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Musik 4Y

Diese eine Person, die...
von

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Sei nicht so feige

Kapitel 8:
 

Jamil stieß klirrend mit mir an. Verwundert sah ich auf und nippte an meinem Glas.
 

„Ist was gewesen?“, fragte Jasmine.
 

Ich war überglücklich, dass sich keine von ihnen ausversehen umgedreht hatte. Die Peinlichkeit wäre nichts im Vergleich zu der daraus resultierenden Diskussion geworden.
 

„Nix weiter“, winkte Jamil ab und grinste breit. „Jungskram, würdest du sagen.“
 

Jasmine verdrehte die Augen und das weitaus geschickter als Timothy.
 

„Dann regelt das alleine. Nayla singen wir?“
 

Nayla trank eilig und hob ihren Daumen. Ramira verschwand kurz auf Toilette, wodurch wir vier Jungs stumpfsinnig auf der Couch sitzen blieben. Timothy und Chris auf der langen Seite, ich in der Ecke und Jamil neben mir auf der kurzen Seite der Couch.
 

Ich sah nach rechts und sah Chris und Timothy an ihren Handys. Sie zeigten sich gegenseitig etwas. Ich seufzte ungehört und ließ mich mehr in die Ecke der Couch zurückfallen.
 

„Wie geht’s dir?“, fragte Jamil leise. In einer Lautstärke, in der ich ihn trotz schief gesungener Töne verstehen konnte, die anderen aber nicht. Unschlüssig zuckte ich mit den Schultern. Ich war noch am Analysieren, wie ich mich fühlen sollte.
 

„Es taucht wirklich selten auf. Aber auch wenn man es nicht mehr im Radio spielt, war es doch mal ein großer Hit.“ Ich verzog meinen Mund missgelaunt und schnaufte. Wenn es nur wegen des Liedes wäre, würde ich sicherlich irgendwie klar kommen. Aber Timothy wusste mir eindeutig zu viel und in mir steckte immer noch der Schrecken von eben sowie die ungewohnte und plötzliche Nähe, die, zugegeben, nicht so schlecht gewesen war. Also nichts worüber ich mit Jamil sprechen wollte.
 

„Ich sollte mich geehrt fühlen, aber es nervt mich nur“, sagte ich ausweichend.
 

„Verständlich, irgendwie“, versuchte Jamil es einfühlsam. Er hatte sich ebenfalls zurückgelehnt und pulte am Bieretikett. „Ich war damals Siebzehn. Ich fand deine Lieder großartig. Sie waren nicht so einstudiert wie alles andere, was im Radio lief. Es war neuartiger und deine Gitarrenparts waren genial. Ich habe ewig geübt bis ich „treat on“ halbwegs flüssig spielen konnte.“
 

Ich schmunzelte. Mir ging es mit diesem Part genauso. „Ich habe mich selbst verflucht. Wer denkt sich so was aus?“
 

„Haha, aber es hat Charm! Welcher andere Künstler hat in den letzten Jahren etwas vergleichbares rausgebracht?“, fragte Jamil. Ich sah auf und lächelte schwach. Er hatte Recht. Aber ein wirklicher Trost war das nicht. Besser gesagt, ich ließ nicht zu, dass es mir ein Trost sein konnte.
 

Meine Begabung für Gesang und Musik entdeckten meine Eltern früh. Mit fünf Jahren begann ich Musikstunden zu nehmen. Klavier war ein Muss. Meine Eltern meinten, wenn ich es damit schaffte, stände mir die klassische Welt der Musik offen. Aber sie irrten sich. Selbst ich irrte mich, denn mein Weg führte mich nicht in die Klassik. Zwei Jahre später schrieb ich ihnen ein kleines Stück zu Weihnachten. Kurz darauf begann ich zu singen. Ich war davon fasziniert gewesen, ihnen ein Stück zu schreiben und vielleicht dazu singen zu können.
 

Mein Musiklehrer bemerkte meine Mühen und verwies mich an seinen Kollegen. So begann ich mit Gitarre. Die Melodien flossen leichter, der Text war einfacher zu greifen. Ich war talentiert, doch ohne Übung wurde selbst ich nicht besser.
 

Mit elf nahm ich an einer Show für junge Sänger teil. Ich war mit der Jüngste. Es war hart, aufregend und schweißtreibend. Aber das Gefühl auf der Bühne zu stehen, vor hunderten von Zuschauern und alle applaudierten, war zu berauschend. Ich wollte mehr und gab alles um weiterzukommen. Schlussendlich gewann ich die Show und wurde unter Vertrag genommen. Heute würde all das sicherlich anders ablaufen, aber damals wurde ich mit nur elf Jahren geschunden wie ein Erwachsener. Es fiel mir nicht auf. Warum auch? Ich hatte alles was mir Spaß machte und konnte den ganzen Tag Musik schreiben und spielen. Die Ideen brannten wie Feuer und ich wollte sie hinaus in die Welt schreien. Dass ich Konzerte gab, die Hallen größer wurden, die Fans mehr und die Konkurrenten fieser, erkannte ich erst viel, viel später.
 

Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn mich diese Erkenntnis nie getroffen hätte. Alles brach zusammen wie ein Kartenhaus. Ich kämpfte noch einige Zeit um meine Karriere, aber schlussendlich war ich ausgebrannt. Das einst lodernde Feuer verkam zu einer erschöpften kleinen Flamme, der ein bloßer Windhauch gefährlich werden konnte. Leider glaubte niemand, dass ein junges Talent von fünfzehn Jahren Burnout haben könnte oder depressiv war.
 

Mit etwas Glück schaffte ich es wieder auf die Beine. Allerdings ohne Musik. Nichts hören, nichts sehen und nichts sagen. Ich verschwand aus der Musikwelt, holte unter Auflagen meines Patrons die letzten Schuljahre zum Teil auf und erhielt damit mein Recht auf eine Uni gehen zu können.
 

Ohne erneut ein Instrument in die Hand zu nehmen, begann ich es als „Macke“ abzutun. Ich negativierte alles, was mir einst das Herz höher schlagen ließ. Dämpfte die feurige Begierde in mir. Damit ging es mir gut. So konnte ich leben.
 

Meine eigenen Lieder lernte ich zu verfluchen. Der Gedanke zu singen wurde zu einem Graus, einer Panik, wie sie andere vor Spinnen oder Hunden hatten.
 

Als ich das Lied in der Randomliste sah, geschah was ich mir antrainiert hatte. Dieses verfluchte Lied, hatte ich gedacht. Zudem hatte ich gesungen! Mit Spaß und Freude und Feuereifer! Wie hatte ich nur singen können, fragte ich mich und schollt mich innerlich, von mir selbst betrogen. Ich setzte mich unter Druck, weil es eine Weile die richtige Lösung gewesen war, einfach alles schlecht zu machen.
 

Timothy war wie ein Tintenlöscher für meine negative Sichtweise. Durch seine nervige Art, seinen Gesang und seine Sturheit wurde die finstere Mauer, welchen ich meterdick um mich gezogen hatte, löchrig. Meine Umgebung hellte sich auf. Ich sah Menschen, die einfach Spaß beim Musizieren und Singen hatten. Spaß der ansteckend war und mich Ausflüchte erfinden ließ, nur um mitmachen zu können. Beim Gitarre spielen fühlte ich mich sicher und unbeobachtet. Als Timothy mich so provokant zum Singen verführte, hatte ich nicht anders gekonnt, als nachzugeben. Es war ja nur in der kleinen Gruppe, sagte ich mir, und du willst nur kurz hören, wie ihr zusammen klingt.

Dem zum Trotz stand eine Erkenntnis, die nach all der Zeit schwerer zu schlucken war als Flohsamen. Ich wollte singen. Mit Timothy, beim Karaoke, auf der Bühne.
 

Wenn ich nur nicht solche Angst haben würde.
 

„Ist es das einzige Lied?“, fragte ich Jamil. Er überlegte und meinte, dass es noch zwei weitere Lieder aus meiner Anfangszeit geben würde. Wehmütig sah ich auf meine Hände.
 

Damals war nicht alles schlecht gewesen und es gab Fans wie Jamil, die meine Lieder um ihrer selbst willen mochten. Es rührte mich zutiefst. Auch das Nayla vorhin so vehement darauf bestanden hatte es zu singen. Ich war wohl doch kein vollkommener Fehlschlag gewesen.
 

„Danke“, flüsterte ich leise und sah aus den Augenwinkeln wie Jamil nickte. Es tat unerwartet gut mit jemanden zu reden, der ein wenig Ahnung hatte, Musik liebte und mir meine Fehler nicht ankreidete.
 

Die Karaokesänger wechselten und die Geschwister sangen abermals zusammen. Timothys Stimme war geschmeidig, mit einem versteckten Bass. Wenn er in die Tiefen ging, bekam ich eine Gänsehaut. Wenn er in die Höhen ging, flatterte einem das Herz und alles wurde beschwingter. Seine Stimme war wie ein Schürhaken, der das Feuer in mir langsam wieder anfachte.
 

„Weil ich noch mehr mit dir singen will.“
 

Ich nahm einen Schluck von der Sprite und spülte den Kloß in meinem Hals herunter. Timothy hatte nichts getan, weshalb ich ihm böse sein konnte. Im Gegenteil, er war so ehrlich, dass er sich nur mit dem begnügte, was ich ihm gerade vor die Füße warf. Obwohl mich seine Art tierisch aufregte und seine Verschlagenheit nervte, empfand ich seine Gesellschaft nicht als störend. Er hatte die Mädchen überredet etwas anderes zu singen, weil es mir nicht passte. Er hatte mich beruhigt, als ich mich sinnlos hineingesteigert hatte, ohne, dass er wusste, weshalb. Natürlich wäre nichts von dem passiert, wenn er mich nicht mit zum Karaoke genommen hätte.
 

Ich war noch sauer auf ihn, aber meine Wut war verflogen. Ich empfand sogar etwas Dankbarkeit und … ich sah zu wie Bruder und Schwester im Finale des Liedes einen Arm umeinander legten. Nayla umfasste die Taille ihres Bruders und er ihre Schultern. Mein Blick blieb an seiner Hand hängen.
 

Dankbarkeit und noch ein wärmeres Gefühl. Es war leicht, kribbelnd und fühlte sich an wie Funken, die durch mein Innerstes hüpften. Ich legte meine rechte Hand über meinen Bauch und berührte unauffällig die Stelle, an der vorhin seine Hand geruht hatte. Die Stelle brannte immer noch, aber meine Finger ertasteten nur ausgekühlten Stoff.
 

Ramira übernahm das Mikrofon und sang inbrünstig zu Shameless von Camila Cabello. Nayla und Jasmine verließen den Raum, während Timothy an der Wand gegenüber der Couch stehen blieb, seine Arme locker vor sich verschränkt. Sehr lässig, schoss es mir durch den Kopf. Ich ließ meinen Blick von unten nach oben wandern. Bei seinem Gesicht angekommen, sah ich, dass sein Blick auf mir ruhte. Seine dunkelbraunen Augen komplett schwarz mit unzähligen, bunten Reflexionen der Lichter im Raum. Es machte seinen Blick anziehend wie ein schwarzes Loch und ich hing an ihnen. Das Kribbeln in meinem Magen wanderte höher. Ramiras bereits vom vielen Singen kratzige Stimme untermalte die sich aufbauende Spannung. Gegen Ende des Liedes verwandelte sich der Text zu einer persönlichen Interpretation, scheinbar passend auf uns zugeschnitten.
 

„Need you more than I want to“
 

„Show me you’re shameless“
 

„Write it on my neck, why don’t ya?“
 

Ich löste meinen Blick und sah zur Seite. Es erinnerte mich daran, wie er mich gehalten hatte. Schamlos wie er war, war er mir nah gekommen, ließ seinen Atem über mein Ohr und Hals streichen und ich hatte nichts getan, um das zu unterbinden, weil… weil…
 

Der Refrain spielte und Ramira sang mit unsauberen Tönen in der Höhe. Warum auch immer, ich sah wieder auf und fand die vom Licht bunten Augen.
 

„Distance, inches in between us“
 

„I want you to give in, I want you to give in“
 

Vielleicht …
 

„Weakness, tension in between us“
 

„I just want to give in“
 

Ich drückte mich mehr in die Ecke der Couch und zog die Beine an, sodass ich mein Kinn auf meinen Knien ablegen konnte und meine Arme locker vor meinen Fußgelenken hielt. Mein Herz schlug schneller und das Kribbeln war bis in meine Fingerspitzen gewandert.
 

Ja, vielleicht…
 

Trotz ungewollter Erkenntnisse, alter wie neuer Fans, das Brechen mehrerer selbst auferlegter Tabus und einer ausgelassenen Stimmung, verlief der restliche Abend ruhig. Entgegen seiner stummen Bitten sang ich kein zweites Mal mit Timothy.
 

Nach dreieinhalb harten Stunden waren alle heiser außer Timothy und mir.
 

Den Weg zum Campus nahmen wir gemeinsam. Kurz darauf trennten sich unsere Wege. Bis auf mich wohnten alle in den Wohnblöcken. Es machte mir nichts aus, alleine durch die frühe Nacht zu gehen. Im Gegenteil, es würde mir helfen mich runter zu kühlen. Timothy sah einen Moment zu mir rüber. Er trug Nayla, welche fast schon im Gehen einschlief, und ich würde ihn schlagen, sollte er anders handeln, als der große Bruder, der er gerade war, und sie ordnungsgemäß nach Hause tragen. Jasmine wurde von Chris gestützt, der nur ein wenig nüchterner war als sie selbst. Ramira wanderte summend umher und nahm die komplette Straße für sich ein. Sorge, dass auf dem Campus nachts Autos fuhren, mussten wir nicht haben, darum ließen wir sie laufen. Jamil war am nüchternsten. Mit den Händen in den Taschen und einen Blick zu Timothy, ging er summend geradeaus weiter. Die anderen folgten ihm. Timothy etwas widerwillig. Ich erwiderte seinen Blicke in letztes Mal und hob meine Hand zum Gruß. Was auch immer gerade in mir aufwallte oder zwischen uns gewesen war, es wäre besser es auf morgen zu verschieben.
 

Am nächsten Morgen wachte ich viel zu früh auf. Die Sonne schien durch mein Fenster und die Arbeitsblätter auf meinem Schreibtisch blendeten. Ich hatte gestern vergessen die Vorhänge zuzuziehen. Kein Wunder, dass ich schon wach war. Unwillig aufzustehen, drehte ich mich noch mal um. Mit der Decke bis zum Kopf hochgezogen, schloss ich meine Augen und dachte an gestern Abend. Ich war immer noch sauer, dass Timothy mich zum Karaoke geschleppt hatte, ohne mich vorzuwarnen. Und auch ein bisschen sauer darauf, dass er ein verdammtes Schlitzohr war.
 

Ich fragte mich nur, warum er mich bisher nicht direkt auf meine Kariere angesprochen hatte? War ich doch abweisender gewesen, als ich gedacht hatte? Ich überlegte einen Moment, fand aber keine Antwort. Etwas anderes lenkte meine Gedanken immer wieder ab. Hatte ich mich wirklich von ihm in den Arm nehmen lassen? War das tatsächlich passiert? Die Gänsehaut in meinem Nacken bestätigte, dass ich es mir nicht eingebildet hatte. In dem Fall… war auch alles andere passiert, stellte ich langsam fest. Ein Gedanke, so zäh wie Leder und aufwühlend wie ein Tornado, drängte sich in mein Bewusstsein und ich versteckte mich gänzlich unter meiner Bettdecke. Ich konnte doch nicht wirklich ... in diesen Typen!
 

Aufgewühlt setzte ich mich auf und schlug die Decke zurück. Mein Herz klopfte kräftig in meiner Brust und ich spürte die Aufregung in mir aufsteigen. Timothy hatte sich nicht nur in meinen Kopf eingenistet, sondern auch in meinem Herzen. Er war attraktiv, aber seine Blicke waren anziehend. Wären wir uns gestern näher gewesen... ich weiß nicht, ob ich nicht nachgegeben hätte, ihn zu küssen. Der Gedanke daran, ließ alles Kribbeln und eine Sehnsucht nach einer nie gekosteten Sünde entstehen. Logisch betrachtet, war es absurd, aber Logik schien seit gestern nicht mehr ins Gewicht zu fallen, wenn es um Timothy ging. Mein Herz schlug zu schnell. Ich schloss meine Augen und lauschte seiner Stimme in meinen Gedanken. Sie erreichte mich nicht nur als Sängerkollegen, sondern anders, tiefer. Er ging mir unter die Haut, versteckte sich in meinen Gedanken, lauerte in einer Erinnerung.
 

Je länger ich an ihn dachte, desto klarer wurde ein anderes Problem. Wollte ich weiterhin alles verleugnen, was mir einst Spaß gemacht hatte? Wenn ja, durfte ich nicht weitergehen. Für meinen Seelenfrieden wäre es besser, Timothy und alle andern aus der Gruppe abzuschieben und zu vergessen. Ich musste zurückkehren zu meiner strikten Diät. Ein scheinbar unmögliches Unterfangen, wenn einem Timothy wie ein Stück Schokolade vor der Nase rumtanzte.
 

Langes Grübeln lag mir nicht und ich hatte nicht so viel Zeit, um den ganzen Tag im Bett liegen zu blieben und "was wäre wenn" zu spielen. Es gab einen schnelleren Weg aus meiner Miesere. Einen, den ich früher gerne wählte, weil er sofortige und klare Ergebnisse lieferte. Die Rede war von einer direkten Konfrontation. Meine Miesere bestand darin, dass ich Musik liebte und ich sie nur widerwillig, äußerer Einflüsse wegen, aufgegeben hatte. Timothy war der Auslöser für diese Erkenntnis und zugleich der Grund, warum ich jegliche Vorsicht fallen lassen wollte. Mein Interesse an ihm war echt. Ich war nicht abgeneigt mich ihm zu nähern. Es könnte interessant werden, wenn ich an unsere Persönlichkeiten dachte. Doch wenn ich einen Versuch startete, musste ich mir bewusst machen, dass ich mich nicht wie zuvor verstecken könnte. Timothy war ein Leuchtfeuer. Neben ihm zu stehen würde mich unweigerlich mit ins Rampenlicht rücken. Sicherlich gab es mehr Leute wie Jamil, Fans, die mir gewogen waren. Aber auch die Kritiker von einst, mit denen ich klar kommen musste.
 

Ich hatte keine Lust darüber nachzudenken, was der richtige Weg wäre. Was ich am besten tun sollte. Ich war kein Realitystar, der sich um sein Image sorgen musste. Ich war ein Niemand mit musikalischer Vergangenheit. Sollte etwas passieren, würde ich jetzt sowieso keine Antwort darauf finden können.
 

Meinen Gedanken folgend machte ich mich frisch und zog mich an. Ich aß eine Kleinigkeit und verließ anschließend meine Wohnung. Ich zückte mein Handy und überlegte, ob ich Timothy eine Nachricht schreiben sollte. Nur was sollte ich schreiben? Wann er zuhause war? Ob er Zeit hätte? Jede Formulierung, die mir einfiel, klang schäbig, nicht kunstvoll genug. Er würde meine Absichten wahrscheinlich sofort durchschauen. Dieses Mal wollte ich Timothy aber keinen Vorsprung gönnen. Er sollte keine Zeit haben sich darauf vorbereiten zu können. Ich wollte seine Reaktionen in Echtzeit und ungeschönt vor mir sehen. Nur dann, so meinte ich, könnte ich sicher gehen, mich richtig zu entscheiden.
 

Das Handy weggesteckt, ging ich zu meinem ersten Seminar. Fred und Marvin waren da und fidel wie eh und je. Nach dem Seminar gingen wir zusammen in die Mensa. Es war ein stink-normaler Mittwoch, abgesehen davon, dass ich nervöser wurde, je näher ich meinem freien Nachmittag kam.
 

Ich war schon immer ein trotziges Kind gewesen. Wenn ich etwas gewollt hatte, war ich vorgeprescht, egal ob es Sinn machte, ich Geld hatte oder mit blauen Flecken rechnen musste. Selbst wenn ich jetzt nervös war, sogar eine Art Vorfreude und Aufregung spürte, würde ich nicht wanken. Mich nicht fragen, ob es das Richtige wäre oder ob ich ihn antreffen würde, wenn ich nicht Bescheid gäbe, dass ich vorbeikam. Oder ob es für ihn der passende Zeitpunkt wäre. Fakt war, dass das Leben das Chaos bevorzugte. Je chaotischer, desto besser. Je wilder, desto echter. Timothy war ein guter Schauspieler. Zudem konnte er Menschen lesen und sie mit seinem Charme steuern. Ich wollte mich aber nicht von ihm steuern lassen. Wenn überhaupt wollte ich gleichwertig neben ihm stehen und zusehen wie er andere manipulierte.
 

Mein Schritt verlangsamte sich für einen Moment, als mir aufging, was ich gerade gedacht hatte. Neben ihm stehen? War das nicht genau das was Hannes …? Ich schmunzelte und vermerkte mir als Memo an mich selbst, Hannes das nächste Mal eine kernige Kopfnuss zu geben. Das hatte er damit gemeint! Tss, gut, dass er es damals nicht erzählt hatte. Er hätte sich definitiv eine gefangen. Außenstehende sahen sowas immer schneller als die betroffenen Personen. Mein Grinsen wurde breiter. Das hieß, ich hatte gute Chancen.
 

Ich ließ meine Uniunterlagen in meiner Wohnung und ging mit dem Nötigsten los. Mit den Händen in den Taschen ging ich in Richtung der Musik-WG. Seit meinem ersten zufälligem Passieren im April, hatte sich hier nichts verändert. Der Rasen war noch genauso kurz und trocken. Die Wege sauber. Studenten gingen allein oder in Grüppchen an mir vorbei. Sie redeten miteinander, hörten Musik oder starrten auf ihr Handy, während sie gingen.
 

Ich trat an die Haustür und lauschte einen Moment. Leise Musik war zuhören, aber davon ab schien alles still zu sein. Ohne weiteres Federlesen klopfte ich an und hörte kurz darauf Schritte näherkommen. Chris öffnete die Tür. Er schien genervt und wuschig. Was mich mehr erstaunte, war das bunte Kopftuch, welches seine noch leicht feuchten Haare aus seiner Stirn hielt. Dazu trug er eine weite Jogger, welche ihm gerade so auf der schmalen Hüfte hing und ein krass oranges, bauchfreies Shirt. Ich hielt mein Lachen zurück, sodass mir der Bauch vor Anspannung schmerzte. Ich wollte nicht unhöflich sein, aber er sah zum Schreien komisch aus. Eine Mischung aus 2000er und 80er.
 

„Kann ich reinkommen oder musst du deine Zeitmaschine noch herrichten, um die Klamotten in die jeweilige Epoche zurückzubringen?“
 

Chris verzog das Gesicht, ließ mich aber ein. „Meine Klamotten sind in der Wäsche. Ich hatte die Wahl zwischen dem hier und einem Wollpulli. Bei der Wärme, kannst du dir denken, was mir lieber war.“
 

„Kein Ding. Trag was du magst. Aber einen Kommentar musste ich loswerden.“ Die Tür fiel ins Schloss und Chris ging an mir vorbei zu einem großen Tisch unweit der Küche. Ich sah mich kurz um. Die Wohnung besaß einen gerade Flur, welcher zur rechten Seite in eine Wohnküche führte. Links gingen zwei Türen ab. Vielleicht ein Bad und eine Abstellkammer, vermutete ich. Am Ende des Flures führte eine Treppe in den ersten Stock. Ich folgte Chris und sah mich in dem großen Raum um. Er war gut ausgenutzt worden. Die Küche zog sich an der Wand gegenüber von mir entlang. Der große Tisch stand unweit davon entfernt. An der Wand gegenüber der Küche und somit rechts neben mir, stand eine breite Kommode. Die linke Zimmerhälfte zierten eine übergroße Couch, ein kleiner Couchtisch, ein Hocker, ein Fernseher an der Wand links neben mir, sowie ein hoher, schmaler Schrank. Von der Couch aus, konnte man durch das Terrassenfenster in den nicht vorhandenen Garten schauen.
 

„Schön hier“, kommentierte ich.
 

„Danke“, meinte Chris und saß wieder am Tisch. Dafür, dass ich immer noch nicht genau einschätzen konnte, ob er nun extrovertiert oder introvertiert war, verhielt Chris sich zuvorkommend Freigiebig. Entweder vertraute er mir soweit, dass ich nichts Dummes anstellen würde, oder er war schlichtweg in seiner Arbeit gefangen. Ich stand eine Weile rum, ehe ich mich zu ihn an den Tisch setzte. Chris brütete über einem langen, trockenen Text zu irgendeinem Tänzer, der mal Geschichte geschrieben hatte. Demnach war meine letzte Vermutung richtig. Ich setzte mich schweigend. Nach weiteren drei Minuten sah er auf und seufzte mit geschlossenen Augen.
 

„Ich mag die Praxis lieber.“
 

„Das geht den Meisten so.“
 

„Entschuldige die Begrüßung. Willkommen in unserer WG“, begann Chris nachträglich mit einem breiten Grinsen und breitete seine Arme aus. „Möchtest du etwas trinken?“
 

„Später vielleicht. Ich wollte mit Tim reden. Ist er da?“
 

„Ha~, ich hasse es, wenn er Recht hat.“
 

„Wie meinst du das?“
 

Chris stand auf, holte sich ein Glas heraus und füllte es mit Wasser und einer Brausetablette für den Geschmack. „Er ist oben. Hat sich in sein Zimmer verzogen. Aber vorher sagte er, dass er nicht da ist, egal wer was von ihm will.“ Unschlüssig zuckte Chris mit den Armen. „Nayla hat er auch abgewürgt. Sie schmollt jetzt ebenfalls in ihrem Zimmer. Manchmal sind sich die beiden einfach zu ähnlich.“
 

Ich hob eine Augenbraue und sah zur Decke. Er wollte also nicht gestört werden? Wahrscheinlich war ihm eine Laus über die Leber gelaufen und er wollte die Sache mit sich ausmachen. Timothy war ziemlich fürsorglich, was die Personen in seinem Umfeld anging. Selbst wenn er barsch und unnahbar wirkte, schloss er sich lieber selbst ein, als seine Wut an anderen auszulassen. Zumindest schätzte ich ihn so ein. Ein Lächeln stahl sich auf mein Gesicht.
 

Als ich zu Chris sah, war es ein ausgewachsenes Grinsen geworden.
 

„Was?“
 

„Wo ist sein Zimmer?“, fragte ich schlicht.
 

„Mik, nein. Er killt dich. Glaub mir, ich wohne schon eine Weile mit ihm zusammen. Besser man lässt ihn in Ruhe. Er kommt von selbst raus.“
 

Sicherlich war etwas Wahres an Chris‘ Worten, doch mir vielen die düsteren Blicke ein und wie matt und müde er das eine Mal in der Vorlesung gewirkt hatte. Konnte man so jemanden wirklich alleine lassen? Manchmal schon, aber immer? Selbst ich brauchte ab und an jemanden, mit dem ich reden konnte. Einfach um Dampf abzulassen. Timothy konnte doch nicht IMMER alleine bleiben. Besorgt, sah ich nochmal zur Decke, wenngleich ich nicht wusste, ob dort wirklich sein Zimmer war oder nicht.
 

„Schon ok“, sagte ich schließlich und sah zu Chris. „Ich muss so oder so mit ihm reden. Da gibt es keinen passenden Zeitpunkt, glaub mir. Wenn er gerade aufgebracht ist, umso besser.“
 

Chris zögerte. Er hob sein Glas an die Lippen und stellte es ohne zu trinken ab. Ich hatte keine Ahnung was unter seinen langsam entstehenden Locken vorging. Mich interessierte mehr, wie er es hinbekam, dass seine offensichtlichen Naturlocken sonst immer in einer Gelfrisur aus den 2010ern verschwanden.
 

„Sein Zimmer ist ganz hinten rechts. Kann aber sein, dass er nicht antwortet, wenn du klopfst.“
 

„Alles klar“, sagte ich, die Information registrierend, und stand auf.
 

„Mik“, sagte Chris schnell und hielt mich auf. „Wenn‘s nicht klappt… ich mein, bevor ihr euch… Ich erwarte dich lebend zurück.“
 

Verwundert sah ich ihn an und lachte im nächsten Atemzug amüsiert los. „Alles klar. Das klappt schon, vertrau mir“, erwiderte ich noch amüsiert und winkte lässig mit der Hand, während ich in den Flur ging. Lag das nun an Chris sensibler Art oder wirkten Timothy und ich wirklich wie Wasser und Öl, sodass man uns ständig im Auge behalten musste? Woran auch immer, es war amüsant zu wissen. Vor allem für den Fall, wenn wir uns heute einigen sollten.
 

Ich ging die Treppe hoch und den Flur entlang. Links befanden sich vier Türen, rechts zwei. Die hinterste Tür zu meiner Linken stand offen und offenbarte ein Bad. Dann mussten die anderen fünf Türen zu je einem Zimmer führen. Ich ging bis zum Ende des Flures und blieb vor der genannten Tür stehen. Kein Namensschild oder Spruch. Die Tür war schlicht und unspektakulär. Ich hätte erwartet ein Schild zu sehen, mit der Warnung „Wer es wagt einzutreten, wird einen Kopf kürzer gemacht “ oder etwas in der Art.
 

Ich klopfte. Nichts. Ich klopfte erneut. Wieder nichts. Genervt schnaufte ich und griff nach der Türklinke. Die Tür war nicht abgeschlossen, also trat ich ein.
 

Das Zimmer besaß zwei Fenster. Eines zu meiner Linken, eines geradezu nahe der rechten Wand, welches mit dunklem Vorhängen zugezogen war. Halb im Dunkeln erkannte ich rechts neben mir einen breiten Schrank, gefolgt von einem Drehhocker, einer Gitarre, einem Notenpult und einem Verstärker vor dem verdeckten Fenster. Ich trat ein und schloss die Tür hinter mir. Links von mir befanden sich ein kleiner Schrank, das zweite Fenster, sowie ein Schreibtisch und ein Stuhl dahinter, die linke Wand ausfüllend. In der Mitte und mir gegenüber stand das Bett, auf dessen Fußende eine Person saß. Timothy musste sein Gesicht in seinen Händen gehalten gehabt haben, ehe er aufgesehen hatte. Er sah mehr als überrascht aus. Ich stand lässig da und schob meine Hände in die Hosentaschen.
 

„Hätte nicht gedacht, dass du dich wie ein Mädchen im dunklen Zimmer verkriechst“, begrüßte ich ihn.
 

„…“
 

Ich zog eine Augenbraue hoch. „Hat die Katze deine Zunge gestohlen?“
 

„Was willst du hier, Mik? Ich habe Chris gesagt, ich-“
 

„Ja, ich weiß. Er ist auch brav seiner Pflicht nachgekommen“, fiel ich Timothy ins Wort. Dieser schien endlich aus seiner Starre zu erwachen und stand auf. Er ging an mir vorbei und griff nach der Türklinke. Eindeutig um mich rauszuschmeißen. Bevor er die Tür öffnen konnte, stellte ich meinen Fuß vor die Tür und blockierte sie. Einen Moment starrten wir uns angriffslustig und abschätzend an.
 

„Dein Besuch ehrt mich, aber heute ist kein guter Zeitpunkt. Würdest du bitte wieder gehen?“, brachte Timothy kontrolliert und monoton heraus.
 

Ich neigte meinen Kopf und antwortete: „Nein.“ Was mit einem langen Seufzen seinerseits quittiert wurde.
 

„Was muss ich tun, damit du gehst?“, fragte Timothy. Die Hand immer noch an der Klinke.
 

„Die Tür loslassen, wäre ein Anfang“, meinte ich mit provokantem Blick auf seine Hand. „Ich muss mit dir reden und ich gehe davon aus, dass es nie einen guten Zeitpunkt dafür geben wird. Also passt es jetzt.“
 

Timothy eröffnete einen zweiten Moment des Anstarrens, welchen er beendete und seufzend von der Türklinke ließ. „Was willst du?“, fragte er deutlich genervt und stemmte die Hände in die Hüfte. Sein Blick hob sich, wirkte kühl und von oben herab. Ihm reinen Wein einzuschenken war zu einfach und brachte mir keinen Spaß. Timothy war deutlich genervt und in der Defensive. Er lud mich geradezu ein, ihn aufs Korn zunehmen. Auch wenn das nicht der Grund meines Kommens war.
 

„Warum wolltest du so unbedingt, dass ich mit zum Karaoke gehe?", fragte ich. "Warum Jamil mitgemacht hat, weiß ich jetzt, aber Chris denkt sich wahrscheinlich nichts Übles bei. Warum musst du ihn immer ausspielen und vorschicken? Hast du keinen Mumm das selbst zu erledigen?“
 

„Wenn ich Schachfiguren habe, die eine Aufgabe besser erledigen können als ich, warum darf ich sie nicht nutzen? Chris ist es gewohnt und ich lass ihn nur solche kleinen Dinge erledigen“, antwortete Timothy. „Warum ich dich beim Karaoke haben wollte, ist denkbar einfach. Grund Eins: Du hast es von Anfang an vehement abgelehnt dorthin zu gehen. Das reicht doch und macht neugierig. Grund Zwei: Ich war mir sicher, dass du kein null acht fünfzehn Musiker bist. Eine frisch geschriebene Melodie lesen zu können, ohne ein Instrument nutzen zu müssen, können meiner Erfahrung nach nur Songwriter und Sänger. Außerdem hast du diesem unfertigen Lied einen Namen gegeben und es sofort zurückgenommen. Daraus schließe ich, dass du zu voreilig warst. Ein solches Verhalten und die Bedeutung von Namen für einen Song verstehen nur Songwriter selbst. Grund Drei:“, sagte er weiterhin mit ernstem Ton und hob seinen dritten Finger hoch. „Ich war neugierig. Mit all deinen Voraussetzungen wehrst du dich gegen die Musik. Was hat dich dazu gebracht?“
 

„Warum fragst du dann nicht, statt diese Scharade abzuziehen?“
 

„Das macht doch keinen Spaß. Ein Rätsel muss man selbst knacken, sonst ist es langweilig. Du hast deine Erklärung, würdest du jetzt bitte gehen?“, bat er mich erneut und wandte sich ab, als wollte er seine Unbehaglichkeit untermauern.

„Nein“, sagte ich und verschränkt die Arme vor der Brust. „Warum schließt du dich hier ein?“
 

„Niemand hat was von einschließen gesagt und die Tür war offen, wie du selbst bemerkt hast.“
 

Ich schnalzte abfällig mit der Zunge. „Was war das in dem Seminar neulich? Lässt du dich von jedem einfach so kraulen und pennst ein?“
 

Ich bekam keine Antwort, doch seine Nase rümpfte sich ein winziges bisschen, was mein Herz freudig hüpfen ließ.
 

„Wenn ich deinen Worten glauben soll, dann hast du dich nur für meine musikalischen Fähigkeiten interessiert. Die hast du herausbekommen“, begann ich analysierend. „Bravo, aber ein Moment wie im Seminar oder bei der Probe, als du meintest, du suchst jemanden, der dich töten kann, sind dafür unerheblich. Beim Karaoke hast du solange genervt bis ich gesungen habe. Wie war es?“, fragte ich angriffslustiger und grinste frech. „Hat es dir gefallen mit mir zu singen? Ich bin eingerostet, aber ich fand es ganz passabel.“
 

Timothy presste seinen Kiefer zusammen, das sah man deutlich. Er setzte zum Reden an, aber ich redete schnell weiter.
 

„Du hast deine Schwester davon abgehalten, mein Lied zu spielen. Vielen Dank. Aber das übersteigt deine einfache, angegebene Neugierde. Auch deine ach so fürsorgliche Art, auf der Couch. Oder deine ständigen Blicke. Denkst du ich bekomme nicht mit, dass du mich beobachtest, nur weil du schnell wegsiehst?“
 

Timothys Blick verdunkelte sich bereits. Nur noch ein bisschen, dachte ich und musste meine Freude zügeln.
 

„Ich wette, Nayla mal beiseite genommen, wissen die anderen nicht was dich umtreibt? Weiß überhaupt jemand, dass du nur nach einer Gelegenheit suchst, dich ins Messer zu stürzen?“
 

Meine letzten Worte wackelten, weil Timothy mich grob am Kragen meines Shirts gepackt hatte.
 

„Was genau willst du eigentlich von mir?“, fragte Timothy.
 

Sehr gut, er wurde fuchsig. Timothy war schwer wütend zu machen, außer man griff die an, die er beschützen wollte, bzw. sein Ego und die Geheimnisse, die er niemanden offenbaren wollte. Mit letzterem hatte ich Erfolg. Seine Fassade riss und er gab sich eine Blöße. Es störte mich nicht, dass er mich unsanft anfasste. Ihn noch mehr provozierend, ließ ich meine Arme locker neben mir baumeln und blickte mit einem amüsierten Lächeln zu ihm auf.
 

„Die ungeschönte Wahrheit“, antwortete ich ihm. „Neugierde, Spielsucht, dein manipulatives Verhalten. Das sind alles gute Vorwände, die du anderen auftischen kannst. Aber ich will den Grund wissen, warum. Und wenn du dabei bist, erzähle gleich mal, was diese düstere Art soll.“ Anstachelnd lehnte ich mich ihm etwas entgegen. Sein Griff verstärkte sich und ich musste fürchten, dass mein Shirt später ausgeleiert sein würde. Aber das war ein geringer Preis. Timothy schluckte und seine Augen wurden etwas weniger bedrohlich. Er schwieg sich aus und presste die Lippen zusammen. Ich legte meinen Kopf noch ein wenig mehr in den Nacken und verstärke den Eindruck, den er haben musste, wenn er von oben auf mich herabsah.

„Chris macht sich Sorgen, auch wenn er es nicht zeigt“, sagte ich sanfter. „Ich nehme an Nayla weiß, was für Gespenster dich jagen. So oder so kannst du nicht ewig verstecken, wer du bist. Man sieht es dir an“, fügte ich geflüstert dazu.
 

„Still“, kam es gedrängt von Timothy.
 

„Deine Songtexte erzählen davon.“
 

Timothys Augen weiteten sich ein wenig.
 

„Deine Melodien-“
 

„Sei still.“ Die Worte zischten zwischen den Zähnen hervor, während er mich unerwartet grob gegen die Tür drückte. Ich spürte seine Faust auf meiner Brust und den Zug an meinem Shirt von seinem Griff. Seinen Atem gegen mein Gesicht.
 

„Du mutmaßt doch nur.“
 

Ein schwacher Konter, wenn man bedachte, dass ich ebenfalls ein Sänger war. Ex-Sänger. Wie auch immer. Meine Strategie schien aufzugehen. Timothy verlor langsam seine Coolness.
 

„Mhm“, summte ich und lächelte verschmitzt. „Und wenn schon?“
 

Timothy war mir sehr nah. Seine Augen wanderten unstet umher. Ich wüsste gerne was er betrachtete. Meine Augen? Meinen Mund? Seine Faust verlor flüchtig ihren Griff, ehe sie sich erneuerte. Zugleich hatte sich sein Kopf ein wenig zu mir geneigt. Mein Herz machte einen kleinen Sprung. Generell war es mir egal, ob ich Weib oder Kerl küsste. Mir kam es auf den Kuss an und nach der Sache mit der Mandarine, war ich wirklich neugierig geworden. Ebenso beim Karaoke, als ich ihn an der Wand lehnend betrachtet hatte. Verdammt ich war einundzwanzig Jahre alt und hatte bisher noch nie eine solche Anziehung gespürt. Beinahe so, als wollte man eine Flamme greifen. Faszinierend, anziehend und nicht ganz ungefährlich.
 

Ich hob meine Hände langsam an. Zugleich hielt ich den Augenkontakt aufrecht. Ich wollte mir keinen Patzer leisten.
 

„Das ist jetzt das dritte Mal“, sagte ich leiser.
 

„Von was?“, fragte er ebenso leise nach.
 

„Das du mir erst nahekommst und dann ausweichst.“
 

„Einmal warst du es.“
 

Nach dieser Bemerkung konnte ich mir ein Grinsen nicht mehr verkneifen. Es war beinahe elektrisierend, wenn man mit jemanden des gleichen Kalibers auf Tuchfühlung ging. Meine Fingerspitzen legte ich nahe seinem Schlüsselbein auf und ich schob sie von dort vorsichtig über die freie Haut seines Halses in Richtung Nacken. Ich berührte ihn nur leicht und spürte die Gänsehaut, die sich unter meinen Fingerkuppen bildete.
 

Timothy konnte sonst was für ein ernstes Gesicht ziehen, seine Körperfunktionen hatte er Null im Griff.
 

„Du zählst ja doch mit“, meinte ich neckend und neigte meinen Kopf koket zur Seite. Meine Finger hatten ihr Ziel erreicht und begannen mit den weichen Locken zu spielen.
 

„Mik.“
 

„Mhm?“
 

„Was schwebt dir vor?“, fragte Timothy. Er neigte seinen Kopf mehr zu mir und in seinen Augen konnte ich deutlich die Zurückhaltung lesen, die ihn quälte. Seine Hand hatte meinen Kragen bereits losgelassen und stahl sich auf meinen Rücken.
 

„Das weißt du doch. Warum stellst du immer Fragen, deren Antwort du schon weißt?“ Meine Stimme war neckend und ich zog mich näher an ihn heran. Die Hand, welche nicht mit den Haaren spielte, legte sich an seine Wange. „Sei nicht so feige“, raunte ich gegen seine Lippen. Ich küsste ihn und hing den Bruchteil einer Sekunde quälend wartend in der Luft, ehe Timothy erwiderte.
 

Der Kuss war berauschend angenehm. Ich zog mich an seinem Nacken näher, höher, aber ich stand bereits auf Zehenspitzen. Aus Angst zu taumeln, brach ich den Kuss dummerweise ab, nur um festzustellen, dass Timothy mich sicher mit seinem Arm bei der Taille hielt. Seine freie Hand strich mir über die Wange, sein Daumen zog an meiner Unterlippe und sein dunkles Braun leuchtete vor Freude. Ich grinste offensiv und kam ihm näher. Ein vorsichtiges antasten, ein Knabbern an seinen Lippen und ein freches Lecken über sie, gewährten mir den erwünschten Einlass. Timothys Hand schob sich in meine Haare und ich genoss den Kuss. Sein Arm war fest um mich gelegt, dass nicht mal mehr Luft zwischen uns passte. Ich hörte ein dumpfes Geräusch, als Timothy mich vollends gegen die Tür drückte und mein Kopf das Holz berührte. Es entbrannte ein Kampf, den keiner von uns verlieren oder aufgeben wollte. Lippen aufeinander gepresst, Zungen, die sich umtanzten. Wir genossen es. Mein Herz klopfte in meinen Ohren, mein Atem wurde unstet. Timothy indes verstärkte immer mal wieder den Druck seiner Hände auf mir. Packte zu und hielt mich sicher. Wenn ich mich verspielt von seinen Lippen zu trennen wagte, unterband er es. Er war begierig. Perfekt. Das war ich auch, dachte ich selbstzufrieden und griff fester in die dunklen Haare.
 

Als wir uns endlich lösten und ich auf die Uhr an meinem Handgelenk schielte, waren gerade mal fünf Minuten vergangen. Mein Blick glitt zurück ins Dunkelbraun. Ich setzte einen Kuss auf seine feuchten, rotgeküssten Lippen und zog sanft an der oberen.
 

Scheinbar waren wir uns einig.



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