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Musik 4Y

Diese eine Person, die...
von

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Vielleicht doch Karma

Kapitel 2:
 

Abgesehen von der Rechtsvorlesung, war der Start meiner anderen Module deutlich unterhaltsamer gewesen. Zumal ich dort von anderen Architekturstudenten umgeben war und keine sadistischen Musiker um mich hatte.
 

Zwischen den Vorlesungen wanderte ich auf dem Gelände umher, ging in die Mensa oder saß in der angenehmen Aprilsonne. Ich musste die Tage ausnutzen, an denen schönes Wetter war. Die Wettervorhersage kündigte bereits erste Regengebiete an und ich hasste Regen.
 

Gerade suchte ich nach einer der wenigen und oft besetzten Bänke. Vielleicht gewöhnte ich mich daran im Gras zu sitzen, aber das war noch zu kalt. Oder ich brachte mir eine Decke mit. Doch wusste ich jetzt schon, dass mir das Tragen einer Decke zu lästig werden würde. Also… entweder eine Bank oder weitergehen.
 

Die Bänke vor mir, waren alle belegt. Zu meiner Rechten saßen zwei Typen in ihre Handys vertieft, zu meiner Linken, stand eine kleine Gruppe und unterhielt sich lautstark. Ich sah mich bereits nach einer anderen Bank um, als ich im Vorbeigehen angerempelt wurde. Einer aus der lautstarken Gruppe hatte sich gelöst und demonstrierte Gott wer weiß was. Mein Kaffee schwabbte über, da ich auf einen Plastikdeckel verzichtet hatte. Normalerweise brauchte man den auch nicht, wenn man nicht gerade Auto fuhr. Aber heute … Bedröppelt hielt ich meine Hand, welche in Kaffee getränkt war von mir weg und blickte den quirligen Übeltäter an. Er war etwa in meinem Alter, schlanke Statur, gestyltes kurzes, blondes Haar und sonst auch sehr individuell mit seiner Kleidung.
 

„Ah, sorry man, aber geh nicht einfach hinter mir vorbei“, sprach er und versuchte untröstlich auszusehen.
 

„Dann häng dir ein Warnschild um oder trag ein Glöckchen. Deine Gedanken kann keiner lesen.“ Ich schüttelte meine Hand ab und bedauerte keine Servietten oder Taschentücher dabei zu haben. Aber ablecken vor all den Leuten ging auch schlecht, also schütteln, als hätte ich was besonders Ekeliges angefasst. Mein Gegenüber starrte mich etwas sprachlos an, eher er in seine Tasche griff und mir ein Taschentuch reichte.
 

„Danke.“ Ich nahm den Becherrand zwischen die Zähne, viel war ja eh nicht mehr drin, und hatte beide Hände frei, um meine feuchte Hand zu trocken. Dabei achtete ich weder auf den Chaoten, noch auf die, die bei ihm saßen und ging meiner Wege. Schnell weg, ehe noch mehr passierte.
 

Ich kam nur zwei Schritte weit, als der Chaot sprach: „Der ist genauso spitzzüngig wie du, Tim.“
 

Ich kannte nur einen Timothy bisher. Es wäre ein Zufall ihn heute schon wieder zu begegnen, aber da stand ich nun, Becher im Mund und starrte halb über meine Schulter. Hoch amüsiertes Braun fixierte mich flüchtig. Wirklich jetzt?
 

„Oh, du hast ja keine Ahnung.“
 

„Chris, du solltest besser auf deine Umgebung achten“, meinte ein Mädchen neben Timothy. Chris, der Chaot, kratze sich nur am Kopf.
 

„Ja, ja, das sagt ihr mir dauernd. Auch der Tanzlehrer letztens. Warte, was meinst du damit?“
 

„Dann wird’s wohl stimmen“, meinte das Mädel. Die restliche Frage war an Timothy gerichtet gewesen, der sich bequemer hinsetzte und weniger breit grinste.
 

„Wir sind uns schon begegnet“, erklärte Timothy schlicht.
 

Ich steckte das Taschentuch in meine Hosentasche und griff nach dem Becher in meinen Mund. „Seine Eminenz wandelt unter dem gemeinen Volk? Schade, dass ich meine Einwegkamera nicht dabei habe. Das würde ich sicher teuer verkaufen können.“
 

„Sei nicht so förmlich. Ich habe dir das Du bereits angeboten, während du mir nicht mal deinen Namen verrätst.“
 

„Die Antwort darauf hast du doch schon bekommen.“
 

„Wie der Herr wünscht. Leute, das ist Omphalos. Er ist Architekturstudent, frisch auf der Uni.“
 

„Und woher kennt ihr euch?“, warf das Mädchen neben ihm ein.
 

„Wir sitzen in Recht zusammen.“
 

„Das war Zufall“, ergänzte ich.
 

„Ein angenehmer“, insistierte Timothy.
 

„Mitnichten“, konterte ich. Timothys Lippen kräuselten sich zu einem amüsierten Lächeln, während seine Augen ein Stück weit die Wärme verloren. Ich trank den letzten Schluck meines Kaffees und reichte den leeren Becher an Timothy.
 

„Halt mal.“ Ich zückte mein Handy und öffnete die Kamera. Auf Weitwinkel gestellt, passten alle Figuren auf das Foto, welche sich gerade um Timothy scharrten. „Perfekt. Na dann, viel Spaß euch noch.“
 

Ich steckte mein Handy weg und ging meines Weges.
 

„Bis morgen in der Vorlesung“, rief Timothy mir hinterher. Ich winkte nur, sah mich aber nicht um.
 

„Ich werde mich in die hinterste Ecke quetschen“, war meine Antwort.
 

Timothy hatte etwas an sich, dass mich faszinierte und zugleich auf die Palme brachte. Manchmal sprach er normal und fachlich. Dann änderte sich sein Blick, seine Haltung und sein Verhalten und er stürzte sich mit Worten auf einen, die wie Komplimente klangen, es aber nicht waren. Seine Stimme konnte süß sein, während seine Worte aus Messern bestanden oder anders rum. Wenn ich ihn mit einem Wort beschreiben müsste, wäre das wohl manipulativ. Ich gebe zu, zunächst hatte ich darüber nachgedacht mich vielleicht mit ihm anzufreunden. Die Tatsache, dass er Musiker war, bereitete mir zwar leichte Bauchschmerzen, aber hey, die Zeiten ändern sich. Vielleicht hätte ich ja Glück? Aber das war nach der zweiten Rechtsvorlesung letzte Woche passé gewesen.
 

Ich seufzte für mich und bemerkte erst viel später, dass ich meinen leeren Becher bei Timothy gelassen hatte. Ach, was soll’s.
 

Die Rechtsvorlesung war immer voll. Zunächst nahm ich an, dass ich um die Sitzplätze kämpfen musste, doch es schien, dass so ziemlicher jeder auf seinen Platz sitzen blieb. Es gab nur minimale Wechsel innerhalb einiger Reihen. Damit blieb mir nur mein schon reservierter Platz von der ersten Vorlesung. Neben den freien Platz direkt neben jenen in der Mitte der Mitte. Auch wenn ich mich gerne woanders hingesetzt hätte, so saßen Timothy und ich von nun an in jeder verdammten Vorlesung zusammen.
 

Es hatte witzige Aspekte. Wie etwa, dass mich der Vortrag des Dozenten so gar nicht interessierte und Timothy es vorzog Noten zu schreiben. Ich las hin und wieder was er schrieb. Wenn es um Musik ging, war er erstaunlich konzentriert und sachlich. Seine Konzentration war beeindruckend und ließ ihn etwas attraktiver werden.
 

Dem entgegen stellten sich alle Momente in denen Timothy keine Musik im Kopf hatte. Er war charmant, elegant, gewandt und konnte mit Wörtern und Gesten um sich werfen, sodass man tat was er wollte, ehe man begriff, was das eigentlich war. Ich fand heraus, dass er schon zwei Jahre an der Uni war und eine kleine Fangemeinde hatte. Musiker eben, dachte ich bei mir.

Timothy war sehr scharfsinnig. Es würde mich nicht überraschen, wenn er zu all seiner Smartness noch einen hohen IQ hätte. Auf ihn als einen der ersten Studenten unter all den Hunderten hier zu treffen, empfand ich als Karma. Ich wusste nur noch nicht, wofür ich bestraft wurde.
 

Jedenfalls reichten mir zwei zufällige Treffen und drei Vorlesungen aus, um Vorsicht walten zu lassen. Timothy hatte einen Blick drauf, der durch und durch ging. Als würde er direkt die Gedanken lesen oder bis in die Seele gucken. Das war nicht nur meine Meinung. Wie gesagt, war der werte Herr Musiker bekannt wie ein bunter Hund. Wenngleich er nicht viele Freunde zu haben schien, war er ein gern genommenes Gesprächsthema. Sogar bei meinen Kommilitonen, die länger als ich auf diese Uni gingen.
 

„Kann mir mal einer erklären, warum der so bekannt ist?“, fragte ich in der Mittagspause meine Kommilitonen. Fred und Marvin waren mir von allen Anderen am sympathischsten. Wir fingen an regelmäßig zusammen in die Mensa zu gehen. Insgeheim hatte ich die Hoffnung, dass ich noch mal ein Wunder wie mit Hannes hinbekommen könnte. Apropos Hannes. Der ging weiterhin auf meine alte Uni, wir blieben übers Handy in Kontakt.
 

„Den Wundermusiker? Weil er gute Musik macht, würde ich sagen“, antworte Marvin als Erster.
 

„Er hat sich in den letzten Aufführungen einen Namen gemacht. Und bei den Zwischenevents oder Themenabenden trifft er den Geschmack der Menge. Wann haben wir ihn spielen gesehen?“, fragte Fred Marvin. Der biss ein großes Stück von seinem Schokocroissant ab und antwortete mit vollem Mund.
 

„Das war auf dem Abschlussfest. Das, was vor der Exmatrikulation is‘.“
 

„Genau. Sie hatten eine kleine Bühne rangeschafft. Er hat wirklich Gespür für die Musik. Wenn aus ihm nichts wird, hat die Uni ihren Zweck verfehlt.“
 

Ich sah beide mit großen Augen an und verstand nur Bahnhof.
 

„Wie viele Feste feiert ihr denn hier?“, fragte ich verwirrt.
 

„Nicht viele“, meinte Marvin und schob sich das restliche Schokocroissant in den Mund. „Das Abschlussfest zum Ende des Sommersemesters ist das Größte und Aufwendigste. Alles andere sind nur kleinere Auftritte. Das machen aber alle.“
 

„Wie alle?“, hakte ich nach und ignorierte den leichten Anflug von Panik.
 

„Nur die Künstler“, erklärte Fred genauer. „Musiker, Tänzer, Maler. Da sie sehr praktisch arbeiten, bestehen ihre Hausarbeiten meist aus neuen Stücken, die sie komponieren oder choreografieren müssen. Die Pinseltuscher bekommen hier und da einen Raum in einem Gebäude zugeteilt und präsentieren ihre Bilder und andere Kunstwerke. Die Tänzer und Musiker haben kleinere Events alle paar Monate. Manche sind Themenbehaftet, manche vollkommen Freestyle.“
 

Ich sank etwas entspannter in meine Lehne zurück. Wie froh war ich doch ein so trockenes und unpraktisches Studium wie Architektur gewählt zu haben. Wäre Jura nicht so dröge, wäre das meine erste Wahl gewesen. Musik und Tanz … Ich sah auf meinen Salat und pikte einige Blätter missmutig auf.
 

„Zum Glück betrifft uns das nicht.“
 

„Find ich auch. Ich bin voll unmusikalisch“, scherzte Marvin.
 

„Stimme ich zu. Hast du den mal Karaoke singen hören? Grauenhaft!“, bemerkte Fred.
 

„Alter! Als wenn du eine Engelsstimme hättest, du Reibeisen.“
 

„Hehe“, schmunzelte ich. „Hab ihr denn schon eine Idee für unsere Ausstellung am Semesterende?“
 

„…“
 

„Wir nehmen dich mal mit zum Karaoke“, lenkte Fred ab.
 

„Nein, danke. Ich singe nicht“, antwortete ich resolut.
 

„Doch, doch, das ist Pflicht! Schiefer als wir singst du sicher nicht.“
 

Ich schielte von meinem Salat hoch und pflichtete ihm stumm bei. Schiefer würde ich sicher nicht singen…
 

„Und dann gehen wir zu einer der Musikaufführungen. Glaube zum 1. Juni ist die Erste.“
 

„Wir könnten auch einfach Bowlen gehen“, schlug ich vor.
 

Mein Vorschlag blieb ungehört. Ich seufzte innerlich und hinterfragte zum wiederholten Mal in diesen ersten zwei Wochen, meine Entscheidung auf diese Uni zu gehen. Was hatte ich mir auch dabei gedacht? Ich hätte schon stutzig werden sollen, als meine Mutter gegrinst und mein Vater ihr tadelnd in die Rippen gestupst hatte. Ich hätte auch stutzig werden sollen, als ich Sachen wie Musikproduzent, Post Production Engineer oder Game Sound Designer in der Broschüre gelesen hatte. Stattdessen hatte ich eine Pro-Kontra-Liste erstellt und die Unis verglichen. Meine Schwerpunkte waren die Entfernung zu meinen Eltern, der finanzielle Aspekt, die Wohnmöglichkeiten und die Dauer des Masters. Konnte ich dann von Karma sprechen, wenn ich wissentlich auf eine Uni mit einem Musikstudiengang wechselte?
 

Ich sah auf die große Standuhr in einem der Wasserspiele für Kinder. Marvin und Fred hätten vor zehn Minuten hier sein sollen. Sie wollten mir die Stadt zeigen und natürlich diese Karaokebar. Nach fünf weiteren Minuten klingelte mein Handy.
 

<Hi Mikael. Sorry, ich hab‘ Fred noch zur Werkstatt begleitet. Seine Schwalbe wollte nicht so richtig und jetzt hängen wir hier fest. <
 

„…“
 

„Was ist denn kaputt?“
 

<Frag mich nicht. Auspuff, Vergaser, Zündkerze? Keine Ahnung. Bin ich Mechaniker? <
 

Ich atmete tief ein und aus, verdrehte dabei meine Augen und ließ meinen Kopf soweit ich konnte nach hinten fallen. Der Himmel war klar und strahlend Blau.
 

„Schon ok. Ich hab‘ da hinten einen Crêpestand gesehen. Den Rest holen wir ´n anderen Tag nach.“
 

Marvin entschuldigte sich noch mal am Telefon und im Hintergrund hörte ich Fred einmal fluchen, ehe er auflegte. Morgen würde ich sicher genauer erfahren, was der Schwalbe alles fehlte und wie teuer das alles war. Schwalbe, hm? Ich schmunzelte, das Handy noch in der Hand, nahm ich meinen Kopf langsam wieder nach vorne. Wahrlich eine Schwalbe dieser Tag.
 

„Was sehen meine trüben Augen? Ein Knirps allein auf der Straße.“
 

Mein amüsiertes Grinsen über meine Gedanken verflüchtigte sich augenblicklich und verwandelte sich in einen genervten Blick.

„Eure Eminenz. Verlaufen? Ganz ohne Bodyguards?“
 

In der letzten Vorlesung hatte Timothy unseren Größenunterschied zu einem neuen Thema erkoren, um mich wahnsinnig zu machen.
 

„Nicht doch. Aber charmant, dass du fragst“, wiegelte er ab und trat vor mich. „Das du dich an einen Ort deiner Größe befindest, hätte ich mir eigentlich denken können. Brauchst du ein Handtuch oder eine trockene Hose?“
 

„Wird dein Hirn überhaupt ausreichend mit Sauerstoff versorgt, so hoch oben wie du deine Nase hälst? Du gibst nur Müll von dir.“
 

Ich verschränkte meine Arme, stellte mich vor ihn hin und sah hinauf. Timothy stand lässig vor mir, den Kopf geneigt. Seine lockere Baggie mit einer Kette behangen, sein Tanktop von einem karierten, halb offenen Hemd bedeckt. Er sah, wie sonst auch, gut aus. Das änderte leider nichts an der Tatsache, dass uns Achtzehn wunderbare Zentimeter Körpergröße trennten. Achtzehn! Ich könnte kotzen. Für gewöhnlich machte ich mir nichts aus meiner Größe. Nur der Spargeltarzan vor mir verstand es vorzüglich kleine Dinge hervorzuheben. Er kroch in die Gedanken und ich hörte seinen Hohn, selbst wenn er gerade nichts sprach.
 

Nach einem Moment des Anstarrens seufzte ich laut-vernehmlich und löste den Blickkontakt. Sollte er diese Runde ruhig gewinnen.
 

„Was machst du hier?“, fragte ich einvernehmlicher und erstaunlicherweise bekam ich eine ebenso normale Antwort.
 

„Ich wurde versetzt.“
 

Meine Augenbraue hob sich sofort. „Also doch ohne Bodyguard. Oder einer deiner Fans?“
 

Timothy verdrehte seine Augen. Es war ungeübt, weil er die Augen nicht rollte, sondern nur nach oben und unten bewegte. Ein Detail das ihn weniger perfekt machte, darum behielt ich es für mich.
 

„Meine Schwester. Und du?“
 

„Hab keine Schwester.“
 

Timothy sah mich eindringlicher an, beinahe warnend. „Ich meine, warum du hier bist.“
 

„Zwei Kommilitonen wollten mir die Stadt zeigen, aber sie hängen in der Werkstatt fest. Eine Schwalbe“, sagte ich, meinen internen Wortwitz sofort bereuend. Ich sah ins Braun, weil ich irgendeinen spitzen Konter erwartete. Stattdessen hatte ich das flüchtige Zupfen eines Lächelns erhascht. Schnell sah ich zur Uhr und schluckte trocken. Er war zwar pfiffig, aber er konnte nicht wirklich diesen Flachwitz verstanden haben, oder doch?
 

„Dann hast du folglich jetzt frei und nichts zu tun?“
 

„Sieht so aus.“
 

„Magst du mich dann begleiten?“, fragte Timothy charmant.
 

„Huh? Warum sollte ich dich begleiten?“
 

„Weil du die Stadt sehen wolltest und ich einen Tisch in einem Café reserviert habe. Sein kein Frosch. Komm mit.“ Seine Stimme war einlullend, seine Worte weniger. Fast hätte ich sogar „Ja“ gesagt, konnte es mir dank des Frosches verkneifen.
 

„Ich bin kein Frosch“, kommentierte ich, folgte Timothy trotzdem.
 

„Das stimmt. Die sind klein, grün und schleimig. Du bist nur klein.“
 

Meine Hand zuckte noch ehe er anfangen konnte zu lachen und boxte ihn in den Oberarm.
 

„Au… Klein und angriffslustig. Vielleicht eher eine Gottesanbeterin?“
 

„Ich geb‘ dir gleich einen Grund zu beten! Schluss jetzt“, sagte ich bestimmend und steckte beide Hände in meine Hosentasche. „Mit dir kann man einfach kein normales Gespräch führen.“
 

Timothy schwieg. Merkwürdig, aber nicht unangenehm und es stimmte, dass ich Zeit hatte. Wenn er so unbedingt wollte, erlaubte ich ihm mir die Stadt zu zeigen. Wir gingen durch die breite Einkaufsmeile, über den weiten und momentan leeren Marktbereich und bogen in eine kleinere Straße ein. Sie war zwar schmaler, aber genauso belebt wie die Haupteinkaufsstraße. Das Café war klein und niedlich. Es strahlte französischen Charme aus. Timothy zog einen Stuhl zurück und bot ihn mir an. Ich setzte mich ohne nachzudenken. „Reserviert“ war sicher auch nur ein Wortspiel gewesen.
 

„Wie findest du es?“, fragte Timothy.
 

„Nett. Es wirkt ruhig.“ Ein bisschen das Gegenteil von Timothys Outfit, doch passend zu seinem Charakter, dachte ich.
 

„Stimmt.“
 

Als die Bedienung kam, bestellten wir. Ich hätte mir auch die Stadt allein ansehen können, aber in Gesellschaft war es doch angenehmer. Zudem war mir heute nach Gesellschaft zu mute. Selbst wenn es jemand wie Timothy sein musste, der dauernd einen Grund zum Stänkern fand.
 

„Timothy“, begann ich und wurde doch jäh unterbrochen.
 

„Sag ruhig Tim.“
 

Ich musterte ihn etwas abschätzig, aber am besten dachte ich mir nicht zu viel dabei. “Gut, Tim… eh…“, ich hatte vergessen was ich sagen wollte, aber wo er gerade den Namen erwähnte, „Musstest du mich mit diesen Namen vorstellen? Letztens kam mir dieser Chris entgegen und hat mich lauthals Omph genannt. Meine Freunde dachten, er meinte die Band.“
 

Timothy lachte vergnüglich und behielt ein amüsiertes Schmunzeln im Gesicht. Seine Mimik wirkte gleich heller und das dunkelbraun kam aus den Schatten heraus.
 

„Du hast gesagt, nenn mich wie du magst. Ich bin nur deinen Anweisungen gefolgt“, erklärte er amüsiert. „Außerdem hast du den Namen zuerst benutzt.“
 

Ja, immer rein in die Wunde! Ich war ja selber schuld, das stimmte schon. Was musste ich auch einen Namenvorschlag für ein unfertiges Lied abgeben. Hätte das jemand bei mir versucht, wäre mir die Hutschnur hochgegangen.
 

„Aber doch nur als Name für das Lied… ahhh, vergiss das wieder, bitte. Ich wollte mich da nicht einmischen.“
 

Timothy lehnte sich nach vorne und fixierte mich mit seinen amüsierten Augen. „Schon ok. Der Name passt.“
 

„Echt?“, entkam es mir, die kleine Freude, welche ich dabei empfand, ignorierend. Timothys Lächeln vertiefte sich indes.
 

„Hmhm. Ich gebe zu, es weicht von der sonstigen Art ab, wie ich meine Titel benenne, aber in dieser Hinsicht passt es gut. Allerdings bin ich immer noch überrascht, dass ein angehender Architekt so gut Notenlesen kann. Wie lange hast du denn Musikunterricht gehabt?“
 

Musikunterricht… Ich schmunzelte etwas bei dem Wort, eh mir die Frage aufging und ich ernsthaft überlegen musste, wann genau ich mit Musik angefangen hatte. Meine Finger als Rechenhilfe nutzend, versuchte ich meine jungen Jahre in meinem Hirn zusammenzukratzen.
 

„Also Musik per se mit vier glaube ich. Ein Instrument mit fünfeinhalb.“
 

Timothy pfiff anerkennend. „Beachtlich und wie lange etwa?“
 

Bei der Frage wurde mir unwohl. Ich hielt nach der Bedienung Ausschau, aber es kam niemand. Typisch…
 

„Bis ich fünfzehn war.“
 

„Das ist ziemlich lange. Warum hast du aufgehört?“
 

„Interessenwechsel“, meinte ich Schulterzuckend. Timothy brummte vernehmlich und endlich kam unsere Bestellung.
 

„Welche Instrumente kannst du spielen?“
 

„Die Standards, also Klavier und Gitarre. Danke“, meinte ich zur Bedienung.
 

„Mhmm. Es gibt hier auch eine Karaokebar“, sagte mein Gegenüber entspannt. Ich verdrehte ungewollt die Augen.
 

„Nicht du auch noch…“
 

„…?“
 

„Was ist das hier nur mit Karaoke? Gut, bei dir macht es Sinn, aber meine Kommilitonen?“
 

„Das liegt sicher an den Events und das diese spezielle Karaokebar als einzige unsere Tapes abspielt. Du weißt doch… eigentlich ist alles verboten, was promoten könnte.“
 

„Und deine kleinen Fans finden das toll und gehen hin, um deine Songs nachzusingen?“, fragte ich leicht stichelnd.
 

„Nicht ganz. Aber wir machen ihnen Lust auf Musik.“
 

Ich nippte an meinem Kaffee. Die Erklärung war so einfach und logisch, dass ich nicht darauf gekommen war. Ich hatte angenommen, dass Timothy wie die meisten ambitionierten Musiker, sich im Geschrei seiner Fans suhlte und den Boden zur Realität verlor. Je mehr ich über ihn erfuhr, desto unwohler wurde mir. Timothy war nicht nur schlau und gutaussehend, sondern auch bodenständig. Ich hasste ihn sofort dafür. Das war natürlich nicht ganz fair. Ich konnte ihn und mich schlecht vergleichen. Die Zeiten waren ganz andere und die Umstände erst recht. Trotzdem wurmte es mich. Ich war schon immer schnell neidisch auf andere. Vor allem wenn sie Dinge besser und smarter machten, als ich. Dabei hatte ich keinen Grund mich klein oder fehlerhaft zu fühlen. Ich lebte jetzt mein Leben wie ich es wollte und genoss das Studentenleben in vollen Zügen. Ich würde in einigen Jahren Architekt sein und weit, weit wegziehen. Da konnte es mir herzlich egal sein, was die Leute auf meinen Weg dahin machten oder taten. Timothy war ein guter Musiker. Vielleicht würde er erfolgreich werden und ich könnte ihn später im Radio hören. War doch eine schöne Vorstellung.
 

„Mikael?“
 

„Hm? Entschuldige, was hast du gesagt?“, fragte ich, weil ich ihm gar nicht zugehört hatte.
 

„Ich würde gerne wissen, warum du Namen sammelst.“
 

„Warum interessiert dich das?“, fragte ich, doch er zuckte nur mit den Schultern. „Ist doch egal, ob mich die Leute beim Geburtsnamen nennen oder mir einen Spitznamen geben. Meistens endet es sowieso in einen Spitznamen, da können sie doch gleich damit anfangen“, erklärte ich schulterzuckend.
 

„Dann bist du mit Omphalos zufrieden?“
 

Ich verzog nur missmutig mein Gesicht. Ich hatte gar nicht so viele andere Namen. Man wurde ja doch irgendwie immer mit dem eigenen Namen vorgestellt und in Geschäftskreisen waren Spitznamen nicht üblich.
 

„Ha ha, dachte ich mir. Dann nenne ich dich Mik, ok?“
 

Ich seufzte schwer und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ja, ist ok.“ Ich hielt einen Moment inne, dann sah ich ihn direkt und ohne blinzeln an. „Und wann habe ich dir meinen Namen verraten?“
 

Timothys Grinsen wurde eine Spur breiter und etwas Unseliges flackerte in dem dunklen Braun auf. „Hast du nicht. Aber ich weiß gerne, mit wem ich mich unterhalte.“
 

Wahrscheinlich war er im Sekretariat oder hatte Freunde, die dort jobbten. Irgendwie war er an meinen Namen gekommen und es bereitete mir eine Gänsehaut nicht zu wissen, was er noch alles erfahren haben könnte.
 

„Mikael ist ein schöner Name. Del Portas eher ungewöhnlich in der Gegend. Von wo kommst du?“, fragte Timothy weiter.
 

„Warum fragst du, wenn du es schon weißt?“, antwortete ich streng und spitz.
 

„Weil ich es nicht weiß. Ich habe mir nur deinen Namen geben lassen. Was einen Menschen ausmacht, seine Hobbies und Interessen erfrage ich lieber persönlich.“
 

Einen Moment beobachtete ich ihn noch, ehe ich meine Anspannung fallen ließ. Er war zwar nervig, aber ich bezweifelte, dass er log. Entspannter nahm ich meinen Kaffee und war froh, dass die Tasse noch warm war.
 

„Nun, in den Fall, erzähl auch was über dich. Quid pro quo.“
 

„Von mir aus“, meinte Timothy, platzierte beide Ellenbogen auf den Tisch und verhakte seine Finger ineinander. „Was möchtest du wissen?“
 

„Nun, alles was du bereits von mir weißt“, sagte ich testhalber.
 

„Nun gut. Ich heiße Timothy Ashline, bin Musikstudent und wohne hier auf dem Gelände. Meinen ersten Musikunterricht hatte ich mit fünfzehn. Gesangsunterricht mit siebzehn. Ich spiele Gitarre, Bass und etwas Keyboard, aber nicht sehr gut.“
 

„Warum? Liegen dir Tasteninstrumente nicht?“
 

„Genau. Ich bekomme die Koordination mit beiden Händen in schweren Stücken nicht hin.“ Sieh einer an, dachte ich amüsiert. Es machte Timothy sympathischer, wenn er etwas nicht perfekt konnte.
 

„Deine Lieder schreibst du alle selbst? Hast du das alleine gelernt?“
 

„Ja und zur Hälfte. Meine Gesangslehrerin brachte mir die Grundzüge bei, den Rest habe ich mir erarbeitet.“
 

Ich nickte und lächelte automatisch als Zeichen, dass ich zugehört hatte. Wenn ich ihm länger zuhörte, neidete ich ihm wirklich noch. Das zuzugeben war gedanklich schon schwer genug, selbst wenn ich es deutlich fühlte. Wie ein unzufriedenes Gewürm in meinem Gedärm, dass sich wand und wand und keine Ruhe geben wollte.
 

„Ich bin gespan- ähm Mik, deine Nase“, sagte Timothy und riss mich aus meinen Gedanken. Verwirrt sah ich ihn an und hob einen Finger zu meiner Nase. Ich fühlte etwas laufen. Noch ehe ich sah, was es war, wusste ich es bereits. Nasenbluten. Das auch noch…
 

„Ah, danke, ich mein, ´tschuldige, das wollte ich nicht.“ Schnell griff ich nach einer Serviette und hielt sie an meine Nase. Es war nichts Wildes und nach nicht mal einer Minute war alles vorbei und vergessen. Ich steckte das Tuch in meine Hosentasche und tastete noch mal meine Nase ab, ob alles trockenes Blut weg war.
 

„Passiert das öfter?“, fragte Timothy leicht besorgt.
 

„Nein“, schüttelte ich den Kopf. „Das ist nichts Schlimmes. Jedenfalls bin ich nicht krank oder sonst was“, stellte ich klar.
 

Zumindest nicht krank im Schwerkranken-Sinn. Seit eigentlich schon immer, war diese Art von Nasenbluten das Zeichen meines Körpers, dass eine Erkältung nahte. Dank dieses Warnzeichens konnte ich mich gut auf das Bevorstehende vorbereiten.
 

Timothy behielt mich im Auge, das spürte ich. Erst als ich direkt zurücksah, wandte er seinen Blick ab. Schmunzelnd stützte ich meinen Kopf ab.
 

„Was hattest du sagen wollen?“
 

„Ich wollte sagen, dass ich gespannt bin, was du zu meinen Liedern sagst, wenn du sie gehört hast.“
 

„Warum glaubst du, dass ich sie noch nicht gehört habe?“
 

„Einfach. Dann würdest du mir schon lange verfallen sein.“
 

Ich lachte los, weil Timothy es mit solch ernster Überzeugung gesprochen hatte. Sein Ernst?! Nie!
 

„Gott bist du selbstverliebt“, gab ich lachend zu.
 

„Können hat nichts mit Überschätzung zu tun“, mahnte er. „Wir werden sehen. Vielleicht sollten wir doch zum Karaoke gehen.“
 

Ich verschluckte mich prompt an etwas Spucke. Ernst sah ich ihn an. Das Lachen war mir vergangen. „Ich singe nicht.“
 

„Ohhh~ Wirklich nicht?“, stichelte er nach.
 

„Wirklich nicht“, erwiderte ich ernst.
 

Eben war ich mir noch sicher, dass Timothy nichts weiter als meinen Namen in Erfahrung gebracht hatte. Jetzt zog sich mein Magen schmerzlich zusammen, weil ich nicht ausmachen konnte, ob er mich nur aufzog oder tatsächlich etwas wusste.

Diesen Tag jedoch, war das Glück mir Hold. Es blieb bei dem Kaffee und dem Gespräch. Wir gaben beide nicht viel Preis, was wiederum eine Menge über meinem Gegenüber aussagte. Es war spannend Timothy zu beobachten und seine Gedanken zu erraten. Nun ja, ein bisschen Übung brauchte ich da noch. Was diese Art der Interaktion anging, schien er mir erfahrener zu sein. Dabei war er ein Jahr jünger als ich…
 

In der letzten Rechtsvorlesung der Woche triezte Timothy mich kaum. Vielleicht auch nur, weil ich kaum drauf ansprang. Ich spürte die Erkältung schon, fühlte mich müde und unkonzentriert. Ich bekam in seinem Beisein noch einmal Nasenbluten. Das lag wirklich nur daran, dass meine Kapitalen in der Nase super sensibel waren. Wenn ich zu doll schnaubte, lief es, wenn ich eine heftige Ohrfeige bekam, lief es, und wenn mein Immunsystem runter war, lief es. Nichts von Bedeutung, das beteuerte ich ihm. Doch nachdem ich seine runter gezogenen Augenbrauen gesehen hatte, beschloss ich, nur noch durch den Mund zu atmen.
 

Pünktlich zum Wochenende hin, lag ich flach.



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