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Musik 4Y

Diese eine Person, die...
von

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Das Übertragen eines Glimmens

Kapitel 4:
 

Ich hatte mit mir selbst gewettet.
 

Der Chatverlauf mit Timothy war noch leer gewesen, als ich mich gefragt hatte, ob er zuerst schreiben würde oder ich es vor Neugierde nicht mehr aushalten könnte. Wirklich neugierig war ich natürlich nicht! Iwo, wer denkt denn so was… Ich dachte mir, wenn er zuerst schreibt, hätte ich mir bewiesen, dass das Thema Musik mich nicht interessiert und dass ich damit ein gutes Stück vorangekommen wäre. Das loszulassen was man liebte und was einem eine gewisse Zeit ausgemacht hat, war eben nicht leicht.
 

Würde ich zuerst schreiben, so wäre das der Beweis, dass ich mich kein Stück weiterentwickelt hätte. Das wäre wirklich deprimierend.
 

Überraschenderweise, gewann ich die Wette mit mir selbst zum Positiven hin, während der Grund der ersten Nachricht ein anderer war als angenommen. Timothy wollte meine Meinung zu einem Musikstück, aber nicht zu Omphalos.
 

Ich hatte von mehreren Stellen gehört, dass es vermehrt Aufführungen über das Jahr verteilt gab. Am ersten Juni konnte ich es selbst erleben. Das war in etwas mehr als einem Monat, weshalb ich aufgab mir ein solches Event vorzustellen. Ich war schließlich nur Architekturstudent, da konnte ich mich einfach überraschen lassen.
 

Wahrscheinlich lag es daran, dass die Aufführung nahte, sodass Timothy keine Zeit fand Omphalos zu beenden. Sollte ich mich dann geehrt fühlen, dass er mich wegen seines Projektes fragte? Nachdem er bei mir ungefragt geklingelt hatte, hatten wir uns nur im Rechtseminar gesehen. Wir stritten rum und irgendwie empfand ich es mittlerweile als ziemlich normal. Vielleicht war ich deswegen so verwirrt und starrte seit mehreren Minuten auf das Display meines Handys.
 

T: >Hast du heute Nachmittag Zeit? < 6:52

M: >Ab drei, ja < 7:34

T: >Komm zum Probenraum 3. Eingang ist hinten. < 7:35

M: >Bist du fertig? < 7:35

T: >Nein. Geht um ein Gruppenstück. Irgendwas passt nicht < 7:35

M: >Was soll ich da helfen? < 7:35

T: >Meinung eines Außenstehenden < 7:40
 

Unsere Nachrichten waren kurz. Kein Rumgeplänkel, kein Stänkern, keine Hintergrundinformationen. Ich sah mir die Uhrzeiten noch mal an. Ob er überlegt hatte, was er als Grund hinschreiben sollte? Die Meinung eines Außenstehenden konnte helfen. Aber waren hier nicht angehende Profis am Werk? Ich bezweifelte stark, dass das der einzige Grund war und es missfiel mir anzunehmen, dass Timothy mich wegen meiner früheren musikalischen Kenntnisse hinbestellte. Aber das würde ich wohl erst rausbekommen, wenn ich ihm gegenüberstand. Anhand der Nachrichten ging das nicht.
 

Ich sah wieder nach vorne und starrte auf die Skizzenzeichnungen von Brücken, welche an die Wand projiziert wurden. Brücken verbanden Dinge, Orte, Menschen, Noten. Für einen Architekten war es von Bedeutung sie stabil und monumental zu gestalten. Ob nun imposant wie die alten Aquädukte oder stylisch und modern wie die Millennium Bridge in London. Es gab noch schönere, aber das waren die angezeigten Beispiele. Ich stütze mein Kinn ab und lauschte den Worten des Professors.
 

Als Musiker schrieb man einen Text zu dem was man sagen wollte. Wünsche, Hoffnungen, Schmerz, Kummer, Glück. Egal, um welches Thema es sich handelte, der Text sollte in klaren Bildern verdeutlichen, was im Künstler vor ging. Das konnte ganz offen oder versteckt geschehen. Die Melodie übermittelte die Gefühle zu den Worten, offenbarte die Ironie, die Falschheit oder Reinheit. Sie verschachtelte alles und stellte die Brücke dar, die den Sänger mit dem Zuhörer verband. Meiner Meinung nach gab es nichts Besseres als diesen Moment. Wenn die Zuhörer wirklich verstanden, was man mit diesem Lied ausdrücken wollte. Zugegeben, es konnte peinlich sein, aber die Fans waren wie ein Stützpfeiler. Egal wie unangenehm das Thema war, die blieben standhaft und nahmen es an.
 

Ich hasste Timothy. Da war ich mir nun sicher. Als Mensch war er vielleicht ganz okay, wenngleich seine Art schrecklich sein konnte. Aber für mich brachte er zu vieles mit, was ich nicht mehr wollte. Musik, Noten, Melodien… Ich hätte nein sagen sollen. Von Anfang an, im ersten Seminar, bei mir an der Haustür, über den Chat. Ein schlichtes „Nein“ und ich würde jetzt nicht vor einer metallischen Tür zu einem der vielen Probenräume stehen. Ich hörte den Bass bis hier und spürte wie mein Puls schneller wurde.
 

Fuck… aber mit etwas abzuschließen hieß auch, damit auszukommen und nicht mehr in die Ekstase zu verfallen, welche man zu vergessen versuchte. Wenn ich das hier überstand, brachte es mich weiter. Ich wäre dann sicher einen Schritt näher dran meine Gefühle von damals fallen zu lassen. Ich wollte es so gerne. Doch allein die Türklinke zu betätigen und einen Schritt in den muffigen Flur zu tun, welcher vollgestellt war mit Kabeln, Mikroständern, Koffern, Boxen und was noch alles, den Geruch nach Gummi, Staub und Technik einzuatmen, brachte mir die Galle hoch. Für einen Moment blieb ich in der offenen Tür stehen und harrte aus. Die Erinnerungen an jene Zeit waren nicht alle schlecht, aber sie überschatteten die Guten bei weitem. Den Spaß, den ich mal gehabt hatte, die Freude, welche ich empfunden hatte, wurde erstickt von dem beklemmenden Gefühl Leistung bringen zu müssen, gefangen zu sein zwischen dem was man wollte und dem was man sollte. Schlussendlich war es nur noch eine graue Masse geworden, welche nach Kabelgummi und Instrumentenpolitur roch. Erstickend, beklemmend, einengend.
 

Ich sah nach unten und schluckte schwer. Mein Puls immer noch oben und meine Beine schwer und weich. Ich biss meine Zähne zusammen, dann griff ich in meine Tasche und holte mein Wasser raus. Die sprudelnde Flüssigkeit tat wahre Wunder. Ich schluckte den Kloß in meinem Hals einfach runter. Deutlich freier um die Brust rum sah ich auf und scannte meine Umgebung. Es sah aus wie überall, aber das musste nichts heißen. Die Musik war anders. Der Bass unregelmäßig. Phrasen wurden wiederholt. Auf diese Art übte keine Band. Das klang eher nach Tänzern.
 

Mein Wasser verstaut, ging ich den Flur entlang. Die schwere Tür knallte irgendwann ins Schloss und ließ mich zucken. Ein bisschen gefangen fühlte ich mich trotzdem noch. Zumindest bis ich den Probenraum betrat.
 

Ich kannte Tanzstudios mit ihren langen Spiegelwänden oder als einen provisorischen Raum, welcher einfach zum Tanzen genutzt wurde, aber eher einem Gymnastikraum glich. Dieser hier war eine Mischung aus beidem. Es gab viel Platz, eine kleine Spiegelwand, Oberlichter zur Belüftung und etwas Licht. Eine Ecke mit Bandequipment, eine andere mit Sitzsäcken, einer Couch und einem Minikühlschrank.
 

Die Tanzgruppe, aus fünf Leuten bestehend, schwitzte bereits. Der Schlagzeuger und der Bassist, welche scheinbar Grob die Melodie wiedergaben, schienen genervt. Eine ziemlich attraktive Tänzerin, welche mehr verzweifelt als geschafft aussah, gab Anweisungen an die anderen Tänzer. Ich ahnte, dass es vielleicht das war, worum Timothy mich bitten wollte. Etwas stimmte mit ihrem Zusammenspiel nicht. Verzwickt und wenn man zu nah dran war, fand man den Fehler nicht. Eine Pause wäre gut, aber mit dem nahen Auftritt im Nacken, würde hier wohl keiner an eine Pause denken.
 

Ich löste meinen Blick von den Tänzern und sah auf die einzige Person, welche den Luxus hatte auf der Couch zu lungern. Timothy saß breitbeinig und weit nach vorne gelehnt, auf seinen Ellenbogen abgestützt, dar und starrte auf sein Handy.

Na dann wollen wir mal, sprach ich mir zu und ging, die Hände in den Hosentaschen, auf Ihre Eminenz zu.
 

„Hoi“, begrüßte ich ihn.
 

„Hi“, gab er grummelnd zurück und sah nicht mal auf. Also wartete ich einige Sekunden.
 

„Du bist zu früh“, paffte er mich an, noch immer auf sein Handy konzentriert.
 

„Ich kann wieder gehen“, entgegnete ich kühl.
 

„Wenn du schon mal da bist, kannst du dich auch nützlich machen.“ Sein Ton war schnippisch, aber wenigstens steckte er sein Handy weg.
 

„Au Contraire. Denkst du ich lass mich herzitieren wie ein Hund?“
 

„Brave Hunde tun, was das Herrchen sagt“, erwiderte Timothy, sah aber immer noch auf den Boden vor sich.
 

„Hunde beißen, wenn das Herrchen zu unfähig ist.“
 

„Dann brauchst du ´n Maulkorb.“
 

„…“
 

Er sah nicht auf, war schlecht gelaunt und wollte etwas. Junge, da hast du den falschen erwischt, dachte ich und sah ihn mit dem kühlsten Blick an, den ich zu bieten hatte. Nachdem ich mich so überwunden hatte, hierher zu kommen, musste ich mir das nicht bieten lassen.
 

„Dann geh ich jetzt.“
 

Timothy sah endlich auf und ich blieb stehen. Ich hatte eh nicht wirklich vor gehabt zu gehen, aber die Drohung hatte gereicht, dass er endlich aufsah. Sein Blick war genauso unnachgiebig wie mein eigener. Seine braunen Augen wurden von seinen Locken beschattet und machten sie noch dunkler als sonst. Ich sah sie hin und her huschen, mich studieren und sicherlich rannten seine Gedanken gerade. Er öffnete seinen Mund und ich sah wie sein Blick sich abmilderte, als wir leider gestört wurden.
 

„Das hier ist eine Privatprobe“, rief die dunkelhaarige Tänzerin von eben und stakste mit ihren nackten Füßen und den Stulpen auf mich zu.
 

„Jasmine, warte, dass…“ Der junge Mann, der so eilig den Mund wieder schloss, war Chris. Dann war er also auch Tänzer. So, so. Das Mädchen, welches damals auf der Bank gesessen hatte, sah ich auch in der Truppe. Die anderen zwei kannte ich nicht.
 

„Ich habe ihn hergebeten, Jassi“, sagte Timothy gelassen. Sein Ton ruhiger, aber ich bezweifle, dass ihre Einmischung seine Stimmung gehoben hatte.
 

„Warum Tim? Wir haben eh schon viel zu tun und können nicht noch mehr Leute gebrauchen, die uns ausspionieren.“
 

Timothy sah flüchtig zu mir hoch, ein Grinsen zupfte an seinen Mundwinkeln. Der Gedanke klar zu lesen. Als ob ich sie ausspionieren würde! Hah! Wenn er wüsste. Aber eigentlich hatte Timothy recht. Es war ein haltloser und alberner Vorwurf.
 

„Er ist die 'andere Sichtweise', von der ich gesprochen habe.“
 

„Der da?“, fragte Jasmine spöttisch nach. Ich neigte meinen Kopf und sah sie ebenso abfällig an, wie sie mich. Attraktiv mit großer Klappe also.
 

„Aber sag mal … Hast du denn Erfahrungen in Musik oder Tanz? Studierst du nicht Architektur?“, fragte Chris. Timothy hatte erwähnt, nett zu Chris zu sein, da er sensibel war. Er wirkte etwas sehr vorsichtig auf mich. Trotzdem war er mir sympathischer als Jasmine, weshalb ich wirklich anstrebte nett zu ihm zu sein.
 

„Stimmt“, sagte ich freundlich und lächelte ihn an. Nebenbei fluchte Jasmine und schlug die Hände über ihren Kopf zusammen. Scheinbar frustriert, ging sie ihr Trinken holen. „Aber ich habe früher Musik gemacht und Instrumente gespielt.“
 

„Yey, ein Hobbymusiker“, murrte Jasmine.
 

„Die haben oft die beste Intuition, weil sie noch nicht so verbraucht sind“, warf der dunkelhäutige Schlagzeuger ein. Jetzt wo er aufgestanden war, sah ich wie groß er war. Sein Gang wirkte schlaksig, aber er war anders als Jasmine. Erwachsener vielleicht?

„Jamil“, stellte er sich vor und reichte mir die Hand. „Freut mich dich kennenzulernen.“
 

Ich nahm seine Hand und erwiderte seine Freundlichkeit. Ich lebte sowieso gerne nach dem Motto: Wie du mir, so ich dir.
 

„Mikael, freut mich.“
 

„Oho~“, summte Timothy von der Seite und sein Blick war stichelnd und amüsiert zu gleich. „Heute so artig.“
 

„Er hat Manieren. Im Gegensatz zu dir“, gab ich ihm retour.
 

Mit Chris, Jamil und Timothy, welche mich nicht anfeindeten, verlor Jasmine ihren Schwung und stieg mit ein. Sie stellte sich vor, wenngleich ich glaubte, sie würde lieber einen Zitteraal anfassen, statt meine Hand. Der Typ am Bass war Steven, ein Semester weiter. Die Tanzgruppe bestand aus Jasmine, Chris, Nayla, Phillip und Ramira. Es war eine bunte Truppe. Perfekt für einen Disney Klassiker. Wir hatten einen Schwarzen, zwei Asiaten (Steven und Jasmine), einen schüchternen Weißen, eine Latino (Ramira) und fünf von den acht Personen im Raum sahen überdurchschnittlich gut aus. Zumindest für meinen Geschmack.
 

Da sich die Anspannung gelegt hatte, versammelten sich alle um die Couch und auf dem Sitzsack. Wie auch immer ich es verdient hatte, saß ich direkt neben seiner Eminenz.
 

„Was war denn eben los gewesen?“, fragte Nayla Timothy. Der winkte nur ab und wirkte entspannter. Er saß zurückgelehnt, die Arme über der Rückenlehne, den rechten Fuß auf den linken Oberschenkel abgelegt.
 

„Nichts weiter.“
 

„Ein bisschen netter kannst du aber ruhig sein“, meinte Chris in seinem Schneidersitz auf der Sofaarmlehne sitzend. „Mikael ist hier um zu helfen und du gehst gleich so ab.“
 

„Sagtest du nicht, sie hätten das letzte Mal auch so gestritten?“, fragte Jamil nach. Er hatte sich hinter uns postiert und stand nun zwischen mir und Timothy, sodass wir beide aufsehen mussten.
 

„Jupp, aber das war eher lustig“, sagte Chris, die Schultern zuckend.
 

„Hatte er da nicht ein Foto von uns gemacht?“, fragte Nayla nach und ich erinnerte mich dunkel. Dieses Foto… Ich wollte es haben, um Timothy irgendwann blackmailen zu können. Nach eingängiger Betrachtung, legte ich diese Idee ad acta. Ich versuchte nicht zu lachen, mich nicht zu ärgern und vergaß es zu löschen.
 

„Ja, wie sind die Bilder geworden?“, fragte Timothy nach. Ich warf ihm einen Blick aus den Augenwinkeln zu. Es überraschte mich nicht, dass er annahm, es wären mehrere Fotos. Tatsächlich waren es zwei. Auf einem Bild hatte Timothy die Augen geschlossen, auf dem anderen geöffnet. Schob man die Bilder hin und her, sah es aus als ob er blinzelte. Das war lustig, aber ich ärgerte mich, dass dieser Heini es geschafft hatte eine spontane Aktion zu seinen Gunsten auszunutzen. Ich wette, dass es Absicht war!
 

Ich zückte mein Handy und öffnete das Foto, wo er die Augen geöffnet hatte. Nayla nahm mir das Handy ab und legte ihren Kopf leicht schief.
 

„Das ist gar nicht so schlecht geworden, für Mal zwischendrin. Schickst du mir das?“, bat sie dann.
 

„Ich schicke es dir“, fiel Timothy mir ins Wort, ehe ich antworten konnte.
 

„Du hast es? Warum zeigst du es dann nicht?“, motzte Nayla ihn an.
 

„Er hat es nicht“, meinte ich, ohne zu ihm zu sehen. Sein blödes Grinsen musste ich mir nicht antun.
 

„Stimmt“, meinte er, ein Grinsen im Ton. „Aber ich will nicht, dass jeder deine Nummer hat.“
 

Überrascht hob ich die Augenbraue und ignorierte das mulmige Gefühl in meinem Magen. Ich hatte es mir zwar gedacht, aber dass es wirklich genau deswegen sein würde, überraschte mich. Waren Nayla und er denn zusammen, dass er so besitzergreifend sein musste?
 

„Ich bin Achtzehn und kann das selbst entscheiden. Dazu brauche ich die Erlaubnis meines großen Bruders ebenso wenig wie die meiner Eltern.“
 

„Beruhige dich Nayla“, meine Ramira liebevoll und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Brüder sind so. Vor allem Große. Die beschützen dich und mischen sich in alles ein, selbst wenn man alles im Griff hat.“
 

„Hahaha“, lachte Timothy laut. Es klang heiter, aber nicht fröhlich. „Als wenn Nayla irgendwann mal was im Griff haben würde.“ Seine Schwester sprang gleich auf die Provokation an. Ich fragte mich, ob diese Zwei immer so waren. Sticheln, necken, das letzte Wort haben. Sie schienen miteinander auszukommen, aber ein liebevoller Umgang unter Geschwistern sah anders aus. Schweigend sendete ich Timothy eines der Fotos und fühlte mich hier deutlich fehl am Platz.
 

Ich behielt meine Gedanken für mich. Zum einem war ich neu in der Gruppe und zum anderen war ich Einzelkind. Mich als Einzelkind klugscheißend in eine Geschwisterbeziehung einzumischen, würde nicht gut ausgehen und war nichts, was ich mir aufbürden wollte. Wir unterhielten uns noch eine Weile. Jasmine taute auf und zeigte, dass sie doch recht umgänglich war. Zielstrebig und frustriert, aber als Mensch netter als gedacht. Ramira war ein typischer Wirbelwind. Nach zehn Minuten Pause war sie die Erste, die sich dehnte und erneut aufwärmte. Langes Sitzen war schwierig für sie und stellte bei jeder Vorlesung ein großes Übel dar. Steven war ähnlich wie Jamil ein Instrumentennarr. Als das Gespräch auf meinen Musikunterricht und meine Instrumentenwahl fiel, kamen die beiden gar nicht mehr aus dem Analysieren und Interpretieren heraus. Ich musste sie regelrecht zwingen das Thema zu wechseln. Timothy saß derweil amüsiert neben mir und sah dabei zu, wie ich mich abmühte. Nayla und Chris schlossen sich Ramira an. Jasmine hatte sich mit Phillip vor den Spiegel verzogen und ging einige Figuren und Übergänge durch. Er war sehr ruhig. Sicher der Typ, der lieber zuhörte und nur einmal in der Woche den Mund aufmachte.
 

Meine Ankunft vorhin war für die Gruppe zum Anlass einer erzwungenen Pause geworden. Timothy hatte es nicht wörtlich so genannt, aber durchaus gemeint. Ich nahm an, dass sie in letzter Zeit zu viel an denselben Stellen gefeilt hatten, sodass sie kaum noch durchsahen. Der Druck und ihr Ehrgeiz erledigten den Rest.
 

Während die Tänzer sich gemütlich bewegten und einige Dinge besprachen, beobachteten wir anderen sie dabei. Timothy brach als erster das Schweigen.
 

„Für den Auftritt haben wir drei Stücke vorbeireitet.“
 

„Warum so viele?“, fragte ich nach.
 

„Ergab sich aus der Gruppenstärke. Die Details lass ich mal weg. Das Problem liegt …“
 

Ich wartete, ehe ich meinen Blick von den Tänzern abwandte und den Lockenkopf neben mir betrachtete. Fragend hob ich meine Brauen und neigte den Kopf.
 

Timothy öffnete seinen Mund, schloss ihn dann wieder. Frustriert ließ er seinen Kopf nach vorne fallen und seufzte vernehmlich. „Das sollst du mir sagen.“
 

„Wie das?“
 

Jamil lachte neben mir. „Irgendwo gibt es einen Frosch und den gilt es zu finden.“
 

„Einen Frosch?“
 

„Ich meine, dass es an der Choreo liegt“, sagte Steven.
 

„Es kann auch der Text sein“, überlegte Timothy angestrengt.
 

„Du singst auch?“, fragte ich etwas zu sarkastisch. Diesmal sah er mich an und das Braun war gar zu amüsiert.
 

„Freu dich drauf.“
 

Ich zog eine Schnute und verdrehte einmal die Augen. „So besonders wird’s schon nicht sein.“ Diese Aussage brachte alle drei zum Lachen. Verwirrt sah ich einen nach dem anderen an. Mein Blick blieb an Jamil hängen. Er wirkte am vernünftigsten auf mich.
 

„Auch wenn Tim oft nur Mist von sich gibt, singen kann er“, lobte Jamil ihn und ging zusammen mit Steven zu den Instrumenten. Kurz darauf riefen sie die Tänzer zu sich.
 

„Er übertreibt. Aber ich gebe mir Mühe“, wiegelte Timothy ab und lehnte sich weit vor. Sein Blick glitt verstohlen zu mir. „Obwohl ich jetzt doch etwas aufgeregt bin“, fügte er so leise hinzu, dass ich glaubte mich verhört zu haben. Ich hielt seinem Blick stand ohne zu zucken, wenngleich ich das Gefühl hatte, dass er trotz allem meine Gedanken hatte lesen können.
 

Mir flatterte das Herz. Wieder fragte ich mich, was und wie viel Timothy wusste. Ob er meinen Namen gegoogelt hatte? Kannte er die Videos? Bei YouTube lungerten sicher noch einige herum. Oder war es nur Zufall und ich maß diesem Typen zu viel Können zu?
 

Meine Hände wurden schwitzig. Ich strich sie an meinen Knien ab, während ich der Band zusah, wie sie sich aufstellte. Es gab nur ein Schlagzeug und einen Bass. Timothy spielte zwar Gitarre, doch durfte er laut Seminarvorgabe dieses Mal nur seine Stimme nutzen. Einen Gitarristen hinzuzuholen, wollte die Gruppe nicht. Ich war gespannt, wie ein Lied mit nur so wenig Begleitung klingen würde.
 

Die Tänzer in Position, Timothy am Mikro. Er gab ein schönes Bild ab. Typ: schlaksiger-cooler Sänger. Er summte leicht zum Bass. Die Vibrationen reichten aus um mir einen Atemzug zu stehlen. Tief, melodisch und geschmeidig.
 

Ich lehnte mich zurück und lenkte meinen Blick auf die Tänzer. Es war schwer meine Fassung zu behalten, wenn ich einen Sänger sah. Der Drang mitzumachen, wurde zu stark.
 

Die Band begann. Das Intro, die Tänzer bewegten sich. Zwei Takte später folgte der Gesang. Ich sah nicht zu Timothy, sondern beobachtete die Tänzer. Aber das was ich hörte, ließ meine Nackenhaare zu Berge stehen und meine Ohren kribbeln. Die Begleitung war ausgewogen. Der Gesang leicht, schwebend. Der Text eingängig aber ebenso leicht.
 

Es schien mir unmöglich mich auf alles gleichzeitig zu konzentrieren. Was Timothy komponiert hatte, war sagenhaft. Die Choreo stimmig. Ich zog meine Augenbrauen tiefer. War ich nicht fähig den Fehler zu sehen oder zu hören? Vielleicht war es nicht dieses Lied. Bisher war es gut. Dann kam der Übergang. Die Tänzer kamen ein wenig durcheinander, fanden aber schnell zurück. Die Melodie blieb stabil, Tempowechsel, es wurde flotter. Timothy sang sofort los. Leben sprühte auf der kleinen Fläche vor mir. Die Tänzer brachen aus, formten sich neu und hielten das Tempo.
 

Der Übergang zum dritten Lied kam und abermals änderte sich das Gesamtbild. Ich lehnte mich vor und hielt meine Hände vor meinem Mund verschränkt. Ich hoffte, damit ein irres Grinsen zu verbergen, welches langsam durchbrechen wollte. Das hier machte Spaß. Verdammt viel Spaß. Mein Herz schlug und ich spürte meinen Puls bis in die Fingerspitzen. Mein Fuß tippte stetig im Takt mit, als es plötzlich still wurde. Ich brauchte einen Moment, ehe ich aufsah und mehrere Augenpaare mich anstarrten. Ich suchte Timothys Blick zum ersten Mal, seit er angefangen hatte zu singen. So viel innerliche Freude hatte ich bei ihm noch nie gesehen. Es sprudelte regelrecht aus den braunen Augen heraus und fasste sein gesamtes Gesicht ein. Seine Lippen glänzten, die Wangen leicht rot und der Atem noch schnell.
 

Ich verstand das Gefühl. Es war das Beste auf der Welt.
 

Wie frustrierend musste es dann gewesen sein, nicht zu wissen, wo der Fehler lag, aber zu wissen, dass einer da war. Ich hob meine Hand mit drei Fingern und versuchte konzentriert zu bleiben. Ernst gar.
 

„Drei Stellen. Könntet ihr das alles nochmal machen? Genauso wie eben, nur ohne den Patzer der Tänzer beim ersten Übergang?“, bat ich. Die Blicke richteten sich auf Chris und Ramira. Ich beobachtete sie kurz, ehe mein Blick zurück zu Timothy glitt. Sein Atem hatte sich beruhigt und das Leuchten in seinen Augen war ein anderes geworden. Neugierde und die Bestätigung alles richtig gemacht zu haben, konnte ich klar von seiner Mimik ablesen. Am liebsten hätte ich ihm dieses selbstsichere Grinsen weggewischt. Stattdessen entwich mir mein eigenes Grinsen.
 

„Von vorne“, rief Timothy und schüttelte seine Beine aus. Flüchtig sah er dabei zu mir rüber. Versteckt hinter seinen Locken, hätte ich es beinahe übersehen.
 

Der zweite Durchgang war flüssiger. Die Tänzer gut. Ich unterdrückte den Drang aufzustehen, wie ein Lehrer umher zu gehen und meine Belehrung zu starten. Stattdessen erzählte ich ihnen meine Eindrücke von der Couch aus. Wie um mich zu widerlegen, wurden jene Stellen angespielt und durchgestanzt. Die Erkenntnis fiel lauter als ein Groschen in den Brunnen. Ich für meinen Teil war froh helfen zu können.
 

Entspannt lehnte ich mich zurück und trankt mein Wasser, während die anderen wuselten. Es waren wirklich nur Kleinigkeiten. Ein Tempofehler in der Melodie beim Übergang. Etwas zu viel Tanz an einer Stelle, wodurch der Text des Liedes in den Hintergrund rutschte und noch eine weitere Stelle innerhalb der Melodie. Ein simpler Vorzeichenfehler. Die Flasche zugeschraubt, sah ich auf mein Handy. Gerade mal eine Stunde vergangen… Mein Finger schwebte über der App vom Diktiergerät. Beim zweiten Durchgang hatte ich es mitlaufen lassen. Ich wollte die Lieder nochmal hören und diesmal nur Text und Melodie spüren. Timothy war ein erstaunlich guter Sänger. Einer, der sich, sichtlich erleichtert, rechts neben mir auf die Couch fallen ließ.
 

Kaum, dass er saß, holte er seine Zigaretten heraus und hielt mir eine hin. Ich nahm eine und drehte sie etwas zwischen meinen Fingern.
 

„Warum wolltest du, dass ich mit zum Karaoke komme?“, fragte ich ihn.
 

Er zündete seine Zigarette an und nahm einen Zug, ehe er antwortete. „Ich glaube einfach, dass du gut Singen kannst. Meine Intuition liegt da selten falsch“, sagte er und grinste selbstsicher.
 

Ich war skeptisch. Seine Intuition also …
 

„Hmm.“ Ich besah mir meine Zigarette und schielte flüchtig nach rechts. „So langsam glaube ich dir“, bemerkte ich. Ich war ja bereits davon überzeugt, dass Timothy kein notorischer Lügner war und ich war bereit ihm zu glauben, dass er nicht mehr über mich wusste, als er mir bisher gestanden hatte. Auch wenn es mir schwerfiel.
 

„Welch Ehre. Warum so misstrauisch? Ich spiele vielleicht nicht immer fair, aber wenn ich sage, ich lüge nicht, lüge ich nicht.“
 

Ich lachte kurz und lehnte mich zurück. „Entschuldige, dass ich da vorsichtiger bin. Vielleicht wäre es gut gewesen, dich ein paar Jahre früher zu treffen.“
 

Es war nur eine Aussage und bedeutete nicht viel. Dennoch milderte sich der freudige-entspannte Glanz aus dem dunklen Irden.
 

„Ein paar Jahre früher? Das wäre wohl nicht gegangen.“
 

Ich neigte meinen Kopf fragend nach rechts, erhielt aber keine Antwort. Nun dann. Ich hielt die Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger, während ich mit der Hand das Thema wegwedelte.
 

„Ich werde trotzdem nicht mit zum Karaoke kommen“, griff ich den Beginn der Unterhaltung wieder auf.
 

„Was muss ich tun, damit du mitkommst?“ Der Glanz von eben, kehrte in seine Augen zurück. Gut, dass diese Ablenkung funktioniert hatte.
 

„Gute Frage. Vielleicht leg ich dir ein Halsband um und lass dich einen Tag lang meinen Hund spielen“, meinte ich überlegend und schickte ein hämisches Grinsen zur Seite.
 

Timothy lachte und nahm einen Zug. Ich hielt inne und drehte meinen Kopf nach vorne. Dieses Lachen war anders als das von vorhin. Lockerer, freier. Allerdings kein Grund deswegen nervös zu werden, ermahnte ich mich selbst. Ich schob den Gedanken zur Seite, bereit ein anderes Thema anzufangen. Wieder nach rechts sehend, registrierten ich aus den Augenwinkeln, dass etwas näherkam. Timothy lehnte sich mir entgegen, die Zigarette im Mund, reichte sein Blick aus, damit ich sein Vorhaben verstand. Ich nahm meine noch immer unangezündete Zigarette zwischen die Lippen und hielt mein Ende an das glühende seiner Zigarette. Ein Feuerzeug hätte es auch getan, dachte ich und zog zeitgleich mit Timothy. Sein Zigarettenende glühte auf und zündete meine Zigarette damit an.
 

Der Zug war tief und ich atmete lange aus, als wir uns beide zurücklehnten. Sie war an, dachte ich noch beiläufig und blinzelte einmal. Ich drängte diese Aktion in die hinterste Ecke meines Hirns. Es wäre idiotisch da mehr hinein zu interpretieren als das Helfen beim Anzünden einer Zigarette.
 

Was ich nicht sah, war, dass Timothy mich einen Moment beobachtete, ehe auch er demonstrativ zur Seite sah. Oder dass quer durch den Raum ein anderes Paar brauner Augen uns beobachtet hatte.
 

„Darf man hier drinnen eigentlich rauchen?“, fragte ich schließlich.
 

„Das fällt dir etwas spät ein.“
 

„Egal, darf man nun oder nicht?“
 

Timothy atmete Rauch aus und lächelte mich verschmitzt an. „Was meinst du denn?“
 

„Ich frag dich was. Kannst du nicht einmal normal antworten?“
 

„Das wäre zu einfach. Ich habe gehört man soll kleinen Leuten ihre Erfolgsmomente lassen. Sonst schrumpfen sie.“
 

„Du hast echt nicht mehr alle Tassen im Schrank. Was soll das immer mit der Größe. Guckt doch eh keiner drauf“, wiegelte ich ihn ab.
 

„Findest du?“, amüsierte lehnte Timothy sich vor und ich starrte genervt von oben auf ihn herab.
 

„Ja.“
 

„Dafür springst du aber gut drauf an.“
 

„Das liegt nicht am Thema, sondern an deiner Art. Du könntest auch über Motoräder reden, das käme aufs Gleiche hinaus.“
 

Ein Schmunzeln erschien auf Timothys Lippen und seine Augen waren eine Mischung aus Berechnung und Neugierde.
 

„Sag nicht, du fährst Motorrad?“
 

„Warum nicht?“
 

„Weil das ein Zeichen ist, dass du Dinge kompensieren musst.“
 

Ich sprang auf und zeigte mit der Zigarette in der Hand auf ihn. „Halt einfach mal die Klappe. Da komme ich schon her, um dir zu helfen und du bist so ein Vollhorst.“
 

„Danke fürs Kompliment.“
 

„Das war keines!“



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