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Candidate for Friendschip

von

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„Gareas! Gareas, mach endlich die Tür auf!“

Es hämmerte weiter. Doch ob das Hämmern nur in seinem Kopf stattfand, oder er jemanden gegen die Tür zu seinem Wohnquartier schlagen hörte, wusste er nicht. Er hatte sich eingeschlossen, sobald sie von ihrer letzten Mission zurückgekehrt waren.

Ernest.

Wie lange war es jetzt her?

Gareas saß im Halbdunkel seines Quartiers. Er traute sich nicht, sich hinzulegen. Im Schlaf verfolgten ihn Albträume.

Wie er Ernest kennen lernte.

Seine Zurückhaltung, ja, schon wahnhafte Angst davor, jemanden zu berühren.

Gemeinsam in der Kantine verbrachte Mittagspausen.

Endlose Trainingseinheiten mit den Pro Ings.

Ernests Versuche, ihn an Meditation heranzuführen.

Seine Stimme, die durch das Cockpit Com zu ihm spricht.

Die fast völlig zerstörte Luhma Klein.

Teela Zain Elmes, die nur davon spricht, dass Luhma Klein einen neuen Piloten braucht.

Leena, die davoneilt.

In seine Albträume mischten sich Dinge, die so nicht passiert waren.

Statt Luhma Klein sah er seine eigene Göttin in dem Maul des Victim, sah sich selber bewusstlos im Cockpit.

Oder war es tot?

Wie es eigentlich hätte sein sollen?

Hätte Ernest nicht geahnt, was er vorhatte?

Gareas hatte es nie etwas ausgemacht, dass Ernest seine Gedanken lesen konnte. Dass sein Freund dies auch ohne körperlichen Kontakt fertig brachte, hatte er nicht gewusst.

Oder hatte er es nur verdrängt.

Das Hämmern gegen seine Tür hatte aufgehört. Leena hatte wohl eingesehen, dass er niemanden sehen mochte.

Gareas hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Wie lange seine letzte Mission wohl her war? Die erste Mission des neuen Piloten für Luhma Klein? Es erschien ihm wie Wochen, aber wahrscheinlicher war, dass es sich nur um Tage handelte.

Wieder waren sie von einem Schwarm Victim angegriffen worden, wieder hatten sie ewig nach dem Anführer der Meute suchen müssen. Dieses Mal hatte er den finalen Schlag gesetzt. So glaubte er jedenfalls, sich zu erinnern. Oder war es Teela gewesen?

Hatten ihre Vorgesetzten tatsächlich Pilotenanwärter in den Pro Ings in den Kampf geschickt? Gareas erschien es wie im Traum.

Gareas ließ den Kopf noch tiefer zwischen seine Knie sinken. Eine einzelne Träne tropfte herab.

„Ernest, warum hast du mich nur aufgehalten?“, murmelte er.

 

* * *

 

„Du Freak!“

Ernest hatte versucht, dem aus dem Weg zu gehen.

Erfolglos.

Wieder einmal.

Die anderen Jungen hatten ein Händchen dafür, ihn an kaum beachteten Örtlichkeiten aufzustöbern. Dieses Mal in der Bibliothek.

Ernest glaubte, dass Marc es ihnen gesagt hatte. Er war nirgends zu sehen, hatte ihn aber neulich beobachtet, wie er in die Bibliothek ging. Einer von zwei Lieblingsorten, die Ernest auf G.O.A. hatte.

„Lasst mich in Ruhe.“

„Wie? Hast du was gesagt?“

„Der Freak kann nichts sagen. Nur blubbern!“, meinte einer der anderen Jungen.

Sie lachten. Dann hob der, der vorneweg stand, die Faust.

Ernest sah es wie in Zeitlupe, obwohl er wusste, dass der Schlag viel schneller kam. Seine Sinne gaukelten ihm etwas vor. Das taten sie immer, wenn er in Streit geriet.

Er kippte einfach nach hinten weg, betäubt von dem Schmerz an seiner Wange und den Gedanken, die mit dem Schlag, der Berührung des anderen, einher gingen. Ernest konnte gar nichts dafür.

Seine früheste Erinnerung an seine Fähigkeit, die Gedanken anderer bei Berührung zu lesen, hatte er, als er ein kleines Kind war. Mutter, Vater, später sein kleiner Bruder Erts, dem es wie ihm ging.

Erst Jahre später hatte er herausgefunden, dass diese Fähigkeit nicht normal war. Dass sie seinen Eltern Angst machte. Dass sich sein Bruder genauso schwer damit tat, das Warum zu verstehen. Ernest hatte angefangen, körperlichen Kontakt zu vermeiden. Selbst zu seinem Bruder. Doch mit ihm hatte er sich wenigstens austauschen können über das, was ihn bewegte. Was seinen Bruder bewegte.

Der nächste Schlag.

Etwas Flüssiges rann an seiner Braue hinab auf die Wange.

„Glaubst du wirklich, dass das Tiffany beeindruckt?“, fragte er seinen Angreifer.

„Wie?“

Ernest schwieg. Was hatte er sich nur dabei gedacht, das Mädchen anzusprechen. Gerade so, als ob er noch mehr Prügel kassieren wollte. Der Schläger sah ihn an, prüfend. Gerade so, als überlegte er, ob er ihn noch mal schlagen sollte.

„HE, IHR!“

„Komm, lass uns lieber abhauen!“

Die Jungen verschwanden. Ernest lehnte immer noch an der Wand, umringt von den Büchern, die ihm einer seiner Angreifer aus den Händen geschlagen hatte.

„Ist alles okay bei dir?“, fragte jemand.

Er sah nach rechts.

„Die haben dich ordentlich erwischt.“

Dort stand ein Junge aus seiner Klasse, aber er konnte sich nicht an seinen Namen erinnern. Nur, dass er ganz hinten saß und ihm damit so gut wie nie auffiel. Ernest saß ganz vorne.

„Du blutest, komm, ich bring dich zum Arzt“, meinte der Junge und griff nach seinem Arm.

„Nein!“

Ernest wich schlagartig zurück. Nach den Schlägen konnte er es jetzt nicht ertragen, dass noch mehr fremde Gedanken in seinen Kopf eindrangen. Sein Retter ließ die Hand irritiert sinken.

„Warum haben die dich geschlagen?“, fragte er.

„Wegen nichts.“

Er legte den Kopf schief. In seinen Augen konnte Ernest sehen, dass er ihm nicht glaubte.

„Du bist Ernest, oder?“

Er nickte.

„Cool. Du hast die besten Noten bei uns in der Klasse. Zumindest heißt es das. Ich bin Gareas, Gareas Elidd.“

Der Junge hielt ihm seine Hand zur Begrüßung hin. Ernest ignorierte sie.

„Du magst wohl nicht angefasst werden.“

„Stimmt. Es ist nichts Persönliches.“

Gareas kratzte sich am Hinterkopf.

„Soll ich dich trotzdem zum Arzt begleiten?“

„Schon gut, ich komm alleine klar.“

Ernest sammelte seine Bücher ein und wandte sich dann ab, um die Bibliothek zu verlassen. Gareas folgte ihm. Draußen auf dem Gang ging er ebenfalls in Richtung des kleinen Krankenhauses auf der Station.

„Weißt du, du musst mir nicht folgen“, meinte Ernest nach einigen Schritten.

„Ich weiß. Ich komme aber trotzdem mit, nicht dass dir die anderen Idioten noch mal auflauern.“

Ernest seufzte.

„Meiner Meinung nach waren das genug Prügel für einen Tag.“

Gareas grinste und schlug seinem neuen Freund aufmunternd auf dem Rücken. Ernest stolperte fast, verkniff sich aber einen Kommentar und zusammen suchten sie das Krankenhaus auf.

 

* * *

 

„Kann ich was von deinem Reis haben?“

Gareas‘ Löffel tauchte in Ernests Sichtfeld auf.

„Du hast doch selber noch Reis auf deinem Teller.“

„Ich weiß, aber dir haben sie eine Portion gegeben, die besser angebraten ist.“

Ernest schaute ihn verblüfft an.

„Wollen wir tauschen? Mir ist es nicht so wichtig, wie angebraten der Reis ist ...“

Gareas‘ Gesicht hellte sich auf und er fing an, seine neue, etwas größere Portion in sich hineinzuschaufeln, nachdem sie ihre Teller getauscht hatten. Von den anderen Pilotanwärtern beachtete sie niemand.

„Wie mach‘ du da‘ eige’tlich?“

Ein Reiskorn fiel aus Gareas Mund. Ernest fragte sich, wie er an diesen Chaoten geraten konnte. Essen und Sprechen gleichzeitig, dass er sich dabei nicht auch noch verschluckte, weil er nebenher atmen musste, glich einem Wunder.

„Wie mache ich was?“

„Na, da‘ mi‘ dem G’dankenle’en?“

„Ich mache das nicht absichtlich, falls du das meinst ...“

Ernest aß einen Löffel. In der gleichen Zeit hatte Gareas seinen Löffel fünfmal neu beladen.

„Aber etwa‘ mu‘ doch de‘ Au’löser dafü‘ sein?“

„Die Berührung mit anderen Menschen. Das habe ich dir letztes Mal schon erklärt.“

„Au‘ du’ch Klei’ung du’ch?“

„Äh ...“

Ernest hatte nie drauf geachtet. Er hatte darauf geachtet, so wenige Personen wie möglich zu berühren. Nicht einmal bei seinem Bruder hatte er sich getraut, was zu manchen seltsamen Szenen geführt hatte, als er noch zuhause auf der Kolonie gelebt hatte.

Gareas hatte sein Mittagessen mittlerweile beendet. Der Teller war leer geputzt, dafür war eine stattliche Menge Reis auf seinem Tablett verteilt. Ernest hatte seinen Löffel sinken lassen. Er starrte Gareas auf die Brust, ohne Details zu sehen.

„Ich weiß nicht mehr“, meinte er schließlich. „Es ist schon so lange her, dass ich das letzte Mal Körperkontakt mit jemandem hatte, dass ich mich nicht mehr erinnern kann.“

Gareas sah ihn schief an.

„Dann sollten wir es ausprobieren.“

„Warum?“

„Na ganz einfach. Wenn du durch die Kleidung hindurch keine Gedanken aufschnappst, ist es doch ganz leicht. Du musst nur die ganze Zeit Handschuhe tragen.“

„Äh, Handschuhe?“

Ernest legte den Löffel auf seinen Teller. Ihm war der Appetit vergangen.

„Wie kommst du auf Handschuhe?“

„Wieso nicht? Es wäre doch die einfachste Lösung.“

„Nur auf den ersten Blick. Handschuhe sind furchtbar umständlich im täglichen Leben.“

„Warum?“

„Überleg doch mal, hast du schon mal mit Handschuhen an einer Tastatur geschrieben. Oder bist du schon mal mit welchen auf die Toilette gegangen?“

„Irgs.“

„Ja, genau. ‚Irgs‘. Ich müsste sie ja ständig aus- und wieder anziehen. Und Waschen obendrein.“

Ernest schob das Tablett etwas von sich.

„Wir sollten es vielleicht trotzdem ausprobieren.“

„Wir? Mein letzter Stand war, dass du nicht das Problem hast.“

„Deine Probleme sind meine Probleme, schon vergessen?“

Ernest schüttelte ungläubig den Kopf.

„Warum fängst du jetzt wieder damit an? Du weißt doch gar nicht, wie es ist, die Gedanken anderer zu lesen.“

Gareas sagte nichts. Stattdessen linste er zu ihren Tischnachbarn, die einige Stühle weiter saßen und sie interessiert anschauten. Ernest folgte einen Moment später seinem Blick.

Es war ein offenes Geheimnis, dass der Cuore Kadett über seltsame Fähigkeiten verfügte. Welche das genau waren, wusste niemand so recht. Ernest hatte es bisher sehr gut geheimhalten können.

Er stand auf, nahm sein Tablett und wandte sich Richtung Ausgang. Gareas kam ihm hinterher. Er schwieg. Sie gaben ihre Tablette zurück und verließen die Kantine. Erst, als sie einige Schritte gegangen waren, fing Gareas wieder an.

„Ich weiß, dass ich es nicht weiß. Oder so.“

Er verschränkte die Arme hinter seinem Kopf. Ernest hatte seine in seine Hosentaschen gebohrt.

„Ich überlege nur, was dir helfen könnte.“

„Weißt du, ich sehe meine Fähigkeit nicht unbedingt als Behinderung an. Ich bin damit aufgewachsen, kenne es nicht anders und habe erst Jahre später verstanden, dass ich einzigartig bin. Ich habe auch lange Zeit geglaubt, dass andere vielleicht ganz andere Spezialfähigkeiten haben.“

„Ah wirklich? Welche hab ich denn deiner Meinung nach?“

Ernest schwieg eine Weile und dachte über die Frage nach, die Gareas sicher nur gestellt hatte, um einen Witz über sich selber machen zu können. Um die Stimmung aufzulockern. Er machte das häufiger. Ernest blieb stehen.

„Deine Fähigkeit ist wohl, selbst in den ernstesten Themen noch einen Funken Humor zu finden.“

Gareas war ebenfalls stehen geblieben und hatte sich zu Ernest umgedreht. Sein Lächeln verschwand etwas.

„Findest du?“

Ernest nickte.

„Wow, danke für die ehrlichen Worte.“

Ernest stutzte.

„Ich hätte nicht gedacht, dass du mich so einschätzt?“

„Äh, das war keinesfalls negativ gemeint.“

„Ach? Nicht? Für mich hörte es sich so an, als würde ich gewisse Dinge nicht ernst genug nehmen.“

„Aber so meinte ich das gar nicht.“

Ernest war bestürzt. Wie hatte Gareas seine Aussage nur so falsch verstehen können? Jegliche gute Laune schien aus seinem Gesicht gewichen zu sein.

„Ich meinte das wirklich nicht negativ, das musst du mir glauben. Ehrlicherweise bin ich etwas neidisch, weil du scheinbar vieles auf die leichte Schulter nehmen kannst.“

„Ach so?“

„Ja. Ich meine, du weißt ja selber, in welcher Situation wir uns befinden.“

Gareas nickte.

„Ich schätze, es ist einfach meine Art, mit den Dingen ... diesem Krieg umzugehen. Eine Eigenschaft, die ich wohl von meiner Mutter geerbt habe, nach allem, was mir mein alter Herr immer erzählt hat.“

„Du hast noch nicht viel über deine Eltern erzählt“, meinte Ernest.

Er war froh, dass sich das Gespräch von seinem Stolperer wegbewegte. Vielleicht hatte Gareas in einer Stunde eh schon wieder vergessen, worüber sie sich unterhalten hatten. Das passierte gelegentlich. Und Ernest wollte keinesfalls, dass Gareas dachte, er würde für jemanden halten, der die Situation nicht ernst genug nahm.

„Da gibt es nicht viel zu erzählen. Mein Vater war Bauer, hat von früh morgens bis spät abends hart gearbeitet, um seinen Teil beizutragen. An meine Mutter kann ich mich nicht mehr erinnern. Vater sagte immer, sie sei an einer schweren Krankheit verstorben. Ab und zu kam mir in den Sinn, dass sie ihn eher verlassen hat. Er war ein harter Mann, der wenig Liebe übrig hatte. Jedenfalls für mich nicht ...“

„Das tut mir leid ...“

„Muss es nicht. Ich habe damit abgeschlossen, als ich hierher kam.“

Ernest zweifelte daran, sagte aber nichts.

„Also was ist? Wollen wir mal ausprobieren, wie gut deine Fähigkeit, meine Gedanken zu lesen, durch Handschuhe hindurch funktioniert?“

Gareas sagte es, legte den Arm um Ernest und schob ihn in Richtung der Quartiere. Wie er es einfach wirklich nicht ernst zu nehmen schien.

 

* * *

 

„Du sollst dich entspannen, hab ich gesagt.“

„Mach ich doch.“

„Ja, aber nicht so. Du hast ein total verbissenes Gesicht.“

Gareas grunzte. Ernest schüttelte den Kopf und stand auf. Er entfernte sich einige Schritte von der ausgebreiteten Picknickdecke, auf der sein Freund immer noch versuchte, sein Denken zu leeren. Ernest verschränkte die Arme, überlegte, nahm die Arme dann wieder herab. Wann hatte er schon mal verärgert die Arme verschränkt?

„Ich glaube, ich bin einfach zu blöd dazu.“

„Quatsch! Niemand ist zu blöd, Meditation zu lernen.“

Ernest hatte Gareas eingeladen, die freie Zeit mit ihm im Erholungsgarten von G.O.A. zu verbringen. Sein Freund hatte gar nicht gewusst, dass es eine solche Anlage auf der Station gab, und war begeistert umher gelaufen. Zum Glück waren sie zu dem Zeitpunkt allein im Garten.

„Ich verstehe nicht, wie das funktionieren soll mit dem ‘den Kopf frei kriegen’. Ich meine, ich denke dann ja die ganze Zeit daran, dass ich den Kopf frei kriegen will und denke dann ja doch wieder über etwas nach.“

Ernest grinste verschmitzt.

„Das Problem haben wohl alle Anfänger. Der leere Kopf kommt mit der Übung. Zumindest hat es bei meinem Bruder auch so funktioniert.“

„Bei Erts? Und euch hilft das, euch zu entspannen?“

„Ja. Und um Abstand zu gewinnen.“

„Abstand?“

„Ja. Von dem, was vor uns liegt ... und von anderen Menschen.“

Gareas sagte nichts dazu. Er hatte schnell gelernt, dass sein neuer Freund eigen war in manchen Belangen. Selbst zu der ihm zugeteilten Technikerin, Tune Youg, war er distanziert. Obwohl das Verhältnis zwischen Pilot und Technikerin in der Regel ein sehr Enges ist.

„Na ja, ich glaube, meditieren wird wohl nicht mein Hobby werden. Ich bin da eher aufbrausender Natur.“

„Eher aufbrausend klingt harmlos. Letzte Woche bist du handgreiflich geworden auf der Toilette.“

„Aber doch nur, weil die Arschlöcher dich sonst verprügelt hätten. Du kannst mir doch deswegen keine Vorwürfe machen“, meinte Gareas entrüstet.

„Du musst dich wegen mir nicht prügeln. Vor allem dann nicht, wenn du deswegen deinen Rauswurf riskierst. Hijikata hat dich eh schon auf der Abschussliste.“

„Eh, ich glaube ja, dass die es sich nicht leisten können, mich rauszuwerfen. Ich bin schließlich deren talentiertester Kadett.“

„Aber nur im praktischen Teil, in der Theorie bist du gerade mal Mittelmaß. Und bei zu vielen Reibereien in deiner Akte wird vielleicht ein anderer Kadett vorgezogen.“

„In meiner Akte, die scheinen ja genauestens Buch zu führen.“

Ernest seufzte. Er hatte das Thema schon mal mit Gareas durchgesprochen, aber er schien es einfach nicht ernst zu nehmen.

„Wie fandest du eigentlich das erste Training mit den Pro Ings?“, fragte Gareas.

„Äh, ungewohnt. Die Vorbereitungen und das Handbuch waren irgendwie keinerlei Hilfe.“

„Ja? Ich für meinen Teil hätte mich fast übergeben.“

Ernest nickte. Ihm war es ebenfalls so ergangen, er wollte sich vor Gareas aber keine Blöße geben. Ernest stemmte die Hände in die Hüfte.

Ich hatte den Rest des Abends Kopfweh, wenn ich ehrlich sein soll. Nicht mal Hinlegen hat geholfen, vom Meditieren ganz zu Schweigen.“

„Mhm. Hast du Philly gesehen? Er ist komplett durchgedreht, weil er dachte, die Gravitation wirkt nicht mehr und er hänge kopfüber.“

Gareas setzte sich nachdenklich auf die Picknickdecke.

„Irgendwie werden immer mehr von uns aussortiert. Entweder wegen zu schlechter Leistungen in der Theorie oder weil sie mit dem praktischen Teil nicht klar kommen. Manche, weil sie trotz einem strengen Trainingsprogramm körperlich nicht mithalten können.“

Ernest setzte sich zu ihm.

„Macht dir das zu schaffen?“

„Nein, eigentlich nicht.“

„‚Eigentlich‘?“

Gareas grummelte.

„Eigentlich sollte es mir nichts ausmachen. Ich habe eh kaum Kontakte geschlossen. Lediglich mit Leena bin ich enger befreundet. Und natürlich mit dir.“

Ernest warf einen Blick auf Gareas. Er konnte ja nicht ahnen, wie viel Ernest das Vertrauen bedeutete, das Gareas ihm entgegenbrachte, ihn sogar als Freund bezeichnete. Von einem Freund erwartete man nicht, dass er heimlich die Gedanken ließt. So, wie ihm das andere vorwarfen.

„Meditierst du wieder?“

„Häh? Wie? Oh, entschuldige, was hattest du zuletzt gesagt?“

„Ok, also wohl eher eingeschlafen. Ich meinte, müssten die nicht daran interessiert sein, so viele Piloten wie möglich zu bekommen?“

„Na ja aber es gibt doch nur fünf Ingrids. Und es kann sich immer nur ein Pilot mit einer Ingrid verbinden.“

„Die sollten lieber schauen, wie sie noch mehr Ingrids bauen können. Eine größere Streitmacht im Kampf gegen die Victims zu haben, wäre hilfreich. Vor allem, wenn mal eine ernsthaft beschädigt ist und nicht rechtzeitig repariert werden kann.“

Ernest schmunzelte.

„Was?“

„So taktisch denkend kenne ich dich gar nicht. Vorhin meintest du noch, du seist eher von der praktischen Natur.“

„Ach, wenn ich nichts zu tun habe, fangen meine Gedanken das Wandern an.“

„Hm.“

„Nachts ist es ganz besonders schlimm, wenn eigentlich Schlafenszeit ist und ich noch wach im Bett liege.“

„Dann solltest du es vielleicht doch noch mal mit Meditation versuchen. Vielleicht schaffst du’s bis zu dem Punkt, wo viele immer einschlafen.“

„Ey, jetzt machst du dich über mich lustig“, konterte Gareas gespielt ernst.

„Ein wenig. Aber dass manche während einer Übung einschlafen, kommt auch nicht so selten vor. Vor allem, wenn sie sich dafür auf den Boden legen.“

„Oh man, dann kann man sich ja gleich ins Bett legen.“

Gareas schüttelte ungläubig den Kopf.

„Willst du’s noch mal versuchen?“

„Was versuchen?“

„Na, mit der Meditation?“

„Ich weiß nich‘ ...“

„Ach komm ...“

Gareas sah seinen Freund zweifelnd an.

„Nur dieses eine Mal noch.“

Gareas seufzte.

„Na gut, aber nur, weil du mein Freund bist. Erzähl aber niemandem was davon. Vor allem nicht, wenn ich vor Müdigkeit einschlafe.“

„Mein Mund ist versiegelt.

Gareas legte sich auf die Decke, verschränkte die Hände unter dem Kopf und schloss die Augen.“

„Leg die Hände lieber an die Seite. Oder gefaltet auf den Bauch.“

„Ich seh schon ... Wahrscheinlich hyptonisierst du mich gleich und ich fange zu Schnarchen an.“

Gareas änderte seine Position noch mal.

„Quatsch! ... Also stell dir einfach vor, du liegst auf Zion auf einer Wiese und siehst Wolken am Himmel vorüberziehen ...“

„Sehr malerisch ...“

„Konzentrier dich!“

„Aye ...“

„Die Luft ist angenehm frisch, in der Nacht hat es geregnet und du riechst noch etwas Feuchtigkeit in der Luft ...“

„Du hättest Gedichteschreiber werden sollen ...“

„Sshht! ... Spüre deinen Körper, wie er auf dem Untergrund liegt ... spüre den Boden unter dir ...“

 

* * *

 

„ERNEST!! ERNEEEST!!!!“

Gareas war kaum zu bändigen, seit er Eeva Leenas Cockpit verlassen hatte. Es brauche zwei Sicherheitsleute und Rioroute, um ihn von Luhma Klein wegzuhalten. 

Dort befand sich eine Menschentraube. Rioroute und die anderen hatten die Ingrid, nachdem sie den Victim zunächst verjagt hatten, in Schlepp genommen und nach G.O.A. gebracht. Sie wies äußerlich Beschädigungen auf, die zwar schlimm aussahen, die aber von den Technikerinnen problemlos repariert werden konnten.

Dass Ernest den Kampf nicht überlebt hatte, hatte ihnen sein Biomonitor angezeigt, der nicht nur die Körperfunktionen des Piloten überwachte, sondern auch seine Gehirnströme. Irgendwann waren die Linien für Herzschlag und Gehirnaktivität nur noch gerade verlaufen.

Ab dem Zeitpunkt hatte Gareas nur noch funktioniert, nicht mehr gedacht oder gefühlt. Sein Körper hat die Bewegungen automatisch ausgeführt. Jetzt in der Bay kam der verdrängte Schock mit aller Wucht zurück.

Gareas kämpfte gegen die Sicherheitsleute und seinen Freund an. Boxte Rioroute sogar gegen die Brust, aber der ließ sich davon nicht beeindrucken. Irgendwann hatte jemand angefangen, von hinten an ihm zu ziehen. Rief seinen Namen dabei. Vermutlich Leena, die das Desaster live am Bildschirm miterlebt haben musste.

„Lasst mich zu ihm ...!“

Die Sicherheitsleute packten ihn fest an den Oberarmen. Sie waren einen Kopf größer als Gareas, und natürlich erwachsen. Wie sollte ein jugendlicher Pilot wie er gegen zwei Erwachsene ankommen? Er konnte ja noch nicht mal einen Victim besiegen, ohne dabei seine Mannschaft in Gefahr zu bringen.

Irgendwann war Yu hinzugekommen und zu viert schafften sie es, Gareas vom Schauplatz des Grauens weg zu bugsieren. Sie hatten ihn auf den Gang hinaus geschafft, Leena war ihnen gefolgt. Die anderen Technikerinnen kümmerten sich vermutlich gerade um Ernests Partnerin, Tune.

Auf dem Gang draußen hatte Gareas sich losgerissen und war in sein Quartier davon gestürmt. Tagelang war er nicht daraus hervorgekommen, hatte sich seine Mahlzeiten von Leena bringen lassen, die das Tablett nur vor die Tür stellte. 

Erst, als dieser Victim wieder auftauchte, der ihm Ernest genommen hatte, war er hervorgekommen. Um Rache zu nehmen, wie er sich einredete. Als der Victim besiegt war, hatte sich das Gefühl der Erleichterung nicht eingestellt.

Ernest war immer noch tot.

Natürlich war es gut, dass sie dem Victim den Garaus gemacht hatten und dass sie dieses Mal alle lebend zurückgekommen waren. Aber irgendwie hatte sich nichts verändert, obwohl die Welt um ihn herum sich weiterbewegt hatte. Ernests kleiner Bruder hatte Luhma Klein gesteuert.

Wie verkehrt die Welt war.

Gareas hatte Erts gar nicht in die Augen schauen können. Der Junge hatte nichts gesagt, seine Trauer war ihm nicht anzumerken.

Wie krank die Welt geworden war. Kinder, die in riesigen Robotern gegen interstellare Monster kämpften. Irgendwann war etwas in der menschlichen Entwicklung furchtbar schief gelaufen. Es machte alles keinen Sinn. Anders war es nicht zu erklären, warum Kinder diese Kämpfe führen musste und dabei starben.

„Ernest ...“

Eine einzelne Träne rann seine Wange hinab.
 

~ ENDE ~



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  ChiaraAyumi
2023-06-27T13:00:06+00:00 27.06.2023 15:00
Hey, sorry, dass ich solange gebraucht habe mit meinem Kommentar, hatte die ganze Zeit die Geschichte als Tab auf, aber irgendwie mich nie dran gesetzt und jetzt habe ich endlich Urlaub, also hier mein Kommentar ;)

Als ich die Geschichte geöffnet hatte, war ich schon den Tränen nah, als ich gesehen habe, dass du mir etwas zu Candidate for Goddess geschrieben hast. Dieser Anime war zwar nicht der erste, den ich je gesehen habe, aber der erste, der mich so begeistert hatte, dass ich mir den Anime, Manga und Soundtrack gekauft habe und genau wie du sehr enttäuscht war, dass es einfach abgebrochen worden ist, obwohl so viel Potenzial da war. Bis heute gucke ich alle paar Jahre den Anime und ärgere mich wieder darüber, dass ich gerne wissen würde, was das jetzt alles zu bedeuten hat.

Deswegen freue ich mich umso mehr, dann mal wieder was drüber zu lesen und gerade mit Gareas und Ernest Freundschaft hast du mich sehr happy gemacht, denn sie war einer meiner Lieblingsaspekte der Serie und ich hätte gerne mehr dazu gehabt und dank dir wurde mir mein Wunsch erfüllt, denn was soll ich sagen, diese Geschichte hier ist wirklich das perfekte Wichtelgeschenk. Du hast die beiden und ihre Beziehung wundervoll dargestellt und sie gut erweitert. Ich mochte auch, dass die Geschichte aus der Sicht von Gareas war, denn ein bisschen zu Ernests Sicht bekommt man ja in der dreizehnten Folge des Animes.

Was soll ich sagen außer die Geschichte ist perfekt. Vielen lieben Dank dafür, dass du dich für einen meiner Lieblingsanime entschieden hast, obwohl du sonst nicht so oft zu japanischen Serien schreibst! Ich bin dir unendlich dankbar für diese Geschichte <3


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