Überlebt
Jodie schlug die Augen auf und blickte nach oben an die Decke. Das Krankenzimmer war minimalistisch eingerichtet: Bett, Nachttisch, Tisch mit zwei Stühlen und ein kleiner Schrank für ihre Sachen. Die Untersuchungen die der Arzt mit ihr machen wollte, verliefen ohne Komplikationen und hatten keine Auffälligkeiten zu Tage gebracht. Die Schusswunde an ihrem Bauch würde aber noch einige Wochen brauchen um komplett abzuheilen. Wenn alles gut ging, konnte sie das Krankenhaus in einer oder zwei Wochen verlassen. Die restliche Zeit wäre sie entweder zu Hause gefangen oder – wenn das FBI mitspielte – nur am Schreibtisch einsetzbar.
Obwohl Jodie alleine im Zimmer war und niemanden etwas vormachen musste, riss sie sich zusammen. Sie versuchte keine Gefühle an sich heran zu lassen, aber wie sollte es weitergehen? Was würde aus dem Mörder von Nick? Würde man ihn finden? Jodie seufzte. Sie konnte doch nicht einfach nur rumliegen und Däumchen drehen.
In Gedanken ging sie den gestrigen Tag immer und immer wieder durch. Was hatte sie nur übersehen? Was stimmte nicht? Warum hatte sie viel zu spät reagiert? Hätte sie den Täter ein paar Sekunden vorher bemerkt, wäre alles anders ausgegangen. „Dann wäre Nick noch am Leben“, murmelte Jodie zu sich selbst. Sie schloss wieder die Augen und sah Nicks leblosen Gesichtsausdruck als er am Boden lag. Jodie wusste bereits da, dass jede Hilfe zu spät war und sie sich selbst retten musste. Aber wofür? Sie hatte versagt. Und wäre Grayson nicht so schnell da gewesen, wäre auch ihr Leben zu Ende. Ein paar Tränen kullerten über Jodies Wange.
„Scheiße“, gab sie leise von sich. Jodie kannte das Protokoll nur zu gut. Ab jetzt würde ein anderes Agententeam am Fall arbeiten und Grayson könnte nur als Unterstützer agieren. Sie biss sich auf die Unterlippe. Nicht einmal ihren ersten eigenen Fall würde sie bis zum Ende bearbeiten können. Was für eine FBI Agentin war sie überhaupt, dass sie einen Fehler nach dem nächsten beging?
Als es an der Tür klopfte, wischte sich Jodie die Tränen weg und öffnete die Augen. „Herein.“
Laura betrat den Raum und sah zu Jodie. Sie lächelte leicht. „Agent Starling, wie schön das Sie wohlauf sind. Ich weiß nicht, ob Sie noch wissen wer ich bin.“
„Agent McKnight“, antwortete die Angesprochene. „Ich habe Ihren Partner vor einigen Monaten versehentlich angeschossen.“ Angeschossen und sich nicht einmal bei ihm entschuldigt. Im Trubel und aufgrund ihrer eigenen Feigheit war das einfach untergegangen.
„Genau. Haben Sie zwischenzeitlich Mal mit meinem Partner gesprochen?“
Jodie schüttelte den Kopf. „Ich hatte es vor, aber dann war ich durch die Arbeit sehr eingespannt.“
„Verstehe“, gab Laura von sich. Mal sehen wie gleich das erste Treffen der Beiden abläuft. „Wir sind getrennt hierhergekommen. Er wollte noch mit Ihrer Mutter sprechen.“ Zumindest hatte er es in seiner Kurznachricht so erklärt. „Wenn er hier ist, möchte ich Sie gerne zu den gestrigen Geschehnissen befragen.“
„In Ordnung“, antwortete Jodie. „Für Nick kam jede Hilfe zu spät, nicht wahr?“
Laura nickte. „Es tut mir wirklich leid. Ich habe schon gehört, dass sie die letzten Monate viel Zeit mit ihm verbracht haben. Das muss schwer für Sie sein.“
„Ja…ist es…“, sagte die Agentin leise. „Was ist mit…Grayson? Er…ist dem Täter in den Konferenzraum gefolgt…wurde Grayson verletzt?“
„Nein, Agent Grayson geht es gut.“
„Das ist gut.“ Jodie war sichtlich erleichtert.
„Wie geht es denn Ihnen?“
„Naja…muss ja…“, gab sie leise von sich. „Der Arzt hat gesagt, dass ich noch einmal Glück gehabt habe. Die Kugel hat keine lebensnotwendigen Organe getroffen und konnte problemlos entfernt werden. Wenn die Naht nicht aufgeht und gut abheilt, kann ich in frühestens einer Woche das Krankenhaus verlassen. Und dann mal sehen.“
Laura nickte verstehend. „Lassen Sie es nur ruhig angehen. Wir können alle verstehen, dass Sie wieder so schnell wie möglich zurück in den Dienst wollen, aber wenn Sie es übertreiben, helfen Sie keinem damit. Das Büro braucht sie noch.“
„Machen Sie sich keine Gedanken. Ich will nichts überstürzen“, log Jodie.
„Das will ich dir auch geraten haben.“ Die Tür war geöffnet worden und Shuichi stand im Krankenzimmer.
Jodie schluckte. „Shu…Shuichi…“, wisperte sie leise.
Laura räusperte sich. „Darf ich vorstellen…mein Partner.“
„Du…du bist…?“
„Ja, ich bin der Agent der den Fall von dir und Grayson übernommen hat. Wir tun alles um den Schützen zu finden.“
„Oh…“, murmelte Jodie. „Ich…ich hab dich…damals angeschossen…“
Akai nickte und schloss die Tür. „Ich weiß.“
„Wieso…wieso hast du nie was gesagt?“, wollte sie von ihm wissen. „Wenn du es gewusst hast…du hättest in mein Büro kommen können. Ich…ich wollte mich entschuldigen…aber…dann war so viel zu tun und…ich wusste ja nicht, wer du warst…also…“
„Es hätte nichts gebracht“, unterbrach er sie. „Du hättest dir nur Vorwürfe gemacht und dich gefragt, ob du mich nicht doch gesehen und aus Rache angeschossen hast.“
Jodie starrte ihn an. Er kannte sie sehr gut.
„Könnt ihr das Thema bitte später ausdiskutieren?“, wollte Laura wissen. „Wir haben Wichtigeres.“
„Entschuldigung“, murmelte Jodie. „Wieso ist Grayson nicht mitgekommen? Nichts gegen euch Beide, aber es ist unser Fall…und auch wenn ich verletzt bin, beenden wir ihn.“
„Grayson informiert die Schwester des Opfers.“
Jodie schluckte. Opfer. Das war zwar die richtige Terminologie und doch klang sie so falsch.
„Dein Vater übernimmt im Übrigen die Hintergrundrecherche der Arbeitskollegen von Marone. Wenn er soweit ist, werde ich Fingerabdrücke entnehmen und weitere Befragungen durchführen. Obwohl bei deinem Vater und mir ein Interessenskonflikt bestehen könnte, lässt uns Black an dem Fall arbeiten. Dein Partner hat uns schon den Hintergrund eures Auftrages erzählt“, erklärte Shuichi.
„Verstehe…dann ist Dad in Sicherheit? Und was ist mit meiner Mutter?“
„Machen Sie sich keine Sorgen, Starling“, fing Laura an. „Draußen steht ein Agent und passt auf. Wir haben zusätzlich ein Team vor Ihrer Wohnung und vor dem Haus Ihrer Eltern positioniert. Ihre Mutter wird ebenfalls beobachtet.“
„Das ist gut.“ Jodie war erleichtert und setzte sich auf.
„Dann wollen wir mal.“ Laura holte sich einen Stuhl und setzte sich neben das Bett. Sie zog ihr Notizheft und einen Stift heraus. „Sie müssen nichts beschönigen oder verschweigen. Bitte erzählen Sie uns zuerst alles, was gestern passiert ist. Jede Kleinigkeit kann wichtig sein.“
Jodie nickte. „Mein Tag war nicht spektakulär. Ich war die ganze Zeit über zu Hause und bin unseren bisherigen Ermittlungsverlauf durchgegangen. Dann hat mich Nick darüber informiert, dass Dr. Cane um 16 Uhr Feierabend macht und auch nicht vor hat zurück in die Firma zu kommen. Wir haben gewartet bis die Kollegen in den Feierabend gehen und dann tat ich, als würde ich Nick abholen. Da wir erwartet haben alleine zu sein, wollten wir uns alle Unterlagen in Ruhe ansehen. Nick erzählte mir, dass er für Dr. Cane eine Kamera in seinem Büro installieren soll, um Sprayer ausfindig zu machen, die die Außenwand beschmieren. Zur Sicherheit habe ich Grayson über alles informiert und er wollte vor der Firma Wache halten, damit wir nicht von Dr. Cane überrascht werden.“ Jodie seufzte. „Als ich rein kam, war nur noch Sarah da. Sarah ist die Empfangsdame und wollte kurz nach meiner Ankunft Feierabend machen. Ich fragte sie, ob Nick im Büro ist. Das bejahte sie, woraufhin ich ihn dort aufsuchte. Aber er war nicht dort und ich bin ihn suchen gegangen.“ Jodie kämpfte mit ihrer Stimme. „Er saß im Konferenzraum…zuerst habe ich nur den Stuhl gesehen auf dem er saß. Sein Körper war auf das Fenster gerichtet. Ich hätte instinktiv wissen müssen, dass etwas nicht stimmt…aber ich bin einfach nur zu ihm gegangen. Nick wollte mich noch warnen…aber es war zu spät. Als der erste Schuss fiel, zog ich den Stuhl von Nick zu Boden. Und dann sah ich in seine leblosen Augen. Als nächstes habe ich nur noch versucht mein Leben zu retten. Ich versteckte mich unter dem Tisch. Um zu entkommen, warf ich meinen Handspiegel in eine andere Richtung, damit er meinen Fluchtplan nicht mitbekommt. Aber er hat den Trick durchschaut und wir starrten uns an. Ich lief wie ein Feigling weg und dann war da auch schon Grayson. Hätte ich geschossen oder ihn irgendwie anders unschädlich gemacht…wir wären dann bestimmt weiter.“
„Du bist kein Feigling, Jodie“, kam es von Akai. „Das eigene Leben zu retten, ist ein Urinstinkt. Und wenn du anders gehandelt hättest, wärst du möglicherweise nicht mehr am Leben. Der Schütze hat schon gezeigt, dass er vor Keinem halt macht.“
„Sie haben sein Gesicht gesehen, nicht wahr?“, wollte Laura wissen.
Jodie nickte. „Ja, in dem Moment wusste ich, dass es mein Todesurteil ist. Keiner lässt jemanden am Leben, wenn sein Gesicht enttarnt wurde.“
„Dann können Sie ihn sicherlich beschreiben.“
„Das kann ich“, sagte sie leise. „Wenn ihr einen Phantomzeichner herschickt, können wir sofort anfangen.“
„Ich kümmer mich drum“, nickte Laura. „Ist Ihnen am Schützen sonst noch etwas Aufgefallen?“
Jodie schloss ihre Augen und rief sein Gesicht auf. Eine Gänsehaut legte sich auf ihren Oberarm. „Ja…er hatte ein Tattoo am Unterarm…es ragte aus seinem Ärmel heraus…aber ich konnte es nicht ganz sehen…es war ein Schlangenkopf erkennbar.“
„Schlangenkopf?“, fragte Shuichi.
„Ich weiß, es ist ein gängiges Motiv, aber mehr ist mir nicht aufgefallen.“
„Könntest du dir vorstellen, dass er eine Maske trug?“
„Eine Maske?“ Jodie sah ihn fragend an. „Es sah nicht so aus…aber…Moment…warum fragst du? Grayson hat sein Gesicht auch gesehen…und ihr konntet ihn nicht finden, richtig?“
Akai nickte. „Deswegen schließen wir die Maske nicht aus. Wir hoffen aber, dass er irgendwo Fingerabdrücke hinterlassen hat. Und jetzt wo ich von dem Schlangentattoo weiß, weiß ich auch worauf ich bei meinen Befragungen achten soll.“
„Glauben Sie, dass jemand Ihre Pläne mitbekommen hat?“, wollte Laura wissen.
„Ich denke nicht. Wir waren immer sehr diskret. Ich hatte immer ein Gerät dabei, das Wanzen oder Kameras detektiert. Es hätte einen Signalton gegeben.“ Jodie überlegte. „Nick wusste um die Gefahr und hat geschworen, dass er Keinem etwas erzählt hat.“
„Verstehe…und wie war Ihr Verhältnis zu Marone?“
„Wie bitte?“
„Naja…haben Sie sich gut verstanden oder gab es Probleme?“
„Wir sind gut miteinander zu Recht gekommen. Am Anfang war unser Verhältnis etwas verkrampft, da wir uns erst aufeinander einspielen mussten. Er hat nichts getan, was den Auftrag gefährdet hätte…allerdings gab es den einen oder anderen Alleingang. Wir hatten geplant, dass ich nur seine Freundin spiele…und auf einmal erzählt er seinem Chef, dass er sich mit mir verloben wolle. Naja, glücklicherweise waren wir flexibel und ich spielte bei der Verlobung mit.“
„Glauben Sie, dass Nick ernsthafte Gefühle für Sie entwickelt hat?“
Jodie sah aus dem Augenwinkel zu Shuichi. Wenn er mit der Frage Probleme hatte, zeigte er es nicht. „Ich glaube nicht. Nick war in Sarah verliebt. Aber Sarah ist vergeben. Das hat sie mir mehrfach erzählt. Sie wollte sogar, dass wir zu viert ausgehen.“
Laura überlegte. „Und wenn sich Sarah in Nick verliebt hat?“
„Sie glauben, dass Sarah den Schützen auf uns angesetzt hat?“
„Ich halte mir alle Optionen offen.“
„Das glaube ich nicht“, murmelte Jodie.
„Akai wird das prüfen.“
Shuichi nickte.
„Was ist mit den Patronen und Patronenhülsen? Es ist alles schnell gegangen und der Schütze konnte nichts entsorgen“, versuchte Jodie das unliebsame Thema zu wechseln.
„Der Abgleich hat keine neuen Informationen gebracht. Die Pistole die er benutzt haben muss, ist ein gängiges Modell. Solange er nicht die Waffe irgendwo entsorgt hat, können wir ihn darüber nicht ausfindig machen“, fing Shuichi an. „Interessant ist auch, dass die Geldbörse und das Handy von Marone weg sind.“
„Ach ja?“ Laura wirkte überrascht.
„Hab ich auf dem Weg hierher von der Spurensicherung erfahren. Unsere Leute durchsuchen das Gebiet um den Pharmakonzern. Deswegen halte ich es für sinnvoll, wenn wir uns vor der weiteren Befragung in Marones Wohnung umsehen. Mein Gefühl sagt mir, dass wir dort fündig werden“, entgegnete Akai.
„Wir haben noch keinen Durchsuchungsbefehl von Black.“
„Er arbeitet mit Hochdruck daran“, sagte Shuichi und sah auf Jodie. „Du hast von Marone einen Ersatzschlüssel bekommen. Wir brauchen ihn.“
„Der ist bei meinen Sachen“, sprach Jodie. „Die Krankenschwester hat diese in den Schrank verfrachtet.“
„Gut.“ Laura stand auf. „Ich warte draußen auf dich. Agent Starling, vielen Dank für Ihre Kooperation. Wir halten Sie auf dem Laufenden.“ Laura verließ das Krankenzimmer.
„Sie ist sehr…autoritär…“, murmelte Jodie.
„Als Frau hat man es beim FBI nicht leicht.“ Er sah auf seine Ex-Freundin und ging dann zu dem Schrank. Jodies Sachen lagen auf dem obersten Regal, eingewickelt in eine Plastiktüte. Shuichi öffnete sie und suchte den Schlüssel. Als er ihn fand, legte er alles behutsam zurück und schloss die Türen. „Und jetzt sei ehrlich, wie geht es dir?“
„Muss ja…“, murmelte sie. „Nicks Tod geht mir sehr nah…und ich wäre auch fast umgekommen…natürlich nagt es an mir und…wahrscheinlich muss ich…nach meiner Genesung mit jemanden reden…wenn du verstehst was ich meine.“
Shuichi nickte. Er verstand sehr gut. Vor Jahren holte sich Jodie schon Hilfe von einem Therapeuten und das würde sie auch jetzt tun. „Falls du reden willst…“
„Ich weiß…danke…“
„Und hab kein schlechtes Gewissen, weil du überlebt hast und er nicht.“
Jodie schluckte. „Ich versuchs.“
„Ich weiß, wie man sich fühlt, wenn man angeschossen wird und seinen Fall unbedingt beenden will.“ Akai räusperte sich. „Tu mir einen Gefallen und bleib hier in Sicherheit. Geh nicht raus, sei keine Zielscheibe und vor allem, ermittel nicht auf eigene Gefahr.“ Shuichi ging auf die Tür zu.
„Shu…“, wisperte sie leise.
Er sah zu ihr.
„Pass auf dich auf…“
„Das tu ich. Und du auf dich, Jodie.“