließ ihn wieder herunter.

An seinen Zigarren ziehend, begab er sich festen Schrittes zum Krankenhauseingang und warf einen warnenden Blick über seine Schulter.

„Du bleibst hier. Ich regel das und dann sprechen wir uns.“

 

Als er ihm den Rücken zudrehte, streckte der Jugendliche ihm die Zunge heraus, weswegen der Beamte sich nochmals launisch umdrehte. Doch formten die Lippen des Strohhuts wieder einen pfeifenden Ausdruck, seine Augen zeitgleich den Himmel über sich interessiert betrachtend.

Nachdem der Polizist im Gebäude verschwunden war, wandte der Junge sich lächelnd zu dem Beifahrer des Wagens.

 

„Ich muss dann los. Wir sehen uns!“, winkte er ihm ab und rannte los, sich nicht im Geringsten um die Anweisung des Gesetzeshüters kümmernd.

„Bestell Smokefoot Grüße von mir!“

 

„Hey, Ruff, warte mal 'ne Sekunde-!“, blieb der Nachruf ungehört, da der Strohhut-Junge bereits über alle Berge war.

„Klasse... jetzt kann ich die dampfende Suppe wieder auslöffeln...“

 

Mit einem quietschenden Klappern öffnete Ace die Autotür und stieg dann seufzend aus, in die Richtung schauend, in die sein junger Bekannter verschwunden war.

Ich hingegen, der wenige Meter hinter ihm stand, vergaß für einen Moment das Atmen, als ich Ace' Erscheinung vollends erfasste.

 

Ace trug eine blauschwarze Polizeiuniform. Eng lag sie an seinem Körper an, die obersten Knöpfe seines Hemds aufgeknöpft, sodass seine hervorgehobenen Brustmuskeln deutlich sichtbar waren. Ohne seinen Cowboyhut wirkten seine zerstreuten, schwarzen Haare wild und rebellisch. In vollkommenem Kontrast zu seinem seriösen Outfit stehend.

Auf den ersten Blick war seine ungewohnte Erscheinung befremdlich, auf den zweiten und dritten überaus reizvoll. Nicht seine Kleidung war es, sonders Ace selbst, der Attraktivität ausstrahlte.

 

Verdammt... und wie attraktiv er aussieht...

 

Ace spürte meine fixierenden Augen in seinem Rücken. Sich langsam zu mir umdrehend, erkannte er mich augenblicklich und begrüßte mich dann mit einem lockeren Handheben.

Mir mit meinen Fingern durch mein kurzes, blondes Haar fahrend, wartete ich, bis er mich erreichte. Als er vor mir stand, musterte ich ihn offen, ehe einer meiner Mundwinkel nach oben glitt.

 

„Yoi, du willst mich doch nicht etwa verhaften?“, deutete ich schmunzelnd mit meinem Blick auf die Handschellen an seinem schwarzen Polizeigürtel und hob beschwichtigend meine Hände.

„Ich plädiere auf unschuldig, Officer.

 

Ace zog die silbernen Handschellen, ließ sie mit seinem Zeigefinger rotieren und erwiderte meinen amüsierten Blick mit seinem belustigten Eigenen.

 

„Wenn du mich nochmal so nennst, kann ich für nichts garantieren“, lag mindere Gefährlichkeit in seiner Drohung, die er jedoch mit einem Lachen abmilderte.

„Ich weiß nicht mal, wo die Schlüssel für die Dinger sind. Ohne Dietrich bist du also aufgeschmissen.“

 

Mit seiner freien Hand öffnete er seine Brusttasche, aus der er ein Dietrich-Set holte, welches er mir grinsend zeigte, bevor er es wieder verschwinden ließ.

Eine meiner geschwungenen Augenbrauen hochziehend, fragte ich ihn; „Wieso...?“

 

„Nur für alle Fälle“, zuckte Ace mit seinen Schultern und steckte die Handschellen wieder weg.

„Es wäre nicht das erste Mal, dass Smokey schlechte Laune hat und mich an den Türknauf der Karre ankettet, weil ich wieder abhauen wollte.“

 

„Du tust das nicht freiwillig?“

„Nope. Sozialstunden, wegen Erregung-von-keine-Ahnung-was... Zu viel, glaub ich.“

 

Schuldlos kratzte er sich an seiner sommersprossigen Wange, sein Grinsen dabei ungetrübt bleibend.

 

„Und was machst du hier?“, stellte er mir die eine Frage, die ich nicht beantworten wollte.

Meine Augen schweiften zu der Arztpraxis, die Vater noch nicht verlassen hatte. Ace gehörte nun ebenfalls zur Familie... demnach sollte ich ihm vertrauen können. Sollte.

Ob ich es auch kann...?

 

„Ich-“, wurde unser Gespräch von dem Polizisten unterbrochen, der stampfend auf Ace zuging.

„Wo ist der Bursche hin?“, fragte er ihn missgestimmt, sich kurz umsehend, ehe sich seine gereizten Augen in Ace' sorglose bohrten.

„Du hattest nicht vor, abzuhauen, oder?“

 

Niemals“, zog Ace das Wort tückisch in die Länge, den Zigarrenraucher angrinsend und seine Arme lässig hinter seinem Kopf verschränkend. Sein Grinsen wechselte dabei in einen frechen Ausdruck.

„Na ja, vielleicht ein bisschen.“

 

Wenigstens ist er ehrlich..., dachte ich mir und erblickte Vaters große Figur, wie er sich unter dem zwei Meter hohen Türrahmen der Praxis duckte, um ins Freie zu gelangen.

Der schlecht gelaunte Polizeibeamte zerrte Ace zurück zu dem Streifenwagen, verfrachtete ihn in den Beifahrersitz und schlug höchstpersönlich die Autotür zu. Ace' Hand winkte mir noch aus dem Fenster, während der Wagen bereits mit durchgedrehten Reifen losfuhr.

 

Ich werde nicht schlau aus Ace...

Irgendetwas verheimlicht er mir...

 

Doch bin ich selbst nicht besser...

Warum fällt es mir so schwer, zu vertrauen?

 

Weil... es Vertrautheit erzeugt...

Und Vertrautheit Verlustangst mit sich bringt...

 

Seufzend sah ich ihm nach, mein Arbeitshandy zeitgleich klingelnd, sodass ich den Anruf empfing.

Noch am selben Abend sollte ich das Land verlassen, im Flieger sitzen und von dort aus die Wolken betrachten. Fliegen gab mir das Gefühl von Freiheit.

Ganz gleich, wie weit ich reiste, mein Zuhause blieb bei meiner Familie.

 

Selbst die größte Entfernung konnte uns nicht trennen...

Keine Krankheit, nicht einmal der Tod...

 

Mein Vater ließ sich durch nichts in die Knie zwingen.

Durch nichts, außer...

 

 

--

 

 

Ace hat versucht, Pops zu ermorden!

 

Die Nachricht verbreitete sich wie ein Laubfeuer unter meinen Brüdern und Schwestern.

Zum Zeitpunkt des Angriffs war ich nicht anwesend. Stattdessen als Veterinär in tropischen Gebieten zum Schutz von aussterbenden Tierarten tätig.

 

Derjenige, der mich über den Vorfall in Kenntnis setzte war Thatch, den ich nach meiner Heimkehr als Erstes antraf. Zusammen mit seinem Verlobten wollte er meine Rückkehr feiern.

Doch hatte Izou kurzfristig abgesagt, da seine neue Kimono-Kollektion einen Modepreis gewann, für dessen Verleihung er sich über das Wochenende in einer anderen Stadt Japans aufhielt. So war es lediglich Thatch, der mit einer Plastiktasche an Bierflaschen vor meiner Haustür auf mich wartete.

 

Von der steinernen Kurztreppe, auf der Thatch saß, sprang er augenblicklich auf, als er mich entdeckte. Im gleichen Atemzug teilte er mir die Neuigkeit mit, die mich meine geschwungenen Augenbrauen zusammenziehen ließ.

 

„Ein Attentat auf Vater?“, wiederholte ich langsam sprechend, während ich die Tür zu meinem ländlichen Haus aufschloss. Deutliche Skepsis untermalte meine Worte.

„Ausgeübt von... Ace?“

 

Thatch folgte mir ins Haus, dabei wild mit seinen Armen über seinem Kopf gestikulierend, sodass die Tüte in seiner Hand laut raschelte.

 

„Wenn ich es dir doch sage!“, klang er aufgebracht, seine Stimme lauter werdend. Als ich meine Lippen öffnete, um meine nächste Frage zu stellen, beantwortete er sie mir, ohne dass ich sie auszusprechen brauchte.

„Pops geht's gut. Er ist mit dem Schrecken davon gekommen, wie man sagt. Du weißt; er ist hart im Nehmen.“

 

Wir setzten uns auf das rotbraune Sofa meines Wohnzimmers, auf dessen Tisch Thatch die gefüllte Tasche mit wenig Schwung warf, ein Flaschen-Klirren ihren Aufprall begleitend. Eines von Thatchs Beinen war waagerecht angewinkelt, auf dem Sitzpolster neben mir liegend, während ich meine Arme locker vor meiner Brust verschränkte und meine Mimik nachdenklich blieb.

 

Ausführlich erzählte Thatch mir von dem nächtlichen Vorfall von vor drei Tagen.

Vater schlief, als sich jemand in sein Schlafzimmer schlich und ihm einen Dolch in seine Brust zu stoßen versuchte. Seinen geschulten Reflexen war es zu verdanken, dass er den Angriff abwehren konnte, wodurch der Täter daraufhin die Flucht ergriff.

Durch die Dunkelheit von Vaters Schlafzimmer blieb der Angreifer unkenntlich. Doch habe man am nächsten Morgen eine einzelne rote Perle gefunden, die auf dem Boden vor seinem Bett lag.

Und jeder hatte die auffällige Perlenkette gesehen, die Ace an dem Trinkabend in der Moby Dick trug.

 

„Ace ist seit dem Tag wie vom Erdboden verschluckt und Pops nimmt den Mordanschlag auf die leichte Schulter. Er hat kein Interesse daran, den Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen. `Meine Kinder wissen, was sie tun´, hat er gesagt“, beendete Thatch seine Erzählung und vergrub laut seufzend sein Gesicht unter seinen Händen.

„Marco, ich weiß einfach nicht, was ich glauben soll.“

 

Brüderlich legte ich Thatch meine Hand auf seine Schulter, sodass er seinen Kopf zu mir drehte und zwischen seinen Fingern hindurch zu mir sah.

Meine ruhige Stimme trug einen ebenso familiären Klang, als mein rechter Mundwinkel leicht nach oben glitt.

 

„Glaube das, was du glauben möchtest“, sprach ich zu ihm, meine Hand von seiner Schultern nehmend, um eine der aus der Tasche gerollten Bierflaschen zu greifen und sie ihm hinzuhalten.

„Denken steht dir nicht, Thatch. Überlass das mir, yoi.“

 

Dankend langte mein Bruder nach der Flasche, als wäre sie seine Rettung. Ihren Deckel an der Kante meines robusten Wohnzimmertischs öffnend, setzte er anschließend ihren Hals an seinen Lippen an, seinen Kopf dabei in seinen Nacken legend.

Mit einem wohligen Aufseufzen senkte Thatch die Bierflasche, sie weiterhin in seinen beiden Händen haltend, bevor er mich entschlossen ansah.

 

„Ace ist es nicht gewesen“, fiel seine Entscheidung, seine Stimme keinen Hauch Zweifel besitzend.

„Er ist unschuldig“, nickte er, sich selbst zustimmend, ehe er äußerst verdächtig grinste.

„So unschuldig, wie du es bist.“

 

Das war der Moment, an dem ich mich an meinem eigenen Bier verschluckte.

Das... hat er nicht gesagt...

 

Langsam drehte ich meinen Kopf zu ihm, in Thatchs schuldfrei schmunzelndes Gesicht blickend, während das Meinige zwischen Unglaube und Gereiztheit schwankte.

Schulterzuckend winkte mein Bruder lachend mit seiner Hand ab.

 

„Was denn? Ist doch nichts dabei, wenn du mit Sechsundzwanzig noch keinen S-“, mein sandalierter Fuß auf dem mit Socken bekleideten Seinen brachte ihn abrupt zum Schweigen. Zeitgleich jaulte Thatch jammernd auf.

„Au au au! Hey, kein Grund gleich die Krallen auszufahren! Ich hab's verstanden, okay? Kein Wort mehr über deine Jungfr-“

 

Nun schmerzten zumindest beide seiner Füße, die er schützend unter sich zum Schneidersitz gezogen hatte.

Beleidigt kämmte er sich seine haselnussbraune Haartolle mit einem kleinen Kamm, ihn anschließend zurück in die Brusttasche seines weißen Knopfhemds steckend. Und legte dann seinen Kopf schief auf seiner Handfläche ab, mich dabei aus zusammengekniffenen Augen vorwurfsvoll ansehend.

 

Wortlos ließ ich Thatchs `bösen´ Blick über mich ergehen, lehnte mich in das Rückpolster meines Sofas und schaute abwesend auf das beleuchtete Aquarium gegenüber von uns, in dem zig bunte Fische schwammen.

Insgeheim war ich meinem Bruder dankbar für die Ablenkung. Ohne sie hätte ich mir aberdutzende Gedanken um Vaters Gesundheit gemacht, was ich ohnehin rund um die Uhr tat.

Morgen würde ich Vater einen Besuch abstatten, um mich von seinem Wohlergehen zu überzeugen.

 

Da Thatch keine Person der schweigsamen Sorte war, hatte er seine mindere Verärgerung bald vergessen und begann erneut zu reden.

Ein anderes Thema ansprechend, bei dem sich seine Gesichtszüge augenblicklich aufhellten.

 

„Ich habe dir doch von dem Verlobungsring erzählt, den ich für Izou besorgen will“, sagte er voller Stolz und Glückseligkeit, mich mit einem breiten Grinsen ansehend.

„Er muss etwas ganz besonderes sein... ein Obsidian. Izou liebt diesen Edelstein. Und ich – sein Ritter mit perfekter Haartolle – werde ihm diesen Wunsch erfüllen!“

 

Thatch versank in einem Sprechfluss aus Prahlereien und Zukunftsplänen, während ich ihm mit halben Ohr zuhörte und weiterhin die Fische betrachtete.

Ich schmunzelte. Wenn mein Bruder glücklich war, war ich es ebenfalls.

 

 

Stunden später, als die Sonne bereits am Horizont aufstieg, waren die Bierflaschen geleert. Thatch sie beinahe allesamt im Alleingang getrunken habend, indessen ich kurz meine Augen geschlossen hatte.

Das lautstarke Klirren, der auf den Glasberg geworfenen Flasche, riss mich aus meinem Minutenschlaf.

 

„Getroffen!“, jubelte der angeheiterte Werfer hicksend, sah mich jedoch daraufhin mit einem entschuldigenden Blick an. Leichte Sprachstörungen zeichneten seine Worte.

„'Tschuldige, hab dich nicht wecken woll'n. Mir ist bloß langweilig. Du schläfst seit... vier Stunden, oder so.“

 

Vier Stunden...?, blinzelte ich mich wach und warf einen Blick auf die Pendeluhr neben dem Aquarium. Tatsächlich... wir haben bereits nach sechs Uhr...

 

Zügig setzte ich mich auf, meinen Rücken knackend durchstreckend, ehe ich müde seufzte.

 

„Ist ein anstrengender Rückflug gewesen“, erklärte ich mit ermatteter Stimme, Thatch dabei fragend ansehend.

„Wieso bist du nicht gegangen, yoi?“

 

Mit einem angetrunkenen Grinsen, das ich zu gut kannte, umspielte sein Zeigefinger eine lose Lockensträhne, die sich von seiner braunen Haartolle gelöst hatte.

 

„Es ist noch Bier da gewesen.“

 

`Ich bin für dich da gewesen´, korrigierte ich ihn gedanklich und schmunzelte verschlafen.

Thatch war unverbesserlich, unvernünftig und unbelehrbar – Ein wahrer Freund und echter Bruder.

 

Doch verschwand mein Schmunzeln, abgelöst von Fassungslosigkeit, als ich die Unordnung an leeren Flaschen, aufgerissenen Snacktüten und Bierflecken auf dem Teppich sah.

 

„Ich geh dann mal besser...“, wusste mein brüderlicher Feind meinen sich verfinsternden Gesichtsausdruck zu deuten und eilte schneller zur Tür, als ich ihm nachsehen konnte.

Mit einem Knall fiel die Haustür zu, aus ihr der leicht torkelnde Thatch rennend, der fast über den einzelnen Treppenabsatz gestolpert wäre. Von draußen hörte ich ihn eine unverständliche Entschuldigung rufen, die nicht halb so ernst klang, wie sie sollte.

Die einzige Ordnung, die mein Jugendfreund kannte, war die seiner Haartolle.

 

Kraftlos fuhr ich mir mit meiner Hand durch meine zerstreute Kurzfrisur, ehe ich mir das Ausmaß von Thatchs Langeweile besah und mich dann ans Aufräumen machte.

Minuten später war ich hellwach, der ungeahnte Frühsport meinen Geist belebend.

 

Mit einer dampfenden Tasse Schwarztee in der Hand lehnte ich stützend auf dem Geländer meiner überschaubaren Terrasse und sah auf den Waldabschnitt vor mir.

Der Morgen war erfüllt von Ruhe und dem Singen der Vögel, von denen sich einzelne neben mich auf den schmalen Holzbalken gesetzt hatten. Ihr wohlklingender Gesang verhalf mir wie so oft beim Nachdenken.

 

Vier Tage ist es nun her, seit dem Angriff auf Vater...

Vor sieben habe ich Ace zuletzt gesehen...

 

Ace, der des Attentats beschuldigt wird...

Ob er von den Vorwürfen weiß?

 

Wie ist die Perle seiner Kette dorthin gekommen?

Wer würde Vater etwas schlechtes wollen?

 

Und... kann ich meinem Bauchgefühl trauen?

 

 

Auf der Suche nach Antworten begab ich mich zur Moby Dick.

Zu dieser frühen Uhrzeit war die Bar geschlossen, doch besaß ich einen Zweitschlüssel, mit dem ich die dunkle Holztür im Mund des grinsenden Wals aufschloss. Im Barinneren empfing mich die Stille, untermalt von Vaters Schnarchen, welches durch sämtliche Räumlichkeiten grollte.

Befremdlich waren die Tische und Hocker unbesetzt, auf denen sonst kein einziger Platz frei gelassen wurde. Als ich durch den tristen Raum ging, erinnerte ich mich an all die Festlichkeiten zurück, von denen jede einen bleibenden Eindruck hinterlassen hatte.

Geteilte Stunden mit der Familie blieben unvergessen.

 

Nachdem ich die Treppe nach oben, zu Vaters Schlafzimmer gestiegen war, blieb ich einen Moment mit locker erhobener Faust vor der riesigen Tür stehen.

Es dauerte nicht lange, da hörte ich die mir bekannte Stimme, die mir vom Inneren ruhig entgegenrief.

 

„Tritt ein, mein Sohn“, drang Vaters Aufforderung gedämmt durch die trennende Holztür, die ich ohne zu zögern aufschob.

In dem großen Bett gegenüber von mir erblickte ich seine liegende Figur. Ein Beatmungsgerät rechts neben ihm stehend, ein abgelaufener Tropf auf der anderen Seite. Die Enden des Beatmungsschlauchs steckten in seinen Nasenlöchern, ihm während dem Schlafen reinen Sauerstoff zuführend, ohne welchen seine Lungen nachts zu versagen drohten.

 

„Guten Morgen, yoi“, begrüßte ich ihn, indessen ich an Vaters Bett herantrat, mich auf den Stuhl neben ihm setzend.

„Verzeih meinen unangekündigten Besuch-“

 

„Ich habe dich erwartet“, unterbrach er mich, seine Lippen schmunzelnd, sodass sein geschwungener Schnurrbart sich leicht verzog.

Er zwirbelte ihn zwischen seinen Fingern, dabei wurde sein prägnanter Blick tadelnd.

„Was habe ich dir über Sorgen beigebracht, Bengel?“

 

Innerlich wollte ich meine Augen rollen, äußerlich seufzte ich.

Väter sind und bleiben Väter...

 

„Dass Sorgen in unserer Familie nicht existieren sollen“, antwortete ich ihm wahrheitsgemäß.

An seine väterliche Weisheit zurückdenkend, die besagte, dass eine zufriedene Familie stets von Sorglosigkeit geprägt war.

Vaters donnerndes Lachen ließ mich fragend zu ihm aufsehen.

 

„Gurarararara! Du fällst nach Jahren noch auf den selben Trick herein“, wechselte sein Blick zur Erheiterung, während der Meinige Verwunderung zeigte.

„Du erinnerst mich auch heute noch an das knabenhafte Rotzgör, als das ich dich kennengelernt habe“, klärte er mich über den Grund seiner angehobenen Stimmung auf.

Doch wurde seine Stimme im nächsten Moment inhaltsreich, indessen er mich gedankenvoll ansah.

„Marco. Du bist viel zu schnell herangewachsen... zu einem Sohn, auf den ich äußerst stolz bin. So schwer es mir auch fällt, dich gehen zu lassen: Treffe deine Entscheidungen selbst und führe dein eigenes Leben. Dein alter Herr wird dich auf deinem Weg begleiten, dich jedoch nicht aufhalten.“

 

Verstehend nickte ich, ihm stumm mitteilend, dass ich seinen Worten aufmerksam zuhörte.

 

„Geh ihn suchen“, schmunzelte er mich wissend an, „und bringe Ace im Namen eures Vaters zurück.“

 

Es war kein Befehl, den er an mich richtete, sondern eine Bitte und ein Zuspruch.

Vater wusste genau, wieso ich zu ihm gekommen war. Wusste, dass ich ihn um Erlaubnis fragen wollte... dass ich Ace um jeden Preis finden wollte.

Als ich aufstand, langsamen Schrittes durch das Schlafzimmer gehend, sprach ich leise in Richtung der geschlossenen Tür, auf der mein Blick ruhte.

 

„Danke, Pops“, lag Vertrautheit in meinen dankerfüllten Worten, bewusst Vaters gebräuchlicheren Namen aussprechend. Bevor ich aus der Tür schritt, hielt ich kurz in meiner Gehbewegung an.

Meine nächste Frage stellte ich ihm ohne mich umzudrehen.

„Du weißt, wer der Attentäter ist, nicht wahr?“

 

„In der Tat, mein Sohn.“

„Und du möchtest ihn nicht verraten, weil du ihn vor unserem Unmut schützt.“

„Du warst schon immer sehr intelligent, Marco.“

 

„Wer ist es?“, fragte ich ohne Nachdruck. Eine Frage, deren Beantwortung allein Vaters überlassen blieb.

Zeitgleich hinterfragte ich den Wahrheitsgehalt der Gerüchte, die über den Mordanschlag im Umlauf waren. Ob es tatsächlich Ace' Perle war, welche gefunden wurde... Ob ein solches Indiz fürwahr existierte.

 

„Ich habe einen dummen Sohn“, begann Vater dann lachend, teils seufzend zu erzählen.

„Squardo hat den falschen Menschen vertraut und ist auf Abwege geraten. Als sein Vater ist es meine Aufgabe, ihn auf jeglichem Wegen zu unterstützen. Verzeihen ist das Privileg einer jeden Familie, Zusammenhalt das Herz und Vertrauen die Seele. Vergesse das nicht, Marco.“

 

Das werde ich nicht, Vater...

 

Als ich das Zimmer schweigend verließ, traf ich im Bargeschoss auf die verschlafenen Gesichter meiner Brüder und Schwestern, die durch das grollende Lachen Vaters geweckt wurden. Zeitgleich traf ich eine Entscheidung.

Selbstsicher stellte ich mich auf den dunklen Tresen, mittig der vorderen Räumlichkeit, bevor ich meine Hand hob und somit alle Blicke auf mich zog.

Dann begann ich meine Ansprache, meine Stimme von Erhabenheit und Stolz gezeichnet.

 

„Ihr habt mich schwer enttäuscht“, gab ich ehrlich zu. Einen jeden von meinen anwesenden Geschwistern in die Augen sehend, die anfänglich überrascht wirkten, dann reuevoll abgewendet wurden.

„Ihr glaubt, Ace ist der Schuldige? Ich lege meine Hand ins Feuer, dass dem nicht so ist! Wer seine Schuld beweisen kann, solle vortreten“, forderte ich drastisch, zusehend, wie die Menschenmasse sich gegenseitig ratlose Blicke zuwarf, keiner von ihnen sich bewegend.

„Ich erwarte, dass ihr euch bei Ace entschuldigt und aufhört, ihn als Außenseiter zu behandeln. Ace hat mein Leben gerettet, verdammt! Er ist euer Bruder. Er gehört zu uns“, sprach ich entschlossen weiter und beendete dann meine Rede, in dem ich meine Hand ballte und sie hoch in die Luft hielt.

Wir sind eine Familie, yoi!

 

„Jawohl!“, stimmten meine Brüder und Schwester im Chor ein, ihre Fäuste zur Decke schnellend. Wodurch ein Schmunzeln meine Lippen zierte, als ich ihre energischen Worte hörte.

„Lang lebe unsere Familie!“

 

Lässig sprang ich von der Bartheke herunter, meinen Geschwistern abwinkend, während ich in Richtung Ausgang steuerte, zwischen dem vor mir geteilten Weg hindurch spazierend.

Ich habe niemals an Ace' Unschuld gezweifelt..., dachte ich mir selbstsicher schmunzelnd, schnellen Schrittes aus der Tür gehend, ehe meine Gehbewegung in ein beherrschtes Rennen überging.

 

Ich habe ihm vertraut, ohne es zu bemerken...

Schwer ist dies tatsächlich nicht gewesen...

 

Wie habe ich mich all die Zeit davor fürchten können?

 

Warte auf mich, Ace...

Ich werde zu dir kommen und nicht eher gehen, bis du mit mir zurückkehrst...

 

 

--

 

 

Shishishi, du siehst aus, wie eine Ananas!“, zeigte der strahlende Strohhut-Junge lachend mit seinem Finger auf meinen Kopf. Seine unruhigen Hände den Drang besitzend, meine Frisur anfassen zu wollen, weswegen ich meinen Kopf mehrmals aus seiner Reichweite neigte.

„Du riechst sogar wie eine!“

 

Warum erinnert mein süßliches Männerparfüm jeden an diese Frucht?, seufzte ich gedanklich und hielt meine Mimik ernst, wodurch sich der Ausdruck des Strohhuts ebenfalls änderte, in humorlose Neugier.

Ich sah ihm fest in seine rehbraunen Augen, als ich ihn direkt fragte;

„Weißt du, wo Ace ist?“

 

Sofort wurde sein Blick von vollkommener Ernsthaftigkeit geprägt. Seine flache Hand auf die Hinterseite seines Strohhuts legend, zog er seine Hutkrempe langsam über seine Augen, auf welche ein leichter Schatten fiel.

In seiner befremdlich ruhigen Stimme lag ein deutlicher Hauch von Bedrohlichkeit.

 

„Warum willst du das wissen?“, forderte er eine Antwort, auf die er geduldig wartete. Meinen Blick niemals meidend, ihm charakterfest standhaltend.

Der Junge vor mir schien mir direkt in meine Seele zu schauen, seine Augen voller Willensstärke.

Gegensätzlich zu meiner Stimme, die mir plötzlich nicht gehorchen wollte, wie ich es wünschte.

 

„Ich bin sein Br- ...ein Bekannter“, brachte ich dieses eine Wort nicht über meine Lippen, die ich im gleichen Moment zu einem dünnen Schlitz aufeinander presste.

Erneut zum Sprechen ansetzend, nahm meine Stimme einen gefühlvolleren Klang an.

„Bitte. Sage mir, wo ich ihn finden kann.“

 

Sekunden verstrichen, in denen er mich lediglich stumm ansah. Prüfend, ob er mir vertrauen konnte.

Bis er abermals zu reden begann, dabei zeigte er in Richtung des Berges.

 

„Ace ist im Wald vor unserer Hütte.“

 

Mehr Informationen brauchte ich nicht, um mich in Bewegung zu setzen.

Dankend nickte ich dem Jungen zu, ehe ich mich ohne Zeit zu verlieren zu besagtem Wald begab.

Zeitgleich empfand ich ehrlichen Respekt für den Strohhut, der einem Fremden, wie mir sein Vertrauen schenkte. Unsere kurze Begegnung würde ich noch lange Zeit im Gedächtnis behalten.

 

Dem Bergpfad nach oben folgend, gelangte ich nach einigen Minuten zu einer Abzweigung, die zwischen den dichten Bäumen mit Fußspuren und plattem Gras markiert war.

Ich hielt mich an den erkenntlichen Trampelweg, immer weiter in das Waldgebiet vordringend, in welchem ich mich nicht auskannte. Was ich auch nicht brauchte.

Mit einem klaren Ziel vor Augen, ließ ich mich von meinem Willen voran führen.

 

Ace..., füllten die drei Buchstaben seines Namens meine zerstreuten Gedanken.

Was ist in meiner Abwesenheit geschehen, dass du dich zurückgezogen hast?

 

Schließlich erfassten meine Augen ihn, wodurch alles andere an Bedeutung verlor.

Auf einer Waldlichtung stand er, mit dem Rücken zu mir gedreht. Anfangs glaubte ich meinen Augen nicht, weswegen ich mehrmals blinzelte, um ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen.

Gleichzeitig fand ich aus meinem Stillstand heraus, mein Körper zu neuem Leben erwachend, sodass ich schnellen Schrittes auf ihn zuging. Erst wenige Meter vor seiner stehenden Figur wurde ich langsamer.

 

Er wirkt so anders..., bemerkte ich seine befremdlich abwehrende Körperhaltung, die merkbar verkrampft schien.

Ich muss seine Augen sehen...

Muss wissen, wie sie mich anblicken werden...

 

Wie in Zeitlupe drehte Ace sich zu mir um. Der Ausdruck seiner Mimik keine Verwunderung widerspiegelnd, stattdessen gekennzeichnet von tiefer Verletztheit.

Meine Brust zog sich bei dem Anblick schmerzlich zusammen, zeitgleich ergriff mich Wut. Unbestimmt und an niemand bestimmtes gerichtet. Es erzürnte mich, dass er aus einem mir unbekannten Grund so fühlen musste.

Ich wollte den Auslöser erfahren und würde nicht eher gehen, bis ich meine Antwort gefunden hatte.

 

Welcher Schatten ist es, der dein Herz verdunkelt?

Wie kann ich ihn vertreiben?

 

Werde ich es diesmal können? ...Dich beschützen?

 

Meine aufkeimenden Emotionen zwang ich zur Beherrschung, jegliche Gefühlsregung in mir verdrängend, ehe ich nichts mehr fühlte. Unterkühlte Rationalität ihren Platz einnehmend.

Ich wusste bereits, dass das Folgende mich innerlich treffen würde, weswegen ich dies nicht zuließ.

 

Nicht noch einmal...

 

Neutral, gleichgültig und gefühllos war mein Blick, als Ace vor mir stehen blieb. Stumm blickte ich ihn an, beobachtete, wie er sich seinen Cowboyhut aufsetzte und ein leises Knurren seine zusammengezogenen Lippen verließ.

Dem Mann, welchem ich nun gegenüberstand, war nicht derjenige, den ich kannte. Er war ein Schatten seiner selbst, wie die Dunkelheit, die von innen heraus nach außen gedrungen war und Besitz von ihm ergriffen hatte.

Als Ace zu sprechen begann, erschien seine distanzierte Stimme mir vollkommen fremd.

 

„Was willst du hier?“, klang seine Frage aufgebracht, gar anklagend. Seine Stimme einen bitter-enttäuschten Farbton annehmend, während seine Augen im Schatten seiner Hutkrempe verborgen blieben.

„Willst du mich verurteilen, wie all die anderen?!“

 

Wie ich es befürchtet habe...

Er weiß also tatsächlich von den Vorwürfen...

 

„Ich habe sie gehört... Jedes einzelne Wort, das sie über mich sprechen“, wurde sein verbitterter Stimmton leiser, dabei griff er mit seinen Fingern an seine Hutkrempe, sich in ihren Stoff krallend.

Dann gewannen seine Worte erneut an aggressiver Unbeherrschtheit.

„Was willst du?! Was erwartest du von mir?“

 

Die erdrückende Stille folgte seiner Frage, sodass ich mich gezwungen fühlte, ihm zu antworten.

Meine Augen blieben gleichgültig, meine Stimme gefasst, als ich unberührt sagte;

„Nichts, yoi. Ich weiß nicht, was du meinst.“

 

Ace' Kopf war leicht gesenkt, einer seiner Mundwinkel gekränkt nach oben gezogen, ehe er humorlos auflachte.

„`Nichts´“, wiederholte er ungläubig, das Wort langgezogen und anzweifelnd betonend.

 

Langsam hob er seinen Kopf, mich charakterfest anschauend, bevor seine Mimik in einen Ausdruck wechselte, welcher mich irritierte.

Ace' Temperament wurde plötzlich abgelöst von Sanftmut und Rücksicht.

 

„Warum sehen deine Augen dann so traurig aus, Marco?“, fragte er mich leise flüsternd, einen Schritt auf mich zugehend, indessen ich meinen Beinen verbot einen halben zurückzuweichen.

Seinen Cowboyhut mit seiner flachen Hand über seine Stirn nach oben schiebend, warf seine Hutkrempe einen seichteren Schatten über seine braunen Augen, die mich intensiv ansahen. Ihr mitfühlender Blick einen Riss in die harte Schale meiner erkalteten Gefühlswelt brechend.

Das Knacken der Einkerbung war in meinem Innersten deutlich wahrnehmbar.

 

„Hör auf, dir selbst was vorzumachen“, forderte er mich auf, mich durchschauend, mich brechend.

Er hob seine Hand, sie langsam in meine Richtung streckend, als wenn er mich berühren wollte. Doch ließ er sie sofort wieder kraftlos sinken.

Ein geschlagener Stimmklang begleitete seinen besiegten Gesichtsausdruck, einige schwarze Haarsträhnen über seine sich schließenden Augen fallend, während er seine Hand zur Faust ballte.

„Marco... Was bin ich für dich? Ich dachte, wir wären Freunde... Brüder-“

 

Das sind wir nicht“, fiel ich ihm scharf ins Wort, meine unerschütterliche Aussage ihn merkbar verletzend, was ich an seinen zusammengepressten Lippen sehen konnte.

„Wir können keine Brüder werden“, erklärte ich ihm kalt, meine Augen von ihm abwendend, da ich ihnen nicht mehr traute. Sie waren trügerische Verräter.

„Wir können nicht, weil...“

 

Meine leiser werdende Stimme verblasste.

 

Weil?“, drängte er mich dennoch zu einer Antwort, die Verletztheit seiner Stimme Bitterkeit und Wut weichend. Meine Augen schließend, seufzte ich stumm und entschied mich für die Aufrichtigkeit.

Sie war es, die den dunklen Braunton in Ace' Augen zu erkalteter Kohle werden ließ.

 

„Weil du anders bist.“

 

Ich kann dich nicht wie einen Bruder lieben...

Tut mir leid-

 

Ace' rechte Faust krachte gegen meine linke Wange.

Sein Schlag war hart. All die verbitterten Emotionen besitzend, welche er über die Jahre angesammelt hatte.

Ich spürte sie. Spürte, wie dunkel sein Herz aussah, wie schwer seine Bürde war und wie er sie mir zuteil werden ließ... Der kurze Schmerz seines Schlages war nichts, gegen sie.

 

Ich hatte seine Faust kommen sehen und war ihr absichtlich nicht ausgewichen.

Locker hielt ich meine linke Hand gegen die pochende Stelle, ihn verständnisvoll ansehend, als er seinem Leid lautstark Ausdruck verlieh.

 

Es ist wegen meinem verdorbenen Blut, nicht?!“, knurrte Ace wütend, seine Fäuste geballt bleibend, während sein Blick dem Meinen nicht standhielt und er einen unbestimmten Punkt zu seinen Füßen fixierte.

Seine Stimme wurde leiser, doch behielt sie ihren Selbstzorn.

„Ich bin immer anders gewesen, immer verurteilt worden. Für die einen bin ein Gut-Mensch, der ich nicht sein kann. Andere sehen mich als wertlosen Abschaum, sobald sie den Namen `Gol D.´ hören. Ihre verhassten Blicke... sie machen mich so verdammt wütend! Keiner von ihnen kennt die Wahrheit!“

 

Ich wusste nicht, wovon Ace sprach. Seine Worte ergaben für mich keinen Sinn. Doch solange er sie verstand, brauchte ich es nicht.

Meine Silben, die Bezeichnung `anders´, sowie die falschen Anschuldigungen waren der Auslöser, welcher ihn mit seinen inneren Dämonen konfrontierte, deren Namen nur Ace selbst kannte.

In diesem Augenblick stand ich ihm in seinem Kampf zur Seite.

 

Ace' aufgebrachte Atmung beruhigte sich nicht, jedoch versuchte er es über kurze Zeit, sodass ich nun das Wort ergriff.

Mein Stimmton die Ruhe selbst widerspiegelnd, meine gleichend sanften Augen nicht von ihm ablassend.

 

„Was ist die Wahrheit?“, fragte ich ihn, meine Stimme keinen fordernden Unterton besitzend, ihm damit die Entscheidung lassend, ob er sich mir anvertrauen wollte oder nicht.

Der rücksichtsvolle Klang meiner Stimme brachte ihn dazu, mit gesenktem Kopf zu mir aufzusehen. Sein halbes Grinsen trug keine Freude, nur Trübnis.

 

„Ich bin nicht, wie mein Erzeuger“, sagte er mit vollster Überzeugung, seinen Kopf abermals senkend, sodass sein orangener Hut über seine Stirn rutschte, sie bedeckend.

Seine Worte klangen ebenso kraftlos und gebrochen, die Lautstärke seiner Stimme stark schwankend.

„Doch ist es niemals er gewesen, vor dem ich mich gefürchtet habe...“, erzählte er nach kurzem Schweigen weiter, seinen Kopf seitlich legend und mich mit undefinierbarem Blick ansehend.

Sein gedämmtes Flüstern nichts weiter, als ein kaum wahrnehmbarer Atemhauch.

 

Es ist Liebe. ...Ich habe Angst davor, geliebt zu werden.

 

Gegensätzlich zu seinen Worten, änderte sich beim Sprechen Ace' Blick, mit dem er mich anschaute.

Der braune Farbton seiner Augen nahm die Nuance von dunklem Karminrot an, wie das knisternde Feuer, welches in einem Kohleofen entflammte. Die winzigen Sprenkel seiner dunklen Augenfarbe einen intensiven Kontrast erzeugend, ihr helles Braun den glühenden Funken ähnelnd, die um die Feuerstelle seines Innersten schwebten.

 

Gegen die Flammen seines Herzens kam selbst seine größte Furcht nicht an.

 

Nun wusste ich den Ausdruck in seinen Augen zu deuten.

Es war weder Angst, noch Schwermut oder eine andere, negative Emotion...

Das, was sein Blick reflektierte, war-

 

Plötzlich spürte ich Ace' Lippen auf den Meinen.

Sie ließen mich seine Wärme fühlen, die seine Seelensplitter mir zeigten.

Exakt zeitgleich hatten wir den Abstand zwischen uns überbrückt, jeder einen Schritt auf den anderen zugehend, bis unsere Lippen aufeinandertrafen.

Nur kurz, dann lösten wir die flüchtige Berührung wieder.

 

Unsere Blicke blieben zueinander hingezogen, flammendes Karminrot an loderndes Azurblau.

Den jeweils anderen intensiv anblickend, in dessen Gesicht etwas suchend, was nicht existent war.

Die unsichtbare Barriere zwischen uns vollends niedergebrannt, dauerte es zwei vereinzelte Sekunden, bevor wir einander wieder spürten.

Unser Kuss erfüllt von bindender Vertrautheit und inniger Wärme, fühlbar durch unseren gesamten Körper glühend.

 

Leicht drückte die Krempe vom Ace' Cowboyhut gegen meine Stirn, sodass ich meinen Kopf seitlich legte. Unsere sich bewegenden Lippen in einem anderen Winkel zusammenfindend, ihre Verschmelzung niemals unterbrechend.

Für den Bruchteil einer Sekunde fühlte ich Ace' freches Grinsen, ehe er mir wortwörtlich den Atem raubte.

 

Yoi-!

 

Schwungvoll stieß Ace mich mit seiner durchtrainierten Brust nach hinten, woraufhin mein Rücken mit einem gedämmten Aufprall-Geräusch im weichen Gras landete. Wo ich liegend zu ihm aufschaute, er zu mir herab.

Im nächsten Moment saß Ace auf meiner Hüfte, sich zu mir herunterbeugend und mit einer Hand neben meinem Kopf im Gras abstützend. Seine andere Hand nahm seinen orangenen Hut langsam von seinem Kopf, ihn neben uns ablegend.

Ace' leicht gelockten Haare wurden von einer sanften Windbrise in Bewegung gebracht, während er mich stumm anblickte. Ein gefühlvolles Grinsen seine Lippen zierend, welches sich über seine sommersprossigen Wangen zog.

 

Sein Lächeln strahlt sein inneres Licht aus...

Meine linke Brustseite kann es spüren...

 

Ich war derjenige, der den stillen Moment mit Worten füllte.

Meine Stimme war tief und sanft, meine azurblauen Augen in die Seinen sehend, indessen ich meine Hand hob, um mit meinen Fingerrücken leicht über die winzigen Hautpunkte seiner linken Wange zu streichen.

 

„Du weißt nicht, wie besonders du bist, habe ich Recht?“, glich mein flüsternder Stimmton dem Klang des Windes, dessen Lufthauch die Grashalme um uns zum leisen Rascheln brachte.

Ace' Handfläche neben meinem Kopf krallte sich kaum merkbar fester ins Gras, sodass ich meine eigene Hand nun locker auf die Seinige legte. Meine Lippen dabei ein von Innigkeit erfülltes Schmunzeln formend.

Ich bitte dich... akzeptiere meine Wertschätzung, Ace.

 

Beim Sprechen richtete ich meinen Oberkörper auf, mich auf meinen Ellenbogen nach oben stützend.

Meine Arme legten sich langsam um Ace' verstummte Figur. Wie zwei Flügel, welche ihn schützend umarmten.

Unter seiner warmen Haut schienen sie zu erglühen, ihre Federn gar in behütenden Flammen stehend.

Ace ließ mich meine Flügel spüren, die ich längst verloren glaubte.

 

Ob er sie ebenfalls fühlen kann?

 

Für einen kaum wahrnehmbaren Augenblick verkrampfte sich Ace' Körper in meinen Armen, ehe er die Seinen mit wenig Zurückhaltung um mich schlang und seine Finger leicht in den hellvioletten Stoff meines Rückens krallte.

Seinen Kopf vergrub er in meiner linken Halsbeuge, sein Kinn auf meiner Schulter gelegt. Seine freie Brust an der tätowierten Meinigen lehnend, indessen ich seinen Atem gegen meinen Hals stoßen spürte.

 

Marco“, hauchte Ace mir meinen Namen gefühlsbetont zu, jeder Buchstabe von wärmenden Emotionen untermalt. Seine Lippen waren so nah an meinem Hals, dass sie meinen kraftvollen Puls fühlen konnten.

Seine Stimme brach kurz, wodurch er in einem noch leiseren Ton wisperte. Seine Worte jedoch bedeutungsvoller als alles andere werdend.

Danke... dass du einen nutzlosen Kerl, wie mich-

 

Schweig, yoi“, wurde mein Stimmton scharf und ausdrucksstark, durch meine ausbrechende Emotionalität mein Dialekt hervorkommend. Mein autoritärer Klang brachte Ace dazu, mich überrascht anzusehen.

Mein Blick flüchtig zu seinen Lippen schauend, ehe ich ihm erneut fest in seine Augen blickte.

„Wenn du nicht verstehen willst... werde ich dich spüren lassen, wie wichtig du bist.“

 

Für mich...

 

Die letzten Silben raunte ich expressiv gegen Ace' Lippen, denen ich mit den Meinen jegliches Gegenwort raubte. Unsere Positionen tauschend, war nun ich es, der ihn unter mich ins Gras drückte.

Leidenschaft und Unbeherrschtheit gravierten den Kuss, in welchem ich jegliche Empfindung für ihn vereinte.

Dennoch blieb die intensive Berührung zwanglos, die Ace nach wenigen Sekunden erwiderte.

Worte waren vollends nichtig. Unsere Körper waren im Besitz ihrer eigenen Sprache.

 

Wärme... ist eine Form von Liebe...

Wenn ihr Feuer sich mit Feuer verbindet, wird ihre Stärke allmächtig...

 

Etwas erwachte in Ace. Ob es nun sein Wille war, oder das sich entfaltende Licht seiner linken Brustseite...

Fühlbar durchströmte eine emotionale Erschütterung seinen unter mir liegenden Körper, der den Meinigen abermals impulsiv herumriss.

Seitlich rollten wir über den grasbedeckten Boden, unsere Lippen sich bei der Bewegung trennend und wieder vereinend. Mit jedem Lippenkontakt gewann das leidenschaftliche Element der Hingabe an Intensität. Von Sekunde zu Sekunde unkontrollierbarer werdend.

Unstillbar war unser Verlangen, den jeweils anderen zu berühren. Beinahe so, als ob wir uns verlieren würden, wenn wir uns losließen.

 

Als unsere Zungen einander fanden, tasteten seine erhitzten Finger die Muskeln meines Oberkörpers ab. In einer fließenden Bewegung unruhig links und rechts unter meine offene Bluse gleitend, jeden Zentimeter meiner Haut befühlend.

Ace' Berührungen brannten sich augenblicklich auf meinen Körper.

 

Doch blieb ich nicht untätig, vergrub meine Finger in seinem schwarzen Haar und zog ihn mithilfe seiner roten Perlenkette näher zu mir herunter, unseren Kuss dabei intensivierend. Die kühlen Kugeln seiner Kette lagen auf meiner Brust, seine warmen Fingerkuppen über meine dunkelblaue Kreuz-Tätowierung streichend, während ich ihm sanft knurrend in seine Unterlippe biss.

Ihm verdeutlichend, dass ich Luft benötigte... welche von unser beider Geruch erfüllt war – süßlicher Ananas und frischem Sandelholz.

 

Atemlos sahen wir uns an, nach Sauerstoff ringend, bevor wir unsere Stirn an die des anderen lehnten.

Aus der Nähe konnte ich die kaum wahrnehmbaren Sommersprossen auf Ace' Nasenrücken erkennen, konnte sie gar einzeln zählen, wenn ich es gewollt hätte.

Sekundenlang prägte ich mir ihre unterschiedliche Struktur ein. Mein abwesender Blick über Ace Wangen schweifend, über sein sorgloses Lächeln, bis hin zu seinen schimmernden Augen.

Erst seine charakterfeste Stimme riss mich aus meiner Trance heraus.

 

„Einverstanden“, sagte er mit vollster Überzeugung, seine seelische Entscheidung getroffen habend.

Zärtlich strich er mir durch mein zerstreutes, blondes Haar, anschließend entschuldigend über die leicht gerötete Stelle meiner Wange fahrend, auf die er seine Lippen in einem sanften Kuss voller Reue drückte.

Seinen liebevollen Blick an mich bindend, keine Sekunde von meinen Augen ablassend.

„Ich respektiere deinen Wunsch... und deine Gefühle“, wurde das Lächeln auf seinen Lippen seelenvoll, Glückseligkeit und inneren Frieden reflektierend.

„...unter der Bedingung, dass ich sie erwidern darf.“

 

Mit einem letzten Kuss besiegelten wir unser Versprechen.

 

Ab diesem Zeitpunkt wussten wir, dass uns nichts mehr trennen konnte...

Und dass wir die Dunkelheit gemeinsam besiegt hatten.

 

Zusammen würden wir nun dem Licht der Sonne entgegenblicken.

 

 

 

 

 

~*~

 

 

 

 

 

Eine Woche später.

 

Die Todesstille umgab uns, die Nachtkälte sie untermalend.

Ace griff nach meiner Hand, unsere Blicke nach Vorne gerichtet bleibend, ehe wir Seite an Seite langsam durch den Efeu überwucherten Torbogen gingen. Einzig unsere leisen Schritte über den gepflasterten Weg hörbar, uns immer weiter Richtung unseres Ziels tragend.

Links und Rechts von uns ragten zig steinerne Kreuze aus dem Boden heraus, halb zerfallen, in Einsamkeit zurückgelassen. Weder Ace, noch ich selbst beachteten sie. Unser Weg blieb unbeirrbar.

 

Von Weitem erkannten wir das große Grabmal, auf welches wir zuliefen.

Es war ein Doppelgrab. Über der linken Steinecke ein rot-goldener Umhang liegend, der von den Spuren der Zeit nicht verschont geblieben war. Auf der anderen Eckseite eine Hibiskusblume in den Grabstein aus dunklem Marmor eingraviert.

Als wir uns ihm näherten, konnte ich die Namensinschriften erkennen;

`Gol D. Roger´ und `Puma D. Rouge´, Ace' leibliche Eltern.

 

Unsere Schritte verlangsamten sich, bis Ace und ich vor der in Erde eingesetzten Marmorplatte standen.

Schweigend schauten wir für einen Moment auf den veralteten Grabstein, Ace' Hand die Meinige kurz fester drückend, ehe wir uns auf den erdigen Boden setzten.

Hier und heute wollte ich Ace die endgültige Freiheit schenken. Ihn von seiner Vergangenheit befreien und zusammen mit ihm neu beginnen.

Der Weg hierher war unerlässlich.

 

Ace' tiefes Ausatmen ließ mich zu ihm sehen. Seinen Kopf hob er in Richtung Nachthimmel, seine Augen auf das Firmament gerichtet, während ein aufrichtiges Lächeln seine Lippen zierte.

 

„Ich kann nicht glauben, dass wir hier sind“, begann er leise lachend und lehnte sich auf seinen Armen stützend zurück in die tote Erde. Unglaube aus seiner Stimme heraus hörbar, sein Lachen abmildernd und langsam verstummen lassend. Womit auch sein Lächeln fiel.

„Marco... Ich-“

 

„Ich weiß, yoi“, unterbrach ich ihn ohne Stimmstärke. Ihn verstehend, seine nichtigen Erklärungen nicht hören brauchend, da ich wusste, wie er fühlte.

Erneut umgab uns das Schweigen, in welchem Ace sein inneres Chaos zu ordnen versuchte. Ich wartete, gab ihm die Zeit, welche er benötigte, und leistete ihm stummen Beistand.

Es war das Einzige, was ich für ihn tun konnte. Seinen letzten Kampf musste er allein austragen.

 

Die Zeit verstrich. Sekunden, Minuten... wie lange war gleichgültig.

Das Steuerrad der Zeit wurde von Ace geführt. Als er langsam seinen Cowboyhut auf seinen Kopf setzte, schien der Augenblick angehalten. Erst durch das leise Zischen seines Zippo-Feuerzeugs und das Aufleben der feuerroten Flamme drehte sich die Welt weiter.

Ace' Augen blieben auf dem tanzenden Feuer, selbiges seine Sommersprossen im flackernden Licht unterstreichend. Dabei richtete er seine selbstsicheren Worte an mich.

 

„Lass es uns tun.“

 

Leicht nickte ich ihm zu, nahm die neben mir liegende Kerze an mich und hielt sie ihm entgegen.

Mit seinem Zeige- und Mittelfinger schob Ace die Krempe seines Hutes nach oben, sah mir kurz in die Augen und entzündete dann den Docht. Seine Hand umgriff die Meinige, welche die Kerze hielt, ehe wir sie gemeinsam auf die erkaltete Marmorplatte stellten.

Ihr sanftes Licht umhüllte das Grabmal, ihr Leuchten den einzigen Kontrast zu dem verlassenen Friedhofsgelände erzeugend.

 

Wir hatten unsere Aufgabe erfüllt. Ace die Seinige, ich die Meinige.

Die Kerze Abschied und Abschluss für Ace darstellend, brennend mit unserer verbündeten Flamme.

Ihre Wärme existierte einzig für uns beide, der wir in ihrem Schein unsere Lippen vereinten.

 

 

Bevor wir den Weg in unsere Zukunft bestritten, warf ich einen letzten Blick auf die eingravierten Buchstaben des Grabsteins. Eine Inschrift war dort verzeichnet; Gol D. Rogers letzten Worte.

 

 

`Ihr wollt meinen Schatz? Sucht ihn doch!

Irgendwo habe ich den größten Schatz der Welt versteckt.´

 

Langsam blickte ich zu Ace.

Meine Lippen ein sanftes Schmunzeln formend,

welches meine azurblauen Augen erreichte

und sie in ein klares Himmelblau färbten.

 

Mein Flüstern glich der sanften Stimme der Freiheit.

 

Ich habe ihn gefunden...


Nachwort zu diesem Kapitel:
Das hier ist das Ende der Geschichte. Das nächste `Kapitel´ ist lediglich ein Extra: Ein kurzer Lemon, ohne wesentliche Geschichtshandlung. Komplett anzeigen

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