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Warsong

von

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Offenheit

13.12.2069, 07.49 Uhr, Outlands, Highway Richtung Shimosuwa
 


 

Marco klappte seinen Mantelkragen fröstelnd hoch, während er am Heck seines Caliburn lehnte und dem gluckernden Kraftstoff dabei zusah, wie er träge den Wagen füllte. Die alte Tanksäule hatte wenig Druck und Marco war sich fast sicher, dass wesentlich mehr Luft als Sprit durch die Leitung floss, um jedem verzweifelten Kunden, der hier an dieser Tankstelle im Nirgendwo anhalten musste, viel zu viel Geld aus der Tasche zu ziehen. Das Rolltor der angrenzenden Werkstatt fuhr scheppernd hoch und eine massige Mechanikerin mit dunkler Haut und kahl rasiertem Schädel trat in das fahle Morgenlicht.
 

Bis auf Marcos Caliburn, dem gepanzerten 'Newtech' SUV hinter ihm und zwei geparkten, rostigen Trucks war die Tankstelle verlassen, weswegen die bullige Frau in der abgewetzten Latzhose den teuren Wagen auch mit einer Mischung aus Gier und Misstrauen maß. Sie schob eine Ladung Kautabak von einer Seite ihres Mundes in die andere. Mit Hilfe ihrer kybernetischen Arme buckelte sie sich einen Satz LKW-Reifen auf die Schultern, bevor sie wieder im Dunkel der Werkstatthalle verschwand.
 

Müde gähnte Marco und blinzelte verschlafen gegen die helle Neonbeleuchtung, die flackernd und knisternd über dem Tankstellen-Shop schräg in der Fassung hing und im auffrischen Wind quietschte. Er war weit entfernt von einem Morgenmuffel, aber das frühe Aufstehen lag ihm einfach so gar nicht. Nach den sich förmlich überschlagenden Ereignissen der letzten Tage hatte er eh schon das Gefühl, kaum genügend Schlaf zu bekommen.
 

Er musste erneut gähnen und versteckte das hinter dem Handrücken, während sein Blick zum Tankstellen-Shop wanderte. Er beobachtete Law durch die trübe Scheibe des windschiefen Gebäudes, das sich wie ein gedrungenes Lebewesen unter einen Felsvorsprung schmiegte, als wollte sich das Haus selbst vor den Elementen schützen.
 

Der integrierte Zoom in Marcos Brillengläsern holte ihm die Szenerie näher heran. Der junge Mann hatte die Hände in die Taschen seines bodenlangen, dunklen Mantels geschoben und sondierte gerade mit kritischem Blick die dürftigen Auslagen und das Angebot im Laden, während er für die frühe Uhrzeit trotz der dunkel schattierten Augen beneidenswert wach wirkte. Außer ihnen machten nur die beiden Trucker gerade Halt, die sich im Shop an ihren Kaffeebechern festhielten und Law aus dunklen Augen musterten. Das Emblem auf ihren Lastwagen gehörte zu einem namhaften Delikatessenhändler aus Osaka. Vermutlich waren sie auf dem Weg nach Tokio, um die High Socity zu beliefern. Nur die vermögendsten Bewohner der Stadt konnten sich diese unerschrockenen Überlandfahrer mit ihren - sicherlich zurecht - horrenden Preisen leisten.
 

Die Gebiete außerhalb der Städte waren rau, hart und oft gesetzlos, also mussten jene, die ihren Unterhalt damit verdienten, hier unterwegs zu sein, noch härter sein. Durch die Scorn und die immer schwieriger werdenden, landschaftlichen Gegebenheiten, hatte sich im Laufe der letzten Jahre ein Großteil der Bevölkerung Japans in den vermeintlichen Schutz der Städte und deren Umland zurückgezogen. Dörfer und Siedlungen wurden aufgegeben, die zu tief im Landesinneren lagen, um noch lukrativ zu sein, durch die weite Entfernung zum Meer und damit zum Handel. Dadurch verwahrlosten die ländlichen Regionen. Nur wenige, hartgesottene Gruppen hielten sich hier draußen und lebten ihr Leben unter reichlich Entbehrungen, dafür aber auch weitestgehend frei vom Einfluss der Konzerne und Kartelle.
 

Die beiden Fernfahrer waren umfassend kybernetisch optimiert, wie die meisten Vertreter ihres Handwerks. Dem einen der Männer zogen sich schartige Narben über die rechte Gesichtshälfte. Vermutlich von einer alten Scornwunde stammend, welche die Hälfte seine Kiefers zerrissen hatte, der jetzt mit Metallplatten verstärkt war. Sein künstliches Auge rollte blinkend in der Höhle und er stieß seinen Kumpanen mit dem Ellenbogen an, als er Law einen Ticken zu lang hinterher sah und dem anderen Kerl mit einem anzüglichen Grinsen und einer unflätigen Geste seine schmutzigen Gedanken ziemlich plastisch darstellte.
 

Etwas in Marco verkrampfte sich bei diesem Anblick und Wut flammte heiß in ihm auf, wobei er durchaus wusste, dass Law mehr als gut allein auf sich aufpassen konnte. Trotzdem, die Vorstellung, dort reinzugehen und dem Kerl das schmierige Grinsen aus dem Gesicht zu zaubern, indem er mit ihm den verdreckten Boden wischte, war ziemlich verlockend... und gleichzeitig völlig untypisch für ihn.
 

Er hatte sich eigentlich nie für einen sonderlich besitzergreifenden Menschen gehalten, denn dafür wusste er nur zu gut, wie wichtig Freiheit war. Allerdings war er bisher auch immer der festen Überzeugung gewesen, sich nur zum weiblichen Geschlecht hingezogen zu fühlen. Doch in der Hinsicht belehrte ihn Law durchaus eines besserem, denn dass er den jungen Mann anziehend fand, würde er kaum leugnen können. Eigentlich war es überraschend, dass er nach seinen letzten, so katastrophal gescheiterten Beziehungen plötzlich überhaupt wieder Interesse für eine andere Person entwickelte.
 

Nur war der Zeitpunkt dafür wirklich denkbar schlecht. Marco hatte ein Firma zu führen, mit dem Zirkel wirklich genug Ärger und Law seine ganz eigenen Dämonen, die ihn plagten und mit denen er fertig werden musste. Das Letzte, was sie beide jetzt vermutlich gebrauchen konnten, waren irgendwelche Emotionen, die alles nur noch viel komplizierter machen würden. Davon einmal abgesehen machte Marco sich auch wenig Illusionen. Er war ein ganzes Stück älter als Law und sollte wirklich nicht mehr erwarten, als diese zaghaft entstehende Freundschaft zwischen ihnen. Allein das musste für Law ein großes Zugeständnis sein und Marco konnte sich glücklich schätzen, dass der junge Mann ihm inzwischen zumindest zu vertrauen schien.
 

Mit einem tiefen Atemzug schob Marco die Hände in die Manteltaschen und war froh, dass Rakuyou in diesem Moment aus dem Schatten des schwarzen 'Newtech' SUV zu ihm geschlendert kam. Der Sicherheitsmann fischte sich eine Zigarette aus seiner schusssicheren Weste, entzündete diese mit einem alten Feuerzeug, bevor er den Rauch genüsslich inhalierte und sich neben Marco an die Tanksäule lehnte. »Bisschen was zum entspannen?« Marcos kritischen Blick völlig ignorierend, hielt Rakuyou ihm das zerknitterte Päckchen Zigaretten anbietend entgegen. Er schüttelte nebenbei seine dicken, dunkelblonden Dreadlocks aus dem Jackenkragen und schulterte sein Sturmgewehr.
 

Marco lehnte dankend ab. »Ich fürchte, wenn ich noch ein bisschen mehr entspanne, penne ich gleich im stehen ein«, erwiderte er mit müdem Lächeln, während er sich die schweren Lider massierte. »Und eine Tankstelle ist vielleicht auch nicht der beste Ort für offenes Feuer, hm?«, gab er zu bedenken. Er hatte sich das Rauchen längst abgewöhnt und auch nicht das Verlangen, dieses Laster in nächster Zeit wieder aufleben zu lassen.
 

Rakuyou schnupperte vernehmlich und machte dann eine wegwerfende Handbewegung. »Der Treibstoff hier ist so gestreckt, der würde vermutlich nicht mal brennen, wenn du ein Päckchen C4 rein wirfst. Die zieh'n dir hier schön das Geld aus der Tasche.« Sein abschätzender Blick glitt zum Verkaufsraumes, hinter dessen Scheibe sie der mutmaßliche Inhaber wachsam beäugte, ein fülliger, dunkelhäutiger Kerl mit einem weißen Vollbart und metallischen Fäusten.
 

Rakuyou winkte ihm übertrieben fröhlich zu, wodurch sich der Mann mit finsterer Miene abwandte. Das 'Newtech' Emblem auf dem schweren SUV weckte sicherlich Begehrlichkeiten, allerdings auch ein hohes Maß an Vorsicht, weswegen ihre Fahrt bisher relativ ruhig verlaufen war. Bevor man sich mit einem Hersteller von Waffen- und Rüsttechnik anlegte, suchte man sich lieber erst einmal leichtere Beute.
 

»Nun, die Auswahl im Umkreis ist recht begrenzt. Mir bleibt wohl keine Wahl, wenn wir nicht auf den nächsten Meilen liegen bleiben wollen«, erwiderte Marco achselzuckend. Überteuerte Spritpreise waren im Moment sicherlich das Geringste seiner Probleme.
 

Früher war Toyohashi von Tokio aus in etwas mehr als vier Stunden zu erreichen gewesen. Heute jedoch - durch die Anhebung der Minami Alpen und zahlreiche aufgegebene Straßen - mussten sie das Gebirge umfahren und damit einen Umweg von mehreren Meilen in Kauf nehmen. Der 'Newtech' Slightjet als erster seiner Art und Prototyp war gerade auf dem Weg zu einer Messe und daher keine Option gewesen. Da Marco jedoch praktisch veranlagt war, würde er diesen Umweg für einen kurzen Abstecher nutzen, der ihm eigentlich ganz gelegen kam.
 

Rakuyou vollführte mit der glimmenden Zigarette zwischen den Fingern eine schwungvolle Bewegung, was Marco beinahe die Schweißperlen auf die Stirn trieb, weil er sie alle schon in einem Feuerball sterben sah. »Ah ja, das ist der Trick dabei, nicht wahr? Kontrolliere Angebot und Nachfrage und du bestimmst den Preis«, führte er mit unbekümmertem Grinsen aus.

Marco hob eine Braue. »Eine alte Lebensweisheit?«

»Nee, Erfahrungswerte«, erklärte der Sicherheitsmann mit einem Zwinkern.
 

Rakuyou blickte auf eine langjährige Laufbahn als Schmuggler und Hehler zurück. Er würde vielleicht heute noch in diesem Milieu seinen Lebensunterhalt verdienen, wenn er nicht vor ein paar Jahren versucht hätte, mit Edward Newgate dem falschen Mann in die Suppe zu spucken. Doch statt kurzen Prozess mit ihm zu machen, hatte Whitebeard sein Potenzial erkannt und ihn in sein Team geholt. So einige Mitarbeiter der Newgate Corporation hatten alles andere als eine weiße, reine Weste. Doch Whitebeard bot all jenen ein Zuhause, die von der Welt vergessen wurden und gewillt waren, sich zu ändern und ihre Fähigkeiten für ein höheres Ziel und einen besseren Zweck einzusetzen. Sein Vater hatte nie nach blütenreiner Reputation oder makellosem Abschluss ausgewählt, sondern nach dem Herz am rechten Fleck.
 

Fossa trat nun ebenfalls zu ihnen, nachdem er das kleine Areal mit grimmigem Gesichtsausdruck sondiert und nach möglichen Gefahren Ausschau gehalten hatte. Der große, stämmige Sicherheitsmann mit der Halbglatze und dem dunklen Schnurrbart warf einen abschätzenden Blick gen Himmel, bevor er die Hände in einer fröstelnden Geste aneinander rieb. »Der Wetterbericht sagt Sturm voraus«, grollte er unheilvoll. »In einigen Regionen soll es sogar schneien.«
 

»Pff, als ob!«, machte Rakuyou wenig überzeugt. Er winkte ab. »In Japan hat es doch seit… keine Ahnung, wie lange nicht geschneit!?«

»Zwölf Jahre…«, murmelte Marco und richtete seinen Blick ebenfalls kurz abwägend in den schon seit den frühen Morgenstunden bedeckten Himmel. Die Wolken waren fasrig und grau, hingen schwer und tief über dem Horizont. Die Luft hatte merklich abgekühlt und roch nach Frost. Schnee wäre nicht nur ein sprichwörtliches Wunder, es konnte sich auch für sie zu einem unerwarteten Hindernis entwickeln.
 

Die Wetter-Applikation am Rand von Marcos Sichtfeld warnte vor einem möglichen, raschen Temperatursturz in den nächsten vierundzwanzig Stunden. »Lasst uns zusehen, dass wir weiterfahren. Ich habe keine Lust, in einem Schneesturm stecken zu bleiben.«
 

»Ach kommt, jetzt macht mal halblang.« Rakuyou blickte zwischen ihnen hin und her und wirkte, als würde er sie für völlig verrückt halten. »Ernsthaft, das schneit schon nicht. Die Wetterheinis haben doch 'nen Schaden.« Er schnipste den Stummel seiner halb aufgerauchten Zigarette in eine Pfütze neben der Tanksäule, was Marco fast den nächsten Herzinfarkt bescherte. Glücklicherweise schien es sich dabei wirklich nur um Regenwasser zu handeln oder andere Flüssigkeiten, über die hier niemand so genau nachdenken wollte.
 

»Ich geh nochmal pinkeln!«, verkündete der blonde Sicherheitsmann. Er stapfte zum Tankstellenshop und hielt Law die Tür zuvorkommen auf, der gerade mit zwei Kaffeebechern in den Händen herauskam. Der junge Mann zog die Schultern aufgrund der Kälte hoch, wodurch seine Nase kurz im Kragen seines Mantels verschwand. Unbeirrt steuerte er auf Marco zu.
 

Der Konzerner drückte sein Handgelenk mit dem Identifikationschip gegen die Tanksäule, um die Zahlung zu bestätigen, ohne wirklich auf den aufblinkenden Preis zu achten. Er fand es immer wieder faszinierend, die kleinsten Emotionen auf Laws Gesicht zu beobachten - die stoische Miene war eher eine Maskerade und Marco wurde langsam geübt darin, die winzigen Feinheiten zu erkennen, die auf Laws Gefühlsleben schließen ließen.
 

Jetzt, nachdem er den schmuddeligen Laden mit den fremden Menschen verlassen hatte, hellte sich Laws attraktives Gesicht unmerklich auf - er wirkte erleichtert, weniger angespannt und ein kleines Funkeln lag in seinen grauen Augen, als er jetzt bei Marco ankam und ihm einen der Kaffeebecher reichte. »Schwarz, mit ein wenig Milch und ein wenig Zucker«, erklärte er.
 

»Oh, danke.« Marco nahm den Kaffee verwundert entgegen, denn er hatte gar nicht explizit darum gebeten. »Ich hoffe, dass ist jetzt schlicht eine nette Geste und nicht der gnadenlose Wink mit dem Zaunpfahl, dass meine Fahrkünste unter der frühen Tageszeit leiden?«, scherzte er mit schiefem Grinsen, sich durchaus bewusst, dass seine Reaktionszeit in der letzten halben Stunde sicherlich nicht die Beste gewesen war. Trotzdem hatte Law sich über die Fahrt bisher nicht beschwert.
 

Der junge Mann erstarrte kurz und vergrub das Gesicht nur noch tiefer in dem hohen, plüschigen Kragen seines Mantels. Eine Ahnung von Röte war auf seinen Wangenknochen zu erkennen, ob aus Verlegenheit oder durch die kalte Luft, war kaum zu sagen. »Du siehst müde aus«, war seine schlichte Erwiderung und vermutlich die Untertreibung des Jahrhunderts.
 

Als Reaktion darauf musste Marco schon wieder ein Gähnen unterdrücken. Nicht ganz selbstlos fragte er daher: »Möchtest du vielleicht die nächste Etappe fahren? Dann kann ich versuchen, richtig wach zu werden.« Er nippte an dem heißen Kaffee und stellte fest, dass der überraschend gut schmeckte. Für diese Gegend hätte er weniger erwartet. »Ich müsste eh noch ein paar Dokumente durcharbeiten, das käme mir also ganz gelegen.«
 

Es war Law anzusehen, dass das Angebot für ihn unerwartet kam, aber doch verlockend war. Marco hatte durchaus bemerkt, dass der junge Mann wie er selbst ein Faible für schnelle Fortbewegungsmittel hatte - eine Leidenschaft, die sie zu teilen schienen. »Wenn es für dich in Ordnung ist, gern«, stimmte er dann mit einem kleinen Nicken zu.
 

Rakuyou kam eben aus dem Laden zurück und Marco gab den beiden Sicherheitsmännern mit einem Handzeichen zu verstehen, dass sie weiterfahren würden. Law warf seinen Mantel auf die schmale Rückbank des Caliburn, während Marco inzwischen auf der für ihn völlig ungewohnten Beifahrerseite einstieg. Normalerweise mochte er es nicht wirklich, das Steuer aus der Hand zu geben, aber bei Law fühlte er sich durchaus gut aufgehoben.
 

Der junge Mann ließ sich mit einer Selbstsicherheit auf den Fahrersitz gleiten, die Marco schlichtweg beeindruckte, denn er war sich fast sicher, dass Law noch nie in so einem Wagen gesessen hatte. Doch von Vorsicht oder Unsicherheit war bei ihm keine Spur. Neue Herausforderungen scheute er definitiv nicht. Marco erklärte Law schnell die grundlegenden Eigenheiten des Caliburn, was vermutlich nicht einmal nötig gewesen wäre, da der junge Mann eine unglaublich gute und rasche Auffassungsgabe besaß und sich das Meiste vermutlich eh schon bei ihm abgeschaut hatte. Aber Marco genoss es, sich dabei ein wenig über die Mittelkonsole zu lehnen und Laws einzigartigen Geruch nach Nadelwald und frischem Schnee einatmen zu können.
 

Und da der junge Mann einen eng anliegenden, dunklen Rollkragenpullover trug, der so ziemlich jeden Muskel an seinem Oberkörper verboten deutlich abzeichnete, musste Marco zusätzlich arg mit seiner eigenen Konzentration kämpfen. Law schien davon aber glücklicherweise gar nichts zu bemerken, eben so, wie er sich oftmals nicht darüber bewusst zu sein schien, wie anziehend und interessant er auf andere wirken konnte.
 

Marco ließ sich in seinen Sitz zurücksinken, als Law den Wagen startete und zog seinen Laptop aus dem Handschuhfach, um sich seiner Arbeit zu widmen. Er hatte sich zwar für die nächsten Tage von der Öffentlichkeit entschuldigt, das hieß jedoch nicht, dass er jegliche Aufgaben einfach ruhen lassen konnte - vielleicht war das aber auch nur sein persönlicher Fluch des zwanghaften Pflichtbewusstseins.
 

Law folgte den dezenten Anweisungen des Navigationssystems und lenkte den schnittigen Wagen souverän über die breite Straße nun weiter in Richtung Westen. Marco hatte ihm gesagt, dass er einen Zwischenstopp bei der Klinik einlegen würde, in der er ab und an in seiner Freizeit schon ausgeholfen hatte. Er wollte sich dort etwas besorgen, was ihm im besten Fall dabei unterstützen sollte, das Rätsel um den Bannzauber in Laws Verstand zu lösen. Sie hatten sich darauf geeinigt, dass sie den Ausflug nutzen konnten, um dem Rätsel in Laws Kopf nachzugehen.
 

Der Caliburn lag wie ein flacher Stein auf der Straße und hatte ein unglaublich geschmeidiges Fahrverhalten, weswegen  Law das Gaspedal auch mit leicht gehobenen Mundwinkel und purer Begeisterung ein wenig mehr durchtrat. Das Röhren des Motors hallte wie ein angenehmer Schauder durch seine Knochen. Marco schien es nicht zu stören, er sah nicht von seiner Arbeit auf und Law freute es insgeheim, dass der Konzerner so viel stilles Vertrauen in ihn setzte, um ihn nicht einmal zu mäßigen oder zu kritisieren. Er genoss die Fahrt und konnte seinen Kopf ein wenig frei bekommen, was ihm sonst meist nur gelang, wenn er mit seiner Kusanagi unterwegs war.
 

Irgendwann jedoch war der schwarze SUV mit den beiden Leibwächtern zu einem undeutlichen Punkt im Rückspiegel zusammengeschrumpft und Law drosselte einsichtig das Tempo ein wenig, damit sie wieder aufholen konnten. Er mochte immerhin nicht den Eindruck erwecken, dass er ihren Boss entführen wollte. Ab und an blickte Law zu dem Konzerner hinüber, der mit aktivierten Brillengläsern konzentriert auf seinen Laptop fixiert war. Seine großen Hände flogen überraschend geschmeidig über die Tastatur. Law fiel auf, dass er den anderen Mann durchaus gern ansah - Marcos markantes Profil war irgendwie faszinierend und seine bedächtige Ausstrahlung wirkte regelrecht beruhigend auf ihn.
 

Gewöhnlich hasste er es wirklich, mit anderen Menschen auf so verhältnismäßig engem Raum eingesperrt zu sein, möglicherweise noch zu einem Gespräch genötigt, doch in Marcos Gegenwart war das schlichtweg nicht der Fall. Du magst ihn, hallten Lamys Worte in seinem Geist nach und Law konnte die Wahrheit der Worte nicht leugnen. »Hast du dir nicht eigentlich frei genommen?«, fragte Law, als Marco sich nachdenklich das stoppelige Kinn kratzte und seine Fingerspitzen dabei recht ratlos über der Tastatur verharrten. Er wirkte völlig versunken in seinen Überlegungen und Law wollte schon ein schlechtes Gewissen entwickeln, weil er ihn gestört hatte.
 

Doch der Konzerner blickte eher erleichtert auf, als wäre er froh, dass er seine Gedanken auf etwas anderes fokussieren konnte. »Stimmt. Aber ich gebe zu, ich bin schlecht darin, abzuschalten. Wahrscheinlich fast genauso schlecht, wie morgens früh aufzustehen«, gestand er. Doch um seine Augen zeichneten sich leichte Lachfältchen ab, da er ergeben schmunzelte.
 

»War es eigentlich dein Wunsch, CEO zu werden?« Law hatte bisher noch gar nicht darüber nachgedacht, ob Marco den Posten eigentlich freiwillig angenommen hatte. Normalerweise interessierten ihn solche Dinge auch relativ wenig.

Marco tippte einen letzten Satz, dann lehnte er sich zurück. Zuerst wirkte er leicht überrascht, vielleicht darüber, dass Law von sich aus das Gespräch suchte, bevor er den rechten Mundwinkel ein bisschen gequält anhob und leicht den Kopf schüttelte. »Nicht wirklich...«, räumte er ehrlich ein.
 

Law blickte ihn verwundert an. »Andere Menschen würden für solch einen Posten und diese Macht töten.« Das war keine vage Vermutung, sondern eine Tatsache, derer er sich mehr als sicher war. Allein Marcos scheußlicher Stiefbruder war für diese Stellung bereitwillig über Leichen gegangen.
 

Marco seufzte. »Das ist mir durchaus bewusst, aber ich hatte nie gesteigertes Interesse an Macht oder Geld oder Ruhm. Schon Pops hat die Firma nicht gegründet, weil er unbedingt steinreich werden wollte. Sondern weil er sich bewusst war, dass die Menschen nie aufhören würden, sich gegenseitig zu bekämpfen und aus den nichtigsten Gründen heraus zu vernichten und es deshalb wichtig wäre, zu kontrollieren, wer Waffen in die Hand bekommt und wer nicht. „Wir müssen das Schild sein, nicht das Schwert und die Menschen vor sich selbst beschützen“, war stets sein Leitspruch. Dieses Vermächtnis ist wichtig, nicht das Geld. Ich hätte auch gut damit leben können, unter einem anderen zu arbeiten, Hauptsache, er würde unsere Werte vertreten«, erklärte Marco mit fester Überzeugung. In seinen blauen Augen leuchtete eine Charakterstärke, die Law beeindruckte. »Und außerdem hasse ich es, in der Öffentlichkeit zu stehen«, fügte er dann mit einem schrägen Lächeln an.
 

»Wegen deiner Vergangenheit?«, fragte Law vorsichtig. Es war naheliegend, dass Marco auch deshalb wenig Wert darauf legte, dass sein Gesicht ständig in den Medien zu sehen war.
 

»Das ist auch ein Grund, aber nicht der Einzige. Nach all den Jahren dürften die Amerikaner die Suche inzwischen auch längst aufgegeben haben, denn jetzt bin ich kaum noch von Wert für sie. Verrate es niemandem weiter, aber die Wahrheit ist«, Marco sah Law mit einem verschwörerischen Grinsen an, »ich gehöre noch zu den altbackenen Verfechtern, die der festen Überzeugung sind, dass das “Privat“ in Privatleben auch einen Zweck erfüllt.«
 

Law erwiderte seine Heiterkeit mit einem kleinen Schmunzeln. Marco wurde ihm von mal zu mal immer sympathischer. »Im Gegensatz zu meiner Schwester kann ich die Faszination, auf Schritt und Tritt belauert zu werden, auch nicht verstehen. Ich persönlich beneide niemanden, der im Rampenlicht steht.«
 

Marco lehnte den Hinterkopf gegen die Sitzlehne. »Ich könnte auf den ganzen Medienrummel gern verzichten und bisher konnte ich mich in meiner vorherigen Anstellung auch ganz gut bedeckt halten. Vater stand eher im Rampenlicht. Mir gefällt es nicht, wenn das Privatleben durch sämtliche Kanäle gezerrt und ausgeschlachtet wird. Nenn mich ruhig altmodisch, aber ich bin einfach der Meinung, dass es allein meine Sache ist, was ich anziehe, was ich esse, mit wem ich mich treffe oder ins Bett gehe...«, zählte Marco eindeutig genervt auf. »Und jeder Mensch an meiner Seite und in meinem Leben wird vermutlich irgendwann unweigerlich mit ins Rampenlicht gezogen, was die einen abschreckt und die anderen geradezu anzieht. Das ist zum Beispiel keine sonderlich gute Ausgangsbasis für eine ehrliche, unvoreingenommene Partnerschaft«, seufzte er resigniert.
 

Laws Griff um das Lenkrad verfestigte sich ein wenig. Es ging ihn wirklich nichts an, es sollte ihn nicht einmal interessieren und trotzdem musste er sich unweigerlich fragen, ob sich Marco gerade mit irgendjemandem ernsthaft traf oder ins Bett ging. Er schien eigentlich nicht wie der Typ für bedeutungslose One-Night-Stands, doch sicherlich hatte auch er Bedürfnisse. Ob er und Boa Hancock wohl…?!
 

»Und, gibt es gerade jemanden in deinem Leben?«, entschlüpfte Law die Frage, die er betont beiläufig stellte. Seine Augen richtete er geradeaus auf die Straße. »Immerhin wirst du ja als einer der begehrtesten Junggesellen der Stadt gehandelt, da kannst du dich sicher vor Angeboten kaum retten«, versuchte er es mit Sachlichkeit nach allgemeiner Neugier klingen zu lassen.

»Ich hätte dich definitiv nicht für jemanden gehalten, der auf Klatsch und Tratsch steht, Law«, neckte ihn Marco mit belustigt funkelnden Augen. Er schien glücklicherweise durch die recht private Frage nicht verprellt.
 

Law nahm einen etwas zu hastigen Schluck von dem Rest seines Kaffees, der inzwischen nur noch lauwarm war. »Lamy fährt total auf diesen High Society-Kram ab und liegt mir ständig in den Ohren damit, da schnappt man eben das ein oder andere auf…«
 

Marco bedachte ihn jetzt mit einem langen, intensiven Blick, wie Law aus dem Augenwinkel bemerkte und der ihm einen seltsam anregenden Schauder den Rücken hinab schickte. »Ich bin Single, falls du das wissen wolltest«, antwortete der Konzerner dann doch überraschend offen. »Nach der unschönen Sache mit Stussy hatte ich erst einmal relativ wenig Lust auf Dating. Und auch wenn man mir sicherlich schon Kinder mit Boa Hancock andichten will«, Marco rollte mit den Augen, »zwischen uns läuft definitiv nichts. Sie ist eine Geschäftspartnerin, ich schätze sie, aber in den wichtigen Dingen sind wir viel zu verschieden, als das es für eine Beziehung reichen könnte. Und sind wir mal ehrlich«, er seufzte schwer, »inzwischen sind die meisten doch eh nur an meiner Stellung und meinem Geld interessiert und nicht an mir als Person.«
 

»Dann sind sie Idioten«, schnaubte Law und schenkte Marco einen schnellen Seitenblick, während er die nächste Abzweigung an einer Kreuzung nahm. »Ich glaube nicht, dass Geld noch eine übergeordnete Rolle spielt, wenn man dich erst richtig kennt. Du zeichnest dich doch durch viel mehr als nur dein Konto aus.« In seinen Augen war es beinahe frevelhaft, einen so warmherzigen und verlässlichen Menschen wie Marco nur auf Geld und Status zu reduzieren.
 

Der Konzerner blinzelte überrascht und wirkte für einen Moment fast ein wenig sprachlos. »Ist das etwa ein Kompliment?«

Law biss sich auf die Unterlippe. Verlegenheit war ein Gefühl, das er eher selten verspürte. »Einfach eine sachliche Feststellung«, erklärte er tonlos.
 

»Ah«, Marco schmunzelte allzu wissend, ersparte es Law aber, näher darauf einzugehen. »Nun, dann Danke für deine sachliche Feststellung«, raunte er fast ein wenig geehrt. »Es freut mich, dass du es so siehst.« Seine blauen Augen strahlten sichtbar.
 

Law räusperte sich und stellte seinen Kaffeebecher zurück in die dafür vorgesehene Halterung. Vermutlich war es besser, das Thema zu wechseln, bevor er sich noch um Kopf und Kragen redete. »Du warst vorher der Leiter des Kundendienstes. Hat dir das Spaß gemacht und dich erfüllt?«
 

Marco schien tatsächlich ein bisschen verwundert über Laws erwachte Neugier und dachte einen Augenblick nach. Seine Finger tippten auf dem Laptop, den er inzwischen zugeklappt hatte, um sich ganz dem Gespräch zu widmen. »Naja, in meinen Anfängen im Kundendienst kam ich viel herum, konnte viel reisen, habe viel gesehen. Der persönliche Kontakt zu den Kunden war herausfordernd. Durch meine Vergangenheit hatte ich natürlich ein ungefähres Gespür und einen Sinn dafür, was sich die Leute an Sicherheit wünschen und wie es eventuell umzusetzen wäre und ich konnte dieses Wissen für etwas gutes und sinnvolles einsetzen. Später, als Leiter der Abteilung, habe ich mich mehr um Organisation und Planung gekümmert. Beides hatte auf seine Weise seinen Reiz«, sinnierte er für sich, bevor er Law wieder mit einem leichten Lächeln ansah. »Also, ja. Es hat mir durchaus Spaß gemacht. Aber das heißt nicht, dass ich jetzt weniger zufrieden oder unglücklich bin. Ich sehe die Notwendigkeit darin, diesen Weg zu gehen, um das Vermächtnis meines Vaters fortzuführen.«
 

Law stellte abermals fest, dass sie sich gar nicht so sehr voneinander unterschieden - sie beide hatten mit ihrer Vergangenheit zu kämpfen, hatten Fehler gemacht und waren auf Menschen getroffen, die ihnen geholfen hatten, den rechten Weg wiederzufinden. So wie Marco die Firma und das Vermächtnis seines Vaters schützen wollte, hielt Law an Corazons Ziel fest, Doflamingo den Untergang zu bringen.
 

»Was ist eigentlich mit dir?«, fragte Marco nun. »Was sind deine Pläne, wenn diese Sache mit Joker vorbei ist? Was willst du dann machen?« Ehrlich interessiert musterte er ihn, wobei er sich ein wenig bequemer hinsetzte und die Hände auf dem Laptop auf seinem Schoß verschränkte.
 

Laws Schultern versteiften sich ein wenig und sein scharf geschnittenes Gesicht überzog ein flüchtiger Schatten. Marco befürchtete schon, mit seiner Frage womöglich ein heikles Thema angesprochen zu haben, doch Laws graue Augen spiegelten vielmehr Überraschung, als Abweisung. »Darüber... habe ich noch nie wirklich nachgedacht. Ich bin nie davon ausgegangen, dass es ein danach für mich geben wird«, antwortete er mit einer schmerzlichen Ehrlichkeit.
 

Die Antwort traf Marco wie ein Fausthieb. Er blinzelte erschüttert. »Du glaubst, dass du das nicht überleben könntest?!« Er hatte bereits viele Menschen gesehen, die mit ihrem Leben abgeschlossen hatten, aber die wenigsten hatten dabei so gleichmütig und nüchtern wie Law gewirkt.
 

Laws Miene blieb erschreckend ausdruckslos, als er mit rauer, aber gefasster Stimme fortfuhr: »Joker ist nicht zu unterschätzen. Mir war schon immer bewusst, dass es mich alles kosten könnte, ihn zu vernichten und dass ich keine Angst haben dürfte, alles zu geben, vielleicht sogar mein Leben.«
 

Marco konnte sich nicht zurückhalten und unterbrach ihn vehement: »Nein, Law, dieser Kartellkönig ist es nicht wert, dass du für seinen Untergang dein Leben gibst, deine Opferbereitschaft in allen Ehren.« Laws kalte Entschlossenheit war für ihn kaum zu ertragen, allerdings mischte sich auch ein hohes Maß an persönlicher Bestürzung in seine Worte. »Du bist doch intelligent genug, um zu wissen, dass auch Corazon kaum gewollt hätte, dass du stirbst, nur um sein Werk fortzuführen. Das war sicherlich nicht Teil seines Plans.«
 

Laws Kopf zuckte herum. Seine Augen versprühten augenblicklich ein eisiges Feuer. »Du weißt nicht, was er gewollt hätte. Es gibt so einiges, was er nicht geplant hat«, grollte er abschmetternd. »Am allerwenigsten wohl, dass er durch die Hand seines Bruders stirbt.«
 

Marco hob die Hände in einer offenen, defensiven Geste. Er ahnte, dass dieses Thema mit vielen Emotionen für Law verbunden war und bezog dessen aggressiven Ausbruch deshalb auch weniger auf sich selbst. »Entschuldige, ich wollte mir sicherlich nicht anmaßen, ihn zu kennen«, entgegnete er ruhig, legte sich jedes Wort sorgsam zurecht. »Aber in der Hinsicht gehe ich von mir selbst aus und ich würde unter keinen Umständen wollen, dass sich jemand für mich opfert, der mir viel bedeutet. Egal, wie wichtig der Grund auch scheint. Das würde mich fertig machen«, legte er seine eigene Ansicht offen dar.
 

Law starrte ihn noch eine lange Sekunde abschätzend an, dann schnaufte er tief durch und massierte sich den Nasenrücken. Er verfluchte sich selbst für seine harsche Wortwahl und diesen zwanghaften Drang, die Menschen, die ihm zu nahe kamen, stets von sich stoßen zu wollen. »Nein, ich muss mich entschuldigen«, murmelte er zerknirscht. »Das hier«, seine tätowierten Finger deuteten knapp zwischen ihnen hin und her, »bin ich einfach nicht gewohnt.«
 

Marcos wachsamer Gesichtsausdruck entspannt sich wieder, die blauen Augen musterten ihn vorsichtig. Sein rechter Mundwinkel zuckte leicht. »Ein Gespräch?«, scherzte er zaghaft.
 

Law sah den Konzerner mit bewegungsloser Miene an. In dieser Beziehung konnte er sein Amüsement nicht wirklich teilen, denn seine soziale Inkompetenz war ihm unangenehm. »Nein, dass sich jemand außer Lamy Gedanken um mich macht und dass es jemanden kümmert, was ich denke oder will.« Verunsichert wandte er den Blick wieder auf die Straße und biss die Zähne aufeinander. Warum musste das alles nur so verdammt schwierig sein?
 

»Nun, dann gewöhnst du dich besser daran, denn ich mag dich, Law, und ich habe leider die Angewohnheit, mich an Sachen festzubeißen, die mir wirklich wichtig sind«, erklärte Marco jetzt mit einem unbekümmerten, herzlichen Grinsen, das Laws Herzschlag merklich aus dem Takt brachte. »Und außerdem stecke ich in der ganzen Sache nun doch eh schon mit drin und ich werde bestimmt nicht tatenlos danebenstehen, wenn du dich an dieser ganzen Joker-Sache völlig aufreibst. Wir stehen das gemeinsam durch, das verspreche ich dir. Ich lass dich nicht allein.«
 

Mein Gott, Law wusste kaum, wohin mit sich, mit seinen Händen, seinen Augen... Er klammerte sich an das Lenkrad wie an eine Rettungsleine, während er kurzzeitig das Gefühl für seinen Körper zu verlieren schien. Wie konnte dieser Mann nur so kompromisslos offen sein, das Herz so arglos auf der Zunge tragen und dabei trotzdem so selbstsicher und mit sich im Reinen sein?! Und warum zum Teufel wirkte das so verflucht anziehend auf Law?
 

»Also«, Marco schlug ein Bein über das andere und schenkte Law seine gesamte Aufmerksamkeit, indem er sich ihm zuwandte. »Wenn das alles in diesem Augenblick vorbei wäre, wenn du von jetzt auf gleich ein freier Mann wärst, was würdest du machen wollen?«, griff er das Thema erneut auf. Er wirkte ehrlich interessiert an Laws Antwort.
 

Law zog die Unterlippe kurz zwischen die Zähne und zupfte mit Daumen und Zeigefinger gedankenverloren an den goldenen Ringen in seinem Ohr. Sein Blick verlor sich in der Ferne. »Ich weiß nicht. Ich schätze, ich würde wollen, dass Lamy glücklich und in Sicherheit ist. Vielleicht könnte sie studieren…-«
 

Marco schnalzte mit der Zunge. »Ich habe nicht nach Lamy gefragt«, erinnerte er sanft und hakte beharrlich nach: »Was willst du
 

Law musste sich zwangsläufig mit der Frage auseinandersetzen und ihm wurde bewusst, dass es schon lange nicht mehr nur allein um ihn gegangen war. Wann hatte ihn das letzte Mal schon jemand ernsthaft danach gefragt, was er sich wünschte oder wollte? Bereits in seiner Kindheit hatte man ihm Selbstlosigkeit vorgelebt - seine Eltern hatten sich stets für alle hilfsbedürftigen Menschen aufgeopfert und ihr Leben in den Dienst der Allgemeinheit gestellt. Wie oft waren sie spät abends todmüde ins Bett gefallen und trotzdem glücklich und erfüllt darüber, anderen geholfen zu haben. Es war einfach selbstverständlich gewesen, sich selbst hinten anzustellen, wenn es jene gab, denen es schlechter ging oder die Schutz brauchten.
 

Lamy war stets die kleine Prinzessin gewesen und auch, wenn ihre Eltern sie beide gleich geliebt hatten und nie ungerecht gewesen waren, so war Lamy doch stets besonders behütet gewesen, gerade wegen ihrer eher schwächlichen Konstitution in jungen Jahren. Law, als der große Bruder, hatte sich natürlich immer in der Pflicht gesehen, ein Auge auf seine Schwester zu haben, sie zu beschützen und zu unterstützen.
 

In Doflamingos Bande hatte er nur nach deren Regeln und Gesetzen gelebt, denn nichts anderes außer Hass und eiskalte Entschlossenheit hatte ihn noch angetrieben. Er hatte getan, was auch immer Joker verlangte, war ein wutzerfressenes Werkzeug für dessen Pläne gewesen.

Erst Corazon hatte wieder einen Funken Menschlichkeit in ihm geweckt und nachdem Law auch ihn verloren hatte, war etwas wichtiges in ihm erfroren. Nach Corazons Tod hatte ihn nur noch dessen Vermächtnis und Wille vorangetrieben und war, neben dem Schutz seiner Schwester, sein einziger Lebensinhalt.
 

Law schaltete einen Gang zurück, da die Straße eine leichte Steigung nahm. Die Baumreihen rückten dichter an die Straße, die zunehmend schmaler und kurviger wurde. Zögerlich antwortete er nach einer Weile: »Ich glaube, ich würde einfach nur ein stinknormales, ruhiges Leben führen wollen. Vielleicht würde ich sogar versuchen, doch noch ein Medizinstudium zu beginnen.« Insgeheim hatte er stets gefürchtet, dass die Fußstapfen seines Vaters vielleicht zu groß für ihn sein könnten, aber er hatte sich der Medizin schon immer verbunden gefühlt. Doch in den letzten Jahren hatte er sein eigenes Wesen vielfach verleugnen.
 

Marco wirkte fast ein bisschen zufrieden und meinte ermunternd: »Du bist intelligent, geschickt, hast eine ruhige Art und ruhige Hände, du hättest auf jeden Fall eine Begabung dafür. Ebenso wie fürs Zeichnen.« Ein kleines, wissendes Schmunzeln umspielte seine Lippen.
 

Law blinzelte irritiert. »Woher...?« Sein Skizzenbuch! Siedend heiß fiel Law ein, dass er es gestern überhastet einfach im Aufenthaltsraum des Towers vergessen hatte. Später hatte es in seinem Zimmer gelegen und er hatte sich bereits gewundert, wie es dorthin gekommen war. Marco musste es also gefunden haben.
 

Bei jedem anderen wäre er aufgebracht gewesen, wenn man in seinen persönlichen Dingen schnüffelte, vor allem, wenn es sein Skizzenbuch betraf. Die darin enthaltenen Zeichnungen waren sehr persönlich und eigentlich nur für seine Augen bestimmt. Dieses Buch war gewissermaßen ein stiller Zeuge seines Lebensweges. Nicht einmal Lamy wusste davon. Doch Marco konnte er weder Arglist noch Vorsatz unterstellen, denn an seiner Stelle hätte er diese Gelegenheit vermutlich ebenso genutzt, um mehr über ihn zu erfahren.
 

»Ja, ich gebe zu, ich war neugierig«, lachte Marco leise, als er sah, dass Law begriff. »Dein Buch lag aufgeschlagen im Aufenthaltsraum. Eigentlich wollte ich es gestern nur ganz selbstlos in dein Zimmer zurückbringen, als du bei deiner Schwester warst, damit es niemand anders findet. Aber dann habe ich doch einen Blick hineingeworfen. Ich konnte nicht anders, deine Bilder sind unglaublich gut, Law. Seit wann zeichnest du schon?«, fragte er interessiert.
 

Law zuckte leicht mit den Schultern. »Das weiß ich gar nicht mehr so genau. Schon ziemlich lang. Ich habe als Kind bereits gern gezeichnet, um Dinge festzuhalten, die ich nicht vergessen wollte und später«, er betrachtete seine Finger, die auf dem Lenkrad lagen und den bedrohlichen, so endgültigen Schriftzug auf seinen Knöcheln, »gab mir das Zeichnen irgendwie das Gefühl, mit meinen Händen auch etwas erschaffen zu können. Im Gegensatz dazu, dass sie sonst eher zum Auslöschen und Zerstören taugten...«
 

Wann hatte er das letzte Mal so viel an einem Stück gesprochen? Hatte er überhaupt jemals jemanden so tief in seine Seele blicken lassen? Law schluckte und warf einen zögerlichen Blick zu Marco hinüber, der sein Gesicht und seine Reaktionen genauestens zu studieren und beobachten schien. Ihn beschlich ein eigenartiges Gefühl von Schutzlosigkeit, allerdings war da gleichzeitig auch eine seltsame Erleichterung, manche Dinge ausgesprochen zu wissen.
 

Zu Law grenzenloser Erleichterung vertiefte Marco dieses emotionale Thema aber nicht weiter, als wüsste er inzwischen sehr genau, wo Laws persönliche Grenzen lagen. »Naja, falls das mit dem Arzt nicht klappen sollte, kannst du sicherlich auch in diese Richtung etwas machen. Vielleicht Grafik- oder Mediendesign. Aber egal, für was du dich am Ende entscheidest«, Marcos Lippen kräuselten sich zu einem warmen, einladenden Lächeln, das Law unter die Haut ging, »sag mir Bescheid, falls du Unterstützung brauchst. Ich werde dir helfen, so gut ich kann.«
 

Die Straße endete abrupt nach der nächsten Biegung vor einem großen Sicherheitstor und bewahrte Law damit für den Moment vor einer Antwort. Er hatte gar nicht gemerkt, wie die Zeit verflogen war und sie damit inzwischen an ihrem Ziel angekommen - einem Klinikkomplex, der sich hinter einem eisernen, massiven Zaun vor ihnen erstreckte.



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