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Die Unendliche Geschichte - Die Abenteuer gehen weiter ...

Teil V: Die Wanderer zwischen den Welten
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Dies ist eine Fanfiction entsprungen aus der Fantasie von Ami Diana Saphira Mercury.
Sie ist die abenteuerreiche Fortsetzung, des Vierteilers „Die Unendliche Geschichte – Die Abenteuer gehen weiter …“, welche auf dem Roman von Michael Ende beruht, und trägt den Titel „Die Wanderer zwischen den Welten“.
Xayide, die in Phantasien das Buch »Die Unendliche Geschichte« las, verkürzte damit ihre eigene Lebensdauer. Zu einem Häuflein Staub zerfallen hat die große Prinzessin der Finsternis all ihre dunklen Kräfte eingebüßt. Doch das Böse hört nicht einfach auf zu existieren … Man kann es bekämpfen, man kann dagegen siegen, aber man kann es niemals auslöschen. So wird die Finsternis erneut nach Phantasien zurückkehren und das Land bedrohen.
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Zwei Seiten

Zwei Seiten

Das Leben – wenn man es denn überhaupt so nennen konnte – war in die Stadt der Finsternis zurückgekehrt. Das Lavameer verströmte wieder seine unbarmherzige Hitze, die Flammensäulen schossen in unregelmäßigen Abständen in die Höhe und auch die Ritter patrouillierten wieder mit erhobenen Schwertern umher. Die größte Ansammlung von phantastischen Wesen hatte sich auf der freien Fläche vor dem Schloss versammelt. Eine schöne, schwarzgekleidete Frau ging majestätisch auf sie zu. Es war die Prinzessin der Finsternis höchst persönlich – Xayide. Xayide ergriff die Hand des jungen Mädchens, welches vor ihr auf die Knie gefallen war, und sah ihm tief in die Augen.

„Da ist ja mein neuer Schützling …“, ertönte ihre kalte Stimme, „Vielen Dank, dass du das getan hast, wozu ich selbst nicht im Stande war. Du hast mich wieder zum Leben erweckt!“

„Es war mir eine Ehre, Majestät …“, erwiderte das Mädchen und ließ sich auf die Beine ziehen.

Die Prinzessin grinste boshaft, bevor sie anerkennend sagte: „Mir gefällt deine Art, Kleine … Wie ist dein Name?“

„Vally.“, antwortete sie ohne Furcht, „Mein Name ist Vally.“
 

Im Elfenbein-Turm schreckte die Kaiserin Mondenkind aus einem Alptraum auf. Sie hatte ihre Schwester gesehen, lebendig und bösartig wie eh und je. Nein, ihre dunkle Aura war sogar noch stärker als zuvor. Möglicherweise lag das an ihrer Begleitung. Es war ein junges Mädchen, das ein ebenso böses Herz besaß wie Xayide selbst. Doch es war kein Wesen Phantasiens. Es war ein Menschenmädchen. Beunruhigt zog die Kaiserin ihre Zauberkugel zu Rate. Dort erblickte sie mit Schrecken die intakte Stadt der Finsternis. Selbst die Aura Xayides, die sie bereits im Traum wahrgenommen hatte, war deutlich zu spüren. Sie hatte sich leider nicht getäuscht. Trauer befiel die Kaiserin. Wieder musste ihr Reich sich vor ihrer Schwester fürchten. Die Phantasier würden wieder unter ihren Machenschaften leiden. So sehr es sie auch schmerzte, diesmal musste Mondenkind sie aufhalten, bevor ihre böse Energie außer Kontrolle geriet. Selbst wenn das bedeutete, dass sie gegen Xayide kämpfen musste. Um ihr Volk zu beschützen würde sie jede Bürde auf sich nehmen. Aber allein konnte sie nichts ausrichten. Sie benötigte dringend Hilfe. Und sie wusste, dass es nur eine Person in Phantasien gab, die für diese Aufgabe in Frage kam.

Sie läutete eine Glocke. Kurze Zeit später betrat auch schon ihr treuer Diener Kairon ihr Gemach.

„Es ist etwas schreckliches geschehen …“, erklärte Mondenkind, die noch immer unter Schock stand, „Xayide! Xayide ist zurück … Deshalb bitte ich dich, mach´ dich auf die Suche nach Atréju! Ich brauche seine und Quana´s Unterstützung.“

Kairon verbeugte sich tief vor seiner Herrin und antwortete: „Sehr wohl, kaiserliche Hoheit!“
 

Zur selben Zeit an einem ganz anderen Ort von Phantasien kuschelte sich Quana näher an Atréju heran, der sie schützend in seinen Armen hielt. Er streichelte ihr über das Haar, während er sie wie gebannt beobachtete. Seit er sie das erste Mal gesehen hatte, war er von ihr fasziniert gewesen. Ihre offene Art, ihre Schlagfertigkeit, ihr Kampfgeist. Und wenn sie ihn küsste, vergaß er alles um sich herum – manchmal sogar zu atmen. Ohne sie hätte er den Auftrag der Kaiserin niemals erfüllen können. Wenn sie an seiner Seite stand, verspürte er Kraft und Zuversicht. Er wollte für immer bei ihr sein. Doch warum schaffte er es dann nicht ihr das zu sagen? Sie sollte wissen, wie er über sie dachte und was er für sie empfand … Atréju gab Quana einen Kuss auf das Haar. Bald würde er den notwendigen Mut aufbringen, um ihr seine Gefühle zu gestehen.
 

Am nächsten Morgen, nachdem die Sonne aufgegangen war, starteten Quana und Atréju mit der Flugmaschine. Der junge Waldläufer ärgerte sich über sich selbst. Wann immer die Fliegerin ihn ansah, bekam er kaum mehr einen vernünftigen Satz heraus. Auf ihren Missionen war das anders gewesen. Die Sorge um Phantasien hatte überwiegt und der Ernst der Lage ihn klar denken lassen. Aber seit Xayide besiegt war, hatte sich etwas in ihm verändert. Damals vor der Pforte des Rätseltors hatte er gewusst, dass die Kindliche Kaiserin den Richtigen für diese Aufgabe auserwählt hatte. Dieses Gefühl fehlte ihm nun. Er war nicht mehr der Auserwählte der Kaiserin. Er war nur noch ein Jäger der Waldleute. Früher wäre ihm das egal gewesen. Er hatte sich nur ein ruhiges Leben mit seiner Familie gewünscht. Doch für Quana wollte er mehr sein als ein gewöhnlicher Phantasier. Jemand besonderes.

„Stimmt was nicht?“, riss die Fliegerin ihn aus seinen Gedanken, „Du bist den ganzen Morgen schon so still …“

Atréju wusste nicht, was er darauf antworten konnte. Die Wahrheit brachte er nicht über sich und Lügen war keine Option. Das hatte er Quana oft genug erklärt, Waldleute konnten nicht lügen – demnach blieb ihm nur ein abrupter Themenwechsel.

Er griff nach dem eingebauten Fernglas und sagte: „Wir sind in der Nähe meines Dorfes. Wie wäre es mit einem kleinen Abstecher in mein Zuhause?“

Sein schauspielerisches Talent war nicht besonders ausgeprägt. Quana wusste sofort, dass er ihr etwas verheimlichte. Dennoch entsprach sie seinem Vorschlag und setzte zum Sinkflug an. Sie würde schon noch dahinter kommen, was er vor ihr verborgen hielt.
 

In der Menschenwelt saßen Bastian Balthasar Bux und Herr Koriander in dessen Buchladen zusammen. Zwischen ihnen auf einem niedrigen Tisch lag »Die Unendliche Geschichte«.

„Was können wir tun?“, fragte Bastian ratlos.

Herr Koriander bedachte ihn mit seinem durchdringenden Blick und erwiderte: „Die Frage ist nicht, was wir tun können … sondern ob wir etwas tun können. Sie ist schließlich freiwillig durch das Tor gegangen …“

„Welches Tor?“, hakte der Junge interessiert nach.

Sein Gegenüber legte die Fingerspitzen aneinander, bevor er erklärte: „Das Tor, welches die Wirklichkeit von der Fantasie trennt … Dieses Buch beinhaltet ein solches Tor, das die Grenzen der beiden Welten verwischt.“

Bastians Blick wurde nachdenklich. Er erinnerte sich daran, wie außer sich Vally gewesen war, als sie erfahren hatte, dass Xayide zu Staub zerfallen war. Darum war sie in das Buch gegangen. Um ihre Lieblingsfigur wiederzuerwecken.

„Das Buch verändert diejenigen, die es lesen …“, sagte Herr Koriander plötzlich, „Oder glaubst du, du seist noch derselbe wie zuvor?“

Er sah den älteren Mann wieder an und antwortete nach einer Weile: „Nein … Ich habe mich verändert … gemeinsam mit den Phantasiern.“

„Diese Antwort wollte ich von dir hören, mein Junge.“, bestätigte der Buchhändler, „Du weißt, wie du dich verändert hast … welche Figuren dir besonders nahe steht … Aber was ist mit Vally? Wie hat sie sich verändert? Und durch welchen Charakter?“

Vally war vom ersten Moment an von Xayide angezogen gewesen. Die Prinzessin der Finsternis hatte sie in Versuchung geführt. Das hatte sie ihm selbst erzählt. Xayide habe sie verhext, sodass sie ein ebenso böses Herz entwickelte wie die Schwester der Kaiserin.

„Es gibt keine rein guten oder durch und durch bösen Menschen … Jeder von uns trägt sowohl eine helle, als auch eine dunkle Seite in sich. Die Entscheidung, welche Seite unser Handeln bestimmt, trifft jeder selbst. Und das in jeder Situation neu …“, fuhr Herr Koriander philosophisch fort.

Bastian nickte. Er verstand, was Herr Koriander ihm damit sagen wollte, und warf dem Buch einen traurigen Blick zu. Vally konnte gerettet werden. Wenn er nur wüsste, wie …
 

Atréju und Quana betraten das Dorf. Sofort wurden sie von aufgeregten Dorfbewohnern umringt.

„Atréju! Atréju!“, riefen sie durcheinander.

Seine »Mütter« drängten nach vorne und umarmten ihn. Sie waren glücklich ihren »Sohn« unbeschadet wiederzusehen. Es hatte sie sehr betrübt, dass er nach dem Ende Xayides nicht ins Dorf zurückgekehrt war, sondern weiterhin mit der Fliegerin durch Phantasien reiste.

Der Dorfälteste Obseki gesellte sich ebenfalls zu ihnen und erzählte in weiser Stimmlage: „Atréju, mein Sohn, gut, dass du da bist … Du wirst erwartet.“

Verwirrt sahen Atréju und Quana sich an. Dann gaben die Dorfbewohner den Blick auf ihren Gast frei, der abseits stehen geblieben war.

„Kairon!“, entfuhr es beiden überrascht.

Der Minister verbeugte sich leicht vor ihnen, um seinen Respekt zu bezeugen.

„Was macht Ihr hier?“, wollte Quana interessiert wissen.

Kairon sah sie ernst an und antwortete steif: „Ich habe die Aufgabe euch zum Elfenbein-Turm zu geleiten. Die Kaiserin wünscht euch zu sprechen.“

Sein Blick ließ sie schweigen. Es musste etwas geschehen sein. Eilig machten sie sich in seiner Begleitung zur Flugmaschine auf. Der Ernst der Lage verstummte sogar Kairon´s frühere Weigerung zu fliegen.
 

Mondenkind saß umringt von ihren Dienerinnen auf ihrem Thron. Sie wirkte angespannt. Die drei Neuankömmlinge knieten ehrfürchtig vor ihr nieder. Auch sie hatte Besorgnis ergriffen.

Die Kaiserin bedeutete ihnen sich zu erheben und sagte: „Ich danke euch, meine Freunde, dass ihr so schnell meinem Ruf gefolgt seid.“

„Was ist denn geschehen?“, meldete sich Atréju zu Wort.

Die magische Kugel in ihren Händen leuchtete auf und sie offenbarte ihren Verbündeten: „Meine Schwester … Sie ist zurück. Nein … Sie ist nicht mehr meine Schwester. Nicht wirklich … Die Bedrohung, die nun von ihr ausgeht, ist schrecklicher als jemals zuvor. Sie stellt eine gewaltige Armee auf, die Phantasien vollkommen vernichten könnte … Ich habe keine andere Wahl. Ich muss gegen sie kämpfen … Aber allein schaffe ich es nicht. Deshalb bitte ich euch um Hilfe.“

„Selbstverständlich werden wir Euch helfen!“, antworteten Atréju und Quana wie aus einem Mund.

Mit einem dankbaren Lächeln fuhr die Herrscherin fort: „Die Armee der Finsternis wird schon sehr bald marschieren … wenn die Phantasier zerstreut in ihren Dörfern bleiben, werden sie keine Chance haben. Daher sollen sich alle hier im Herzland versammeln. Und … diejenigen, die sich fähig fühlen, ihre Heimat zu verteidigen, rufe ich zu den Waffen!“

„Ihr … Ihr wollt den Waffenkrieg aufnehmen, Majestät?“, hakte Kairon nach.

Sie seufzte und erwiderte traurig: „Ich will es nicht. Ich will nicht kämpfen. Besonders nicht gegen meine Schwester … Aber noch weniger möchte ich mein Reich untergehen sehen.“

„Seid unbesorgt, Kaiserin.“, meinte Quana, „Mit der Flugmaschine werden wir Eure Botschaft verbreiten und die Phantasier hierher in Sicherheit führen.“

Ein gequälter Ausdruck trat in die Züge von Mondenkind und sie sagte: „Nur du allein wirst die Phantasier versammeln, Fliegerin. Für Atréju habe ich einen anderen Auftrag.“

Schock spiegelte sich auf ihren beider Gesichtern. Wieder sollte ein Auftrag der Kaiserin sie voneinander trennen. Bestürzt fragten sie sich, wann dies endlich ein Ende haben würde. Allerdings wagten sie es nicht, der Herrscherin Phantasiens zu widersprechen. Zu ernst war die Lage. Und sie wussten, für die Zukunft Phantasiens mussten sie den Schmerz verkraften. Ein erneuter Sieg über Xayide würde auch sie wieder zusammenführen. Dafür mussten sie beide ihr Bestes geben.

Währenddessen löste die Kaiserin das Auryn von ihrem Hals und legte es mit einem Lächeln Quana um. Von nun an sprach die Fliegerin allein in ihren Namen.

„Es gibt einen Grund, warum die dunklen Kräfte meiner Schwester so stark angewachsen sind.“, erklärte die Kaiserin, „Es ist etwas geschehen, was nie hätte passieren dürfen … Ein menschliches Wesen ist nach Phantasien gelangt. Eigentlich sollten beide Welten still nebeneinander her existieren … nur durch das Buch miteinander verbunden. Aber Xayide hat dieses Gesetz gebrochen, indem sie ihre Diener in die Menschenwelt geschickt hat … Auch ich habe dich die Schwelle übertreten lassen, Atréju. Und wieder sehe ich keine andere Möglichkeit … Es gibt nur eine Person, die dieses Mädchen aufhalten kann. Du weißt, von wem ich spreche … Wir brauchen die Träume und Wünsche von Bastian, um Phantasien zu retten! Deshalb bitte ich dich inständig, Atréju, hol´ ihn in unsere Welt!“

Der junge Waldläufer schluckte. Auch wenn ihn die Trennung von Quana wie ein Schlag ins Gesicht getroffen hatte, so fühlte er in dieser Sekunde neue Kraft und Zuversicht durch seinen Körper strömen. Nun stand er, der Auserwählte, wieder im Dienst der Kaiserin. Und in dieser Position durfte er nicht zögern.

„Vergesst nicht … nicht die Klinge macht ein Schwert stark, sondern das Herz, welches die Waffe führt.“, riet Mondenkind ihren Freunden mit einem zarten Lächeln, „Und jetzt geht … Wir haben nicht viel Zeit.“
 

Quana landete – ungewohnt sanft – vor dem Heim des Magiers Kuriosus. Atréju stieg wortlos aus, die Fliegerin folgte ihm auf dem Fuße. Beide waren zutiefst angespannt. Die bevorstehende Trennung nagte an ihnen, auch wenn sie das nicht offen zugeben wollten. Unerwartet blieb der junge Waldläufer stehen. Er griff nach dem linken Unterarm seiner Begleiterin und zog sie näher an sich heran. Dann küsste er sie zärtlich.

Als sie sich kurze Zeit später wieder voneinander lösten, flüsterte Quana: „Pass auf dich auf …“

„Pass DU auf dich auf!“, widersprach er ihr mit Nachdruck, „Xayide wird sicher nicht tatenlos zusehen, wie sich die Phantasier gegen sie erheben.“

Noch einmal streifte Atréju flüchtig ihre Lippen und hauchte: „Ich bin sicher, mein Wunsch wird auch diesmal in Erfüllung gehen … Das war nicht unser letzter Kuss.“

Er drehte sich abrupt um und betrat das Gebäude. Quana sah ihm mit einer verräterischen Röte auf den Wangen nach, bevor auch sie sich auf dem Weg machte.
 

Ein gewaltiges Poltern, das von vielen umfallenden Büchern hervorgerufen worden war, erregte Bastians Aufmerksamkeit. Vorsichtig ging er in den hinteren Teil des Ladens und schaute hinter einem voll gestellten Regal nach.

Der Stapel aussortierter Bücher lag quer über den Boden verstreut dar. Und auf dem ganzen Chaos lag ein Junge mit langen, dunklen Haaren. Vor allem aber war es ein Junge, der Bastian nicht unbekannt war.

„Du! Ich kenn´ dich doch!“, entfuhr es ihm, „Du hast mich vor ein paar Wochen vor diesem schwarzen Hund gerettet!“

Der Junge stand etwas unbeholfen auf und erwiderte: „Ich habe mich letztes Mal nicht vorgestellt. Mein Name ist Atréju.“

Die letzten Worte hallten in Bastians Ohren wider. Erschrocken musterte er seinen Gegenüber. Sein Auftreten, sein Verhalten, einfach alles an ihm bestätigte seine Aussage. Vor ihm stand wirklich Atréju … Der Atréju aus Phantasien – der Held der »Unendlichen Geschichte«. Hier in der realen Welt. Außerhalb des Buches. Und das Ganze bereits zum zweiten Mal!

„Phantasien braucht dich!“, brach der Waldläufer sofort los, „Ich bin im Auftrag der Kaiserin hier und soll dich zu ihr bringen. Bitte, es ist wirklich dringend! Nur du kannst uns helfen!“

Bastian wusste nicht, was ihn mehr schockierte. Dass ein Phantasier sich in der realen Welt befand oder dass er nach Phantasien gehen sollte. Er würde durch das Tor schreiten, ein Teil des Buches werden. Genauso wie Vally. Vally, die nur seinetwegen von Xayide erfahren hatte; Vally, die nach Phantasien gegangen war, um ihre Heldin wiederzubeleben; Vally, die er um jeden Preis zurückholen musste! Außerdem konnte er Phantasien nicht im Stich lassen. Diese Welt, die mehr war als nur ein Buch; diese Welt, deren Bewohner er lieb gewonnen hatte; diese Welt, die zu einem Teil von ihm geworden war.

Daher antwortete Bastian entschlossen: „Ich werde mit dir gehen und alles tun, um euch zu helfen!“

„Ich wusste, ich kann dir vertrauen …“, meldete sich eine kräftige, weise Stimme zu Wort.

Sie gehörte Herrn Koreander, der sich in einen mittelalterlichen, mit unzähligen Muscheln besetzten Mantel gekleidet zu ihnen gesellte.

„Es ist an der Zeit, dass du die Wahrheit erfährst, Bastian …“, sprach er, „Mein richtiger Name lautet Kuriakin. In Phantasien kennt man mich als Magier Kuriosus … Als unsere Kaiserin das erste Mal den Thron bestieg, erwählte sie mich zum Bewacher des Buches. Deshalb habe ich seitdem in dieser Welt gelebt, um die >Unendliche Geschichte< zu beschützen. Aber wie jeder Mensch bin auch ich alt geworden … Zu alt, um meine Aufgabe weiterhin erfüllen zu können. Ich habe nach einem Nachfolger gesucht, der den Mut und die Kraft besitzt für Phantasien zu kämpfen. Dieser jemand bist du, mein Junge … Das wusste ich vom ersten Moment an, als du meinen Laden betreten hast.“

Wenn überhaupt möglich war Bastian nun noch geschockter und stotterte: „S-Sie … Sie sind Phan-Phantasier?“

Der Zauberer nickte lediglich. Sein Blick war anders. Und gleichsam unendlich vertraut. Durch all die zahlreichen Stunden, die sie gemeinsam in diesem Laden miteinander verbracht hatten. Mit Gesprächen, Fragen, Ratschlägen und Stille.

Bastian erwiderte sein Nicken, bevor er entschlossen sagte: „Ich werde Sie nicht enttäuschen, Herr Koreander … Ich meine, Kuriakin. Sie können sich auf mich verlassen.“
 

In der Zwischenzeit überflog Quana in ihrer Flugmaschine Phantasien. In einem kleinen Dorf, indem die unterschiedlichsten Wesen lebten, legte sie ihren ersten Stopp ein. Die Fliegerin versammelte alle Bewohner auf einem großen Platz und verbreitete die ernste Botschaft.

„Wir sind diejenigen, die Phantasiens Zukunft in unseren Händen halten! Wer soll für unsere Heimat kämpfen, wenn nicht wir? Wir dürfen nicht tatenlos zusehen, wie die Finsternis das Nichts verbreitet und unsere Welt damit zugrunde richtet!“, sprach sie die Worte, die sie sich im Kopf zurecht gelegt hatte, „FÜR PHANTASIEN!“

Zunächst herrschte gespannte Stille. Quana befürchtete bereits, die Phantasier würden Xayides Herrschsucht kampflos über sich ergehen lassen.

Doch zu ihrer Überraschung stimmten plötzlich alle in ihren Ruf mit ein: „FÜR PHANTASIEN!“

So erging es ihr überall in Phantasien. Die Völker zögerten nicht etwa deshalb, weil sie Angst hatten oder nicht kämpfen wollten. Es verblüffte sie lediglich, dass ihre Kaiserin so offen zu den Waffen rief. Quana erinnerte sich daran, wie gequält sie ausgesehen hatte, wie verzweifelt. Mondenkind war den einzig möglichen Weg gegangen um ihr Reich vor der Finsternis ihrer Schwester zu beschützen. Auch wenn es sie in ihrem tiefsten Innern verletzte so handeln zu müssen.
 

In tiefer Dankbarkeit umarmte die Kaiserin Quana, welche nach zwei langen Wochen endlich zum Elfenbein-Turm zurückgekehrt war. Wohl gemerkt äußerst erfolgreich. Die Phantasier, welche sich bereit erklärt hatten zu kämpfen, sammelten sich in der Nähe des Turms. Auch Waffen und Rüstungen wurden bereits an sie verteilt. Alles verlief nach Plan. Fehlte nur noch Atréju. Und so betraten wie auf Stichwort genau in diesem Moment drei Personen den Thronsaal – Kairon, Atréju und Bastian. Das Erste, was Atréju tat, war, Quana fest in seine Arme zu schließen. Beide waren unendlich erleichtert, dass dem anderen nichts geschehen war. Zumindest noch nichts. Denn der schwierigste Teil lag ja noch vor ihnen – der endgültig letzte Kampf gegen Xayide. Bastian beobachtete das Geschehen peinlich berührt. Er wusste ja, wie es zwischen ihnen aussah – er hatte ihre Geschichte schließlich miterlebt – aber es zu sehen, anstatt sich nur vorzustellen war doch etwas ganz anderes.

Ein Räuspern seitens Kairon löste die Situation auf und Mondenkind erhob die Stimme: „Ich bin unsagbar stolz auf dich, Atréju. Und ich begrüße dich, Bastian, auf das herzlichste in meinem Reich! Danke für deine Hilfe.“

Verlegen verbeugte er sich vor der Kaiserin. Sie war noch viel schöner als es im Buch beschrieben wurde. Sie verkörperte alles Leben in Phantasien. Wie der erste Sonnenstrahl eines neuen Tages.

„Bevor wir jedoch zur Tat schreiten können … Atréju, es gibt noch etwas, was du für den kommenden Kampf brauchen wirst …“, verkündete Mondenkind, „Zieh´ dein Schwert!“

Atréju kämpfte vergeblich den Kloß in seinem Hals nieder und berichtete betrübt: „Verzeiht mir, Hoheit, ich habe das Schwert beim letzten Kampf gegen Eure Schwester in der Schlucht der tiefsten Ängste verloren.“

Beinahe belustigt erwiderte sie: „Dein Schwert ist keine gewöhnliche Waffe, Atréju … Glaub´ an seine Macht und du wirst es immer wieder in Händen halten.“

Der Waldläufer sah seine Begleiterin fragend an. Sie nickte ermutigend.

Er atmete ein paar mal ruhig ein, schloss seine Finger um den imaginären Griff und rezitierte die Worte: „>Suche Wahrheit, Inspiration und Kenntnis. Auch niemals darfst du aufgeben, weder deine Heimat, noch dein Herz – >SIKANDA<!“

Ein silberhelles Licht erfüllte den Raum, welches sich um Aréjus Hand sammelte und schließlich eine feste Form annahm. Das Schwert war zu seinem Besitzer zurückgekehrt.

„Als du seinen Namen zum ersten Mal ausgesprochen hast, wurde das Schwert zu einem Teil deiner Selbst.“, erklärte die Kaiserin zufrieden, bevor sie sanft die zweischneidige Klinge berührte, „Aber es birgt auch ein Geheimnis … Ich bitte dich, zeige dich-“

„>ADNAKIS<!“, unterbrach Bastian sie zur Überraschung aller und vor allem zu seiner eigenen.

Sikanda strahlte bei diesem Namen erneut auf und erschuf eine Kopie von sich, die in Bastians Hand erschien.

Stolz lächelnd erklärte Mondenkind: „Ja, Bastian, dies ist Adnakis. Die Zwillingsschwester Sikandas … Sie wurden gemeinsam angefertigt und haben sich irgendwann zu einem einzigen Schwert vereint. Nun haben sie sich wieder gespalten, weil ein weiterer mutiger Kämpfer aufgetaucht ist, der sich ihrer Macht als würdig erwiesen hat … >Auch in dunkelsten Stunden darfst du nicht aufgeben. Kämpfe, denn in dir liegt das Schicksal verborgen …<“

Während sie die letzten Worte sprach, betrachtete der sprachlose Bastian die Waffe. Der kalte Stahl schmiegte sich in seine Hand, das Gewicht war ungewohnt. Aber am überraschendsten war die vertraute Aura, die von Adnakis ausging und ihn einhüllte. So als gehöre es bereits zu ihm.

„Gemeinsam mit Atréju und euren Schwertern wirst du dein Ziel erreichen können.“, fuhr Mondenkind ernst fort, „Ich weiß, du bist nicht nur hier, um uns zu helfen … sondern auch wegen des Menschenmädchens, das an der Seite meiner Schwester steht. Ich befürchte allerdings, dass sie sich selbst dir gegenüber feindselig zeigen wird. Vergiss´ eines nicht … sie ist nicht mehr die Person, die du kanntest …“

Diese Befürchtung war ihm ebenfalls gekommen. Doch das änderte nichts an der Tatsache, dass er Vally nicht im Stich lassen konnte.

„Da dir der Umgang mit dem Schwert unbekannt ist, habe ich Kairon gebeten dich und Atréju zu trainieren. Er war einst mein Schwertmeister …“, berichtete die Herrscherin und Kairon verneigte sich respektvoll vor ihr.
 

Staunend beobachteten Atréju und Bastian wie Kairon ihnen verschiedene Schlag- und Parieretechniken zeigte. Der Titel »Schwertmeister« war wahrlich nicht übertrieben. Seine Waffe wirbelte umher, beschrieb Bögen und blitzte im Sonnenlicht auf.

„Ich gehe davon aus, dass ihr meine Bewegungen genau studiert habt. Jetzt seid ihr dran … Stellt euch vor, ein Ritter der Finsternis käme mit erhobenem Schwert auf euch zu.“, stellte er ihnen die Aufgabe.

Die beiden Jungen gingen in Position. Atréju war bereits an sein Schwert gewöhnt, anders als Bastian. Sofort erklang Kairons Stimme, die seine Haltung und Griff korrigierten.

Von der Seite rief ihm der junge Waldläufer leise: „Führe das Schwert mit dem Herzen, nicht mit dem Kopf.“

In den folgenden Stunden und Tagen hatte Bastian noch immer Schwierigkeiten im Umgang mit Adnakis. Doch seine Fortschritte wurden zusehends größer. Und er bekam langsam ein Gefühl für das Schwert und die Verantwortung, welche er damit trug.

Eines Tages rief Kairon plötzlich: „Genug! Es wird Zeit, dass ihr einen richtigen Kampf bestreitet. Atréju, Bastian, stellt euch auf!“

Sie sahen sich an und nickten. Synchron gingen sie in Position. Wäre ihr Äußeres nicht so unterschiedlich gewesen, hätte man meinen können, sie wären das Spiegelbild des anderen. So exakt stimmte ihre Haltung überein. Die Augen konzentriert, griffen beide im selben Herzschlag an, sodass der Klang ihrer aufeinanderprallenden Klingen über das ganze Feld hallte. Einen Moment später waren sie schon wieder auseinander gewichen. Schlag folgte auf Schlag, Stahl gegen Stahl, Sikanda und Adnakis tanzten geführt von den Herzen ihrer Träger. Atréju und Bastian sahen sich unentwegt an. Ihr keuchender Atem versorgte sie nur mäßig mit Luft; dies würde ihr letzter Angriff sein. Sie rannten aufeinander zu, legten ihre letzten Kraftreserven in den Schwertstreich. In hohem Bogen flogen die Schwerter den beiden Kämpfern aus den Händen und die Waffe ihres Gegners blieb hinter ihnen senkrecht im Boden stecken.

Kairons Applaus wurde jedoch jäh von schnellen Schritten unterbrochen. Aufgeregt und mit bleichem Gesicht kam Quana auf sie zu gerannt.

„Xayide! Xayide greift mit ihren Rittern den Elfenbein-Turm an!“, erklärte sie atemlos.

Alle Blicke richteten sich auf Atréju. Er konnte darin lesen, dass sie sich vollkommen auf ihn verließen und seine Entscheidung erwarteten.

Der Sohn der Waldleute atmete flach, bevor er entschlossen verkündete: „Ich werde mit Kairon zur Kaiserin gehen. Xayide wartet sicherlich bereits auf mich …“

„Und was ist mit mir?“, fragte die Fliegerin besorgt.

Er sah ihr direkt in die Augen und antwortete: „Du begleitest Bastian auf der Suche nach seiner Freundin. Er kennt sich hier nicht aus. Er braucht dich mehr als ich … Und nach dem Kampf muss ich dir etwas sagen. Also pass´ gut auf dich auf!“

Seine Worte färbten ihre Wangen leicht rötlich. Sie waren so kraftvoll gewesen, obwohl er ganz leise gesprochen hatte. Mit einem letzten Blick auf sie ergriff er Sikanda und wandte sich in Kairons Begleitung ab.
 

Quana führte Bastian durch den verzweigten Wald an der Streitmacht vorbei. Vally befand sich mit großer Wahrscheinlichkeit in Xayides Nähe, was das Unterfangen umso gefährlicher machte. Immer weiter schlichen sie, während aus der Richtung, aus welcher sie gekommen waren, der Schachtlärm toste. Im selben Moment, in dem die Geräusche losgebrochen waren, blieb Quana stehen und schloss kurz die Augen. Sie hoffte zutiefst, dass Atréju nichts passieren würde. Schnell hasteten sie durch das Unterholz. Der Geräuschpegel riss nicht ab, sondern schien sie zu verfolgen. Als sie aus dem Dunkel heraus auf eine Lichtung traten, erstarrte die Fliegerin. Drei Ritter der Finsternis standen ihnen gegenüber.

Schneller als es für diese Situation möglich sein sollte, wirbelte sie zu Bastian herum und rief: „Lauf´! Such nach dem Menschenmädchen!“

Er schüttelte heftig den Kopf: „Ich gehe nicht ohne dich!“

„Doch, mach´ schon!“, widersprach sie ernst, „Ich komme zurecht.“

Bastian zögerte noch immer, da sagte Quana plötzlich mit einem Lächeln: „Mir wird nichts passieren … Atréju wird mich finden, das weiß ich. Ich vertraue ihm … Und jetzt geh´!“

Obwohl ihm weiterhin unwohl zumute war, gehorchte er ihrer Bitte.
 

Derweil tobte auf dem Schlachtfeld ein wilder Kampf. Allen voran Atréju und Kairon. Der Schwertmeister scharrte die Phantasier um sich. Auf sein Kommando hin stürmten sie vor. Schwert schlug gegen Schwert. Ritter gegen Phantasier. Kein Zögern. Kein Erbarmen. Der Sturmangriff schlug eine Bresche in die Reihen der finsteren Anhänger. Die Armee Xayides zerfiel. Die seelenlosen Rüstungen zerstreuten sich. Die Phantasier folgten ihnen.

Atréjus Griff um sein Schwert verstärkte sich. Er hoffte, das Chaos würde das Menschenmädchen von der Prinzessin der Finsternis trennen. Nur so hätte Bastian eine Chance sich ihr zu nähern.
 

Bastian erschauderte. Hastig versteckte er sich hinter einem Busch. Wenige Meter von ihm entfernt stand ein Pferd, auf dessen Rücken die Prinzessin der Finsternis thronte. Vorsichtig spähte er zwischen den Zweigen hindurch. Und ein erneuter Schock durchfuhr ihn. Es war nicht Xayide – sondern Vally!

Sie war vollständig in schwarz gekleidet. Ihr Gewand hatte einen aufgestellten Kragen und ihre roten Haare waren kunstvoll frisiert. An ihrer Hüfte hing ein Schwert. Sein Kopf arbeitete in rasender Geschwindigkeit. Er brauchte einen Plan. Dringend.

Das Pferd schnaubte und Vally fragte mit lauter Stimme: „Wer ist da? Zeige dich!“

Unbedacht machte Bastian einen Schritt nach hinten. Knackend zerbrach der Ast unter seinen Füßen. Sofort wendete Vally den Blick in seine Richtung und Bastian trat auf seinem Versteck heraus. Es brachte nichts, wenn er sich länger versteckt hielt. Außerdem war er ja aus genau diesem Grund hier – um mit ihr zu reden.

„Lange nicht gesehen.“, sagte er und wartete auf ihre Reaktion.

Erst waren ihre Augen vor Schreck geweitet, dann lächelte sie boshaft.

„Sieh´ an, sieh´ an. Wer ist denn da nach Phantasien gekommen? Bastian Balthasar Bux …“, höhnte sie, wobei jedes einzelne Wort eine spezielle Betonung erhielt.

Er blieb ernst und erwiderte: „Ich bin hier, um dich zurückzuholen.“

Ein hämisches Lachen entfuhr ihr: „Lachhaft! Ich bin hier zu Hause – und das zum ersten Mal in meinem Leben!“

Bastian seufzte kopfschüttelnd. Um ehrlich zu sein wusste er nicht, wie er jemanden, der unter Xayides Einfluss stand, wieder zur Vernunft bringen konnte. Sie war das Böse in Person.

Während Bastian seinen trüben Gedanken nachging, zog Vally ihre Waffe. Elegant sprang sie aus dem Sattel und stürzte auf ihn zu. Mehr aus Reflex hob er gerade rechtzeitig Adnakis, um die heimtückische Attacke abzuwehren. Kairons drillendes Training zeigte tatsächlich Wirkung. Ohne Verschnaufpause entbrannte ein Zweikampf, bei dem zunächst keiner von beiden die Oberhand an sich reißen konnte. Es standen sich wahrhaft ebenbürtige Gegner gegenüber. In einer völlig fantastischen Welt, welche sie durch ein Buch betreten hatten. Nicht gerade das, was normale Teenager in einem normalen Leben, in der normalen Welt erlebten. Aber mal ehrlich – was war schon normal? Besonders in der heutigen Zeit.
 

„Habt ihr, etwas von Quana und Bastian gehört?“, fragte Mondenkind ihre Getreuen.

Atréju, Kairon und die Kaiserin hatten sich nach dem erfolgreichen Durchbruch wieder im Thronsaal versammelt.

Der junge Waldläufer ballte die Fäuste und biss sich auf die Unterlippe. Er schüttelte den Kopf. Die Herrscherin legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter.

„Das muss nichts heißen …“, meinte sie mit wohlklingender Stimme, „Der Wald ist weitreichend.“

Widerstrebend nickte Atréju. Trotzdem ließ ihn das ungute Gefühl nicht los, welches er tief in sich verspürte. Es war mehr als bloße Sorge, sondern schlichtweg Angst. Er hasste es von ihr getrennt zu sein und untätig zu warten …

Auf einmal ging etwas von Sikanda aus. Das Schwert bebte. Wie bei einem Pulsschlag. Es war wie das Zeichen, auf das er gewartet hatte … Er konnte nicht erklären warum, doch er wusste, was diese Reaktion bedeutete – Adnakis rief nach ihrer Schwester, weil Bastian in Gefahr war. Und damit auch unweigerlich seine Quana! Ohre Erklärung rannte er aus dem Raum, lief die unzähligen Treppenstufen hinab und überließ es seiner Intuition seine Füße zu lenken.
 

Gefesselt saß Quana auf dem Waldboden. Einem Knebel bedurfte es nicht. Seit Bastian gegangen war, kam kein Laut über ihre Lippen. Stattdessen hielt sie die Augen geschlossen. Vor ihrem inneren Antlitz sah sie Atréju. Immer wieder Atréju. Vom ersten Moment an hatte sie etwas miteinander verbunden. In seiner Nähe verspürte sie ein kräftiges Gefühl in sich, das sie zuvor nicht gekannt hatte. Sie vertraute ihm. Auch in dieser Situation – Atréju würde kommen und sie retten. Sie musste nur geduldig sein.

Das Geräusch von Pferdehufen erregten ihre Aufmerksamkeit. Vorsichtig spähte sie durch ihre leicht geöffneten Augen. Und erblickte die schwarzen Seelenspiegel Xayides.

„Wer ist meinen Dienern denn da in die Hände gefallen?“, ertönte die kalte Stimme der Prinzessin der Finsternis, „Was wird der arme, arme Auserwählte nur sagen, wenn er erfährt, dass ich seine kleine Freundin in meiner Gewalt habe?“

„Dass du sie auf der Stelle gehen lassen wirst!“, antwortete jemand wütend.

Mit gezogenem Schwert war Atréju am Rand der Waldlichtung erschienen. Das Gesicht vor Wut verzerrt.

Quana riss die Augen auf und rief glücklich: „Atréju! Du bist wirklich gekommen!“

Xayides Lachen hallte dumpf wieder. Ein Handwink genügte, um den Rittern den Befehl zum Angriff zu geben. Atréju stand einer kleinen Armee gegenüber. Doch seine Angst hielt sich in Grenzen. Seine Wut überdeckte alles andere. Er kämpfte wie ein wild gewordener Berserker gegen die zahlreichen Gegner. Einer nach dem anderen fiel unter seiner Klinge. Eine Mulde bildete sich in der Gegnerreihe, sodass Atréju zu Quana gelangen und ihr die einschneidenden Fesseln durchtrennen konnte. Erleichtert rieb sie sich die schmerzenden Handgelenke. Der Anblick ihrer Wunden ließ neuen Zorn in dem Waldläufer aufkeimen.

Zwischen zusammen gebissenen Zähnen presste er hervor: „Verschwinde!“

Seine Worte erinnerten Quana nur zu gut an ihre eigenen. Und wie Bastian zögerte sie ebenfalls. Sie wollte Atréju nicht nur allein zurücklassen, sie hatte ihn auch noch nie so erlebt. Sonst war sein Verhalten mit Entschlossenheit, Kampfwillen und Furchtlosigkeit begleitet von einer Spur unreifer Naivität zu beschreiben gewesen. Diese Wut und Brutalität passten nicht zu dem Atréju, den sie kannte.

Als sie keine Anstalten machte sich von ihm zu entfernen, drehte er sich wieder zu ihr herum und sagte: „Hab´ keine Angst. Wir sehen uns wieder … Und jetzt lauf´!“

Da war er wieder. Der Mann, der ihr das Herz gestohlen hatte. Gerade als Quana sich überwinden konnte sich abzuwenden, sauste ein feindliches Schwert auf Atréju´s Brust zu. Die rote Linie, die diagonal über seinen Oberkörper verlief, färbte seine braune Wildlederkleidung dunkel. Wie in Zeitlupe löste sich seine Hand von Sikanda und er sank kraftlos in die Knie. Von weit her hörte die Fliegerin Xayide´s schadenfrohes Gelächter. Doch ihre ganze Aufmerksamkeit galt Atréju. Sie stürzte auf ihn zu und zog seinen bewusstlosen Körper auf ihren Schoß. Blut befleckte ihre Kleidung. Sie schrie, sie weinte, sie flehte. Atréju blieb bewusstlos. Seine Atmung verlangsamte sich stetig. Er entglitt ihr.

Genau in dem Augenblick, als die Ritter zum letzten Schlag ansetzen wollten, erfüllte ein ungewöhnlicher Laut die Luft – wie ein gellender Schrei. Die nächsten Ereignisse erfolgten rasend schnell. Fuchur, der Glücksdrache Phantasiens, landete, Quana kletterte mit Atréju im Schlepptau auf seinen Rücken und Fuchur flog davon.
 

Die beste Heilkundige – und gleichsam Atréju´s älteste »Mutter« – behandelte seine Wunden so gut sie es vermochte. Trotz ihrer Mühen schwebte ihr »Sohn« weiterhin in Lebensgefahr. Zu tief war die Verletzung, zu viel Blut hatte er verloren. Weinend und hoffend wachte Quana die ganze Zeit über an seiner Seite. Sie schlief nicht, sie aß nicht. Sie strich ihm wieder und wieder durch das dunkle, zerzauste Haar. Er lag da wie tot. Nicht einmal seine Augen bewegten sich noch unter den Lidern. Traumlose Bewusstlosigkeit trennte ihn von ihr. Nur die kaum merklich hebende und senkende Brust zeugte noch von dem hauchdünnen Faden, welcher ihn mit dem Leben verband. Ein Faden, der jede Sekunde abreißen könnte.

„So musst du dich nach unserem Absturz gefühlt haben … Sag´, Atréju, warst du genauso verzweifelt, wie ich es jetzt bin? Und dennoch … dennoch hast du darauf vertraut, dass ich trotz meiner Verletzungen wieder zu dir zurückkomme.“, flüsterte sie leise, „Bitte, Atréju, du darfst nicht sterben. Wolltest du mir nicht noch etwas sagen?“

Wie erwartet kam keine Antwort von dem jungen Waldläufer, dem ihr Herz gehörte.

Als der lederne Zelteingang kurz darauf zur Seite geschoben wurde, wischte sie sich nicht über das Gesicht. Selbst wenn ihre Augen und Wangen nicht so gerötet gewesen wären, der dumpfe, glanzlose Blick würde ihre Trauer verraten. Mehr noch als es jede Träne vermochte. Bastian, dessen leichte Wunden ebenfalls verbunden worden waren, setzte sich neben sie.

Er legte ihr eine Hand auf die Schulter und meinte: „Ich bin sicher, dass er wieder aufwachen wird.“

Mit erstickter Stimme erwiderte Quana: „Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass du Recht behalten wirst …“

Kaum hatten die Worte ihren Mund verlassen, leuchtete etwas unter ihrer Kleidung auf. Verwundert zog die Fliegerin das Auryn hervor, von dem sie völlig vergessen hatte, dass es die ganze Zeit um ihren Hals getragen hatte. Das gleißende Licht drang in Atréju´s Körper ein. Die Wunde auf seinem Oberkörper schloss sich. Es blieb lediglich eine rosafarbene Narbe zurück. Atréju stieß ein Stöhnen aus und schlug nach ein paar Sekunden die Augen auf. Ohne Rücksicht auf seinen geschwächten Zustand, warf sich Quana an seine Arme. Bastian verließ derweil mit einem Grinsen das Zelt, er hatte nicht vor die beiden zu stören. Und erleichtert zog Atréju Quana näher an sich heran.

„Ich …“, begann er langsam, verstummte aber sofort wieder.

Stattdessen hob er sanft ihr Kinn an, um sie zu küssen. Quana erwiderte den Kuss mit flattrigem Herzen. Nach all der Angst um ihn brauchte sie seine Nähe umso mehr.

„Jetzt kann ich es dir endlich sagen.“, erklärte er mit einem Lächeln und machte noch einmal eine kurze Pause, „Ich bin in dich verliebt, Quana …“

Nach all der Zeit hatte er es geschafft ihr seine Gefühle zu gestehen. Viel zu lange hatte er sich davor gefürchtet, was sie ihm – trotz aller Küsse – antworten würde. Doch nun da er nur knapp dem Tode entrungen war und wieder bei ihr sein konnte, wollte er keine Sekunde mehr verschwenden.

Er merkte, wie ihr der Atem stockte, während er weitersprach: „Mein Herz wird für immer nur dir gehören! Und du weißt ja … Waldleute können nicht lügen.“

Sein verschmitztes, naives Lächeln huschte ihm über das Gesicht. Und sie konnte sich nicht beherrschen, wieder liefen heiße Tränen über ihre Wangen.

Nach einem tiefen Schluchzen antwortete die Fliegerin: „Ich habe so sehr darauf gewartet, das von dir zu hören … Ich liebe dich auch, mein mutiger Held!“

Seine Lippen trafen ihre und sie legte all ihre Liebe zu ihm in die Erwiderung.
 

Zurück in seiner eigenen Unterkunft, entdeckte Bastian einen Brief auf seinem Bett. Er stammte von Vally. Sie verlangte, dass sie den Kampf in der kommenden Nacht um Punkt Mitternacht an der südlichen Grenze zum Herzland Phantasiens fortführten. Bis zum Morgen grübelte er über eine Lösung nach. Dies würde seine letzte Chance werden Vally zu retten. Wenn er es nicht schaffte, würde sie ihn töten. Endgültig. Er schluckte hart. Er durfte nicht vergessen, dass dann auch Phantasien dem Untergang geweiht war.

Eine zarte Stimme unterbrach seine rastlose Wanderung durch das Lager: „Du wirst heute Nacht also wieder kämpfen …“

Obwohl es mehr Aussage denn Frage gewesen war, nickte Bastian. Mit einem Lächeln nahm die Kaiserin das Auryn zur Hand, welches sie von Quana zurückbekommen hatte. Die Fliegerin wusste, dass sie es nicht mehr benötigte. Und Atréju auch nicht. Ihre Rollen in dieser Schlacht waren vorbei – nun war Bastian an der Reihe.

Sie legte es ihm um den Hals und sprach: „Es wird dich beschützen … Und vielleicht hilft es dir auch deine Freundin zu retten.“

„Was geschieht mit Xayide, wenn Vally befreit ist?“, wollte er plötzlich wissen.

Mondenkind wurde ernst: „Alte Magie ist sehr kompliziert … und unterliegt strengen Regeln. Meine Schwester hat euren ersten Kampf abgebrochen, weil sie weiß, worauf sie sich eingelassen hat. Sollte derjenige, der sie wiedererweckt hat, sich für das Licht entscheiden, bricht der Zauber in sich zusammen. Deshalb glaube ich, Xayide weiß nichts von eurem nächsten Treffen.“

„Dann … würde Xayide also wieder zu Staub zerfallen?“, hakte er nach.

Sie nickte und erklärte leiser: „Ich habe dir das bis heute verschwiegen, weil ich den Druck nicht verstärken wollte, der ohnehin auf dir lastet … Aber meine Befürchtungen waren vollkommen unbegründet. Du besitzt ein ebenso mutiges Herz wie Atréju … Ich vertraue darauf, dass du damit gegen die Finsternis siegen wirst.“
 

„Ich hätte nicht gedacht, dass du kommen würdest.“, meinte Vally, die lässig an einem Baum lehnte und Bastian bereits erwartete.

Aus einem unerfindlichen Grund grinste er, während er entgegnete: „Wir befinden uns in der >Unendlichen Geschichte<. Wenn ich mich drücke, sich die Phantasier zum Stillstand verurteilt.“

Demonstrativ hab er Adnakis. Vally wartete keine Sekunde länger. Mit einem Ausfallschritt eröffnete sie die Revanche. Wild tanzten ihre Waffen. Beim ersten Mal waren sie noch normale Menschen gewesen … Freunde. Nun kämpften sie mit ganzer Kraft. Als Verkörperung zweier Seiten. Bastian wich einige Meter vor ihr zurück, um für einen kurzen Moment die Augen schließen zu können und das Auryn zu umklammern.

„Ich wünsche mir, dass sie nötige Kraft hat sich von Xayides dunklem Einfluss zu lösen …“, flüsterte er, „Ich bitte dich … hilf´ ihr, Auryn!“

Der Anhänger reagierte sofort. Wie am Tag zuvor leuchtete er hell auf. Die Strahlen umschlossen Vally wie mit einem Kokon. In ihrem Innern versuchte die Finsternis weiterhin die Oberhand zu behalten, doch das Licht des Guten, gestärkt durch Bastians Wunsch und Entschlossenheit, erfüllte sie immer mehr. Und erreichte schließlich ihr Herz.
 

Ein grauenvoller Schmerzensschrei entfuhr Xayide´s Kehle. Sie griff sich an die Brust, wo ihr schwarzes Herz noch schwach schlug. Der Prinzessin der Finsternis stiegen Tränen der Wut in die Augen. Sie erzitterte. Der Verrat ließ den Zauber erlöschen, der sie wiederbelebt hatte. Sie würde erneut zu Staub zerfallen.

„NEIN! ICH WILL LEBEN! ICH SOLLTE HERRSCHEN! ICH VERDIENE ES! ES IST MEINE BESTIMMUNG!“, schrie sie durch die leeren Hallen der Stadt.

Die Kraft verließ sie. Die Magie strömte aus ihrem Körper. Ihre Haut wurde brüchig. Ihr Haar verlor jede Farbe. Sie war alt, uralt und gebrechlicher als ein vertrockneter Zweig. Schmerz durchzuckte sie. Erst zerfielen ihre Hände und Arme, dann ihre Beine und Füße. Bevor Xayide auf dem Boden aufschlug, war von ihrem Selbst nur noch ein Häufchen grauer Staub übrig.
 

Mondenkind breitete ihre Arme aus und sagte voller Frohsinn: „Ich danke dir! Ich danke dir vielmals, Bastian, im Namen aller Phantasier!“

Bastian errötete leicht. Es war ihm beinahe peinlich, wie sehr sie ihn lobte.

Sie schien seine Gedanken zu erahnen, denn sie sagte: „Als du unsere Welt betreten hast, warst du ein ganz gewöhnlicher Junge, der sich für eine abenteuerliche Geschichte interessiert hat … Doch inzwischen bist du ein Mann geworden. Ein Held, der uns alle gerettet hat!“

Atréju legte ihm eine Hand auf die Schulter und fügte hinzu: „Du kannst stolz auf dich sein.“

„Nicht nur du selbst, wir alle sind stolz auf dich, Bastian.“, verbesserte Quana ihn lächelnd, bevor sie Bastian einen kurzen Kuss auf die Wange gab, „Und jetzt bitte keine Eifersucht.“

Der junge Waldläufer sah sie fragend an. Dann lachten die drei laut auf.

Kairon umfasste anschließend Bastians Unterarm zum Kriegergruß: „Irgendwann möchte ich gegen dich kämpfen.“

Der Junge nickte zustimmend. Auch er hoffte eines Tages wieder zurückzukehren.

Vally stand währenddessen teilnahmslos am äußersten Rand des Thronsaals. Nun da sie wieder vollkommen sie selbst war, fühlte sie sich unglaublich schuldig.

„Mein Kind … schäme dich nicht.“, sprach Mondenkind sie mit sanfter Stimme an und ging langsam auf sie zu, „Jeder von uns trägt sowohl eine helle, als auch eine dunkle Seite in sich. Die Finsternis ist eine starke Macht, welche uns leicht zum Bösen verführen kann … Das macht den Weg des Lichtes umso schwieriger. Wir müssen uns immer wieder entschieden … Zwischen dem leichten und dem richtigen Weg.“

Die Kaiserin umarmte sie. Vally suchte hilflos Bastians Blick. Wieder nickte er. Koriakin hatte ihm genau dasselbe gesagt, bevor er nach Phantasien aufgebrochen war …

Viele Tränen flossen, mehrere Umarmungen wurden ausgetauscht, unzählige Worte gemurmelt.

„Ich werde dich vermissen.“, erklärte Bastian an Atréju gewandt, „Euch alle …“

Sein Blick schweifte, bis er an dem der Kaiserin hängen blieb.

Das Auryn, das Symbol ihrer Herrschaft, schmückte wieder ihre Brust und glänzte, während sie erklärte: „Das Auryn … zwei ineinander verschlungene Schlangen, die zusammengehören. Genau wie Sikanda und Adnakis, auch sie sind miteinander verbunden. So wie ihr … Atréju und Bastian. Ihr teilt dieselbe Seele, welche in beiden Welten existiert. Deshalb werdet ihr niemals wirklich voneinander getrennt sein …“

Atréju und Bastian sahen sich an. Sie lächelten. Sie wussten, dass die Herrscherin Recht hatte.

„Irgendwann werden wir uns wiedersehen … mein Bruder.“, flüsterte Atréju ihm gerade noch rechtzeitig zu.

Denn einen Herzschlag später waren Bastian und Vally verschwunden. Zurück in ihrer eigene Welt, in ihrem normalen Leben. Ein Leben, das nie wieder so sein würde wie zuvor …
 

Bastian schlug die Augen auf. Er war in seinem Zimmer. Etwas kaltes lag auf seiner Brust, fast genau über seinem Herzen. Verwirrt tastete er danach und zog schließlich eine silberne Kette mit einem Anhänger unter seinem Oberteil hervor. Er hatte die Form eines Schwertes, auf dessen Klinge etwas eingraviert war – »ADNAKIS«. Er grinste breit und warf einen Blick auf seinen Schreibtisch. Dort lag ein dickes Buch, für das er von nun an die Verantwortung trug – »Die Unendliche Geschichte« …
 

Das Leben geht stetig weiter. Die Zeit hält niemals still. Wie bei einem Buch, bei dem immer eine neue Seite aufgeschlagen wird … Man taucht darin auf und verschwindet dann wieder.

Das Leben ist eine »Unendliche Geschichte«, in der es jeden Tag neue Abenteuer zu erleben gibt, neue Gefahren, neue Freude und Verbündete.

Aber das ist eine andere Geschichte. Und soll ein andermal erzählt werden …



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