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Babylon-6 - 04

Alte Feinde
von

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Ungewisse Manöver

Vier Augenpaare starrten angespannt auf die dreidimensionale Anzeige des galaktischen Sektors, in dem vor mehr als sechs Wochen der Überfall auf sieben Kreuzer der ALPHA-KLASSE stattgefunden hatte, als sie nach ihrer Ausmusterung auf dem Weg zum Mars gewesen waren. Dieser Punkt lag, auf dem großen Wanddisplay, leuchtend gelb markiert im Zentrum des angezeigten Ausschnitts.

Generalmajor Lynden Benjamin Hayes nahm eine rasche Justierung der Anzeige vor, sodass nun auch die Drazi-Kolonie Grendolla-VII, und der markante rote Riesenstern M5-986, der von dem Planeten Merakan umlaufen wurde, auf der Anzeige erschienen. Außerdem das System Sigma-Alpha-301, in dem eine Organisation mit nicht unbedeutenden Ressourcen, heimlich ein neues Hyperraumsprungtor hatte installieren wollen. Dieselbe Organisation steckte hinter dem Überfall auf die sieben Kreuzer und dem Angriff mit ihnen, auf eine Raumbasis im Orbit von Grendolla-VII.

In den letzten Wochen hatte Generalmajor Hayes immer wieder mehrere Kriegsschiffe, der Kampfgruppe-Epsilon, zu Sternensystemen entsandt, die nach seinem strategischen Verständnis als Ausgangspunkte für zukünftige Aktionen infrage kamen. Diese Art von Fernaufklärung hatte jedoch bis heute nichts erbracht. Der Feind schien sich in Luft aufgelöst zu haben, doch Hayes war klar, dass dieser Eindruck täuschte. Darum hatte er die drei mit ihm Anwesenden am heutigen Abend zu sich gebeten.

Außer ihm selbst befanden sich Captain Fernando Esposito, Captain Christina Frost und Commander Irina Zaizewa im Arbeitszimmer seines Bungalows, wobei die Anwesenheit von Christina Frost einen besonderen Grund hatte, über den er jedoch erst später mit ihr, unter vier Augen, zu reden gedachte. Jetzt ging es um ein vordringliches Problem.

Hayes hatte darauf verzichtet, diese Besprechung im Büro der Station anzuberaumen, sondern die drei Offiziere lieber in diesen Bungalow gebeten, von denen es genug für die gesamte Besatzung der Station, und gleichfalls für die Raumschiff-Besatzungen, der Kampfgruppe-Epsilon, im Innenbereich der Rotationssektion gab.

Auf die Anzeige deutend, auf der nun alle entscheidenden Punkte im All gelb aufleuchteten, sagte Hayes: „Ich habe versucht ein Muster zu erkennen, um ein Sternensystem auszumachen, das als Stützpunkt strategisch günstig zu allen Sektoren liegt, in denen der Feind bisher Aktionen durchgeführt hat oder Stützpunkte unterhielt. Zwei konnten wir aufspüren und unschädlich machen, doch ich bin mir sicher, dass das nur die Spitze des Eisberges gewesen ist. Unsere Aufklärung war bisher nicht erfolgreich, obwohl wir jedes System angeflogen haben, das für den Aufbau eines Stützpunktes infrage käme.“

„Haben Sie in Betracht gezogen, dass der Gegner vielleicht wirklich die Segel gestrichen haben könnte?“, warf Christina Frost ein. „Vielleicht haben wir ihn im Queralin-System ja doch entscheidend getroffen, Sir?“

Hayes sah die hagerere, hoch aufgeschossener, Frau an und fuhr sich dabei über das früh ergraute Haar. Dabei stand er erst kurz vor seinem dreiundfünfzigsten Geburtstag.

Das kurze, rot-blonde Haar der zweiundvierzigjährigen Kommandantin der ANDROMEDA, einem Schweren Zerstörer der WARLOCK-KLASSE, verleiht der Frau gelegentlich einen lausbubenhaften Zug. Sie galt als absolut verlässlich. Dazu trug zu einem nicht unbeträchtlichen Teil ihr Wesen bei, das ziemlich geradeheraus war.

Hayes erwiderte nach einem Moment: „Diesen Gedanken habe ich durchgespielt und wieder verworfen, Captain Frost. „Wir haben auf Merakan keinerlei Hinweise auf jenes Raumschiff finden können, das ein Gerät an Bord hat, mit dem man unsere sieben Kreuzer aus dem Hyperraum holte. Ebenfalls abgängig sind noch mindestens vier kapitale Trägerschiffe, wie jene beiden, die wir im Queralin-System stellen und vernichten konnten. Darüber hinaus denke ich, dass die Flotte unserer Gegner größer ist, als wir glauben. Ich habe mir von der Erd-Zentrale eine Liste aller im Einsatz vermissten Raumschiffe senden lassen und mein Augenmerk besonders auf jene Raumschiffe gerichtet, die während des Telepathen-Krieges verschwanden. Das Ergebnis ist niederschmetternd. Annähernd dreißig kapitale Raumschiffe der Erd-Streitkräfte gingen allein während dieser Zeit verloren.“

Commander Irina Zaizewa warf ihr langes, braunes Haar zurück und sah ihren Vorgesetzten beinahe erschrocken an. „So viele Kriegsschiffe, Sir? Aber wie konnten die alle verloren gehen, ohne dass das bekannt wurde?“

„Vermutlich gezielte Desinformation hochrangiger Mitglieder des inzwischen aufgelösten PSI-Corps und von deren Helfershelfern“, orakelte Fernando Esposito, der als Stellvertreter von Hayes fungierte und somit der Zweite im Kommando war. „Zudem ist Einschüchterung bei denen stets ein gerne angewandtes Mittel gewesen.“

Die Augen der Telepathin begannen eigentümlich zu funkeln, doch bevor Irina Zaizewa etwas auf die Worte des Südländers erwidern konnte, warf Christina Frost ein: „Wenn es so war, dann sind diese Machenschaften fraglos von einem gewissen Alfred Bester und einer sehr kleinen Gruppe seiner engsten Mitarbeiter durchgeführt worden. Nun, Bester ist seit Jahrzehnten tot, doch sein Erbe ist anscheinend recht lebendig.“

Hayes warf der rotblonden Raumschiff-Kommandantin einen dankbaren Blick zu und sagte überzeugt: „Das sehe ich ähnlich. Einige Telepathen haben sich gewiss nicht mit dem plötzlichen Machtverlust abfinden können, nachdem im Jahr 2267 das Corps aufgelöst wurde. Es dürfte sich jedoch um eine Minderheit gehandelt haben.“

Inzwischen hatte Commander Zaizewa ihre kurzzeitig aufschäumenden Emotionen wieder fest im Griff und starrte wieder intensiv auf die Anzeige. „Was, wenn es gar kein planetarer Stützpunkt ist, den wir suchen? Wir selbst befinden uns ja auch nicht auf einem Planeten oder in der Nähe eines solchen.“

Für einen kurzen Augenblick sah Hayes die Stellvertretende Stationskommandantin an, wie ein Wundertier. Dann schnippte er mit den Fingern der rechten Hand und meinte mit wankender Stimme: „Wie gut, dass wenigstens Sie die Übersicht behalten haben, Commander. Unsere Gegner haben uns, was unsere Überlegungen betrifft, in diese Ecke gedrämmelt, weil wir sie bisher immer in Sternensystemen bekämpft haben.“

Rasch nahm Hayes einige Schaltungen am seitlichen Kontroll-Paneel des Displays vor und um die gelb markierten Punkte herum bildeten sich halb-transparente Kugel-Sektoren. Hayes vergrößerte diese Sektoren, bis sie sich an einem einzigen Punkt schnitten.

„Vielleicht sollten wir es in genau diesem Bereich mal versuchen. Kein Sternensystem weit und breit – nur leerer Weltraum“, meinte Hayes und deutete auf den entsprechenden Sektor. „Da würde man normalerweise ganz zuletzt suchen.“

„Kein gerade sehr kleiner Bereich des Weltalls“, stellte Fernando Esposito mürrisch fest. „Das wird die berühmte Suche nach der Nadel im Nadelhaufen.“

„Besonders dann, wenn der Gegner Hyperraum-Ortungssonden installiert hat und die Systeme herunterfährt, sobald wir uns nähern“, stimmte Christina Frost zu. „Aber nach meiner Ansicht wäre es den Versuch wert, Sir. Schon mangels Alternativen.“

Lynden Benjamin Hayes blickte in die Gesichter der beiden anderen Offiziere und erkannte in ihnen Zustimmung. „Also schön. Morgen werden wir damit beginnen, einen Schlachtplan auszuarbeiten. Sobald er steht, werde ich mich an Bord der SHERIDAN begeben und den Hauptteil der Kampfgruppe-Epsilon zu diesem Sektor führen. Dann werden wir sehen, ob unsere Überlegungen etwas wert sind.“

„Haben wir inzwischen Informationen von der NE'VAR erhalten?“, erkundigte sich Fernando Esposito unvermittelt. „G’Ryka wollte sich doch umhören.“

„Nein, die Narn hat sich bisher ausgeschwiegen“, erwiderte Hayes. „Doch das besagt nichts, da sie zuerst einmal ihren eigenen Geschäften nachgehen muss. Ich rechne frühestens in vier Wochen mit einer erneuten Kontaktaufnahme.“

Der Generalmajor warf einen bedauernden Blick auf die Zeitanzeige, in der oberen rechten Ecke des Displays. Es war später geworden, als er gehofft hatte. Der gewohnte Abendspaziergang mit Irina Zaizewa würde heute wohl ausfallen.

Nachdem keiner der drei Offiziere den Eindruck bei Hayes erweckte noch etwas beisteuern zu wollen, wandte sich der Generalmajor an Esposito und meinte: „Sie können dann wegtreten, Captain. Ich erwarte Sie morgen früh, um genau 10:00 Uhr im Dienstbüro der Station.“

Der schwarzhaarige Mann bestätigte und verließ rasch den Bungalow, wobei Hayes den Eindruck gewann, dass es der Südländer eilig zu haben schien.

Rasch wandte sich Hayes zu Irina Zaizewa. Ihr einen schnellen bedauernden Blick zuwerfend wies er sie an: „Bitte warten Sie ein paar Minuten außerhalb des Bungalows, Commander. Wir haben noch etwas zu besprechen, doch zuerst muss ich etwas mit Captain Frost, unter vier Augen, klären.“

„Natürlich, Sir.“

Die Telepathin verließ den Bungalow. Erst nachdem sich das Schott zischend hinter ihr geschlossen hatte, richtete Hayes sein Augenmerk auf Christina Frost, die ihn neugierig ansah, denn sie hatte im Moment nicht die leiseste Ahnung, was es zwischen ihr und Hayes zu besprechen geben könnte.

Hayes lächelte beruhigend und deutete hinüber zur Sitzgruppe. „Nehmen Sie Platz, Captain Frost. Ich habe nicht vor, ihnen die Schulterklappen abzureißen.“

Christina Frost kam der Aufforderung nach und sah ihren Vorgesetzten neugierig an, nachdem auch er sich gesetzt hatte. „Worum geht es, Sir?“

Hayes mochte diese direkte Art der Frau. Geradeheraus und ohne Schnörkel. Er beschloss, ebenso direkt zur Sache zu kommen, und gab zurück: „Ich weiß, von ihrem Versetzungsgesuch zur Transferstation LOOKOUT, um dort das Kommando zu führen. Für Sie unglücklich war, dass Sie in das Geheimnis von BABYLON-6 eingeweiht wurden, bevor die Sichtung der Bewerber begann. Damit waren Sie aus dem Auswahlverfahren heraus.“

„Ich hätte sehr gerne das Kommando über eine Raumstation geführt“, gab Frost freimütig zu. „Daraus habe ich nie einen Hehl gemacht.“

„Richtig“, stellte Hayes fest. „Ihr Erster Offizier hat ihrerseits nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie gerne ein Raumschiff kommandieren würde. Das Zeug dazu hätte sie und das nötige Dienstalter ebenfalls. Na, ja – beinahe das nötige Dienstalter.“

„Worauf wollen Sie hinaus, Sir?“

Hayes schmunzelte amüsiert. „Nun, was würden Sie davon halten, wenn ich ihnen das Kommando über eine Raumstation verschaffe, Captain Frost?“

Es dauerte eine Weile, bis die hagere Frau verstand und überrascht fragte sie: „Sie meinen, das Kommando über diese Raumstation? Aber was wird Commander Zaizewa…?“

„Commander Zaizewa ist ein hervorragender Erster Offizier dieser Station. Doch ich selbst bin mit der gleichzeitigen Führung der Kampfgruppe-Epsilon und dem Kommando über diese Station zu sehr beansprucht. Gerade jetzt braucht die Kampfgruppe eher mein persönliches Kommando, als diese Station, Captain. Der Commander müsste also weitgehend als Kommandantin dienen. Gleichzeitig ist sie aber auch die Geschwaderkommandantin der Jäger und Jagdbomber dieser Station. Lieutenant-Commander Shinji Okasaki hat seine Aufgabe, als diese Station vor zwei Monaten unter Beschuss stand, zwar sehr gut gelöst, doch es wäre mir wohler, wenn das nächste Mal ein etwas erfahrenerer Offizier das Kommando innehätte. Das sollte jedoch nicht ausgerechnet eine der besten Pilotinnen des Geschwaders sein, die ich im Notfall dort draußen, als CAG der Geschwader, weitaus besser gebrauchen kann. Also was denken Sie, Captain? Ist Commander Chloe-Manon Lefevre bereit für eine Beförderung zum Captain, oder nicht?“

Der Blick der rotblonden Frau wurde undeutbar. „Commander Lefevre ist bereit, Sir. Aber sind Sie sicher, dass es für ihr kleines Manöver nicht noch einen anderen Grund gibt?“

„Nein“, gab der Generalmajor offen zu. „Doch dieser Grund hat nichts mit ihrer Versetzung auf diese Station zu tun. Denn Sie wären als Kommandantin dieser Station genau die richtige Person auf dem richtigen Posten, Captain Frost, und sie wäre auch ohne diesen ganz speziellen Grund notwendig.“

Christina Frost grinste fast lausbubenhaft, als sie erwiderte: „Dann haben Sie ihre neue Stationskommandantin, Sir. Man wird ihr kleines Manöver dennoch durchschauen.“

„Das ist mir ziemlich egal, Captain“, erwiderte der Mann unbekümmert.

„Liegt sonst noch etwas an, Sir?“

Der Generalmajor übersah das Zwinkern der Frau geflissentlich. „Nein, das wäre alles, Captain. Denn Kommandowechsel und die Beförderung von Commander Lefevre machen wir gleich morgen, unmittelbar nach Dienstbeginn, offiziell. Kommen Sie bitte ebenfalls danach, um 10:00 Uhr in mein Dienstbüro. Ach, und Captain. Schicken Sie mir bitte Commander Zaizewa herein, wenn Sie gehen.“

Die hagere Frau erhob sich und lächelte vielsagend. „Natürlich, Sir. Ich wünsche Ihnen und dem Commander einen angenehmen Abend.“

Hayes sah Christina Frost stirnrunzelnd nach. Bisher hatte er geglaubt, dass die Zuneigung, die er für Irina Zaizewa empfand, noch nicht die Runde gemacht hatte, innerhalb der Truppe. Andererseits hatte er intelligente Menschen unter seinem Kommando, also hätte er damit rechnen können, dass diese Menschen irgendwann ihre Schlussfolgerungen daraus ziehen würden, wenn er jeden Abend ausgedehnte Spaziergänge mit dem Commander unternahm. Vermutlich hatten diese Leute eher gemerkt, als Irina und er selbst, wie es um sie beide stand.

Hayes fuhr aus seinen Überlegungen auf, als Irina Zaizewa zu ihm hereinkam und meinte: „Captain Frost schien ziemlich guter Laune zu sein, als sie ging. Wie ist es, machen wir wenigstens noch einen kleineren Spaziergang, Sir?“

„Nein“, gab Hayes zurück. „Wir haben nämlich wirklich etwas zu besprechen. Das hat auch mit dem zu tun, was ich eben mit Christina Frost besprochen habe.“

„Klingt ernst.“

„Oh, es ist nichts Schlimmes. Aber es hat gewisse Auswirkungen.“

Irina Zaizewa kam näher und sah ihrem direkten Vorgesetzten in die sanften, braunen Augen, als Hayes damit begann ihr zu berichten, was genau er mit Frost abgemacht hatte. Nachdem er geendet hatte, schwieg sie eine geraume Weile, bevor sie konstatierte: „Die glauben also zu wissen, was Sache ist. Dabei wissen das nicht mal wir zwei.“

„Richtig, weil ich bisher jedesmal unterbrochen wurde, wenn ich mit dir dieses Thema anschneiden wollte. Gerade so, als hätte sich das gesamte Universum gegen uns verschworen. Doch hier und jetzt werden wir darüber reden, und wenn die Station darüber untergehen sollte.“

Die Telepathin lächelte dünn. „Wird auch verdammt Zeit, würde ich sagen.“

Der Mann seufzte schwach. Dann sah er die Frau vor sich ernst an und sagte entschlossen: „Meine Gefühle für Sie, Commander, waren von Beginn an von einer ausgeprägten Ambivalenz. Anfangs hätte ich Sie am liebsten, ohne Raumanzug, aus der nächsten Luftschleuse der Station befördert. Doch als sie nach dem Gefecht im Umkreis um diese Station schwer verletzt wurden, da war ich in höchster Sorge um Sie. Mehr in Sorge, als es bei Personen unter meinem Kommando sonst der Fall gewesen ist. Danach folgten die Gespräche mit ihnen, am Krankenbett der Station, und später die gemeinsamen Spaziergänge, bei denen wir uns ausgetauscht haben.“

„Ich verstehe worauf Sie hinaus wollen, Sir“, unterbrach die Frau ihn. „Als Sie am Krankenbett meine Hand gehalten haben, da war es quasi unmöglich nicht ihre Emotionen zu erfassen. Ich habe in diesem Moment sehr genau gespürt, dass da etwas ist, und nicht genau zu wissen was, das macht mich seit Wochen kribbelig.“

Hayes ging etwas auf Abstand und legte seine Uniformjacke ab. Er war längst außer Dienst und außer Irina Zaizewa sah es ja keiner. Er schritt in den Wohnbereich hinein, begab sich zur Bar und schenkte für sie beide einen Drink ein. Um nicht direkt auf ihre letzten Worte antworten zu müssen, erkundigte er sich über die Schulter hinweg: „Was macht der Heilungsprozess? Hat die Notoperation schlimme Narben hinterlassen?“

Er nahm die Gläser in die Hand und wandte sich um, wobei er sie beinahe fallengelassen hätte, denn vor seinen Augen legte Irina Hayes ebenfalls ihre Uniformjacke ab und zudem ihre weiße Uniformbluse, unter der sie nur einen hellen Sport-BH trug. Mit unschuldigem Augenaufschlag sagte sie: Sehen Sie selbst, Sir.“

Langsam schritt Hayes zu der Telepathin und reichte ihr, fast mechanisch, eines der beiden Gläser. Dabei betrachtete er tatsächlich interessiert die Narben des Eingriffs. Nachdem er schnell sein Glas geleert hatte, stellte er es auf den Tisch, der im Raum stand und meinte bedauernd: „Tut mir leid, dass es mein Befehl war, der zu diesen Narben führte.“

„Das ist nicht Ihre Schuld, Sir, sondern die Schuld unserer Gegner.“

Die Telepathin leerte ihr Glas und stellte es neben dem des Generalmajors auf den Tisch. Als sie sich wieder dem Mann zuwandte, fragte sie, mit veränderter Stimmlage: „Wird man eigentlich Generalmajor, ohne so etwas abzubekommen, Sir?“

„Leider nicht“, knurrte der Mann in der Erinnerung. Er öffnete sein blütenweißes Uniformhemd, zog es aus und warf es achtlos auf einen der Sessel. Dabei deutete er auf mehrere fingerlange Narben unter seiner linken Brust. „Diese Erinnerungen habe ich mir bei der Schlacht von Proxima 3 eingefangen. Interessanterweise nicht im Cockpit eines Jägers der VESTA, sondern von einem Kameraden an Bord, der mit dem Stillhalte-Befehl meines damaligen Captains, Edward MacDougan nicht einverstanden war und zu meutern gedachte. Drei Stiche mit einer ziemlich breiten und langen Klinge.“

Irina Zaizewa trat dichter zu Hayes heran. Nachdem sie ihn fragend angesehen hatte, streckte sie ihre Hand aus und berührte mit den Fingerspitzen eine der Narben. Dabei sah sie dem Mann direkt in die Augen und fragte mit kratziger Stimme: „Was also ist das nun, zwischen uns beiden, Generalmajor?“

Der Grauhaarige schluckte und sagte dann mit belegter Stimme: „Zuerst einmal lassen wir jetzt die Ränge weg, sonst wird das eine ziemlich schräge Unterhaltung.“

„Zweifellos“, stimmte die Frau zu, die noch immer ihre Finger am Körper des Mannes hatte und deutlich seine innere Unruhe spüren konnte.

Die Frau trat so dicht an den Generalmajor heran, dass ihr Oberkörper ganz eben den Oberkörper des Mannes berührten. Sie fasste sich ein Herz, nahm die Hände des Mannes in ihre und legte sie sich um die Hüften, wobei sie seine linke Hand über der Gürtellinie auf ihre nackte Haut legte. Seine Rechte legte sie sich mit herausforderndem Grinsen auf den Po. Danach schlang sie ihre Arme um seinen Nacken und neigte ihren Kopf fragend zur Seite.

Lynden Benjamin Hayes zog die Frau nun ein Stück näher zu sich heran und raunte, nach geraumer Weile: „Wir müssen das, auch wenn ich Christina Frost zwischen uns stelle, damit ich nicht mehr dein direkter Vorgesetzter bin, dennoch erst einmal unter dem Teppich halten, Irina. Das bedeutet: Kein Händchenhalten während der Abendspaziergänge, keine verliebten Blicke während andere Personen dabei sind und nur die förmliche Anrede, während des Dienstes und solange wir nicht unter uns sind.“

Irina Zaizewa verdrehte gespielt verzweifelt die Augen, wobei sie allerdings verführerisch grinste und leise erwiderte: „Unsere Leute werden es dennoch merken. Die sind nicht dumm und sie haben scharfe Augen. In diesem Fall leider. Aber du hast meine Frage noch nicht beantwortet. Was ist es?“

„Ich habe keine Antwort darauf. Hast du eine?"

Irina schüttelte unmerklich den Kopf und erwiderte raunend: „Nein, das ist es ja. Jetzt gerade ist mir das jedoch ziemlich egal, denn was immer es ist, es fühlt sich gut an.“

Entschlossen beugte sich die Frau etwas vor und küsste den Mann, der sie fest in seinen Armen hielt. Nur eine einzige längerfristige Beziehung hatte sie bisher mit einem Mann geführt, ansonsten hatte es in ihrem Leben nur kurzzeitige Affären gegeben. Sie schloss die Augen, als Hayes ihren Kuss sanft erwiderte und sie ließ sich emotional fallen. Zum ersten Mal, seit einer sehr langen Zeit. Ihre Finger glitten über den breiten Rücken des Mannes und krallten sich schließlich sacht in seine Haut.

Nach einer Weile, die Irina Zaizewa wie eine halbe Ewigkeit vorkam, lösten sich ihre Lippen und die Telepathin sah den Mann in ihren Armen fragend an. „Ich habe das schon seit Jahren nicht mehr getan. Was ist mit dir?“

„Ich kann mich nicht erinnern“, spöttelte der Mann mit rauer Stimme. „Aber einige Jahre ist es auch bei mir her, dass ich zuletzt eine Frau geküsst habe.“

„Bist du ganz sicher, dass es keine Jahrzehnte sind?“

„He, nur nicht dreist werden“, gab der Mann mit warnendem Unterton zurück. „Nach Moanas Tod hat es einige Jahre gedauert, bis ich wieder eine Frau in mein Leben gelassen habe. Auf Dauer hat es aber nicht funktioniert. Danach habe ich mich auf flüchtige Affären beschränkt. Zumal der Dienst nicht wirklich förderlich für Beziehungen ist.“

„Ja“, hauchte die Telepathin und küsste Hayes erneut.

Als Irina den Mann zögerlich wieder freigab, meinte sie augenzwinkernd: „Obwohl der Dienst gerade sehr förderlich wirkt, wie mir scheint.“

Hayes nickte nur schmunzelnd und löste die Umarmung. Die Telepathin an die Hände nehmend führte er sie hinüber zum Schlafbereich. „Darüber reden wir später.“
 

* * *
 

Irina Zaizewa erwachte, als sich die Beleuchtung der Rotationssektion noch im Nachtmodus befand. Schon wegen der verschiedenen Pflanzen, dem Getreide und der Gemüse- und Obstsorten, die hier gezüchtet wurden, war ein natürlicher Wechsel der Helligkeit innerhalb dieser Sektion nötig.

Als sie ihre Augen öffnete und sich sacht bewegte, da berührte ihre Nase die von Lynden B. Hayes und der Mann verzog etwas das Gesicht. Neckisch bewegte die Telepathin ihre Nase wieder vor und stupste die des Mannes an. Wieder verzog er das Gesicht und gab ein leises Brummen von sich.

Als sich das Gesicht der Frau erneut vor reckte, wurde sie von dem festen Griff des Mannes überrascht, mit dem sie die letzte Nacht verbracht hatte und sie gab einen spitzen Laut der Überraschung von sich.

Gleich darauf sah sie Hayes mit gespielt grimmiger Miene an. „Wenn du einen alten Mann wecken willst, dann musst du früher aufstehen, du kleiner Spaßvogel.“

„Das werde ich mir merken“, gab die Frau leise zurück und schob sich über den Körper des Mannes. Nach einem sanften Kuss sah sie Hayes verklärt an. Dabei spürte sie, wie seine Fingerspitzen die Linien ihres Rückens und ihres Pos unter der leichten atmungsaktiven Decke nachzeichneten.

Der Mann lachte lautlos und sagte dann raunend: „Also, was immer das nun zwischen uns ist, ich finde, es war letzte Nacht der helle Wahnsinn.“

„Es war auch diesen Morgen der helle Wahnsinn“, ergänzte die Telepathin anzüglich, denn sie hatten sich mehrmals geliebt, bevor sie endlich der Schlaf übermannt hatte.

„Ja, das war es“, nickte Hayes lächelnd und seufzte schwach.

Irina Zaizewa drehte sich mit dem Mann in ihren Armen auf die Seite, bevor sie stirnrunzelnd fragte: „Soll das leise Seufzen mir sagen, dass du es bedauerst?“

„Aber nein“, wehrte Hayes rasch ab. „Ich dachte nur für einen kurzen Moment daran, dass es vermutlich eine ziemlich komplizierte Geschichte werden wird, mit uns beiden und mit dem, was immer wir nun auch haben.“

Irina Zaizewa drehte sich auf den Rücken und gab spöttisch zurück: „Was meinst du mit werden? Die ganze Nummer war doch vom ersten Moment an kompliziert.“

„Oh ja“, stimmte Hayes verschmitzt grinsend zu. Dabei streichelten die Spitzen seiner Finger ganz sacht über die straffen Brüste der Telepathin. Als er sich etwas über sie beugte und die Knospen ihrer Brüste küsste, gab sie ein leises, wohliges Schnurren von sich und schlang schließlich ihre Arme um ihn. Im nächsten Moment lachte sie unterdrückt.

Hayes richtete sich etwas auf und sah die Frau fragend an. „Was findest du denn jetzt so wahnsinnig komisch?“

Es dauerte einen Moment, bis Irina in der Lage war darauf zu antworten. „Erinnerst du dich noch an diese bescheuerte Wette, die Nurcan und ich vor deiner Ankunft auf dieser Station abgeschlossen haben?“

„Wie könnte ich die vergessen? Damit begann der gesamte Zauber doch erst.“

Die Telepathin lächelte spitzbübische, bis sich schließlich Erkenntnis im Blick des Mannes widerspiegelte.

„Oh… Nein! Das kann doch nicht wahr sein.“

„Oh, doch. Das ist wahr. Aber du weißt hoffentlich, dass das nicht der Grund…“

Hayes verschloss der Frau den Mund mit einem langen sanften Kuss. Als er sich nach geraumer Weile von ihr löste, meinte er ernsthaft: „Weißt du was: Erwähne nie wieder diese selten dämliche Wette, sonst…“

Irina hob fragend die Augenbrauen. „Sonst – was?“

„Wenn ich, als Generalmajor, sonst sage, reicht das normalerweise schon.“

Die Telepathin gab ihrem Vorgesetzten einen leichten Nasenstüber. „He, sei am frühen Morgen nicht so ein Grummelbär. Nicht, nach einer so wundervollen Nacht.“

Nach einem weiteren flüchtigen Kuss raunte Hayes bedauernd: „Komm mit unter die Dusche, damit du dich aus meinem Bungalow schleichen kannst, bevor der Rest der Station wach wird.“

„Du sagst mir immer so herrlich romantische Dinge“, beschwerte sich die Telepathin halb belustigt, halb ernsthaft, und folgte einen Moment später der Aufforderung.

Nachdem sie sich angekleidet hatten, verabschiedete Hayes die Telepathin am Schott mit einem raschen letzten Kuss, bevor sie hinausschlüpfte und im Halbdunkel verschwand, um ihren eigenen Bungalow aufzusuchen. Sinnend sah Hayes ihr nach, bevor er das Schott schloss und sich zu der kleinen Küche des Hauses begab. Jetzt brauchte er einen starken Kaffee, um erst einmal richtig wach zu werden, nach den wenigen Stunden des Schlafens.

Weibliche Manöver

In demselben Moment, in dem Irina Zaizewa ihrem Vorgesetzten einen Abschiedskuss gab, betrat auf dem Planeten Minbar die Präsidentin der Interstellaren Allianz die Halle des Neroon-Palastes. Schon von Weitem vernahm sie die tragende Stimme von Susan Ivanova, die in der Ferne, zusammen mit einem minbarischen Ranger zu erkennen war.

Als ihr, vor zehn Jahren verstorbener Mann, John Sheridan, im Jahr 2279 die Wiederwahl zum Präsidenten der Interstellaren Allianz ablehnte, übernahm Delenn sein Amt, während Sheridan zum Entil'Zha der Ranger wurde. Seit Sheridans Tod im Jahr 2281 stand Susan Ivanova den Rangers als Entil'Zha vor. Viele der menschlichen Ranger nannten sie schlicht Ranger-Eins.

Der Neroon-Palast war entstanden, nachdem Sheridan als vermisst galt. Er bildete seither das Kommandozentrum der Interstellaren Allianz auf Minbar. Benannt worden war das Gebäude nach jenem Mitglied der Kriegerkaste, aus dem Klan der Sternenreiter, der im Jahr 2261, durch das Opfern seines Lebens, den Bürgerkrieg auf Minbar beendet hatte.

Hier in Tuzanor auch bekannt als Stadt der Trauer, herrschte früher Nachmittag. Seit Ende des Jahres 2262 war Tuzanor der Hauptsitz der Interstellaren Allianz. Wie überall auf Minbar war auch dieses Gebäude teilweise aus einem riesigen Kristall herausgearbeitet worden. So schimmerte die Decke der gewaltigen Halle über Delenn in allen Farben des Regenbogens. Entlang der sechseckigen Halle, deren Durchmesser mehr als zweihundert Meter betrug, spannten sich weitläufige Galerien auf zehn Ebenen, die zu den Arbeitsbereichen des Palastes führten. Diese Halle, im Zentrum des Palastes, wurde hauptsächlich für Festakte und Ansprachen genutzt.

Gegenwärtig hielten sich in der Halle nur Delenn, Ivanova und jener Ranger auf, der von Ranger-Eins offensichtlich gerade eine Belobigung in schärfster Form bekam. Unter den Rangers waren diese Ansagen berüchtigt. Anders, als ihre Vorgänger, bevorzugte Ivanova, die zeitlebens beim Militär gedient hatte, ein sehr straffes Regiment.

Als Delenn die beiden so unterschiedlichen Wesen fast erreicht hatte, bekam sie gerade noch mit, wie Ivanova den minbarischen Ranger erbost davon schickte. Sie war zwar inzwischen siebenundsechzig Jahre alt, doch davon war gegenwärtig nicht viel zu merken. Noch immer erbost sah sie, mit einem gefährlich wirkenden Funkeln in den Augen zu Delenn, deren Anwesenheit sie inzwischen bemerkt hatte.

Delenn, die ihr langsam ergrauendes, schulterlanges Haar heute offen trug, lächelte beinahe amüsiert, als sie die Freundin erreichte. Bereits während ihrer Zeit als minbarische Botschafterin war Ivanova eine Vertrauensperson für sie gewesen. Heute verband beide Frauen eine echte Freundschaft, die über Jahrzehnte gewachsen war.

„Wie ich sehe, pflegst du deinen Ruf als harte Anführerin“, begrüßte Delenn die Terranerin mit ironischem Unterton. „War das nicht ein Captain der Blue-Star-Einheiten?“

„Doch, das war einer von ihnen“, gab Ivanova Auskunft und holte tief Luft.

Delenn deutete hinüber zum nördlichen der vier großen Hallenportale und in wortloser Übereinkunft schritt die Terranerin an der Seite von Delenn mit gemessenem Schritt darauf zu. Nach einem Moment machte sie ihrem Ärger Luft und meinte: „Da bringen wir den Rangers seit Jahrzehnten bei, dass es keine unwichtigen Informationen gibt, und dieser naseweise Captain behält mehr als eine Woche lang für sich, was er in Bezug auf die Kampfgruppe-Epsilon in Erfahrung gebracht hat. Man stelle sich das vor, die Information ist bereits eine volle Woche alt.“

Die Minbari, die körperlich viel mehr Mensch zu sein schien, sah ihre Begleiterin fragen an und kam sofort auf den Punkt. „Von welcher Information sprichst du und was hat es mit der erwähnten Kampfgruppe auf sich?“

Susan Ivanova erwiderte den fragenden Blick von Delenn und erklärte: „Ich sammele seit einiger Zeit Informationen über die Aktionsbereiche der verschiedenen Flotten und Kampfgruppen der Erd-Allianz. Besonders, seit sich die Politik der Erde unserer zu entfernen scheint. Dabei fiel mir bereits vor mehreren Monaten auf, dass die Kampfgruppe-Epsilon scheinbar wie durch Zauberhand verschwunden zu sein scheint.“

„Was schließt du daraus? Wurde auf der Erde Alarm gegeben?“

Ein sanftes Lächeln überflog das Gesicht von Ivanova. Delenn handelte und sprach stets besonnen. So stellte sie auch jetzt keine überhasteten eigenen Vermutungen an, sondern fragte sie nach ihrer Meinung.

„Ich habe meine Kontakte zu einem ehemaligen Kollegen im Generalstab spielen lassen. Dort räuspert man sich nicht einmal. Ich habe in den letzten zehn Jahren schon häufiger erlebt, dass die mit uns in Kontakt stehenden Regierungen und staatlichen Organisationen gemauert haben, aber noch nie so schnell und so gründlich. Ich denke, der Generalstab weiß nur zu gut wo der Kampfverband abgeblieben ist. Eine Geheimaktion.“

Delenn wirkte etwas überrascht. „Bist du sicher?“

„Darauf kannst du deinen Allerwertesten verwetten.“

Ein beinahe spitzbübischer Ausdruck lag in den Augen der Minbari, als sie erwiderte: „Meinst du damit meinen allerwertesten Freund?“

Die beiden Frauen lachten sich an. Dieser Wortwitz hatte die letzten dreißig Jahre offensichtlich unbeschadet überstanden.

„Nicht wirklich“, gab Ivanova zu und kam zurück zum Thema. „Ich konnte mittlerweile in Erfahrung bringen, dass Generalmajor Lynden Benjamin Hayes diese Kampfgruppe kommandiert. Ich bin Hayes vor vielen Jahren begegnet. Damals war er noch Commander und Erster Offizier der LEXINGTON. Ein Offizier mit sehr großem Potenzial. Außerdem gehört, seit etwa einem halben Jahr, zu dieser Einheit auch das erste Trägerschlachtschiff der SHERIDAN-KLASSE.“

Delenn kannte die Freundin inzwischen gut genug, um zu bemerken, dass es noch mehr gab, was sie beschäftigte, und deshalb fragte sie geradeheraus: „Was noch, Susan?“

„Nun, wir haben Berichte erhalten, nach denen sieben Kreuzer der Erd-Allianz eine Raumbasis bei Grendolla-VII angegriffen und zerstört haben. Es handelte sich dabei um eine zivile Station der Drazi. Die haben ihrerseits Mord und Brand geschrien und fordern von der Erdregierung eine horrende Entschädigungszahlung. Die Erde hat ihrerseits einen solchen Angriff durch ihre Flotte dementiert. Bei Präsidentin Ayumi Okamura bissen die Drazi also auf Granit. Ich selbst bin ebenfalls der Meinung, dass die Erd-Allianz unschuldig ist.“

Delenn musterte Susan Ivanova forschend.

„Nein, ich bin nicht befangen“, erklärte die Terranerin, obwohl Delenn keine entsprechende Frage gestellt hatte. „Ich bin mir dennoch sicher, dass Hayes weder ein Kriegstreiber ist, noch ein Psychopath. Der würde einfach anders vorgehen, wenn er einen Krieg vom Zaun brechen wollte. Hayes würde ein militärisches Ziel wählen.“

Delenn nickte nachdenklich. „Ich vertraue deiner Intuition, Susan. Doch wer greift, mitten im tiefsten Frieden, einen Handelsposten der Drazi mit sieben Erd-Kreuzern an? Dieser Fakt steht nach wie vor im Raum.“

„Ich gebe zu, dass dieser Punkt etwas seltsam ist. Ich warte, in Bezug auf diese Kreuzer, noch auf eine Information, aus dem erdnahen Sektor. Was mir der Blue-Star-Captain außerdem berichtete, ist dies: Ein weiteres Raumschiff war bei diesem seltsamen Angriff auf die Drazi-Station dabei. Ein Narn-Kreuzer der TH'NOR-KLASSE. Laut seinem Bericht hat der Kreuzer in den Kampf eingegriffen und einen der angreifenden Kreuzer der Erde zerstört. Danach verschwand das Raumschiff rasch in den Hyperraum. Die Ranger konnten inzwischen ermitteln, dass sich dieser Narn-Kreuzer, die NE'VAR, gegenwärtig über Centauri-Prime aufhält. Ich habe eine kleine Einheit entsandt, um die NE'VAR außerhalb des Heimatsystems der Centauri abzufangen. Die Centauri müssen nicht wissen, was vorgeht. Zumindest jetzt noch nicht. Zuerst will ich selbst wissen, was da gespielt wird.“

Delenn schmunzelte unmerklich. Es gab gewisse Verhaltensmuster, die Susan Ivanova nie abgelegt hatte, seit sie sich kannten. Ihr Misstrauen gegen alles und jeden gehörte dazu.

„Und was dann, Susan?“

Die terranische Frau grinste grimmig. „Es gibt da noch einen interessanten Punkt: Wenn ich richtig informiert wurde, dann steht die NE’VAR unter dem Kommando einer gewissen G’Ryka. Sie ist die Tochter von G’Kar.“

„Ja, sie war Mitglied des Kha'Ri“, erinnerte sich Delenn. „Doch dann gab es Querelen und sie hat ihr politisches Amt aufgegeben. Es wäre sicherlich interessant zu erfahren, was sie gegenwärtig treibt.“

„Oh, das werden wir schon sehr bald“, prophezeite Ivanova.

Sie erreichten das Portal und durchschritten es. Auf dem Weg durch den anschließenden Gang meinte Delenn, den Optimismus der Freundin etwas dämpfend: „Wenn sie so ist, wie ihr Vater, dann könnte das eine schwierigere Aufgabe werden, als du es dir vorstellst, Susan.“

Die ehemalige Oberkommandierende der Erdstreitkräfte nickte in der Erinnerung und erwiderte nach einer Weile: „Nun, wir werden es bald erleben.“
 

* * *
 

Vor sieben Stunden hatte die NE'VAR ihre Position über Centauri-Prime aufgegeben und Fahrt aufgenommen. Zufrieden wirkend saß G’Ryka, die Kommandantin des Kreuzers, mittig hinter der Drazi-Pilotin Drenis und der Navigatorin Eireene Connally, im Kommandozentrum und sah auf den Hauptbildschirm. Sie hatten Luxusgüter zum Planeten gebracht und damit einen exorbitanten Gewinn erzielt. Für die erworbenen Credits wiederum hatten sie technische Apparaturen eingehandelt, die sie nun zur Heimatwelt der Drazi zu bringen gedachten, um sie dort mit einem ähnlich hohen Gewinn zu verkaufen. Danach konnte sie endlich daran denken, einige Ersatzteile für den Kreuzer einzuhandeln, die dringend benötigt wurden.

Momentan glitt der schnittig wirkende Kreuzer mit hoher Unterlichtfahrt aus dem System heraus. Das Raumschiff, mit dem rot-schwarz gezackten Muster auf der Panzerhülle, maß in der Länge mehr als 500 Meter. Was seine Hauptbewaffnung betraf, so konnte es der Kreuzer auch mit Kriegsschiffen aufnehmen, die größer waren.

Sie hatte den Befehl gegeben, dass die NE’VAR zunächst einen Punkt außerhalb des Systems ansteuern sollte. Einen Orientierungspunkt, um den Kurs festzulegen. Natürlich hätte sie auch das Sprungtor des Systems nutzen können, doch die Narn wollte sich nicht von den Centauri in die Karten gucken lassen. Auch nicht, was den endgültigen Abflug aus dem System betraf. So hatte sich die Narn in Geduld gefasst.

Eireene Connally übertrug von der Navigationskonsole laufend Daten an Konsole die Pilotin des Kreuzers. G’Ryka hatte diese Menschenfrau auf der Transferstation LOOKOUT aufgelesen. Kurze Zeit später hatten sie gemeinsam von dort fliehen müssen. Im Anschluss hatte sie vom turbulenten Schicksal der Frau erfahren und Kontakt zu einem Generalmajor der Erdstreitkräfte aufgenommen. Dieser Generalmajor hatte sie, mehr oder weniger, für seine Zwecke zwangsrekrutiert. Da seine und ihre Ziele momentan in dieselbe Richtung liefen, hatte sie mit dem Generalmajor einen Handel abgeschlossen. Sie hielt ihre Augen und Ohren offen und erstattete ihm Bericht. Dafür hatte er die NE’VAR mit Ausrüstung und genügend qualifizierten Personal versorgt, um den Kreuzer voll operabel zu machen.

Insgesamt ein Quid pro quo der besseren Art, überlegte die Narn. Immerhin hatte sie nun genug Personal und musste nicht mühsam weitersuchen, was ihr eine Menge Zeit ersparte, und Zeitersparnis war in für ihre Mission ein nicht unerheblicher Faktor. Denn irgendetwas ging auf ihrer Heimatwelt vor. Speziell in Bezug auf die aktuellen Vertreter des im Jahr 2261 neu gegründeten Kha'Ri.

G’Ryka wandte sich mit diesem Gedanken zur Pilotin, um sie anzuweisen, den Kreuzer in den Hyperraum zu bringen, doch der Ortungsalarm kam ihr zuvor.

„Kommandantin, drei Raumschiffe haben den Hyperraum verlassen. Es handelt sich um zwei Kreuzer der BLUE STAR-KLASSE und einen der WHITE STAR-KLASSE. Das Raumschiff der WHITE STAR-KLASSE ruft uns.“

„Öffnen Sie einen Kanal“, erwiderte G’Ryka gefasst und murmelte auf Narn etwas leiser zu sich selbst: „Was, bei den Märtyrern, wollen denn die jetzt von uns?“

Sie erfuhr es, als das Abbild eines irdischen Mannes, der die Robe der Ranger trug, auf dem Bildschirm sichtbar wurde und er ohne Umschweife forderte: „Hier spricht Ranger Clawes Stoertebeker, von der WHITE STAR 271. Ich muss Sie auffordern uns nach Minbar zu begleiten. Ranger-Eins würde sie gerne zu einem kürzlichen, mysteriösen Vorfall befragen, bei dem sie anwesend waren.“

G’Ryka verfluchte innerlich die Tatsache, dass kein Minbari den kleinen Verband der Interstellaren Allianz kommandierte. Einen Minbari hätte sie überzeugen können, sie rasch wieder vom Haken zu lassen. Menschen waren in dieser Hinsicht schwieriger. Dennoch unternahm sie einen Versuch. „Wir haben es eilig, Ranger Stoertebeker. Was ist, wenn ich dieses Ansinnen ablehne?“

„Ich denke, Sie kennen die Antwort“, warnte sie der hagere Mann. „Mir wäre es lieber, Sie würden freiwillig mit uns kommen.“

G’Ryka knurrte unwillig. „Also schön, wir begleiten Sie, Ranger Stoertebeker. „Aber ihrer Vorgesetzten werde ich etwas erzählen!“

„Das hofft Ranger-Eins“, versetzte der Mann trocken um schnell anzufügen: „Halten Sie sich bereit, mein Raumschiff öffnet ein Hyperraum-Fenster. Ranger Stoertebeker, Ende.“

Eireene Connally, die bisher geschwiegen hatte, murmelte: „Eine Art hat der.“

G’Ryka ging darüber hinweg und wandte sich an Drenis: „Bereithalten. Wir folgen dem Verband in den Hyperraum. Die drei Schiffe sind, dank des zuschaltbaren Quantenantriebs nicht nur schneller als wir, sondern auch besser bewaffnet. Wir haben also kaum eine Wahl. Aber diese Ranger-Eins ist mir eine verdammt gute Erklärung schuldig.“
 

* * *
 

Siebenundfünfzig Stunden später saß G’Ryka auf Minbar zwei Frauen gegenüber, die sie bisher nur dem Hörensagen nach kannte. Natürlich wusste die Narn, als Tochter von G’Kar, um die Rolle von Delenn im Kampf gegen die Schatten und der späteren Gründung der Interstellaren Allianz. Die Rolle, die Susan Ivanova in der Vergangenheit gespielt hatte, war ihr weniger gegenwärtig, doch sie hatte durch ihren Vater davon erfahren, dass ihr Anteil an den damaligen Ereignissen nicht gering gewesen war.

Neben G’Ryka saß Eireene Connally. Die Terranerin wusste aus erster Hand zu berichten, wonach Ivanova und Delenn sie vermutlich zu befragen gedachten. Es war recht einfach zu durchschauen, dass die ISA und mit ihr die Ranger ein Interesse daran hatten, was bei Grendolla-VII passiert war und wie es dazu kommen konnte.

Als habe Susan Ivanova die Gedankengänge der Narn gespürt fragte sie ohne Umschweife: „Was passierte bei Grendolla-VII, Miss G’Ryka? Wir konnten in Erfahrung bringen, dass ihr Kreuzer in die Geschehnisse dort verstrickt wurde. Delenn und ich interessieren uns für die näheren Hintergründe. Was wissen Sie über den Grund für diesen Angriff von sieben Erd-Zerstörern?“

G’Ryka wechselte einen schnellen Blick mit ihrer Begleiterin. Danach sah sie die beiden Frauen, die auf der anderen Seite des Konferenztisches saßen, ernst an und berichtete, in knapper Form davon, wie und wodurch ausgelöst sie und Eireene Connally sich kennenlernten. Danach fasste sie die Ereignisse des Angriffs auf den Drazi-Außenposten zusammen und meinte abschließend: „Dass die sieben Kreuzer gestohlen werden konnten hat auch Generalmajor Lynden Hayes verwundert. Ich habe diesen Mann kennengelernt und ich bin mir sicher, dass an ihm kein Falsch ist. Nicht nur, weil er bereit war mir zu helfen, im Gegenzug für taktische Informationen.“

Susan Ivanova sah einen Moment lang auf das Logo der ISA, das mit bunten Glassegmenten in die halbtransparente Tischplatte eingelegt war. Als sie wieder aufsah, fragte sie ernst: „Sie haben, unter fragwürdigen Umständen, einen schwer bewaffneten Kreuzer an sich gebracht, Miss G’Ryka. Warum sollten wir Ihnen trauen?“

„Aus denselben Gründen, aus denen Sie meinem Vater vertraut haben“, entgegnete die Narn mit fester Stimme. „Denn ebenso, wie er, würde ich niemals einem Verbrechen Vorschub leisten, oder es stillschweigend dulden.“

Es war Delenn, die an dieser Stelle übernahm und sich an Eireene Connally wandte. „Lieutenant, wenn ich das richtig verstanden habe, dann wurden die sieben Kreuzer, während der Überführung zum Mars, aus dem Hyperraum gezerrt. Können Sie sich an die letzten Werte der Scanner erinnern? Können Sie sagen, in welchem Umkreis dieser Effekt auftrat?“

Die Angesprochene kniff überlegend die Augenlider zusammen und sagte nach einer Weile unsicher: „Der angezeigte Stör-Effekt reichte bis zur Hälfte des Scann-Bereiches, bevor ich, wie von der Faust eines Riesen, gepackt und durch die Zentrale gewirbelt wurde. Ich hatte die Scanner auf einen Radius von einem halben Lichtjahr eingestellt. Das ist der übliche Wert bei Flügen durch den Hyperraum, da jenseits dieses Bereiches die Scanner von Kreuzern der ALPHA-KLASSE selbst dort keine exakten Werte mehr liefern. Da das auch der Zeitpunkt gewesen ist, in dem die Kreuzer den Hyperraum unfreiwillig verließen, ist das möglicherweise der maximale Wirkungsradius gewesen. Vielleicht reicht er aber auch weiter, das ist nicht genau zu sagen.“

Als die junge Frau geendet hatte, beugte sich Delenn kurz zu Ivanova und die beiden Frauen wechselten einige kurze Worte im Minbari-Dialekt Adronato miteinander. Danach erklärte die Minbari: „Ich danke Ihnen beiden für Ihr Erscheinen. Wir…“

Der Kommunikator an Ivanovas Handgelenk zirpte. Delenn unterbrach sich und lauschte den Worten, die in hastig gesprochenem Adronato aus dem Empfängersegment des Armbandes aufklangen. Die Mienen von Ivanova und Delenn nahmen einen besorgten Ausdruck an, der G’Ryka unruhig werden ließ.

„Ist etwas passiert?“, erkundigte sich die Narn.

Ivanova sah die Narn entschieden an und erwiderte ausweichend: „Das steht noch nicht genau fest. Doch falls ja wird sich die Interstellare Allianz von nun an darum kümmern, Miss G’Ryka. Sie und ihre Begleiterin dürfen Ihren Flug fortsetzen. Ich denke, das ist in Ihrem Interesse. Die Ranger, die vor dem Schott warten, geleiten Sie zu ihrem Shuttle.“

„Soviel zum Thema Vertrauen“, raunte G’Ryka Eireene Connally zu und erhob sich. Die junge Terranerin tat es ihr nach und gemeinsam verließen die beiden so ungleichen Frauen den Konferenzraum.

Drinnen wartete Ivanova, bis sich das Schott wieder geschlossen hatte, bevor sie entschied: „Ich werde selbst, an Bord meines Flaggschiffs, einen Verband zu jener Stelle bringen, von der dieser Anruf eben gekommen ist. Im Quantenraum werde ich sehr rasch vor Ort sein. Ich hoffe nur, dass unsere unbekannten Schurken diese überdimensionale Zone nicht auch beeinflussen können.“

Dunkle Manöver

Der Dienst, wenige Stunden nachdem sich Irina Zaizewa von Hayes verabschiedet hatte, begann ereignisreich. Lynden Benjamin Hayes teilte den Führungsoffizieren der Station MFB-VI-023 zunächst den Führungswechsel auf der Station mit. Danach flog er zur ANDROMEDA, um Commander Chloe-Manon Lefevre zum Captain zu befördern und ihr das Kommando über den Zerstörer zu übertragen. Ohne sich über die Verwunderung bei Commander Lefevre zu kümmern, für die das alles etwas plötzlich, jedoch nicht unwillkommen, passierte.

Was ihm bis dahin erspart geblieben war, holte ihn ein, als er das Kommandozentrum der EAS SHERIDAN betrat, denn sowohl Esposito Fernando, als auch Melanie Sterling, bedachten ihn mit vielsagenden Blicken. Dem Generalmajor war klar, dass ihn, über Kurz oder Lang – aber wohl eher über Kurz – zumindest Esposito darauf ansprechen würde. Dabei hatte er nichts getan, was er nicht ohnehin vorgehabt hatte, denn er war gegenwärtig wirklich zu sehr in die Flottenführung eingebunden, als dass er gleichzeitig das Kommando über die Station hätte adäquat führen können. Das wusste natürlich auch Fernando Esposito, doch der Spanier ahnte zweifellos auch, in wieweit sich ein weiterer Vorteil dadurch ergab, dass er in der Kommandokette nun Captain Frost zwischen sich und Irina Zaizewa positioniert hatte.

Das geht nur mich und Irina etwas an, überlegte Hayes mürrisch und sah zu Esposito. Beinahe harsch erkundigte er sich: „Sind wir bereit zum Aufbruch, Captain?“

Der Spanier bestätigte: „Der Verband hat sich formiert und ist bereit. Sie lassen die ANDROMEDA, zusammen mit den beiden NOVA-Kreuzern HERAKLES und ATHENE, bei der Station zurück?“

Der Generalmajor nickte knapp. „Ja, ich möchte die Basis nicht so gering bedeckt lassen, wie bei unserem ersten Einsatz in dieser Gegend. Wäre damals fast schiefgegangen.“

Fernando Esposito machte eine zustimmende Geste. Über die Schulter hinweg wies er den Steuermann des Trägerschlachtschiffes an, den Startbefehl abzuwarten.

Hayes warf einen Blick zum Wandchronographen, über dem Hauptbildschirm der Zentrale und stellte fest: „Noch eine halbe Minute, bis die Station den Hyperraum-Vortex für unseren Verband generiert. Sobald er sich stabilisiert hat starten wir.“

Wieder bestätigte Esposito und schritt dabei langsam zur Steuerkonsole. Als die Zeit abgelaufen war und sich der goldgelb leuchtende Vortex-Strudel etabliert hatte, gab der Spanier das Kommando.

An der Spitze der insgesamt 14 Kriegsschiffe, die zu diesem Unternehmen aufbrachen, flog die SHERIDAN in den Wirbel hinein. Ihr folgten vier Schwere Zerstörer der WARLOCK-KLASSE, zwei Mittlere Zerstörer der NOVA-KLASSE und die sieben Schweren Kreuzer der neuen ALPHA-II-KLASSE.

Hayes wartete eine ihm angemessen erscheinende Zeitspanne ab, bevor er sich an Esposito wandte und sagte: „Folgen Sie mir, Captain.“

Der Spanier horchte bei der Betonung des militärischen Titels auf. Er runzelte die Stirn, folgte seinem Vorgesetzten aber, ohne etwas zu erwidern. Erst nachdem Hayes und er das Schott zur Zentrale hinter sich gelassen hatten, fragte Esposito: „Was gibt es, Sir?“

Der Generalmajor sah den Kommandanten der SHERIDAN für einen langen Moment nur an, bevor er herausplatzte: „Ich habe Frostie das Kommando über BABYLON-6 nicht wegen eines persönlichen Vorteils gegeben. Diesen Schritt hatte ich bereits seit längerer Zeit in Erwägung gezogen, und er ist auch nötig.“

Esposito kniff etwas die Augenlider zusammen. „Aber ich habe doch gar nichts in dieser Richtung gesagt.“

„Ja“, stellte Hayes grimmig fest, während sie gemeinsam ein Stück den Gang entlang schlenderten. „Sie haben ziemlich laut nichts in dieser Richtung gesagt.“

Fernando Esposito spürte, dass in diesem Moment kein Schweigen nützen würde, darum erwiderte er offen: „Womit hatten Sie denn gerechnet, Sir? Natürlich machen sich Ihre Untergebenen so ihre Gedanken. Dass sich zwischen Ihnen und Commander Zaizewa etwas entwickelt hat, ist ein offenes Geheimnis. Weder ich, noch irgendwer sonst, kritisiert das. Ganz im Gegenteil, Sir. Offen gestanden freue ich mich für Sie beide und dienstrechtlich ist nach der Ernennung von Frostie zur Stationskommandantin auch nichts einzuwenden.“

Hayes blieb stehen und nickte in Gedanken. „Man macht sich also Gedanken?“

„Aber Hallo, Sir.“

Lynden Benjamin Hayes begann zu grinsen. Zuerst nur flüchtig, dann jedoch immer breiter. Endlich meinte er: „Ich weiß nicht, ob ich das charmant oder gruselig finden soll.“

Sie wendeten und machten sich auf den Rückweg zur Zentrale des kampfstarken Trägerschlachtschiffes. Noch bevor sie das Schott wieder erreichten, erkundigte sich Hayes bei dem Südländer: „Wie lange werden wir unterwegs sein?“

Esposito ließ nicht erkennen, worüber sie eben noch gesprochen hatten, als er erwiderte: „Maximal drei Tage, Sir. Ich werde dafür sorgen, dass wir uns dem fraglichen Sektor zu einem Zeitpunkt nähern, wenn wir, bei der aktuellen Rotation, selbst den Dienst wieder angetreten haben werden.“

„In Ordnung, Captain.“

Sie erreichten das Schott der Zentrale und während Fernando Esposito es öffnete, murmelte Hayes fast unhörbar: „Man macht sich so seine Gedanken. Na, klasse.“
 

* * *
 

Knapp drei Tage später näherte sich der Kampfverband der Erd-Allianz jenem Sektor, in dem sie nähere Nachforschungen anzustellen gedachten. Wie auf den anderen Raumschiffen des Verbandes hielt sich der Captain der PERSEPHONE, Joaquín Sorolla, zu diesem Zeitpunkt in der Zentrale des von ihm kommandierten Raumschiffs auf.

Bei der PERSEPHONE handelte es sich um ein bereits etwas betagtes Kriegsschiff der NOVA-KLASSE, doch Sorolla hätte sein Kommando für kein anderes in der Flotte eingetauscht. Er schätzte die enorme Feuerkraft seines Raumschiffes. Außerdem hatte diese Einheit, wie alle irdischen Kriegsschiffe, einige Upgrades erfahren, seit die Erde der Interstellaren Allianz beigetreten war. So schien es Sorolla selbstverständlich, dass es überall an Bord künstliche Schwerkraft gab. Die Kontrollsysteme waren seit dieser Zeit ebenfalls stark verbessert worden. Hauptsächlich hatte man ihre Effizienz gesteigert. Zudem waren die Systeme einfacher zu bedienen als die von vor dreißig Jahren.

Joaquín Sorolla sah nachdenklich auf den Hauptbildschirm des Kommandozentrums. Damals war er gerade zwanzig Jahre alt gewesen. Zuerst hatte er dem Beitritt zur Allianz innerlich nicht zugestimmt. Inzwischen jedoch hatte sich seine Meinung deutlich verändert und das nicht nur wegen des rasanten Fortschrittes, den die Technik der Menschheit genommen hatte. Damals war er noch jünger und unerfahrener gewesen und zu einem Gutteil auch idealistischer.

Etwas bedauernd verzog sich die Miene des neunundvierzigjährigen Mannes. Weil Letzteres den Leuten meistens abhandenkam, wenn sie älter wurden.

Der Captain wurde abgelenkt, als Commander Jereon Lamar meldete: „Captain, noch dreißig Sekunden, bis der Verband geschlossen den Hyperraum verlässt.“

Sorolla fuhr sich mit der linken Hand über das, an vereinzelten Stellen, bereits leicht ergraute, gewellte Haar. Die feinen Linien in seinem gebräunten Gesicht schienen sich zu vertiefen, als er sich zu dem Mittdreißiger umwandte und erwiderte: „Danke, Commander. Geben Sie bedingten Gefechtsalarm. Wir wollen bereit sein, sobald wir in diesem unbekannten Raumsektor in den Normalraum zurückfallen.“

„Aye, Captain!“

Der Commander gab die Anweisungen des Captains weiter. Gleich darauf dunkelte die Beleuchtung der Zentrale etwas ab und bekam eine leicht rötliche Note. Eine Maßnahme, die den Kontrast für das menschliche Auge erhöhte. Dieser Wechsel der Beleuchtung in Alarmsituationen hatte erst vor fünf Jahren Einzug in die Standardverfahren an Bord irdischer Kriegsschiffe gehalten.

Joaquín Sorolla dachte kurz an die Überführungsbesatzungen von sieben Kreuzern der ALPHA-KLASSE, die von jenen Unbekannten, die sie aufzuspüren gedachten, misshandelt, geschändet und ermordet worden waren. Er spürte dabei die verschiedensten Emotionen in sich hochkochen, doch er hütete sich davor das zuzulassen. Genau das hatte der Feind mit seiner Aktion vermutlich bezwecken wollen. Wut und Schrecken in ihre Reihen zu tragen. Emotionen, die äußerst gefährlich waren, für Soldaten wie sie. Derlei Emotionen verleiteten schnell zu Fehlentscheidungen, die sich am Ende als fatal herausstellen konnten.

Gerade der letzte Punkt war der Grund dafür, dass Sorolla ganz bewusst seine Besatzung nicht mit Worten von Vergeltung emotional aufgepeitscht hatte. Wenn sie den Gegner besiegen wollten, so mussten sie hoch konzentriert bleiben. Ohne, dass ihnen dabei zum falschen Zeitpunkt wilde Emotionen einen Strich durch die Rechnung machten.

Vermutlich hatte Lynden Benjamin Hayes deshalb die Kommandanten des Kampfverbandes, nach der Besprechung an Bord der Station, vor einigen Wochen, zu absolutem Stillschweigen vergattert. Zwar hatten die Besatzungen der Kriegsschiffe erfahren, dass die Überführungs-Crews von einem unbekannten Feind getötet worden waren, doch sie hatten keine Ahnung, dass es zu Folter und Vergewaltigung durch die Fremden gekommen war. Von diesem Fakt wussten bis heute nur etwa zwanzig Personen. Zwar empfand es Sorolla als bedrückend nicht offen mit seinen Untergebenen darüber reden zu können, doch er sah die Notwendigkeit dieser Maßnahme ein.

Im nächsten Moment traf das Rücksprungsignal vom Flaggschiff ein. Umgehend gab der Captain die Anweisung, den Hyperraum zu verlassen.

In einem Raumsektor, in dem es weit und breit kein Planetensystem gab, öffneten sich vierzehn Raumfenster und ebenso viele irdische Kriegsschiffe drangen aus leuchtend blauen Energiewirbeln in den Normalraum dieses Sektors ein.

Hatten die Offiziere an den Konsolen der Ortungssysteme bis eben noch ruhig die Instrumente im Auge gehabt, brachen sie nun in beinahe hektische Betriebsamkeit aus. Intensiv scannten sie den betreffenden Sektor mit den Scannern des Mittleren Zerstörers und der Captain der PERSEPHONE konnte sich vorstellen, dass es an Bord der anderen Kriegsschiffe kaum anders aussah.

Die Sekunden reihten sich zu einer Minute. Eine weitere Minute verging, bis einer der Offiziere an den Scanner-Kontrollen meldete: „Captain, ich habe einen ganz schwachen Impuls geortet. Nur für einen kurzen Augenblick, dann war er wieder weg.“

Der Captain sah den blonden Offizier an. „Kein Irrtum möglich?“

„Ich bin mir sicher, dass da etwas gewesen ist. Kurs: 273 Grad zu -19 Grad.“

Captain Sorolla wechselte einen raschen Blick mit seinem Ersten Offizier und nickte ihm unmerklich zu. Dabei sagte er gleichzeitig in Richtung des Funkers: „Kontakt zum Flaggschiff herstellen!“

Sorolla erhielt die Bestätigung und wenig später krachte die markante Stimme von Generalmajor Hayes aus den Lautsprechern. „Hier Generalmajor Hayes. Ich höre.“

„Hier Captain Sorolla, Sir. Wir haben einen schwachen Impuls aufgefangen, bevor er wieder verschwand. Festgestellte Richtung: 273 Grad zu -19 Grad. Irrtum ausgeschlossen.“

„Verstanden, Captain. Gerade kommt auch von der HELENA eine entsprechende Meldung herein. Der Schwere Zerstörer steht noch etwas mehr in Richtung des von Ihnen angegebenen Vektors. Wir fliegen hin und sehen mal nach. Hayes, Ende.“

Sorolla bestätigte. Einen Moment später kam der allgemeine Befehl zum Kurswechsel und zum Auffächern des Verbandes vom Flaggschiff durch und die PERSEPHONE nahm die ihr dabei zugedachte Position, an der rechten Flanke der HELENA ein. Gleichzeitig ließ er Alarm geben, für die 16 Piloten der im Hangar auf sie wartenden STARFURY-Jäger. Dabei wünschte er sich, die Gedanken und Pläne jener Leute zu kennen, wegen derer sie hier waren.
 

* * *
 

Ganz ähnlich dachte in diesem Moment Cameron Grant. Er hatte den letzten Stützpunkt aufgeben müssen, als eben jener Kampfverband im Queralin-System auftauchte. Doch das war reines Kalkül gewesen. Er hätte den Stützpunkt auf Merakan durchaus halten können, doch es hatte gleich mehrere Gründe gegeben dies nicht zu tun.

Einer dieser Gründe waren einige der Verbindungsleute zu den Raiders und den Drakh gewesen. Er hatte sich ihrer entledigt und die Schuld dafür der Erd-Allianz zugeschoben. Das band die bis dahin etwas wankelmütigen Verbündeten stärker an den OMEGA-Bund. Andererseits hatte er den Kommandeur der Kampfgruppe in Sicherheit wiegen wollen.

Grant sah sich im Kommandozentrum des 1717 Meter in der Länge messenden Zerstörers TORMENTOR um, auf dem er sich gegenwärtig aufhielt. Neben ihm stand sein irischer Stellvertreter, Galen Kilrain. Als sich die Blicke der beiden Telepathen kreuzten, meinte Grant: „Die Falle ist vorbereitet. Ich hatte zwar gehofft, dass der Generalmajor mit zwei bis drei Kriegsschiffen weniger hier aufkreuzen wird, doch wir werden auch damit fertig werden, Galen.“

Der Angesprochene erwiderte den harten Blick aus den blauen Augen Grants und nickte wortlos. Er wusste, dass ein Großteil ihrer Flotte knapp außerhalb der Scannerreichweite der irdischen Kriegsschiffe wartete. Selbst vom Standpunkt der schwer bewaffneten Raumstation, die hinter ihrem eigenen Kampfverband im All schwebte, konnte er nicht ausgemacht werden. Ihr eigener Kampfverband, angeführt von der TORMENTOR, bestand hingegen aus lediglich zehn kapitalen Raumschiffen. Klein genug, um den Kommandeur der Kampfgruppe-Epsilon hoffentlich zu falschen Schlüssen zu verleiten.

Nach einer Weile ergriff Cameron Grant wieder das Wort. „Ich gebe zu, dass ich ziemlich überrascht gewesen bin, als meine Kontaktperson auf dem Mars mir verraten hat, wer der Kommandeur dieser Kampfgruppe ist und dass es sich bei dieser Einheit um die Kampfgruppe-Epsilon handelt. Damit wurde mir klar, warum man unserer Organisation so sehr zugesetzt hat, in der letzten Zeit. Generalmajor Lynden Benjamin Hayes gilt immerhin als einer der besten und fähigsten Kommandeure, im Dienst der Erdstreitkräfte. Wenn es uns gelingt diesen Flaggoffizier aus dem Spiel zu nehmen, dann werden sich unsere zukünftigen Operationen vermutlich wesentlich einfacher gestalten.“

Galen Kilrain war der Name Lynden Benjamin Hayes ebenfalls nicht ganz unbekannt. Darum wandte er ein: „Denken Sie, er wird uns wirklich in die Falle gehen? Es heißt, dass er ziemlich gerissen sein soll.“

Cameron Grant sah seinen Stellvertreter scharf an und hob etwas die Augenbrauen. „Machen Sie nicht den Fehler, diesen Hayes für unfehlbar zu halten. Man sollte zwar seinen Feind nicht unterschätzen, doch auch nicht zu sehr überschätzen. Immerhin hat er uns nun seit Monaten gesucht und wird entsprechend darauf brennen, uns zu stellen. Damit rechne ich, Galen. Er wird versuchen, uns in die Finger zu bekommen.“

Galen Kilrain machte ein verdrießliches Gesicht und murrte: „So ein Mist. Einen Angriff zu erwarten und zu hoffen, dass er auch stattfindet.“

„Krieg führen ist eben kein Vergnügen“, versetzte Grant trocken und fügte nach einem Augenblick süffisant hinzu: „Zumindest nicht immer, was Galen?“

Der Telepath verstand die versteckte Anspielung und grinste boshaft. Er hatte sich, unmittelbar nach der Kaperung der sieben Erd-Kreuzer der ALPHA-KLASSE, vor einigen Monaten, mit einer weiblichen Gefangenen nur zu sehr vergnügt, bevor er sie ermordete.

Der Mann an den Ortungskontrollen meldete den Anflug des feindlichen Verbandes.

Sofort konzentrierte sich Kilrain und gab Order: „Jagdgeschwader sofort starten. Die Maschinen sollen eine Defensivposition einnehmen.“

Grant verfolgte das Geschehen, ohne sich einzumischen. Er überließ es Kilrain, sich um die Schiffsinterna zu kümmern, während er selbst sich lieber darauf konzentrieren wollte, das Vorgehen des gesamten Geschwaders zu koordinieren. Er aktivierte, mit einem Druck auf die Sensortaste, die Flottenleitfrequenz an seinem Kommunikator und erteilte den Kommandanten der übrigen neun Kampfschiffe den Befehl zum Auffächern. Unmittelbar darauf nahm er Kontakt zur Raumstation auf und wies den Kommandanten der Station an, sich bereitzuhalten, auf seinen Befehl hin den Hyperraum-Destruktor zu aktivieren.

Einmal bereits war dieses, relativ zu seiner Funktion, kleine Gerät zum Einsatz gekommen. Nun sollte es sich bald zum zweiten Mal als verhängnisvoll für Kriegsschiffe der Erd-Allianz erweisen.

Beinahe unnatürlich ruhig wartete Cameron Grant, bis sich der Feindverband nur noch knapp außer Schussweite befand, bevor er das entsprechende Kommando an die Station weitergab. Er wusste, dass nach der Aktivierung des von den Drakh übereigneten Gerätes ein Entkommen in den Hyperraum für Stunden unmöglich sein würde. Danach sah er interessiert auf den Bildschirm, in Erwartung dessen, was sich dort jeden Augenblick abzeichnen würde.

Verzweifelte Manöver

Vor einem Augenblick hatte Commander Melanie Sterling die Triebwerke ihres Raumjägers der STARFURY-KLASSE auf volle Leistung hochgefahren. Sie spürte unterbewusst das leichte Vibrieren der Maschine, als sie um zehn Grad nach Backbord abdrehte, dabei kontrollierend, dass ihr Flügelmann das Manöver mitmachte. Sie flog, wie immer als Kommandeurin des Bordgeschwaders der SHERIDAN, die Führungsmaschine der Jagdstaffel BLUE TIGERS.

Bereits vor dem Start hatte die zierliche Australierin ihre Piloten angewiesen, unbedingt in Gruppen zu mindestens zwei Rotten zu operieren. Dank des wiederholten Drills kannten die Piloten ihre jeweiligen Gruppenkameraden. So wusste jeder, wer mit wem flog. Zudem hatte diese festgelegte und oft durchexerzierte Einteilung den Vorteil, dass die einzelnen Gruppen, ebenso wie die Rotten, aufeinander eingespielt waren.

Auf dem Ortungsdisplay erkannte Melanie Sterling die startenden Feindjäger. Schon bald würden sie sich in einem tödlichen Tanz miteinander und umeinander befinden.

Die brünette Jagdpilotin sah kurz zum linken Kanzelfenster hinaus, wo sich die sie begleitende Rotte etwas nach vorne schob. Über Funk befahl sie: „BLUE TIGER-03 hier spricht Leader: Halten Sie die Formation!“

Die eisgrauen Augen der Geschwader-Kommandeurin funkelten amüsiert, als sie das leichte Missvergnügen in der Stimme von First-Lieutenant Melissa Janice Crane vernahm. Sie wusste um das Temperament der jungen Jagdpilotin und sie bemühte sich stets es etwas zu dämpfen. Irgendwann würde Crane eine hervorragende Staffel-Kommandantin abgeben, wenn es ihr gelang, ihr manchmal überschäumendes Temperament etwas mehr zu zügeln.

„Verstanden, BLUE TIGER-Leader.“

Aus den Augenwinkeln bemerkte Melanie Sterling, dass sich die Geleit-Rotte wieder einreihte, während sie gleichzeitig einen neuen Kontakt auf der 3D-Anzeige ihres zentralen Ortungsdisplays bemerkte.

Beinahe gleichzeitig meldete sich Generalmajor Hayes auf der Geschwader-Frequenz und sagte: „Kommandeur an Jagdgeschwader. Wir haben einen neuen Kontakt ausgemacht. Offensichtlich handelt es sich um eine Raumstation. Derselbe Typ, mit dem wir es vor einigen Monaten bereits im System Sigma-Alpha-301 zu tun hatten. Offensichtlich haben wir Glück gehabt und den Feind tatsächlich aufgespürt. Commander Sterling, Sie halten sich außerhalb der Feuerreichweite der Station und kümmern sich mit ihrem Geschwader primär um die feindlichen Jagdmaschinen. Um die Station selbst werden sich die SHERIDAN und die Zerstörer der WARLOCK-KLASSE kümmern. Die übrigen Einheiten übernehmen den Flankenschutz. Hayes, Ende.“

Commander Sterling bestätigte. Nachdem die Verbindung unterbrochen war, sagte sie murmelnd zu sich selbst: „Dann wäre ja auch das geklärt.“

Der gesamte Verband schwenkte auf die Station ein, deren Impuls der stärkste auf dem Display der Fernortung war. Die schwächeren Impulse zeichneten sich von der jetzigen Position des irdischen Verbandes leicht unterhalb der Station und ein gutes Stück nach Backbord versetzt ab.

Commander Sterling bemerkte, dass die kapitalen Kampfschiffe ihrer Kampfgruppe die Fahrtstufe erhöhten. Sie vermutete, dass Hayes vorhatte, in Schussweite der Station zu gelangen, bevor die Kriegsschiffe des OMEGA-Bundes nah genug heran waren, um die Basis wirkungsvoll verteidigen zu können. Sie ließ das Geschwader etwas weiter auffächern, was ihr erlauben sollte, die anfliegenden Feindjäger etwas eher bekämpfen zu können, um dieser Taktik noch weiteren Vorschub leisten zu können.

Insgesamt zeichneten sich nun zehn größere Feindraumschiffe auf dem Display ab. Das Verhältnis war, selbst wenn man die Verteidigungskapazität der feindlichen Raumstation mit einrechnete, annähernd ausgeglichen. Dennoch wurde Melanie Sterling ein ungutes Gefühl in ihrer Magengrube nicht los und sie fragte sich, woran das lag.
 

* * *
 

Auf der HELENA, einem Zerstörer der WARLOCK-KLASSE, fragte sich der Kommandant dieses Kriegsschiffes, Captain Carson Delano Anderson, etwa zur selben Zeit, welche Taktik der Gegner verfolgte. Offensichtlich schob sich der Feindverband nicht, so schnell es ging, zwischen die Station und die anfliegende Kampfgruppe-Epsilon, sondern sie näherte sich ihnen direkt. Das erschien Anderson merkwürdig.

Wie immer vermittelte der schlanke, fünfundvierzigjährige Mann einen gelassenen Eindruck. Hektik war nicht seine Sache. Bei seinen Untergebenen galt er als friedfertig und mehr als einer dieser Untergebenen hatte sich bereits gefragt, was einen solchen Mann dazu veranlasst hatte, ausgerechnet zu den Erdstreitkräften zu gehen.

Jenen Menschen, die den blonden, mittelgroßen Mann bisher darauf angesprochen hatten, hatte er erklärt, dass er das Militär lieber in den Händen von Leuten sähe, die Waffen nur im äußersten Notfall einsetzen, als in den Händen jener, die darauf brannten sie einzusetzen. Nicht selten war er mit dieser Ansicht auf Unverständnis gestoßen.

Fragend sah Anderson zu seinem Ersten Offizier, Commander Kiarash Khorramdin, und erkundigte sich bei dem siebenunddreißigjährigen Perser, mit unterdrückter Stimme, sodass nur er ihn verstehen konnte: „Was halten Sie von der gegnerischen Taktik, Xerxes?“

Der hochgewachsene, kräftige Mann, dessen kühne und ziemlich große Adlernase aus seinem Gesicht herausstach, verzog bei der Nennung seines Spitznamens das Gesicht.

„Ich hätte Ihnen nie von dem Spitznamen erzählen sollen, den mir meine Kommilitonen an der Akademie gegeben haben“, zischte der Commander leise zurück. Etwas lauter meinte er dann: „Vielleicht ist der Kommandeur des Verbandes einer dieser Hitzköpfe, die den Gegner sofort frontal nehmen wollen, Sir. Gut für uns, falls es so ist.“

„Ich weiß nicht, Commander. Die bisherigen Aktionen schienen mir intelligenter und durchdachter. Das hier passt irgendwie nicht ins Bild. Nicht für mich.“

In den blauen Augen des Kommandanten lag ein besorgter Ausdruck, als Kiarash Khorramdin ihn direkt ansah. „Aber was könnte diese Taktik sonst bedeuten, Sir? Vielleicht handelt es sich um eine Verzweiflungstat, weil man nicht damit gerechnet hat, hier von uns aufgestöbert zu werden?“

„Ja, das wäre möglich“, gab Anderson mit gedehntem Tonfall zu.

„Aber Sie glauben es nicht, Sir.“

Carson Anderson lächelte humorlos. „Nein, ich glaube es nicht, Commander.“

Beide Offiziere sahen wieder auf den Hauptbildschirm des Kommandozentrums, auf dem die Station immer stärker anwuchs. Kurz bevor der Verband in Schussweite gelangte, jagten mehrere Energiestrahlen von der Station aus zwischen den anfliegenden Einheiten der Kampfgruppe-Epsilon hindurch. Zwei Jagdmaschinen der PERSEPHONE explodierten in grellen Explosionen.

„Wie lange noch, bis wir selbst auf Schussweite heran sind?“, erkundigte sich Carson Anderson, wobei er seinen Sessel etwas nach links drehte, um den Lieutenant an der Waffenkonsole ansehen zu können.

First-Lieutenant Theresa Palmer meldete umgehend: „Noch eine Minute, Captain. Die Zielscanner der beiden Frontgeschütze sind bereits auf die Hauptenergieerzeuger der Station ausgerichtet, Sir.“

„Wann kommt der Feindverband in Schussweite, Lieutenant?“

„In knapp zwei Minuten, Sir.“

Carson Anderson schenkte der rotblonden Frau ein Lächeln. „Danke, Lieutenant Palmer. Behalten sie die umliegenden Sektoren im Auge.“

Die Frau bestätigte und der Captain sah wieder auf den Hauptbildschirm. Dabei zählte er in Gedanken die Sekunden herunter.

Bereits nach nur wenigen Sekunden geschahen zwei Dinge beinahe gleichzeitig. Zuerst setzte der Ortungsalarm ein. Gleich darauf meldete Theresa Palmer mit vibrierender Stimme: „Captain, ich habe einen weiteren Verband von Großraumschiffen ausmachen können. Außerdem geht eine seltsame Energiefront von einem der Raumschiffe aus. Einen solchen Wert habe ich noch nie gesehen, Sir!“

Entgegen seinem Naturell schoss Anderson beinahe aus seinem Sessel und schritt rasch zur Konsole, an der Theresa Palmer die Werte ablas. Als er neben ihr ankam, deutete die Frau auf die grafische Anzeige der Energiewerte.

„Sehen sie diese Energiespitzen, Sir? Was könnte das sein?“

Das Gesicht von Carson Anderson war ein einziges Fragezeichen. Im nächsten Moment rief er dem Kommunikationsoffizier zu: „Eine Verbindung zum Flaggschiff!“
 

* * *
 

General Lynden Benjamin Hayes runzelte die Stirn, als der Anruf von der HELENA einlief. Angespannt stand er neben dem Sitz des Captains. Der Angriff würde in wenigen Augenblicken beginnen und er mochte es nicht, wenn die ihm unterstellten Kommandanten der Kriegsschiffe unmittelbar vor der Schlacht plötzlich Redebedarf hatten. Andererseits kannte er Anderson und er ahnte, dass der Captain nicht ohne Grund ausgerechnet jetzt anrief. Also nickte er dem Kommunikationsoffizier zu und wies ihn knapp an: „Durchstellen.“

Während der Offizier bestätigte und auf Lautsprecher schaltete, sagte Hayes rasch zu Esposito: „Sie übernehmen vorübergehend die Leitung der Attacke, Captain.“

Fernando Esposito, der als Kommandant des Flaggschiffs auf solche Entwicklungen vorbereitet war, erwiderte ruhig: „Verstanden, Sir.“

Bereits im nächsten Moment krachte die Stimme von Captain Anderson aus den Lautsprechern: „Generalmajor, wir haben eine neue Gruppe von Signalen aufgefangen. Mindestens vierzig schwere Einheiten, nach den ersten Auswertungen. Sie werden uns in die Zange nehmen. Außerdem rast eine seltsame Energiewelle auf uns zu.“

Beinahe wie eine Bestätigung der Worte des Captains klang auch auf der SHERIDAN der Ortungsalarm auf.

Anders, als Captain Anderson, überkam Hayes eine dunkle Ahnung, was es mit dieser Energiewelle auf sich hatte. Er erinnerte sich an das Gespräch, das er vor wenigen Wochen mit einem Lieutenant Eireene Connally geführt hatte. Eine junge Frau im Dienst der Erdstreitkräfte, die zu den Überführungscrews von sieben Kreuzern der ALPHA-KLASSE gehört hatte, bis Unbekannte den Konvoi überfielen. Dabei war es zu einer Anomalie gekommen, die sich auf die Hyperflug-Fähigkeit der Kreuzer auswirkte.

Rasch traf der Generalmajor eine Entscheidung. „Captain Anderson, lassen Sie die Energiewelle scannen. Versuchen Sie, probehalber ein Hyperraumfenster zu öffnen. Bleiben Sie jedoch mit dem Raumschiff im Normalraum. Meldung über den Ausgang dieser Aktion sofort an mich. Wir setzen gleichzeitig den Angriff fort. Geschlossene Formation.“

Es sprach für Anderson, dass er den zweiten Befehl nicht hinterfragte, sondern knapp erwiderte: „Verstanden, Sir. Ich halte den Kanal offen.“

Als Hayes sich wieder zu Esposito begab, meinte der Spanier: „Das ist gewagt, Sir.“

„Es wäre gewagter, das zu tun, was der Gegner von uns erwartet“, gab der Generalmajor grimmig zurück. „Nämlich den Angriff abzubrechen, um uns kopflos der Übermacht zu stellen. Aber diese Brüder kennen mich noch nicht, Captain.“

Gleichzeitig mit Andersons Meldung, dass ein Öffnen eines Hyperraumfensters gleich mehrmals gescheitert war, kam von der Feuerleitkonsole die Meldung: „Die feindliche Station befindet sich jetzt in Schussweite, Sir.“

Hayes sah zu Esposito und nickte ihm zu. Gleichzeitig mit dem Befehl des Spaniers an seinen Untergebenen an der Waffenkonsole, gab Hayes über Flottenfrequenz den Befehl, mit dem Angriff zu beginnen. Danach sah er Esposito sorgenvoll an und meinte, mit düsterem Unterton in der Stimme: „Wenn das mal gutgeht, Captain.“
 

* * *
 

An Bord der TORMENTOR sah Galen Kilrain ungläubig auf die Bildschirme. Mit fragender Miene wandte er sich zu Cameron Grant, dessen Miene keinerlei Aufschluss darüber gab, was er in diesem Moment dachte.

„Ist der Kommandeur dieser Einheit jetzt komplett übergeschnappt? Warum ignoriert der Kerl unsere anfliegenden Kampfverbände?“

Grant sah Kilrain spöttisch an. „Nein, dieser Generalmajor Hayes ist verdammt noch mal besser, als wir es uns eingebildet haben. Wir hatten gehofft, dass er von der Station ablassen wird, wenn er sich in der Falle sieht. Doch dieser Mistkerl hustet uns was.“

Beide Männer sahen wieder auf die Bildschirme, auf denen sich abzeichnete, dass der Kommandeur der Kampfgruppe-Epsilon gar nicht daran dachte, so zu handeln, wie es die beiden Telepathen erhofft hatten.

In geschlossener Formation flogen die Kampfschiffe der Erd-Allianz auf die Station zu. Als sich die Großkampfschiffe in Schussweite befanden, nachdem sie den Abstand zur Raumstation auf 25 Kilometer verkürzt hatten, leuchteten grell-blaue Partikelstrahlen in der ewigen Schwärze des Weltalls auf. Waffen des Typs, die dieses blaue Leuchten der Waffenstrahlen verursachten, kamen erstmalig Ende 2261 zum Einsatz, kurz vor der Befreiung der Erde von Präsident William Morgan Clarks Schreckensherrschaft.

Nur Sekundenbruchteile gleichzeitig schlug die vernichtende Energie bei der Station ein, die ihrerseits die Raumschiffe der Erdstreitkräfte unter Feuer nahm. Die Schutzgitter der Station hielten dem gut gezielten Waffenfeuer nur wenige Augenblicke lang stand. Dann schlugen die ersten Energiestrahlen auf der Station ein. Teile der Stationshülle wurden förmlich zerschmolzen, andere wurden durch die Wucht folgender Explosionen herausgerissen und wirbelten ins All hinaus.

Mitten in dieses Chaos schlugen die mächtigen Strahlen der beiden Hauptgeschütze des Trägerschlachtschiffs SHERIDAN ein. Drei hinterher gefeuerte schwere Fusionsraketen gaben der angeschlagenen Station den Rest.

Die untere Hälfte der Station leuchtete grell auf und verschwand in einer Energiekaskade, die gleich darauf die gesamte Station verschlang.

Galen Kilrain stieß einen gälischen Fluch aus und selbst der sonst stets so beherrscht wirkende Cameron Grant ballte seine Hände zu Fäusten, bei der Vernichtung der Station. Zwar hatte er diesen Verlust kalt mit einkalkuliert, doch er hatte dennoch unterbewusst darauf gehofft, dass die Station den Kampf übersteht. Zumal die schweren Geschütze der Station mehreren Raumschiffen spürbare Schäden zugefügt hatten. Außerdem war sie für eine Reihe von Abschüssen der flankierenden Jäger verantwortlich gewesen.

Cameron Grant trat einen Schritt an Kilrain heran und meinte kühl: „Die Vernichtung der Station wird Hayes teuer zu stehen kommen, Galen. Unsere Raumschiffe haben seinen Verband nun in der Zange.“ Dabei deutete Grant auf einen der Nebenbildschirme.

Die taktische Anzeige auf dem betreffenden Bildschirm gab das wieder, was Grant eben gesagt hatte. Deutlich erkannte Galen Kilrain, dass sich der Kampfverband der Erdstreitkräfte nun im Zentrum einer Kugel befand, die sich aus einundfünfzig kapitalen Kampfraumschiffen des OMEGA-Bundes gebildet wurde. Darunter vierzehn Zerstörern der OMEGA-KLASSE und vierundzwanzig Raumschiffe der alten ALPHA-KLASSE, die vom OMEGA-Bund in geheimen Werftanlagen jedoch vor einiger Zeit bereits aufgerüstet worden waren. Dazu kamen die noch übrigen sieben Trägerraumschiffe der Raiders und fünf schwere Schlachtschiffe, welche die Drakh zu dieser Aktion beisteuerten. Das Spezialraumschiff, das den Hyperraum-Destruktor an Bord hatte, hatte er etwas zurückbeordert. Es würde nicht am Kampf teilnehmen, sondern nötigenfalls nochmal eingreifen und dafür sorgen, dass der Erdverband nicht entkommen konnte.

Grant lächelte boshaft, als er auf die zahlreichen Echopunkte der begleitenden, eigenen Jagdverbände sah, die sich zwischen den Großkampfschiffen abzeichneten. Dagegen kam auch so ein erfahrener Kommandeur wie Lynden B. Hayes nicht an. Der blonde Telepath eilte in Gedanken den Dingen voraus. Über Kurz oder Lang würde der Bund auch die geheime Basis des bald zum Großteil vernichteten Kampfverbandes aufspüren und vernichten, und danach würde die Erd-Allianz seine Aktionen in diesem Sektor der Galaxis nicht mehr länger stören.

Immer näher rückten die Kampfschiffe und Jagdverbände des OMEGA-Bundes an die Kampfschiffe der Erdstreitkräfte heran. Ohne die Möglichkeit einer Flucht saßen die irdischen Kampfschiffe in der Falle.

Leise murmelte Grant zu seinem Begleiter: „Jetzt kommt die Revanche, Galen.“
 

* * *
 

Commander Melanie Sterling stieß gepresst die angehaltene Luft aus, als sie ihre Jagdmaschine mit einem Gewaltmanöver auf einen anderen Kurs zwang. Einige Gravos waren bei diesem Manöver durchgekommen und sie stieß ganz bewusst ein Grunzen aus. Die Konzentration auf dieses Geräusch sorgte dafür, dass sie bei Bewusstsein blieb, als ihr für einen Moment schwarz vor Augen wurde.

Ihr Flügelmann und die sie begleitende Rotte machten das Manöver mit. Keinen Moment zu früh, denn entlang ihres bisherigen Anflugkurses leuchtete ein grell-roter Partikelstrahl eines Zerstörers der OMEGA-KLASSE auf.

Trotz des sich anbahnenden Durcheinanders, das mit jedem Raumkampf einherging, dachte Melanie Sterling darüber nach, wie so viele Kriegsschiffe der Erdstreitkräfte bis heute hatten abhandenkommen können. Sie fragte sich, in wieweit das ehemalige PSI-Corps dahinter steckte.

Bereits im nächsten Moment forderte die aktuelle Kampfsituation wieder die volle Konzentration der Australierin. Sie korrigierte etwas den Anflugkurs und sah vom Radarschirm auf. Vor der schwer bewaffneten Jagdmaschine wuchs einer der insgesamt vierzehn feindlichen OMEGA-Zerstörer immer größer auf.

Die vier Jagdmaschinen näherten sich dem gewaltigen Zerstörer von der Seite, was bei dieser Raumschiff-Klasse eine der besten Taktiken darstellte. Die schweren Partikelkanonen der Geschütztürme dieser Klasse konnten nicht in einen negativen Winkel geschwenkt werden. Deshalb besaßen die Zerstörer dieser Klasse de facto einen toten Winkel, der normalerweise von den begleitenden Jägern solcher Raumschiffe gedeckt werden mussten. Doch die Jäger dieses Zerstörers befanden sich im Nahkampf mit anderen Maschinen ihres Jagdgeschwaders.

Melanie Sterling war kaltblütig genug, um mit ihren drei begleitenden Maschinen bis auf Kernschussweite an das Kriegsschiff heranzufliegen, bevor sie den Feuerbefehl erteilte. Gleichzeitig löste sie selbst die schweren Partikelkanonen des Jägers aus und feuerte auf die Triebwerke und die lateralen Stabilisatoren am sich konisch verbreiternden Heck des Zerstörers, den sie als die CALIGULA identifiziert hatte – ein Zerstörer, der das Zeichen des früheren PSI-Corps auf den seitlichen Bug-Schilden trug.

Melissa Crane und ihr Flügelpilot nahmen zeitgleich die lateralen Sensoren des Zerstörers unter Feuer und eine Reihe von Folgeexplosionen zeigten an, dass die beiden Kampfpiloten genau gezielt hatten.

Commander Sterling feuerte unablässig auf das Heck des Zerstörers und ihr Flügelmann befürchtete bereits, sie würde am Heck des Kriegsschiffes zerschellen, doch dann drehte die Australierin im letzten Moment ebenfalls ab. Hinter ihnen wurde der Antrieb des Kriegsschiffes förmlich zerrissen und steuerlos begann das Feindschiff langsam um seine Längsachse zu trudeln.

Einen Moment später steuerten sie auf eine Staffel feindlicher Jagdmaschinen zu.

Melanie Sterling nahm einen der Angreifer frontal, womit der Pilot des Gegners anscheinend nicht gerechnet hatte, denn sein Ausweichmanöver erfolgte zu spät. Voll getroffen explodierte die x-förmige Jagdmaschine des OMEGA-Bundes.

Trotz der sich automatisch abdunkelnden Frontscheibe kniff Melanie Sterling für einen Moment die Augenlider zusammen. Im nächsten Moment lag die Zone der Vernichtung bereits hinter ihr und nur unbewusst nahm sie das leise Prasseln wahr, das von kleineren Trümmerstücken der vernichteten Maschine auf der Oberfläche ihrer Jagdmaschine verursacht wurde.

Über Funk erkundigte sich Commander Sterling knapp: „BLUE TIGER-03, hier spricht BLUE TIGER-Leader. Wo stecken Sie?“

„Ich schließe von Backbord tief zu ihnen Auf, Leader! Erneuter Anflug auf die CALIGULA, Commander?“

„Negativ!“, beschied Melanie Sterling der Frau. „Wir stehen hier einer Übermacht entgegen und darum ist es wichtig, dass wir möglichst viele der großen Kriegsschiffe manövrierunfähig machen. Das Abnagen der Knochen überlassen wir den Mutterschiffen.“

„Verstanden Leader!“, bestätigte Melissa Crane und Melanie Sterling glaubte, einen amüsierten Unterton aus der Stimme ihrer Untergebenen herauszuhören.

Im nächsten Moment meldete sich die SHERIDAN. „Commander Sterling, hier Captain Esposito. Die PERSEPHONE hat einen Notruf abgesetzt. Sie steht unter heftigem Beschuss durch feindliche Jäger und braucht Unterstützung.“

Nach einem schnellen Blick auf das Display der taktischen Anzeige, schaltete Melanie Sterling rasch auf Flottenfrequenz und erwiderte: „Ich bin in der Nähe und kümmere mich persönlich darum, Captain. Sterling, Ende.“

Gleich darauf schaltete die Geschwader-Kommandeurin wieder um auf Jäger-Frequenz und rief vier weitere Rotte zur Unterstützung heran. Danach gab sie Anweisung: „BLUE TIGER-03 hier Leader: Wir schwenken auf den Kurs der PERSEPHONE ein. Geben wir Vollschub, der Zerstörer steckt in der Klemme.“

Melissa Crane bestätigte und die vier Jäger schwenkten, in geschlossener Formation, über die Backbord-Koordinate ab, um die PERSEPHONE zu unterstützen.

Bereits eine Minute später steckten die vier Jagdmaschinen der BLUE TIGERS wieder im wildesten Getümmel dieser Raumschlacht.

Commander Sterling hatte Melissa und ihren Flügelmann zur Steuerbordseite der PERSEPHONE geordert. Sie selbst schwenkte auf der Backbordseite des bereits stark beschädigten Mittleren Zerstörers auf ein angreifendes Kriegsschiff der ALPHA-KLASSE ein. Bereits jetzt brannte die PERSEPHONE an einem halben Dutzend Stellen. Ein Großteil der Geschütze waren offensichtlich ausgefallen oder zerstört, sodass sich die PERSEPHONE nur noch eingeschränkt wehren konnte.

Melanie Sterling erkannte, dass der Angreifer die PERSEPHONE bereits mit den nächsten Schüssen aus seinen Bug-Geschützen vernichten würde. Darum erteilte sie ihrem Flügelmann Order: „Lieutenant Besson, wir erledigen die Front-Batterie des angreifenden Kreuzers. Wieviel ungelenkte Raketen haben Sie noch?“

„Zwei, Commander!“

„Gut, Lieutenant. Ich selbst habe noch vier Raketen. Das sollte ausreichen, um die Frontgeschütze des Angreifers lahmzulegen.“

In enger Formation rasten die beiden wendigen Jäger auf den ALPHA-KLASSE Kreuzer zu. Sie hätten es fast geschafft, gemeinsam in Schussweite zu gelangen, doch wenig Augenblicke, bevor dies geschah, erfasste ein Schuss aus einem der Frontgeschütze des Kreuzers die Jagdmaschine von Besson und verwandelte sie in eine Wolke aus Energie und Trümmerteilen. Eines der größeren Trümmerteile zerfetzte das obere Steuerbord-Triebwerk des Jägers der Geschwader-Kommandeurin, während der Kreuzer, den sie anflog, bereits ein Viertel der Frontscheibe ausfüllte.

Melanie Sterling fluchte wütend. Dabei war sie kaum in der Lage, den bockenden Jäger auf Kurs zu halten. Die Maschine vibrierte immer stärker, als sie sagte „Computer: Autopilot aktivieren!“

„Ausführung nicht möglich“, gab die seelenlose modulierte Computerstimme zurück.

In einem kurzen Augenblick völliger Klarheit erkannte Melanie Sterling, dass die 250 Personen auf der PERSEPHONE verloren waren, falls sie abdrehte. Mit trotzigem Blick hielt sie die Maschine auf Kurs, feuerte ihre Raketen ab und schoss mit ihren Bordkanonen unablässig auf die Frontgeschütze des Feind-Kreuzers.

„Warnung – Kollisionsalarm!“, plärrte die leidenschaftslose modulierte Stimme ihres Bordcomputers.

Melanie Sterling ignorierte die Warnung. Als der Bug des feindlichen Kriegsschiffes den gesamten Sichtbereich ausfüllte, stieß sie stattdessen einen gellenden Kriegsschrei aus, während sie immer noch unablässig feuerte. Dabei waren ihre letzten Gedanken: Ein Leben für zweihundertfünfzig Leben. Das ist ein fairer Tausch.

Kompromisslose Manöver

Die SHERIDAN befand sich in einem harten Abwehrkampf gegen die erdrückende Übermacht der Gegner, als man dort von Commander Melanie Sterlings Tod erfuhr.

Generalmajor Hayes, der um die platonische Freundschaft zwischen Esposito und der Australierin wusste, legte seine kräftige Hand auf die Schulter des Captains und drückte bewusst fest zu. Als der Spanier fragend zu seinem Vorgesetzten aufblickte, sagte Hayes rau: „Sie hat die Crew der PERSEPHONE gerettet, Esposito. Wir werden diese Tat dadurch ehren, dass wir uns weiter auf dieses Gefecht konzentrieren. Nur dann können wir ihre Mörder irgendwann zur Rechenschaft ziehen.“

„Aye, Sir“, erwiderte Fernando Esposito kratzig und sah auf die Anzeige der Schadensmeldungen. Immer mehr Bereiche der dort angezeigten Abteilungen des Trägerschlachtschiffes färbten sich rot. Einer der vier Front-Hangars war komplett zerstört worden und die Steuerbord-Raketenrampen funktionierten nicht mehr. Zudem hatte der Gegner zwei der oberen Geschütze vernichtet.

Die Pilotin des Trägerschlachtschiffes manövrierte das gewaltige Kriegsschiff geschickt zwischen einen angreifenden Zerstörer der OMEGA-KLASSE und den bereits stark angeschlagenen ALPHA-II-KLASSE Kreuzer THALIA. Der Taktische Offizier nutzte die Gelegenheit, um mit den verbliebenen Geschützen den Angreifer unter Feuer zu nehmen.

Auf der rechten Flanke schlugen sich die DEMETER und die POSEIDON, beides Zerstörer der WARLOCK-KLASSE, mit den fünf Schlachtkreuzern der Drakh herum. Hayes erlebte diese Einheiten zum ersten Mal in einem Gefecht. Bisher hatte er diese gewaltigen Einheiten nur vom Hörensagen gekannt.

Die Backbordflanke wurde hart von den beiden anderen WARLOCK-KLASSE Zerstörern HADES und HELENA verteidigt. Wobei besonders Captain Anderson, der gemeinhin als sehr friedlich galt, eine gute Figur machte. Hayes überlegte, dass Anderson wohl zu jener Sorte Mensch gehörte, die nur solange friedlich blieben, bis man sie reizte.

Dazwischen jagten die kleinen Maschinen der STARFURY-KLASSE und die etwas größeren Jagdbomber der THUNDERBOLT-KLASSE zwischen den Kapitalen Raumschiffen herum, deckten ihre Mutterschiffe gegen Attacken des Gegners und griffen selbst da an, wo sich ihren Piloten und Pilotinnen die Gelegenheit dazu bot.

Trotz der erdrückenden Übermacht fügten die irdischen Einheiten denen des Gegners immer wieder Verluste zu. Jetzt machte sich der kompromisslose Drill bezahlt, auf den Hayes in den letzten Wochen bestanden hatte.

Dennoch machte sich der Generalmajor nichts vor. Wenn der Verband diese Schlacht einigermaßen heil überstehen sollte, dann würde es ein Wunder brauchen und Hayes weigerte sich standhaft, an Wunder zu glauben. Aber dennoch geschah ein solches Wunder.
 

* * *
 

Auf der MARCUS, dem Flaggschiff des Verbandes der ISA, das von Susan Ivanova kommandiert wurde, spürte man ein leichtes Vibrieren, als sich der Verband den Koordinaten näherte, die sie bei der Meldung auf Minbar erhalten hatte. Dabei blieb es. Bemerkenswert blieb dieser Umstand aber allemal, da so etwas bisher noch nie bei einem Flug im Quantenraum festgestellt worden war. Das veranlasste Ivanova zu der Vermutung, dass hier tatsächlich Schattentechnologie zum Einsatz kam. Außer den Schatten war ihr keine Spezies bekannt, die sich auf das in den Hyperraum phasen verstand. In diesem Fall verstanden hatte, denn die Schatten waren seit vielen Jahren aus der Galaxis verschwunden. Geblieben waren einige ihrer Waffen, in den Händen der Drakh.

Susan Ivanova rutschte bereits seit einiger Zeit unruhig auf ihrem Kommandantensessel herum. Fragend blickte die Terranerin nun nach links zu dem Minbari an der Taktik und erkundigte sich: „Wie weit noch, bis zum Zielsektor, Deroon?“

„Knapp ein Lichtmonat, Entil'Zha!“

„Zeit bis wir dort ankommen?“

Der kräftige Minbari, der seinem Kopfkamm nach zu urteilen der Kriegerkaste angehörte, betätigte rasch eine Schaltung an seiner Konsole und erwiderte dann: „Etwas weniger als drei Minuten, Entil'Zha.“

Susan Ivanova dankte dem Minbari. Aufgrund der Informationen, die sie von Eireene Connally und G´Ryka auf Minbar erhalten hatte, stellte sie die Vermutung an, dass jenes seltsame Gerät, das für die erwähnte Störung des Hyperraumes verantwortlich gewesen war, offenbar nur sehr bedingte Auswirkungen auf den Quantenraum hatte. Diesbezüglich machte sich Ivanova eine Gedankennotiz. Sie achtete nun verstärkt auf das Vibrieren, doch es blieb so schwach, wie bisher.

Auf dem Holoschirm im oberen Bereich des Kommandozentrums zeichneten sich die annähernd einhundert Einheiten ihres Verbandes ab. Allein siebenunddreißig Raumschiffe des Verbandes wurden durch Einheiten der verbesserten WHITE STAR-KLASSE gebildet. Der Rest des Verbandes setzte sich aus den wendigen und dabei schwer bewaffneten BLUE STAR Kreuzern zusammen, die selbst gegenüber wesentlich größerer Einheiten anderer Spezies ein Wörtchen mitreden konnten. Dies beruhte zum Großteil auf der erfolgreichen Fusion von vorlonischer, irdischer und minbarischer Waffentechnik. Dadurch hatte die ISA Geschütze entwickeln können, die selbst den modernen modifizierten Partikelkanonen von Kreuzern der WARLOCK-KLASSE um mehr als das doppelte überlegen waren.

Susan Ivanova wusste, welches Machtinstrument sie in ihren Händen hielt und bisher hatte sie nur selten darauf zurückgreifen müssen. Diesmal hingegen schien es so, als würde sie dieses Machtinstrument kompromisslos einsetzen müssen.

Zum letzten Mal hatte Ivanova eine solche Flotte im Jahr 2261 in eine Schlacht geführt – damals gegen eine Flotte von modifizierten Zerstörern der OMEGA-X-KLASSE. Sie hatten erstmals Schattentechnologie integriert. Seinerzeit kam es zu einem Desaster an Bord des WHITE STAR Kreuzers, den sie kommandierte. Sie hatte damals schwerste Verletzungen davongetragen und sie wäre längst tot, hätte damals ein Ranger namens Marcus Cole nicht sein Leben für das ihre gegeben. Nach ihm hatte sie dieses Raumschiff benannt. Immer noch überkam sie eine gewisse Bitterkeit, wenn sie daran dachte, dass sie seine tiefen Gefühle für sie nie angemessen erwidert hatte. Ihm schuldete sie ihr Leben.

Susan Ivanova fuhr aus den betrüblichen Gedanken auf, als der Annäherungsalarm von den Geräten des Raumschiffs erklang.

„Noch zehn Sekunden, Entil'Zha“, meldetet Deroon.

„Ist der Verband kampfbereit?“

„Ja, Entil'Zha!“

Susan Ivanova nickte und befahl: „Wir verlassen den Quantenraum. Jetzt!“
 

* * *
 

Chaos herrschte im Kommandozentrum der SHERIDAN. Vor einer Minute hatten mehrere, schwerer Treffer eines durchgebrochenen Drakh-Schlachtkreuzers das irdische Trägerschlachtschiff erschüttert. Es war zu Explosionen in der Zentrale gekommen. Die Standardbeleuchtung und die meisten Steuersysteme waren ausgefallen. Die Lebenserhaltung funktionierte noch, jedoch schien auch sie beschädigt worden zu sein, denn grauer Qualm erfüllte die Zentrale. Einer der unverletzten Offiziere hatte inzwischen eines der beiden Schotts geöffnet, damit der Qualm abziehen konnte.

Generalmajor Hayes war von einer der Explosionen erfasst worden und lag verletzt auf dem Boden. Zwei Unteroffiziere mit Sanitätsausbildung kümmerten sich um ihn.

Fernando Esposito hatte eine Risswunde am Kopf davongetragen. Sie blutete stark, schien aber nicht sehr tief zu sein. Als der Captain versuchte, sich einen Überblick über die Schäden zu machen, setzte die Notbeleuchtung ein. Einige der Bildschirme des Kommandozentrums flackerten unstet – andere waren gänzlich ausgefallen. Irgendwer in der Zentrale des Trägerschlachtschiffes gab ein Stöhnen von sich.

„Ist die SHERIDAN noch zu steuern!“, übertönte Esposito laut das Stimmengewirr in der Zentrale. Dabei sah er in Richtung der Steuerkonsole, an der sich die Pilotin gerade wieder aufrappelte. Sie war durch die Erschütterungen halb über ihre Konsole geschleudert worden, wobei ihre Stirn unsanft in Kontakt mit der Oberfläche gekommen zu sein schien, denn eine Beule zeichnete sich dort ab.

„Positiv, Sir!“, ächzte die Jamaikanerin misstönend.

„Dann halten Sie die SHERIDAN auf Kurs, Lieutenant!“

Noch während die junge Frau bestätigte, wandte sich Esposito bereits zu Sun Xiang, dem Lieutenant an der Waffenkonsole. „Waffenstatus?“

„Hauptgeschütze ausgefallen. Vier der sechs schweren und elf der sechzehn mittleren Partikelkanonen funktionieren noch. Einige davon lassen sich jedoch nur noch sehr träge ausrichten, Captain.“

„Geben Sie ihr Bestes“, beschied ihm Esposito. „Wir kämpfen um nicht weniger, als um unser nacktes Leben.“

„Verstanden, Captain!“

Erst jetzt fand Fernando Esposito die Zeit, sich nach dem Befinden seines verletzten Vorgesetzten zu erkundigen.

Einer der Unteroffiziere sah zu Esposito und erklärte besorgt: „Er atmet, ist aber ohne Bewusstsein, Sir. Wir bringen ihn am besten zur Krankenstation.“

„Na, worauf warten Sie noch?“

Erst als die Männer mit Hayes zum Schott hinaus waren, bemerkte er seinen rüden Ton. Er fand jedoch vorerst keine Zeit, dies zu bedauern. Das Gefecht um sie herum machte keine Pause für sie. Grimmig setzte er sich wieder auf den Kommandantensessel.

Von der Konsole des Taktischen Offiziers erklang ein durchdringender Alarmton. Fast gleichzeitig meldete Sun Xiang: Über uns, auf Steuerbord, öffnen sich multiple Raumfenster, Captain. Mindestens neunzig, eher einhundert, Einheiten sind soeben erschienen.“

„Jetzt schnappt die Falle endgültig zu“, gab Fernando Esposito tonlos zurück. „Der Feind erhält Verstärkung und wird uns nun den Rest geben.“

„Negativ, Sir“, gab Sun Xiang beinahe unnatürlich ruhig zurück. „Ich empfange einen Ruf vom Flaggschiff des eben erschienenen Verbandes. Es handelt sich um Raumschiffe der WHITE STAR-KLASSE und der BLUE STAR-KLASSE, kommandiert von Ranger-Eins. Die ISA greift zu unseren Gunsten in den Kampf ein, Sir.“

Für einen Moment schien Esposito nicht begreifen zu können, was sein Untergebener ihm gemeldet hatte, dann fuhr aus dem Sessel auf und sah mit ungläubiger Miene zu Lieutenant Sun Xiang.

„Die Interstellare Allianz, sagen Sie? Was machen die denn hier?“

„Soll ich denen sagen, dass sie wieder verschwinden sollen, Sir?“

Der triefende Sarkasmus des Asiaten nötigte dem Spanier ein finsteres Knurren ab. „Etwas mehr Respekt ihrem Captain gegenüber, Lieutenant.“

Langsam schritt Esposito wieder zu seinem Sessel zurück. Dabei wies er Sun Xiang an: „Beordern sie die Jäger zurück zum Verband. Die sollen sich auf den Flankenschutz unserer Einheiten konzentrieren. Mit den Angreifern dürfte dieser Verband der ISA auch allein fertig werden. Danach bestätigen Sie den Anruf Ranger-Eins und geben gegebenenfalls Auskunft darüber, was sich hier zugetragen hat. Aber geben Sie keinen Hinweis auf BABYLON-6, davon braucht die ISA nichts zu erfahren.“

Der Taktische Offizier bestätigte und Esposito ließ sich in den Sessel fallen. Erst jetzt holte ihn die Erinnerung an Melanie Sterlings Tod wieder ein und traurig blickte er auf die Bildschirme, sich dabei gewaltsam auf die Führung des Verbandes konzentrierend.
 

* * *
 

Die Kriegsschiffe der Interstellaren Allianz griffen kompromisslos an, nachdem der Kommandeur der feindlichen Raumschiffe der Aufforderung zur bedingungslosen Kapitulation nicht nachgekommen war. Die von Cameron Grant gestellte Falle richtete sich nun gegen seinen eigenen Verband, denn die Raumschiffe seines Verbandes kamen ebenso wenig in den Hyperraum, wie die Einheiten der Erdstreitkräfte. Zumindest in den nächsten zehn Minuten noch nicht. Zehn Minuten, in denen viel passieren konnte.

Der Telepath an Bord der TORMENTOR hatte natürlich sofort erkannt, mit Hilfe welcher Technik die Raumschiffe der ISA es geschafft hatten, diesen Sektor zu erreichen. Zwar hatte er bereits vor geraumer Zeit Order erteilt, den Hyperraum-Destruktor abzuschalten, doch es würde noch eine Weile dauern, bis seine Raumschiffe die Flucht antreten können würden.

Grant sah auf die Bildschirme und erkannte dort die Umstrukturierung seines Verbandes. Elf Großkampfschiffe hatte er durch die Kampfgruppe Epsilon verloren. Die restlichen vierzig Raumschiffe zogen sich zurück. Zwar in voller Ordnung, aber zweifellos auf der Flucht, vor der erdrückenden Übermacht des neu aufgetauchten Gegners.

Dieser Gegner setzte nun nach. Sehr schnell erkannte Cameron Grant, dass sie im Normalraum nicht entkommen konnten, denn die Raumschiffe der ISA waren nicht nur wendiger, sondern sie beschleunigten auch besser, als seine Kampfschiffe.

Die kleineren und wendigeren Raumschiffe der ISA umschwirrten den Verband des OMEGA-Bundes wie wütende Hornissen. Immer wieder fanden die durchschlagenden Geschütze der ISA-Kampfschiffe ihr Ziel und säten Tod und Vernichtung. Auch die TORMENTOR wurde mehrmals getroffen, doch sie blieb operabel.

Endlich verschwand einer der verbliebenen zwei Drakh-Schlachtkreuzer im Hyperraum und gab damit das Signal zur endgültigen Flucht aus dem Sektor. In ohnmächtiger Wut musste Cameron Grant mitansehen, wie das Spezialraumschiff, das den Hyperraum-Destruktor an Bord hatte, von mehreren Einheiten der ISA vernichtet wurde, kurz bevor es sich in den Hyperraum retten konnte. Grelle grün-gelbe Partikelstrahlen fraßen sich durch die Hülle des Raumschiffes und trafen den Hauptreaktor. Das Spezialraumschiff wurde in einer Energiekaskade förmlich zerrissen. Das unersetzliche Gerät der Drakh war damit verloren. Es gab kein zweites Gerät dieser Art.

Als sich der Verband im Hyperraum befand, donnerte Grants Stimme durch die Zentrale: „Wie viele unserer Raumschiffe haben die Flucht aus dem Sektor geschafft? Feststellen, wie viele ISA-Kreuzer uns folgen!“

Es war Galen Kilrain, der an der Taktik stehend erwiderte: „Insgesamt 34 Raumschiffe haben die Schlacht überstanden. Zwei Kreuzer der ALPHA-KLASSE sind kurz vor dem Eintritt in den Hyperraum vernichtet worden. Keine Verfolger feststellbar.“

„Was?“

Kilrain sah Grant an und sagte: „Sie haben richtig gehört. Keiner der ISA-Kreuzer hat die Verfolgung aufgenommen. Offenbar ist man sich nicht sicher, ob unsere Flucht vielleicht eine weitere Falle sein könnte.“

Ein gefährliches Funkeln lag in den blauen Augen Grants. „Das ist ein verdammtes Desaster, Galen. Wir hatten den Verband bereits im Sack. Was, zur Hölle, macht eine so große Flotte der Interstellaren Allianz in diesem Sektor? Die Allianz hat sich doch bisher nicht in dieser Weise eingemischt. Wenn die ihre Zurückhaltung bereits jetzt aufgeben, dann haben wir ein Problem. Das müssen wir verhindern.“

Galen Kilrain wirkte überrascht und schritt zu seinem Vorgesetzten. So leise, dass nur Grant ihn verstehen konnte, raunte er: „Sie wollen die Kampfgruppe vom Haken lassen?“

„Wer sagt denn so etwas“, knurrte Grant finster zurück. „Wir wechseln lediglich die Taktik und versuchen es das nächste Mal von der anderen Flanke.“

„Was werden unsere Verbündeten sagen?“

Grant lachte lautlos. „Offen gesagt ist mir das ziemlich egal. Die werden schon spuren, oder aber sie werden es bereuen, Galen. Beide Gruppen sind allein auf sich gestellt zu schwach und sie wissen es. Für die Raiders und die Drakh wäre es verheerend, wenn wir uns gegen sie stellen würden. Natürlich wird diese Bagage vom Ausgang dieser Aktion nicht begeistert sein, das versteht sich von selbst. Doch lassen Sie mich das nur machen, ich werde denen das schon auf die richtige Art und Weise verkaufen.“

Kilrain nickte zuversichtlich. „Daran zweifle ich nicht. Außerdem wird diese Aktion, auch wenn sie nicht so gelaufen ist, wie wir es uns erhofft hatten, das Selbstbewusstsein des Generalmajors und seiner Raumschiff-Kommandanten mächtig angekratzt haben.“

„Ja, mit einer so heftigen Attacke haben die vermutlich nicht gerechnet.“

Kilrain bemerkte, dass Grant trotz dieser zuversichtlichen Worte etwas umtrieb und er erkundigte sich vorsichtig: „Dennoch treibt Sie noch etwas anderes um.“

Grant nickte unmerklich. „Ja, Galen. Dieser Generalmajor ist aus einem härteren Holz geschnitzt, als ich vermutet hatte. Mit dem werden wir noch Ärger bekommen, wenn es uns nicht gelingen sollte, ihn bald aus der Gleichung zu nehmen.“

Kilrain erwiderte nichts darauf, denn er hatte bereits dasselbe gedacht. Sie mussten diesen Generalmajor Hayes loswerden. Eher früher, als später.

Alliierte Manöver

Vor einer halben Stunde war Susan Ivanova an Bord der SHERIDAN gekommen. Zwar hatte sich Captain Fernando Esposito alles andere, als begeistert von dieser Idee gezeigt, doch die energische Frau hatte sich nicht abwimmeln lassen.

Bereits bei ihrem kurzen Dialog über Funk hatte der Spanier einen Eindruck davon gewonnen, wie es diese Frau geschafft hatte, in den Rang eines Generals der Erdstreitkräfte aufzusteigen, bevor sie der Erde den Rücken gekehrt hatte, um den Posten der Anführerin der Rangers zu übernehmen.

Jetzt, da er Ranger Eins, oder Entil'Zha, wie sie von den Minbari genannt wurde, ihm in seinem Quartier am Tisch gegenüber saß, gewann dieser erste flüchtige Eindruck noch an Aussagekraft. Esposito spürte förmlich die Entschlusskraft, die von dieser Frau ausging. Sie war es gewohnt, die Situation zu beherrschen, das war ihm in der letzten halben Stunde klargeworden. In dieser Hinsicht ähnelte sie Hayes in geradezu verblüffender Weise.

Momentan, nachdem sie zuvor sehr rege miteinander diskutiert hatten, herrschte Schweigen zwischen ihnen. Nach einer Weile räusperte sich der Captain der SHERIDAN und sagte: „Ich danke Ihnen nochmal für ihren Beistand, Ranger-Eins. Ohne ihre Hilfe hätte es vermutlich schlecht um uns gestanden. Leider ist der Kommandeur dieser Einheit während der Kämpfe verletzt worden, er hätte Sie sicherlich gerne selbst empfangen.“

Es entsprach dem Naturell der Frau, dass sie sich ohne lange Umschweife erkundigte: „Wie geht es Generalmajor Hayes?“

Für einen Moment lang war Esposito überrascht, dass die Frau wusste, wer den Verband kommandierte, denn darüber hatten sie bisher kein Wort verloren. Nach einem Augenblick erwiderte Esposito abwiegelnd: „Der Generalmajor wurde von einer Explosion erfasst. Nach einer ersten Analyse des Bordarztes hat er einige mittlere Verbrennungen, einige angeknackste Rippen und eine mittlere Gehirnerschütterung davongetragen.“

„Der übliche Kleinkram also“, spottete Susan Ivanova grob. Nur das helle Funkeln in ihren blauen Augen sagte Esposito, dass es nicht so kalt und zynisch gemeint gewesen war, wie es sich angehört hatte.

Ivanova deutete ein Lächeln an und meinte dann, etwas weniger rau: „Fast hätte ich von ihrer Notlage gar nichts erfahren, Captain. Es ist also ein Glücksfall, dass wir ihnen rechtzeitig zu Hilfe eilen konnten. Können Sie mir vielleicht etwas mehr über den Angreifer sagen, als das Wenige, das sie mir bisher verraten haben?“

„Was genau meinen Sie?“, erkundigte sich Esposito ausweichend, um etwas Zeit zu gewinnen. Er wollte sich zurechtlegen, in wieweit er Ivanova in die Geschehnisse der letzten Monate einweihen durfte. Darum fragte er: „Möchten Sie vielleicht jetzt etwas zu trinken? Immerhin reden wir bereits seit einer Weile.“

Susan Ivanova schlug die Robe etwas zurück, legte ihr rechtes Bein über das linke und antwortete: „Nein, Danke. Kommen wir lieber zum Thema zurück.“

Fernando Esposito seufzte schwach. Er selbst besorgte sich ein Glas Fruchtsaft und setzte sich erneut der Frau gegenüber an den Tisch. Die Hände auf der Tischplatte verschränkend erklärte er: „Also schön. Bei den Angreifern handelt es sich um eine Organisation, die sich OMEGA-Bund nennt. Wir konnten in Erfahrung bringen, dass sich diese neue Allianz aus dem sogenannten Neuen-PSI-Corps, den Raiders und den Drakh zusammensetzt. Ihnen sind, während des zurückliegenden Gefechtes, vermutlich deren riesige Schlachtkreuzer aufgefallen?“

„Die waren nicht zu übersehen, Captain. Ich habe vor einiger Zeit erste Informationen über diese neue Organisation erhalten. Vermute ich richtig, dass es denen gelungen ist, sieben auszumusternde Kreuzer ihres Verbandes zu kapern und für einen Angriff auf eine Kolonie der Drazi zu benutzen?“

Esposito bedachte sein Gegenüber mit einem langen Blick. „Sie vermuten richtig, Ranger-Eins. Sie hatten doch nicht angenommen, Generalmajor Hayes hätte sich plötzlich zum Warlord aufgeschwungen, und diese Kolonie selbst überfallen?“

„Sie werden lachen, Captain. Einigen Leuten auf Minbar ist dieser Gedanke tatsächlich gekommen. Kann man ihnen auch nicht verdenken, zumal dort niemand sagen konnte, wo die Kampfgruppe-Epsilon abgeblieben ist. Selbst meine Kontakte zum Generalstab der Erdstreitkräfte nutzten nicht viel.“

„Einigen Leuten?“

„Unwichtig!“, wehrte Ivanova rasch ab. „Wichtig ist, dass ich jetzt eine Bestätigung dessen habe, was ich selbst bereits vermutete. Kennen Sie die maßgeblichen Personen, die hinter diesem neuen Syndikat stecken?“

Esposito schüttelte bedauernd den Kopf. „Namen konnten wir bisher nicht in Erfahrung bringen. Daran arbeiten wir noch.“

Ivanova sah den Spanier prüfend an. „Eins verstehe ich nicht. Warum haben Sie die Interstellare Allianz nicht um Unterstützung gebeten?“

Espositos Gesichtsausdruck wurde undurchdringlich. „Der Generalstab hat uns zu absoluter Geheimhaltung vergattert. Sie waren selbst bei den Streitkräften. Sie wissen, wie das ist. Als Soldaten sind wir weisungsgebunden.“

Die Terranerin verzog missmutig das Gesicht, auch wenn sie Espositos Standpunkt sehr gut nachvollziehen konnte. Sich abrupt vom Stuhl erhebend erwiderte sie: „Natürlich, Captain. Benötigen Sie weitere Hilfe? Einer ihrer NOVA-KLASSE Zerstörer scheint ziemlich angeschlagen zu sein. Unsere Schiffe der WHITE STAR-KLASSE könnten ihn mit ihren Traktorstrahlen in Schlepp nehmen.“

Esposito erhob sich etwas bedächtiger. Er lächelte verbindlich und meinte: „Nein danke, Ranger-Eins. Zwei unserer WARLOCK-Zerstörer werden das beschädigte Raumschiff per Traktorstrahl abschleppen. Wenn Sie jedoch in der Nähe bleiben würden, bis wir aufbrechen, so wäre mir das sehr willkommen. Ach, und verzichten Sie bitte, wenn wir den Rückflug antreten darauf, uns eines oder mehrere ihrer Raumschiffe hinterherzuschicken. Das würde unserer schwer bewaffneten Nachhut bestimmt nicht gefallen und sie würde eine solche Verfolgung ganz bestimmt zu verhindern wissen.“

Der plötzlich kalte Ausdruck in den Augen des Spaniers sagte Ivanova, dass der Captain seine Worte ernst gemeint hatte. Sie presste für einen Moment lang die Lippen zusammen, bevor sie beherrscht erwiderte: „Bestellen Sie dem Generalmajor meine besten Genesungswünsche, sobald es sein Zustand zulässt, und richten Sie ihm aus, dass ich mich, in nicht allzu ferner Zukunft, gerne mit ihm unterhalten würde.“

„Das werde ich“, erwiderte Fernando Esposito mit neutralem Tonfall.

Der Captain deutete vielsagend zum Schott und sagte dann: „Ich will Sie nun nicht länger von ihren sicherlich sehr wichtigen Angelegenheiten abhalten, Ma´am.“

Susan Ivanova musterte den Spanier scharf.

Sie verließen gemeinsam das Quartier. Vor dem Schott trafen sie die beiden Rangers an, die mit Ivanova an Bord gekommen waren.

Fernando Esposito war höflich genug, um die Frau und ihre Eskorte persönlich zum Hangar zu geleiten. Dort reichte der Mann Ivanova die Hand. Zu seinem Erstaunen erwiderte die Frau seinen Händedruck ungewöhnlich kräftig.

Als sich der Spanier bereits zum Gehen wenden wollte, hielt ihn die schneidende Stimme Ivanovas zurück.

„Ach, eins noch Captain Fernando Esposito: Versuchen Sie zukünftig nie wieder, mir zu drohen. Ich hoffe, wir verstehen uns.“

Damit wandte sie sich ab und bestieg ihr Shuttle, ohne sich noch einmal umzusehen.

Die Augenbrauen des Captains hoben sich für einen kurzen Moment. Er verließ eilig den Hangar, damit Ivanovas Shuttle starten konnte. Dabei verspürte er ein leises Frösteln.
 

* * *
 

Es dauerte einen halben Tag, bis die Kampfgruppe-Epsilon die notwendigsten Reparaturmaßnahmen durchgeführt hatte, um aufbrechen zu können. Inzwischen waren auch alle überlebende Piloten beschädigter oder zerstörter Jäger und Jagdbomber geborgen worden, die hilflos im All getrieben waren, nachdem sie den Schleudersitz hatten betätigen müssen. Entgegen einer geheimen Annahme von Fernando Esposito blieb Susan Ivanova mit ihrem Verband während dieser Zeit zur Bedeckung in der Nähe. Die meisten Besatzungen der BLUE STAR-Einheiten halfen ihnen sogar bei der Bergungsaktion, während der Rest von Ivanovas Flotte den Sektor absicherte.

Doch von den Kampfschiffen des OMEGA-Bundes bekamen sie nichts mehr zu sehen. Offensichtlich hatten sich die Kampfschiffe dieser Organisation in unbekannte Gefilde zurückgezogen.

Fernando Esposito hätte eine Menge darum gegeben zu erfahren, wo sich dieser Ort befand. Jetzt, da sich der Zeitpunkt des Aufbruchs näherte und er wieder etwas zur Ruhe kam, brach sich nämlich der Zorn über den Tod von Melanie Sterling ungehindert Bahn. Die Australierin und er waren sehr gut befreundet gewesen. So war er einer der wenigen Menschen, der wusste, warum ihr Blick gelegentlich eine gewisse Härte ausgedrückt hatte. Doch davon hatte sich Esposito von Beginn an nicht beirren lassen. Bereits bevor sie mit ihm über den Grund dafür sprach, hatte er gespürt, dass diese Frau, hinter der harten und manchmal abweisend wirkenden Fassade, sehr wich und gefühlvoll gewesen war.

Nun war sie tot. Ermordet von jenen Unbekannten, die sich in einer Vereinigung namens OMEGA-Bund zusammengefunden hatten. Es hatte weder eine offizielle Kriegserklärung gegeben, noch betrachtete Esposito jene Fremden als Kombattanten, da es sich nicht um Militärangehörige einer galaktischen Nation handelte. Also war es Mord.

Fernando Esposito ballte seine Hände zu Fäusten. Es dauerte einen Moment lang, bis er merkte, von Lieutenant Sun Xiang angesprochen worden zu sein. Für die Dauer des Rückfluges würde er provisorisch die Funktion des Ersten Offiziers übernehmen.

„Captain, der Verband ist bereit und wartet auf ihren Startbefehl. Die HADES und die POSEIDON sind bereit, die PERSEPHONE abzuschleppen.“

Fernando Esposito riss sich zusammen und erwiderte tonlos: „Danke Lieutenant. Geben Sie den Befehl zum Aufbruch an die Kampfgruppe weiter.“

Die Bestätigung bekam Esposito nur am Rande mit. Seine Gedanken weilten bei seinem Vorgesetzten. Er war zwischendurch kurz im Krankenrevier der SHERIDAN gewesen und hatte sich nochmal nach dem Gesundheitszustand des Generalmajors erkundigt. Dabei hatte er erfahren, dass man Hayes wegen der Verbrennungen im künstlichen Tiefschlaf hielt, um ihm die Schmerzen bis zur Behandlung auf BABYLON 6 zu ersparen. Dabei wanderten seine Gedanken zu Commander Irina Zaizewa weiter. Die Telepathin hatte selbst einige Wochen auf der Krankenstation der Station zugebracht. Hayes hatte sie damals regelmäßig besucht, wobei sich ihr momentanes Verhältnis entwickelt hatte. Nun würden diese Krankenbesuche unter umgekehrten Vorzeichen stattfinden.

Fernando Espositos Lippen zuckten schwach bei dem ironischen Gedanken, dass es vielleicht eine gute Idee war, wenn beide einen Flügel dort anmieten würden. Schnell wurde er wieder ernst. Heute waren zu viele gute Angehörige der Erdstreitkräfte gestorben, um sich lange solchen humorigen Gedanken hinzugeben. Er würde Melanies Schwester mitteilen müssen, was passiert war. Ohne ihr sagen zu dürfen, was sich tatsächlich ereignet hatte. Sie war Melanies einzige noch lebende Verwandte. Eine eigene Familie hatte die Geschwader-Kommandeurin nie gegründet.

Auf dem Hauptbildschirm beobachtete Esposito, wie sich multiple Raumfenster öffneten und der Verband gleich darauf in den Hyperraum eintrat. Er hatte vor wenigen Minuten den Captains der HELENA und der DEMETER den Befehl erteilt, die Nachhut zu bilden und auf eventuelle Verfolger zu achten, obwohl er nicht daran glaubte, dass Ivanova ihnen einige Raumschiffe hinterherschicken würde. Doch Vorsicht war besser als Nachsicht.

Fernando Esposito warf einen letzten Blick auf die HADES und die POSEIDON, die ihnen mit der PERSEPHONE vorausflogen, da sie das Tempo des Verbandes vorgaben. Die energetischen Verbindungen zwischen den beiden Schweren Zerstörern und dem stark angeschlagenen Kreuzer leuchteten gleißend bläulich-weiß. Nach einer Weile gab er seine Wanderung durch das Kommandozentrum des selbst ziemlich angeschlagenen Trägerschlachtschiffs auf und setzte sich in den Sessel des Kommandanten.

Esposito überschlug die Dauer des Rückfluges, der länger dauern würde, als der Flug hierher. Er rechnete mit vier bis fünf Tagen. Das bedeutete kein Problem, denn Hayes hatte mit Christina Frost eine zehntägige Funkstille ausgemacht. Um diese Funkstille war Esposito gegenwärtig ganz froh. So musste er Zaizewa nicht jetzt schon von der Verletzung des Generalmajors berichten, sondern konnte ihr ein vermutlich dann positiveres Bild vom Gesundheitszustand des Generals zeichnen, wenn sie in spätestens fünf Tagen die Station erreichten. Jetzt hätte ihm dazu der Nerv gefehlt.

Einige Minuten lang saß Esposito grübelnd in seinem Sessel. In Gedanken leistete er bei Ivanova Abbitte für sein etwas ungehobeltes Verhalten. Er war zwar stets offen, doch selten dabei so undiplomatisch, wie er es Ivanova gegenüber gewesen war.

„Sir, vielleicht sollten Sie etwas ausruhen.“

Fernando Esposito sah zu Sun Xiang, der ihn angesprochen hatte. Er nickte schließlich schwach und erhob sich.

„Sie haben Recht, Lieutenant. Ich löse Sie in acht Stunden ab. Geben Sie mir umgehend Bescheid, wenn sich etwas Ungewöhnliches ereignen sollte“, wies Esposito den Asiaten an, bevor er das Kommandozentrum verließ.

Auf dem Weg zu seinem Quartier dachte der Spanier finster: Toll, jetzt fängt die Crew an, sich auch meinetwegen Gedanken zu machen.
 

* * *
 

Susan Ivanova wartete, bis der irdische Verband den Raumsektor verlassen hatte, bevor sie auch für ihre eigene Flotte den Befehl zum Aufbruch gab. Für eine Weile war sie hin- und hergerissen gewesen, dem irdischen Kampfverband doch einige ihrer Einheiten nachzuschicken. Doch davon nahm sie am Ende Abstand. Einerseits glaubte sie nicht daran, dass man auf der Erde falsches Spiel trieb. Andererseits nahm sie die schlecht versteckte Warnung des Captains der SHERIDAN nicht auf die leichte Schulter. Früher hätte sie vielleicht einen diplomatischen Zwischenfall in Kauf genommen, doch selbst sie war in den letzten dreißig Jahren gereift. Ihre Zeiten als Heißsporn waren weitgehend vorbei, obgleich sie gelegentlich noch aufblitzten. Ein gewisser Ranger-Captain, den sie auf Minbar zusammengefaltet hatte, konnte fraglos ein Lied davon singen.

Beinahe ebenso grüblerisch wie Fernando Esposito saß sie, auf dem Flaggschiff ihrer Flotte, im Sitz des Kommandanten und brütete vor sich hin. Sie würde mit einer ganzen Reihe neuer Fakten und einer noch größeren Zahl von Hinweisen und Vermutungen nach Minbar zurückkehren.

Zweifellos würde die Präsidentin der ISA eine ganze Menge dazu zu sagen haben. Sie selbst musste zunächst die Ungeheuerlichkeit verdauen, dass es eine Macht in der Galaxie gab, die es wagte, einen schwerbewaffneten Kampfverband der Erdstreitkräfte offen anzugreifen. Dieser Gegner hätte es sogar geschafft, den Verband aufzureiben, ohne ihr beherztes Eingreifen, zugunsten der Kampfgruppe-Epsilon.

Was Susan Ivanova neben dem Offensichtlichen beunruhigte, war hingegen die Tatsache, dass die Erde, als Mitglied der Interstellaren Allianz, es nicht für nötig erachtet hatte, alle anderen Verbündeten von dieser Gefahr zu informieren. Hatte man das ganz bewusst getan, oder hatte die Erd-Allianz den Feind bisher einfach nur unterschätzt?

Die Gedankengänge der Frau wurden unterbrochen, als der Taktische Offizier der MARCUS meldete: „Entil'Zha, unsere Flotte befindet sich im Hyperraum und ist nun bereit in den Quantenraum einzudringen.“

„Geben Sie den Befehl an die Flotte, den Flug im Quantenraum fortzusetzen, Ranger Deroon!“, wies Ivanova den Minbari an. Sie sah zu den Fenstern des Kommandozentrums hinaus und bemerkte den Übergang nur an der Veränderung der Farbe.

Ihre ursprünglichen Gedankengänge wieder aufnehmend überlegte die Terranerin, ob sie Delenn vielleicht dazu drängen sollte, ein ernstes Wort mit der gegenwärtigen Präsidentin der Erde zu reden. Vielleicht half es ja, etwas Druck auf Ayumi Okamura auszuüben. Verbündete hin oder her. Doch das würde die Zukunft erweisen.

Unmerklich seufzend verlagerte Ivanova das Gewicht auf dem Sessel. Sie spürte, dass Gefahr in der Luft lag, wie es auf der Erde so schön hieß. Die Minbari nannten solche Vorahnungen Nahral’kar sharinta sela'vor. Frei übersetzt bedeutete dies im Dialekt Adronato: Was einem das Universum sagen will.

„Ich hoffe, du wirst es uns früher sagen, als später“, murmelte Ivanova. Sie erhob sich aus dem Sessel und sagte zu Ranger Deroon: „Ich brauche etwas Ruhe. Wecken Sie mich nur, falls das Schiff untergeht. Oder halt, besser doch nicht.“

Damit verließ Susan Ivanova das Kommandozentrum und ließ, einmal mehr in ihrem Leben, einen ziemlich verwirrten Minbari zurück.

Als Lynden Benjamin Hayes erwachte, gewann er den Eindruck, sein Kopf wäre von einer dieser klassischen Heavy Metal Bands des 20. und des 21. Jahrhunderts als Schlagzeug benutzt worden. Gleich darauf spürte der Generalmajor einen stechenden Schmerz entlang seiner linken Körperhälfte.

Nur langsam setzte sein Erinnerungsvermögen ein und so dauerte es eine Weile, bis die Erinnerungen an die letzten Geschehnisse vollständig einsetzte.

Hayes realisierte mit immer noch geschlossenen Augenlidern, dass er auf dem Rücken lag. Er versuchte, sich etwas zu bewegen, und gab gleich darauf ein schmerzhaftes Stöhnen von sich. Keine gute Idee.

Der Generalmajor atmete tief durch und öffnete langsam seine Augen.

Gleichzeitig hörte der Generalmajor eine Männerstimme, die sagte: „Er kommt zu sich, Doktor Yldirim.“

„Danke, ich werde mich sofort um den Generalmajor kümmern“, erklang gleich darauf eine bekannte, weibliche Stimme. Hayes hatte sie inzwischen zu oft gehört, wie er befand. Diese Ansicht ging natürlich nicht gegen die Ärztin. Er hasste es nur, sich auf der Krankenstation aufzuhalten, egal wer immer dort das Sagen hatte.

Die hübsche Chefärztin der Station geriet in das Blickfeld des Kommandeurs. Sie lächelte ihn beruhigend an und erkundigte sich mit sanfter Stimme: „Wie geht es Ihnen, Sir?“

„Mein Kopf fühlt sich an, als hätte ihn eine Heavy Metal Band als Schlagzeug benutzt“, knurrte Hayes finster.

„Vielleicht hilft es Ihnen, wenn Sie einige Takte mitsummen?“

Hayes wollte etwas sagen, doch die Ärztin kam ihm zuvor und mahnte: „Nicht zu viel sprechen, Sir. Ihre angeknacksten Rippen werden es ihnen danken. Liegen Sie, zumindest heute noch, möglichst still und versuchen Sie, auch in nächster Zeit Ruhe zu bewahren.“

Hayes bedachte die Ärztin mit einem mürrischen Blick: „Geht es, wenn ich weiteratme, oder ist das bereits zu viel?“

„Sie befinden sich offensichtlich auf dem Weg zur Besserung, Sir“, stellte die Ärztin vergnügt lächelnd fest. Sie sah kurz zur Seite und machte eine knappe Geste in Richtung einer Person, die sich außerhalb des Sichtwinkels des Generalmajors befand. Gleichzeitig sagte sie: „Da möchte Sie jemand sehen, Sir.“

Die Ärztin zog sich zurück und Hayes erkannte, dass es Irina Zaizewa war, die nun dicht an sein Bett herantrat. Seine Laune stieg umgehend und mit einem schwachen Lächeln meinte er: „Warum müssen wir uns eigentlich ständig hier treffen?“

Irina Zaizewa lächelte erleichtert und flüsterte: „Diesmal ist es ganz und gar Ihre Schuld, General.“

Auf den fragenden Blick des Mannes hin murmelte die Russin: „Wir sind nicht allein.“ Etwas lauter meinte sie dann: „Unsere Chefärztin erlaubt mir heute nur einige Minuten Besuchszeit, Sir. Sie brauchen noch Ruhe. Das wird sich erst in den nächsten Tagen ändern, fürchte ich. Versuchen Sie zu schlafen, das macht die Schmerzen erträglicher. Ich spreche da aus Erfahrung.“

„Bevor Sie wieder gehen, noch eine Frage, Commander: Wie viele Personen liegen gegenwärtig auf der Krankenstation?“

„Aktuell ist die Station zu über neunzig Prozent ausgelastet, Sir.“

Erschrecken zeichnete sich auf dem Gesicht des Generalmajors ab. „Aber die Station ist für zweihundert Personen ausgelegt, Commander.“

„Mit Ihnen befinden sich zur Zeit einhundertvierundachtzig Personen in stationärer Behandlung, Sir. Die meisten davon sind Piloten der Jäger und Jagdbomber.“

Hayes wollte etwas erwidern, doch er spürte, wie Irina kurz ihre Hand auf seinen Oberarm legte und ihn dabei beschwörend ansah. Darum schwieg er.

„Ich komme morgen wieder, Sir.“

Hayes lächelte schwach. Als die Telepathin ging, schossen ihm Dutzende von Fragen durch den Kopf. Gleichzeitig spürte er eine unendliche Müdigkeit. Er schloss die Augen und dämmerte gleich darauf schon wieder weg.
 

* * *
 

Nurcan Yldirim fühlte sich nach ihrer Doppelschicht wie gerädert. Doch im Moment war sie zu aufgedreht, um Schlaf zu finden, darum suchte sie den Japanischen Garten, im Innenbereich der Rotationssektion auf. Als sie einen sehr abgelegenen Teil des Gartens erreichte, in dem sie bisher stets für sich gewesen war, bemerkte sie einen hochgewachsenen, kräftigen Offizier der Flotte, der auf einer der Bänke saß und brütend vor sich hinstarrte.

Als sich die Ärztin dem Mann näherte, stellte sie erstaunt fest, dass es sich um Fernando Esposito handelte. Bisher hatte der Captain auf sie nie den Eindruck gemacht, ein mürrischer Eigenbrötler zu sein. Irgendetwas musste passiert sein. Mehr, als der Verlust von Kameraden. Allein das war schlimm genug, doch die Ärztin vermutete, dass es sich um etwas Persönliches handeln musste, um diesen Zustand bei Esposito hervorzurufen.

Die Ärztin schabte beim Näherkommen etwas mit dem linken Fuß über den Weg, damit der Captain sie kommen hören konnte.

Fernando Esposito sah zu Nurcan Yldirim auf, als sie die Bank erreichte, sagte aber nichts, sondern blickte stattdessen abwesend durch sie hindurch.

„Guten Abend, Captain Esposito“, sprach die Ärztin den Mann an. „Darf ich mich zu Ihnen gesellen, oder wollen Sie lieber allein bleiben?“

Esposito brauchte einen Moment lang, um zu einer Entscheidung zu gelangen. Als sich die Ärztin bereits abwenden wollte, sagte er rasch: „Bitte bleiben Sie, Doktor. In meiner momentanen Verfassung tut es gut jemanden bei sich zu haben, mit dem man reden kann. Ich versuche, mit dem Tod von Melanie fertig zu werden.“

Die Ärztin setzte sich neben den Mann auf die Holzbank. Fragend sah sie ihn an und erst nach einem Moment verstand Esposito und erklärte: „Ich meinte Commander Sterling. Wir waren sehr gut befreundet. Sie ist im Kampf gefallen.“

„Standen Sie ihr nur freundschaftlich nah, oder war da mehr?“

Esposito schüttelte heftig den Kopf. „Ich weiß, dass man mir nachsagt, eine Schwäche für schöne Frauen zu haben. Wohl nicht ganz zu Unrecht. Doch Melanie gehörte nicht zu den Frauen, mit denen ich ein flüchtiges Abenteuer gesucht hätte. Die Freundschaft zu ihr war echt und von aufrichtiger Natur, Doktor.

Nurcan Yldirim hielt dem Blick des Mannes stand. „Ich wollte Sie mit meiner Frage nicht verletzen, Captain Esposito. Manchmal bricht bei mir lediglich die berufliche Neugier zu sehr durch.“

Die Ärztin zögerte etwas, bevor sie sich bedächtig erkundigte: „Commander Sterling schien mir ein eher verschlossenes Wesen zu besitzen? Wenn sie mit Ihnen befreundet war, dann gab es sicherlich eine echte Vertrauensbasis? Nicht nur von Ihrer Seite, Sir.“

Der Captain schluckte. Dann sprudelte es aus ihm heraus: „Sie haben recht, Doktor. Zwischen Melanie und mir hatte sich ein sehr enges Vertrauensverhältnis entwickelt, während unserer gemeinsamen Dienstzeit. Wir kannten uns gegenseitig ziemlich gut. Von allen Kameraden beim Militär war sie die einzige, mit der ich mich, außerhalb des Dienstes, oder wenn wir unter uns waren, geduzt habe und bei ihr war es nicht anders, Doktor. An Familie hat sie nur noch eine Schwester gehabt. Ich weiß nicht, wie ich ihr beibringen soll, dass Melanie tot ist. Ich selbst kann es noch gar nicht richtig fassen. Sie war für mich so etwas, wie eine kleine Schwester, die ich nie hatte. Ich werde sich schrecklich vermissen.“

Der Blick des Mannes begann zu flackern.

Ohne darüber nachzudenken, legte die Ärztin ihre Hand auf den Oberarm des Captains und drückte ihn sacht.

Der Spanier wandte den Kopf zur Seite und Nurcan Yldirim ahnte warum. Er wollte nicht, dass sie seine Tränen sah. Manche männlichen Verhaltensweisen, so überlegte sie, würden sich wohl nie ändern.

Die Ärztin gab sich einen Ruck und legte ihren linken Arm um die breiten Schultern des Captains. Sie zog ihn mit sanfter Gewalt zu sich heran. Mit der rechten Hand bettete sie seinen Kopf an ihre Schulter. Sie spürte das Zucken seines Oberkörpers und das aufkeimende Mitleid für den seelischen Schmerz des Mannes schnürte ihr dabei fast die Kehle zu.

Sanft forderte die Ärztin mit kratziger Stimme: „Lassen Sie es jetzt und hier raus, Captain. Niemand bekommt es mit und niemand wird es je erfahren. Es ist richtig um Menschen zu trauern, die uns etwas bedeutet haben. Egal wo und egal wie.“

Es dauerte eine geraume Weile, bis sich Esposito mit der linken über das Gesicht wischte und langsam seinen Kopf von der Schulter der Ärztin nahm. Als er sie endlich wieder aus geröteten Augen ansah, nahm er ihre Hände in seine und sagte: „Danke, Doktor.“

Für einen langen Moment sahen sie sich nur an, bis Nurcan Yldirim dem Captain sanft ihre Hände entzog. „Nicht dafür, Captain Esposito. Ich lasse Sie nun besser allein.“

Nurcan Yldirim gewann den Eindruck, als wolle der Spanier widersprechen wollen. Doch dann sagte er nur bittend: „Ich wünschte, Sie würden mich Fernando nennen, Doktor.“

Die Ärztin wägte für einen Moment lang ab, ob Esposito diesen Vorschlag nur aus einer momentanen Gefühlsaufwallung heraus machte oder ob es ihm ernst war, mit seinem Vorschlag. Darum sah sie dem Captain für einige Augenblicke in die Augen, bevor sie eine Entscheidung traf.

„Einverstanden, Fernando. Doch nur, wenn Sie zukünftig den Doktor weglassen und mich ebenfalls beim Vornamen nennen. Aber nur außerhalb des Dienstes, oder wenn wir, so wie gerade jetzt, unter uns sind.“

Fernando Esposito nickte ernsthaft. „Dann haben wir eine Abmachung, Nurcan.“

Die Ärztin lächelte schwach, als sie hörte, wie Esposito ihren Namen aussprach. Ihn in gespielter Verzweiflung ansehend meinte sie: „Den Namen werden sie noch sehr oft sagen müssen, bis sie ihn richtig betonen werden, fürchte ich. Wir sehen uns.“

„Hasta luego“, bestätigte der Captain auf Spanisch und sah der Frau nach, als sie ging. Dabei spürte er, wie gut ihm die Nähe der Ärztin getan hatte. Sie hatte ihm in seiner Trauer um Melanie so selbstverständlich einen Halt gegeben, wie es vermutlich nicht sehr oft vorkam, bei Personen, die sich kaum kannten. Dabei strich er gedankenverloren mit den Fingerkuppen über die Stelle seines Gesichtes, wo ihre Hand es berührt hatte.
 

* * *
 

Am nächsten Abend grummelte Lynden Benjamin Hayes im Krankenbett vor sich hin. Denn als ihn am Nachmittag Fernando Esposito besuchte, um ihm von seiner Unterredung mit Susan Ivanova zu berichten, und ihn auf den aktuellen Stand der Dinge zu bringen, hatte Nurcan Yldirim ihre Unterredung ziemlich bestimmt, nach zwanzig Minuten abgebrochen und Esposito mit Nachdruck aus dem Krankenzimmer hinauskomplimentiert.

Auf seinen Einwand hin hatte sie ihn auf seine Gehirnerschütterung hingewiesen und darauf, dass er die Wahl hatte: Zwischen einem längeren Besuch von Esposito, oder einem kurzen Besuch von Esposito und einem längeren Besuch von Irina am Abend, wenn er sich gut führte und aus medizinischer Sicht keinen Ärger machte.

Da dem Generalmajor klar war, dass in seiner momentanen Lage die Ärztin am längeren Hebel saß, hatte er, wenn auch nur unter Protest, der Frau nachgegeben.

Erst als sich das Schott seines Krankenzimmers öffnete und er Irina hereinkommen sah, verbesserte sich die Laune des Dreiundfünfzigjährigen spürbar. Freudig sah er Irina entgegen und verfolgte mit seinen Blicken, wie sie sich schließlich einen Stuhl heranziehend an sein Bett setzte. Dabei deutete er auf ein Päckchen, das sie in ihren Händen hielt.

„Endlich bist du hier. Du hast mir etwas mitgebracht?“

Die Telepathin beugte sich vor und küsste den Mann sanft auf die Wange. Danach erst erwiderte sie: „Nur ein paar Pralinen. Ich habe mir sagen lassen, du stehst auf Süßigkeiten. Aber nicht alle auf einmal aufessen, sonst bekomme ich Ärger mit Nurcan.“

Das Gesicht des Mannes verzog sich, als habe er in eine Zitrone gebissen. Dabei blitzten seine dunklen Augen gefährlich auf, als er grollte: „Ich habe deine Freundin schwer in Verdacht, dass sie es gerade ziemlich genießt, dass ich da bin, wo sie mich haben will. Zudem kommst du mit diesen Kalorienbomben an, wo ich gerade eine neue Freundin habe. Willst du etwa einen Freund haben, der aufgeht, wie ein Hefekloß?“

„Oh, ich kann die Pralinen ja wieder mitnehmen.“

Unerwartet schnell nahm Hayes seiner Freundin die Pralinen aus der Hand und legte sie auf den Nachttisch, der sich auf der anderen Seite des Bettes befand. Dort lagen sie außerhalb ihrer Reichweite. Dabei erklärte er bestimmt: „Die Pralinen bleiben hier.“

Die Telepathin verdrehte die Augen und seufzte schwach. Dabei beugte sie sich über Hayes und gab ihm einen richtigen Kuss.

Als sich beide nach geraumer Weile voneinander lösten, sah Irina Zaizewa ihren Freund verschmitzt an und meinte: „Na, das scheint immerhin noch zu funktionieren.“

„Wenn das nicht mehr funktioniert, dann nimmst du deine Auricon PPG und schießt mich über den Haufen“, verlangte Hayes säuerlich. „Versprich mir das.“

Irina Zaizewa nahm die linke Hand des Mannes in ihre. Schnell ernster werdend meinte sie: „Schluss mit dem Geplänkel, Benjamin. Esposito bat mich vorhin darum, dir von seinem Zusammentreffen mit Susan Ivanova zu berichten. Er meinte, du weißt bereits in groben Zügen davon?“

Hayes seufzte und bestätigte: „Er konnte mir eine kurze Zusammenfassung liefern, bevor unsere Chefärztin ihn rauswarf.“

Irina grinste breit, bevor sie sich konzentrierte und erklärte: „Nun, dein Stellvertreter traf auf der SHERIDAN mit ihr zusammen. Er glaubt, dass Ivanova Recherchen zu deiner Kampfgruppe anstellt. Offensichtlich verfolgt Ivanova deine Schritte genauer, als du ahnst.“

„Oder auch weniger offensichtlich“, versetzte Hayes trocken. „Ich bin weit davon entfernt, eine Heldin des Schattenkrieges zu unterschätzen, Irina. Ganz im Gegenteil, ich habe, und das bereits vor meiner Ankunft hier, dem Generalstab dazu geraten unsere Verbündeten darüber zu informieren, dass wir möglicherweise einem neuen und sehr mächtigen Feind gegenüberstehen. Ich kenne Ivanova persönlich und ich bin mir sicher, dass die jetzt nicht mehr locker lassen wird. Aus verlässlicher Quelle weiß ich von einer Anfrage durch sie, bei einem ihrer alten Bekannten im Stab der Erdstreitkräfte.“

„Da wird sie nicht viel erfahren haben, wie ich vermute“, orakelte die Telepathin.

„Natürlich hat man sich bedeckt gehalten“, bestätigte Hayes. „Doch gerade das macht Personen wie Susan Ivanova misstrauisch. Da ist sie, wie ich selbst. Wenn diese Frau erst einmal die Witterung aufgenommen hat, dann stellt sie weitere Ermittlungen an. Ich muss dir wohl nicht sagen, über welche Machtmittel sie nun verfügt.“

„Warum weigert sich unser Flottenstab eigentlich so vehement, die Interstellare Allianz mit einzubinden? Das könnte doch nur gut für uns sein.“

Hayes sah seine Freundin vielsagend an. „Bei mir rennst du da offene Türen ein. Doch offensichtlich kommt dieser Befehl zur Verschwiegenheit von ganz oben. Also entweder von Präsidentin Okamura selbst, oder von ihrem Verteidigungsminister, in Absprache mit Okamura. Egal wie man es dreht und wendet, die Präsidentin hat dazu, zumindest stillschweigend, ihre wohlwollende Zustimmung gegeben.“

Unglauben lag im Blick der Telepathin. „Aber du willst damit doch nicht andeuten, dass sich Ayumi Okamura zu einem weiblichen William Morgan Clark mausert?“

„Nein!“, wiegelte Hayes rasch ab. „Das würde ich nun nicht vermuten, auch wenn beide derselben politischen Partei angehören. Ich habe da einen anderen Verdacht.“

„Lass hören.“

Hayes blickte seiner Freundin in die Augen, die bei bestimmtem Lichteinfall beinahe golden wirkten. So, als würde er sich fragen, ob sein Verdacht nicht zu verrückt sei, um ihn mit ihr zu teilen. Endlich sagte er: „Die Erde hat durch ihre Zugehörigkeit zur ISA ziemlich profitiert. Die ISA hat im Gegenzug nur recht wenig zurückbekommen. Ich hege seit einiger Zeit die Befürchtung, man könnte auf der Erde zu der Auffassung gelangt sein, ein weiterer Verbleib in der ISA wäre überflüssig.“

Irina Zaizewa sah ihren Freund nun wirklich so an, als habe er völligen Unsinn von sich gegeben. Erst nach einigen Augenblicken fragte sie mit abgesenkter Stimme: „Du glaubst, die Erdregierung will einen mächtigen Gegenpol zur ISA schaffen? Aber…“

„Wenn die Erdregierung mit der des Mars und denen der Kolonien übereinkommt, dann könnte das sogar funktionieren“, unterbrach Hayes die Telepathin. „Selbst wenn danach alles friedlich seinen Gang nähme, würde ein solcher Schritt ziemlich hohe Wellen schlagen. Wenn G’Ryka bei ihrem ersten Gespräch mit mir nicht übertrieben hat, könnten sich in einem solchen Fall vielleicht sogar die Narn auf die Seite der Erdregierung schlagen. Ich möchte mir gar nicht ausmalen, wie die Centauri auf eine solche Entwicklung reagieren würden.“

„Du malst da ein sehr düsteres Bild“, murmelte Irina Zaizewa, wobei sie ihren Freund eindringlich ansah. „Aber so muss es nicht sein?“

„Nein, das muss es nicht“, gab der Generalmajor zu. Beruhigend legte er seine Hand auf ihre und drückte sie sacht. „Vielleicht sehe ich die Angelegenheit viel zu schwarz.“

Für eine Weile blieb es still im Raum, bevor sich der Generalmajor räusperte und mit veränderter Stimmlage fragte: „Wie geht es Esposito. Er hat Melanie Sterling sehr nahe gestanden und ich könnte mir vorstellen, dass ihn der Verlust sehr hart getroffen hat. Er selbst wollte nicht mit mir darüber reden.“

Fast erleichtert über diesen Themenwechsel erwiderte die Telepathin: „Vielleicht redet er deshalb nicht mit dir darüber, weil er mit Nurcan darüber redet. Zumindest hat sie heute Morgen, vor dem Dienst, so etwas angedeutet. Während wir zwei hier beieinander sind unternehmen die beiden vermutlich den Abendspaziergang, den Nurcan erwähnt hat.“

Überrascht musterte Hayes seine Freundin. „Ach, guck an.“

„Vielleicht folgt er ja dem guten Beispiel seines Vorgesetzten“, spöttelte Irina und beugte sich rasch vor, um Hayes einen Kuss zu geben. Als sie wieder etwas auf Abstand ging, fügte sie ernsthafter hinzu: „Nurcan hilft dem Captain durch eine schwierige Phase. Da sollte man vielleicht nicht allzu viel hineininterpretieren.“

Hayes lächelte schwach. „Meine Freundin ist nicht nur sehr hübsch, sie ist auch sehr intelligent und lebenserfahren.“

Irina Zaizewa blickte forschend in die Augen des Mannes, um herauszufinden, ob er sich gerade einen Scherz mit ihr erlaubte. Sicher, dass es nicht so war, wechselte diesmal sie das Thema und fragte: „Denkst du, der Feind hat deinen Verband in voller Stärke angegriffen, oder hat er möglicherweise noch Reserven, von denen wir nichts ahnen, Benjamin?“

Die Telepathin wunderte sich etwas über das vergnügte Gesicht ihres Freundes, bis dieser erklärend meinte: „Dir gefällt also mein Zweitname doch ziemlich gut. Entgegen ganz anders lautender Gerüchte.“

Die Russin schnitt ihm eine Grimasse und so kam der Generalmajor schnell auf ihre Frage zurück. „Das lässt sich momentan nicht beantworten. Wäre ich der Befehlshaber des Feindes, so hätte ich noch was auf der Hinterhand. Doch da wir nicht wissen, wie stark der Gegner wirklich ist, können wir bestenfalls orakeln, wie die Fakten aussehen. Genau das jedoch will der Feind vielleicht. Zu versuchen den Gegner zu verunsichern war in Kriegen schon immer ein probates Mittel.“

„Vielleicht sollten wir Miss G’Ryka stärker einspannen, um etwas in Erfahrung zu bringen“, schlug Irina Hayes vor. „Die erste Regel des Krieges lautet: Kenne deinen Feind. Doch wir wissen ziemlich wenig, würde ich sagen. Das sollten wir ändern.“

Hayes hob seine Augenbrauen leicht an. „Du bist mit Sun Tzu und der Kunst des Krieges vertraut?“

„Sollte das nicht jeder gute Offizier sein?“, stellte Irina Zaizewa die Gegenfrage. „Der General hat sich in seinem Werk im Übrigen auch zum Einsatz von Spionen ausgelassen.“

„Ich bevorzuge Clausewitz“, bekannte Hayes und machte ein grüblerisches Gesicht. „Ja, G’Ryka wäre eine Alternative. Sie kann dort hingehen, wo wir selbst nicht hin können. Außerdem schuldet sie uns was. Wir hingegen können es uns nicht erlauben noch viel länger im Dunkel zu tappen. Wir müssen die Initiative gewinnen und wenn wir den Feind endgültig stellen können, dann Gnade ihm Gott, denn ich werde es nicht tun.“

Irina Zaizewa legte beruhigend ihre Hand auf die Brust des Mannes. „He, jetzt gehen aber die Pferde mit dir durch. So brutal bist du nicht, oder ich müsste mich sehr in dem Mann täuschen, für den mein Herz schlägt.“

Sie rückten etwas voneinander ab, als sie das leise Zischen des Schotts hörten.

Irina Zaizewa blickte zu der Schwester, die zu ihnen hereinkam und mahnend zu ihr sagte: „Commander, der Patient braucht nun dringend Ruhe.“

„Bitte lassen Sie uns noch für einen Moment allein.“

Als die Krankenschwester lediglich ihre Augenbrauen leicht anhob, legte die Telepathin etwas energischer nach: „Nur eine Minute, Schwester!“

Die Angesprochene beeilte sich, das Zimmer zu verlassen und als sich Irina Zaizewa wieder Hayes zuwandte, blickte sie in sein amüsiertes Gesicht.

„Ich will mich wenigstens standesgemäß von meinem Freund verabschieden können. Ist das etwa zu viel verlangt?“

„Nein, gar nicht.“

Sie küssten sich und nur widerstrebend löste sich Irina Zaizewa von Hayes. Dabei verlangte sie: „Werd mir bloß schnell wieder gesund, Benjamin.“

„Versprochen!“

Der Generalmajor ließ die Hand der Frau los, als sich das Schott, genau eine Minute nachdem die Schwester gegangen war, erneut öffnete. Beschwörend sah er seine Freundin an, als sie die Augen verdrehte, und er flüsterte ihr zu: „Sie macht nur ihren Job.“

„Die kann mich mal“, flüsterte Irina Zaizewa zurück, bevor sie sich abwandte und das Krankenzimmer verließ, nicht ohne die Schwester dabei mit einem finsteren Blick zu streifen.

Hayes sah ihr und der Schwester sinnend nach. Dann fiel sein Blick auf das Päckchen, auf seinem Nachttisch und sein Gesicht nahm einen irgendwie zufriedenen Zug an.
 

ENDE
 



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