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Raum und Zeit

(Titelvorschläge werden entgegengenommen)
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Asgard, Palastgärten - 980

Die Sohlen seiner Lederstiefel gruben sich tiefer in den sandigen Boden, als Thor seinen Stand korrigierte. In Erwartung des Aufpralls neigte er sich leicht nach vorn.

Sein Gegenüber war riesengroß und sicherlich fünfmal so schwer wie er selbst. Und das Geräusch, das es ausstieß, war schlimmer als Metall auf Stein.

Die Augen starr auf die Bedrohung geheftet, nahm Thor die aufgeregten Schreie um sie herum nur am Rande wahr. Natürlich genoss er es, dass ganz Asgard seinen Leistungen Aufmerksamkeit schenkte, aber das einzige Gesicht, dessen stolzer Ausdruck ihm wirklich wichtig war, befand sich ohnehin hinter ihm, außerhalb von Thors Blickfeld.

Das Donnern der Hufte wurde mit jedem Aufschlag lauter. Thor wandte den Blick nicht ab. Er spürte das Kribbeln in seinen Fingern. Die elektrischen Funken unterdrückend, spannte er all seine Muskeln an.

Mit jedem Sprung auf Thor zu, grub das Bilgenschwein seine behuften Vorderfüße tiefer in den Sandboden. Es hatte den Kopf geneigt und schoss mit gesenktem Geweih auf ihn zu. Thor neigte das Kinn niedriger, ließ an beiden Händen die Knöchel knacken und dann, im letzten Moment, bevor er von den Spitzen des Geweihs aufgespießt worden wäre, riss er den rechten Arm nach vorne. Die Schulter durchgestreckt, die Handfläche flach auf die Stirn des Bilgenschweins gepresst, lehnte er sich mit aller Macht in den Aufprall. Ein dumpfer Donner ertönte, als das Ungeheuer abrupt stehen blieb und sich eine Druckwelle zwischen ihnen beiden entwickelte.

Den Frauen im Publikum flogen die Blüten aus den Haarkränzen, Sand wirbelte auf. Im Augenwinkel konnte Thor die bunten Fahnen, Girlanden und Banner erzittern sehen, mit denen man die Tribünen rund um den Turnierplatz geschmückt hatte. Ein zufriedenes Grinsen erhellte sein jugendliches Gesicht.

So sehr das Bilgenschwein auch vorwärts drängte, es konnte keinen Zentimeter gegen Thor gutmachen. Gerade, als es so aussah, als wären sie ebenbürtig, packte Thor mit der freien Hand das Geweih des Biests und mit einem jähen Aufbäumen seiner Muskelkraft riss er es zur Seite und auf den Rücken. Ungläubig und vor Wut tobend, schrie das Bilgenschwein auf. Ein Geräusch als sei es gepfählt worden.

„Jetzt!“

Thor fing das Seil, das man ihm über den Zaun zuschleuderte, mit der rechten Hand auf, warf sich mit einem Knie auf den schutzlosen Bauch des Bilgenschweins und machte sich mit ruppigen Bewegungen daran, ihm die vier Beine zu verknoten. Er war zwar nicht der Fingerfertigste, aber nach einem Moment hörte er, wie die große Glocke über dem Turnierfeld ertönte – das Zeichen dafür, dass er die Aufgabe erfüllt und man seine Zeit gemessen hatte.

Zufrieden ließ er von dem Untier ab und stieß siegesgewiss beide Arme in die Luft, während das Bilgenschwein die Stacheln auf seinem Rücken immer weiter in den Sandboden trieb.

Nun hörte Thor das begeisterte Toben der Menge wieder ganz deutlich und badete in der Euphorie seines Volkes. Er winkte den Zuschauenden zu, drehte sich in alle Richtungen und richtete seinen Blick schlussendlich auf die am höchsten gelegene Tribüne.

Seine Eltern Odin und Frigga hatten sich von ihren goldenen Thronen erhoben und applaudierten. Beide waren sie in ihre Festtagsgewänder gehüllt und strahlten ihn an. Odin hatte gar Gungnir, seinen königlichen Speer, gegen die Seite des Throns gelehnt, um seinem Erstgeborenen die Ehre zu erweisen.

Thor hörte seinen Herzschlag in den eigenen Ohren wummern, während er über das ganze Gesicht lachend die Fäuste in der Luft schüttelte und sich noch einen Moment länger umschwärmen ließ.

Dann fiel sein Blick auf Loki.

Thors Bruder saß bereits auf dem Holzzaun, der das Kampffeld umgab. Offensichtlich wartete er ungeduldig darauf, dass Thor hinaustrat, damit nun er sich an der letzten Aufgabe des Turniers beweisen konnte. Zum fünfzehnten Mal jährte sich der Sieg über Jotunheim und die Eisriesen.

Anders als der Rest seiner Familie hatte Loki sich nicht die Mühe gemacht, Festtagsgewänder anzulegen. Er war von Kopf bis Fuß in feines asgardisches Leder gekleidet. Nicht einmal eine Rüstung hatte er sich übergestreift. Offenbar war er selbstsicher genug, den Kampf mit dem Bilgenschwein auch so anzugehen. Erst im Nachhinein sollte Thor auffallen, dass Loki der Einzige weit und breit war, der nicht zur Feier des Tages auf schwarze Kleidung verzichtet hatte. Einzig und allein, dass Loki Handschuhe trug, war ungewöhnlich.

Anders als der Rest der Asen lächelte Loki auch nicht oder applaudierte. Stattdessen zogen sich seine Brauen konzentriert über seinen blassen Augen zusammen und seine Lippen waren kaum mehr als ein Strich. Er schaute direkt an Thor vorbei, den Blick auf das sich am Boden windende Bilgenschwein geheftet. Es war inzwischen von Wachen, die es fortbringen sollten, umstellt.

Thor ging auf Loki zu und legte ihm auffordernd die Hand auf die Schulter. „Glaubst du, das kannst du schlagen, Bruder?“

Thor warf einen Blick auf die große Tafel, auf der gerade die Zeit, die er für die Bändigung des Untiers benötigt hatte, eingetragen wurde.

Nach allen Aufgaben führte er die Liste der Turnierteilnehmer an, wenn auch nur mit kleinem Vorsprung vor Sif.

„Du wirst es bereuen, an meinen Fähigkeiten zu zweifeln“, antwortete Loki mit einem beflissenen Unterton, ohne Thor in die Augen zu sehen. Er strich sich über die nach hinten gelegten kurzen Haare, bevor er vom Zaun sprang und leichtfüßig im Sand landete. Das Seil, das man ihm als einziges Werkzeug zur Bändigung seines Bilgenschweins zur Verfügung stellte, hatte Loki sich bereits über die Schulter geworfen.

Die Wachen hatten Thors gefesseltes Bilgenschwein in der Zwischenzeit vom Feld gezerrt. Nun stand Loki allein in der Mitte des zerwühlten Sandplatzes. Er hörte, wie die Asen auf den Tribünen noch immer aufgeregt durcheinanderriefen ob Thors Bestzeit, vernahm entfernt die Schreie des geschlagenen Bilgenschweins und das Kreischen der Vögel über ihm. Er atmete tief ein, richtete sich zu seiner vollen Größe auf und entspannte bewusst die Schultern. Dann schloss er die Augen, um sich zu konzentrieren.

Erst als er die Schritte weiterer Wachen vernahm, die ankündigten, dass sie Lokis Bilgenschwein auf den Turnierplatz geleitet hatten, öffnete er sie wieder.

Es war ein Untier. Noch riesiger als das von Thor, stand das gigantische Bilgenschwein keine fünf Körperlängen von ihm entfernt. Die längsten Stacheln auf seinem Rücken waren beinahe mit den bunten Girlanden am Rande des Turnierplatzes auf einer Höhe.

Man hatte ihm über den Augen eine Bandage angebracht, die es ruhigstellte.

Doch in diesem Augenblick reckte sich die verbliebene Wache mit furchtverzerrtem Blick vor und zog dem Biest mit einer schnellen Bewegung den Stoff von den Augen. Dann türmte der Mann.

Es war vorbei mit der Ruhe.

Die Trompete, das Zeichen dafür, dass die Aufgabe begann, ertönte über ihnen.

Das Biest richtete seine kleinen schwarzen Schweineaugen auf den jugendlichen Loki. Ein markerschütterndes Kreischen trat aus seinem Maul, das nicht wenigen Anwesenden die Haare zu Berge stehen ließ.

Loki lächelte und verengte seinen Blick.

Dann, ohne mit der Wimper zu zucken, hob er den rechten Arm über den Kopf und zeigte dem bereits mit den Hufen scharrenden Bilgenschwein seine behandschuhte Handfläche. Aus dem Nichts erschienen mit einem goldenen Funkeln große, blutige Fleischklumpen in der Luft. Loki ergriff sie einen nach dem anderen und schleuderte sie mit einer ausladenden Bewegung auf das Bilgenschwein. Punktgenau landeten sie vor dessen hässlicher Schnauze. Das Untier schien für einen Moment zu stutzen. Misstrauisch schaute es Loki aus den kleinen schwarzen Augen an, doch dann richtete es sein ekelhaftes Maul auf die ranzigen Stücke und begann, sie zu verschlingen, wobei es reichlich Sand aufwühlte.

Gelassenen Schrittes ging Loki breit grinsend auf das Bilgenschwein zu. Behände knüpfte er einen Knoten in das Seil, das er von seiner Schulter genommen hatte. So konnte er diesen Teil des Stricks beschweren.

Während das Bilgenschwein, abgelenkt von seinem unverhofften Mahl, seine Aufmerksamkeit gänzlich von Loki abwendete, ließ er das verknotete Ende lässig einige Male über dem Kopf kreisen, um ihm den richtigen Schwung zu geben. Das hintere Stück Strick hielt er fest in der Hand. Dann ließ Loki das Seil ruckartig vorschnellen und, in einer einzigen fließenden Bewegung, schlang sich es sich, den Knoten voran, einmal um alle vier Beine des Untiers. Loki fing das beschwerte Ende wieder auf.

Es dauerte nur einen Wimpernschlag und mit einem jähen Aufbäumen seiner Körperkraft raffte er die beiden Seilenden zusammen, zog dem Biest so den Boden unter den Hufen weg und ließ es mit der Schnauze voran in den blutigen Sand fallen. Es war verschnürt wie der Festtagsbraten, der es werden sollte. Überrascht kreischte das Bilgenschwein auf und Lokis Augenlider zuckten bei dem Geräusch.

Ein wortloses Raunen ging durch das Publikum und für einen Augenblick war es still. Dann ertönte ein weiteres Mal die goldene Glocke über dem Turnierfeld und ein beeindruckter Aufschrei ging durch die Menge. Was für eine Geschwindigkeit!

Beide Arme links und rechts weit von sich gestreckt drehte Loki sich jede Sekunde auskostend um die eigene Achse. Er genoss die Sprachlosigkeit der Asen. Noch nie hatte jemand so schnell ein Bilgenschwein zur Strecke gebracht wie er.

Als Lokis Blick zuletzt hinauf zu den Sitzplätzen seiner Eltern fuhr, erstarrte sein Gesicht zu einer Maske. Etwas knirschte in seiner Brust.

Frigga hatte sich mit einem breiten Lächeln und applaudierend erneut von ihrem Thron erhoben. Odin jedoch saß unverändert auf seinem goldenen Stuhl und zeigte nichts als eine versteinerte Miene. Lokis Augen verengten sich und langsam, ganz langsam, sanken seine Arme. Nach einem Moment des Zögerns schritt er wild entschlossen auf das Königspaar zu und rief: „Was ist, Allvater? Habe ich dich nicht gut unterhalten!?“

Odin richtete den Blick auf seinen jüngsten Sohn und erhob sich schwerfällig von seinem Thron. Frigga musterte ihren Gatten und runzelte die Stirn, kurz bevor der ausrief:

„Loki Odinson, ich disqualifiziere dich hiermit vom Turnier zum Frieden!“

„Was!“, rief Loki perplex aus und sein Blick stand in Flammen. Er starrte mit sprachlos geöffneten Lippen zu seinem Vater hinauf und rief dann: „Warum, was ist das Problem?! Ich habe-“

„Du hast“, schnitt Odin ihm mit gebieterischem Tonfall das Wort ab, „die Regeln der Aufgabe missachtet. Die“, er machte eine dramatische Pause, die in Loki etwas zerquetschte, „einzige Regel, Loki: Das Bilgenschwein muss ohne den Einsatz von Waffen überwältigt werden. Willst du mir sagen, du hättest das nicht gewusst?“

„Ich habe keine Waffe gebraucht!“, rief Loki mit sich überschlagender Stimme und sein Körper bebte, als er hinterhersetzte: „Magie ist keine Waffe, sie gehört einfach zu mir!“

„Du bist“, hob Odin wieder an, ohne Lokis Einwand zu kommentieren, und sein Tonfall machte deutlich, dass er keine weitere Verzögerung duldete, „disqualifiziert. Und nun geh, damit wir den Sieger des Wettkampfes küren können.“ Odins wendete sich von seinem jüngsten Sohn ab und verkündete mit donnernder Stimme:

„Thor Odinson!“

Friggas Gesichtsausdruck, der nichts anderes tat, als an Stelle ihres Gatten um Entschuldigung zu bitten, brannte sich in Lokis Netzhaut ein und in sein Herz.



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