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Juli 1970

Pathologie eines Philologen
von

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Ein Hauch von Zauberei

Ein irrer Traum, dachte Michael, während er - von der Morgensonne schon geweckt, aber noch mit geschlossenen Augen - im Bett lag. Und dabei schien er ihm so real gewesen zu sein.
 

"Oh, du siehst ja richtig chic aus", begrüßte ihn Anna und berührte mit ihrem Rosenmund Michaels Stirn.
 

Er schlug die Augen auf.
 

"Bist du gestern Nacht noch einmal aufgestanden, um mich zu überraschen?"
 

Cassandras Kommentar auf Michaels verwirrten Blick war ein breites Grinsen, dann streckte sie sich wohlig und stand auf.
 

"Was meinst du?" fragte Michael seine Angetraute etwas befremdet.
 

"Na, deinen Bart, was sonst. Das Gestrüpp war ja entsetzlich, ich wollte es dir eigentlich gar nicht sagen, aber jetzt... richtig flott, wie ein Kalif." Lächelnd streichelte Anna seine Gesichtszier.
 

Und nun strich sich auch Michael verwundert über das Kinn und den elegant gestutzten Bart."
 

Cassandra klatschte noch einmal Beifall. "Ich danke dir dafür, mich zu einer Zauberin gemacht zu haben. Die Idee gefällt mir... aber du hast gemogelt! Das ist die Geschichte deiner Bartfrisur, nicht die seines Entstehens. Da muß ich also Nachbesserung anmahnen... mal ganz abgesehen von dem deus, richtiger der musa ex machina, die die ganze Sache so schnell zu einem glücklichen Ende bringt."
 

Michael nahm die Kritik mit einem steifen Nicken zur Kenntnis. Cassandra hatte da ihren Finger auf einen wunden Punkt gelegt... aber beim Sichten des Manuskriptes zeigte sich immerhin, daß die Anstreichungen zur erzählerischen Glättung des Textes nur dünn gesät waren. Also hatte sein Talent die vergangenen fünf Jahre offenbar nur geschlummert und war nicht verendet - oder Cassandra hatte es erfolgreich wiederbelebt. Es sollte mit dem Roman wohl klappen.
 

"Ich werde nachbessern, versprochen. Für dein ungeteiltes Wohlwollen nehme ich die Rettung der Götterwelt in Angriff," sagte er leise und hauchte seiner Muse einen Kuß auf die samtige Wange.
 

Cassandra spielte mit, aber dann fiel ihr ein: "Willst du wirklich wissen, wie das Teleportieren funktioniert?" Und als Michael nachdrücklich nickte, nahm die Muse den Stapel von Zauberlehrgangsblättern, über den sie nun verfügte, zur Hand, suchte darin und zog dann ein Blatt heraus.
 

Für Michael sah es so normal aus, wie irgendein leeres Blatt Papier, aber als Cassandra mehrmals mit den Händen darüberstrich, bildeten sich langsam Buchstaben und Zeichen auf dem bläulich-weißen Papier. Zwei Überschriften fielen ins Auge. Auf dem oberen Ende der Seite stand 'Zu Teleportieren', im unteren Drittel 'Durch Wände zu gehen'.
 

"Diese Anleitung ist natürlich eigentlich für Menschen, die über magische Fähigkeiten verfügen", erklärte Cassandra ernsthaft. "Aber das Teleportationsabo versieht dich mit einer Art zweckgebundener Magie, die auch dir die Teleportation erlaubt..."
 

Michael hörte nur mit einem halben Ohr der einführenden Erklärung zu. Ihn interessierte das Kapitel 'Durch Wände zu gehen' viel mehr. Schematisch war eine rechte Hand abgebildet, Kleiner und Ringfinger mit dem Daumen zusammengelegt, Zeige- und Mittelfinger gerade ausgestreckt. Eine gepunktete Schleifenlinie markierte, wie die ausgestreckten Finger zu führen seien, darunter stand noch:
 

'Und befiehl der Wand, sich Dir zu öffnen.'
 

Cassandra stieß ihn an. "Halloho! Hör zu! Teleportation gelingt nur im Freien, unter dem offenen Himmel. Und du brauchst für deine ersten Versuche einen festen Bezugspunkt. Vorzugsweise suchst du dir diesen Bezugspunkt an einem Ort, der für dich sicher ist und nicht von aller Welt einsehbar. Dein Garten ist also ideal. Präge dir den Punkt, den du wählst, genau ein; versuche, ihn mit allen Sinnen zu erfassen, ihn zu spüren, auch wenn du nicht an diesem Ort bist. Zu diesem Punkt kannst du dann von überall her gelangen, einfach indem du dir vorstellst, an ihm zu sein. Und wenn du etwas Übung hast und deine Imagination ausreicht, kannst du auch andere Orte erreichen, dich im eigentlichen Sinn des Wortes hindenken. Aber du brauchst immer eine genaue Vorstellung von dem Ort, an den es gehen soll."
 

"So einfach ist das?" Michael staunte. "Gibt es da nicht auch die Gefahr von Zusammenstößen, der Materialisierung in bereits vorhandener Materie oder ähnliches?"
 

Cassandra schüttelte den Kopf. "Das müßtest du dann schon bewußt herbeiführen. Wenn du so einfach dastehst, sinkst du ja auch nicht in festen Untergrund ein. Zauberei setzt die Naturgesetze schließlich nicht außer Kraft, sondern nutzt nur ihre vorhandene Elastizität aus. Natürlich geht nichts ohne Übung. Stehen und Laufen hast du schließlich auch lernen müssen." Die Muse grinste über Michaels Gesichtsausdruck. "Ja, ich weiß, das ist schon ein Weilchen her, aber das sollte dir nicht den Mut nehmen. Das Üben nimmt dir jedoch keiner ab."
 

"Und wenn ich mal Mist mache, bist du da, um mich zu retten?" fragte Michael halb im Scherz.
 

Cassandra zögerte mit der Antwort. "Wir werden sehen", sagte sie dann, doch ihr Lächeln wirkte etwas bemüht.
 

Noch an dem Abend streifte Michael durch seinen Garten, um sich einen Bezugspunkt zu suchen und mit seinen 'Gehversuchen' zu beginnen.
 

*
 

Freitag, 10.7.1970
 

Da der Verlag nun, nach dem ersten Romanexposé seit über fünf Jahren, schon drängelte und das Institut ihn daran erinnerte, daß zu Beginn des Herbsttrimesters bereits die Vorlesungsverzeichnisse für das Frühjahr zusammengestellt würden, mußte Michael sich wohl oder übel am nächsten Morgen außerplanmäßig in die Bibliothek aufmachen, um für den Roman und ein mögliches Vorlesungsthema zu recherchieren.
 

Wie der Fachbereich Philologie war auch dessen Bibliothek im ehemaligen Bischöflichen Palais untergebracht, freilich lag der Haupteingang zur Bibliothek - benutzte man nicht die internen Schleichwege - auf der Rückseite des 'Schlosses', und so lautete seine Adresse nicht 'Am Schloßplatz', sondern 'Auf dem Domberg'. Die Fassade des Palais, auf die Michael von der Innenstadt her zuging, erfüllte alle Anforderungen, die an einen barocken Fürstensitz gestellt werden konnten, einschließlich der inzwischen zur Fußgängerzone umgewidmeten Prachtallee, die auf den Haupteingang des Palais oder 'Schlosses' führte. Es handelte sich bei diesem 'Schloß' jedoch nur um eine alte städtische Klosteranlage, deren Ostflügel im späten 17.Jahrhundert modernisiert worden war. Der rückwärtige Teil mit der 'Bischöflichen Bibliothek', wie sie bis heute trotz der Säkularisierung im 19.Jahrhundert hieß, zeigte noch die gotischen Spitzbögen, ebenso wie der durch einen überdachten Gang mit dem ehemaligen Kloster verbundene Dom 'Maria und Alle Heiligen', der dem über der Neustadt im Tal liegenden Teil der Höhe seinen Namen gegeben hatte.
 

Michael sah die steilen Treppen zur Neustadt hinunter, lehnte sich, wie er es immer tat, weit über das Geländer der Domplatzterrasse. Das Geländer war noch das Gleiche wie zu Michaels Schulzeit, ebenso die aus dem Fels gehauenen Stufen der Treppe, aber die gläsernen Aufzüge waren verhältnismäßig neu. Im vergangenen Jahr war daran noch gearbeitet worden. Im Sonnenlicht glitzerte jenseits der Neustadt der Rhein, der aus Richtung Hohenzell und Basel kam und nach Norden floß. Die verkehrsgünstige Lage hatte Hohenzell bereits in vorrömischer Zeit zu Reichtum verholfen und wohl auch die ersten Anfänge von Hohenheim befördert.
 

Obwohl es noch recht früh war, hatte die Sommerhitze auf dem gepflasterten Platz vor dem Dom schon wieder ein fast unerträgliches Maß erreicht, also flüchtete Michael in die angenehm kühle Bibliothek.
 

"Ah, b'jour, Professor Drake", begrüßte ihn der Bibliothekspförtner, als Michael die schwere Holztür, die vom Treppenhaus zu den Lesesälen und Katalogräumen führte, bedächtig schloß. "Steht ihnen gut, der Bart."
 

"Danke, Herr Lavater", grüßte Michael zurück und trug sich in das dargebotene Benutzerbuch ein. Er war der erste an diesem Freitag und machte eine diesbezügliche Bemerkung.
 

Lavater grinste. "Und dabei ist es hier doch viel angenehmer als in der prallen Sonne."
 

Michael grinste zurück. "Das Schwimmbad ist aber vielleicht doch attraktiver."
 

Lavater freute sich. "Na, zumindest was die sinnlichen Genüsse betrifft."
 

Michael grüßte den launigen Mann und machte sich auf ins Magazin. Als Dozent der mehr ehrwürdigen als alten Friedrich-Philipp-Universität Hohenheim gehörte Michael zu den wenigen Privilegierten, denen der persönliche Zutritt in die Magazine gestattet war. Er ging den bekannten, mit grau-beigem Linoleum ausgelegten Gang entlang, vorbei an den hohen Fenstern mit Blick auf den ehemaligen Kloster-Kreuzgang zur Linken und den kassettierten Holztüren zur Rechten, die in die Büros der Bibliotheksangestellten und ins Vorzimmer des 'Bischöflichen Bibliothekars' führten. Die schmale Treppe nach oben und den dortigen Gang noch weiter, bis zum Wegweiser zu den verschiedenen Magazinräumen. Aber Michael kannte den Weg zu 'seinem' Magazin natürlich im Schlaf, ohne sich dafür auf die Wegweiser verlassen zu müssen.
 

Wie alle Magazine befand sich auch 'seines' hinter einer schweren, brandsicheren Metalltür, die sich auf ihren gut geschmierten Angeln jedoch leicht bewegen ließ. Der vertraute Geruch der Ledereinbände und des alten Papiers umfingen Michael. Er fühlte sich hier so heimisch, wie kaum an einem anderen Ort. Im Trimester besuchte er das Magazin fast täglich und in den Ferien doch zumeist einmal in der Woche. Tatsächlich empfand er den Inhalt der dicht stehenden Regale als 'seine' Bücher, obwohl sie ihm doch gar nicht gehörten, und nur vier der sechs tatsächlich von ihm verfaßten wissenschaftlichen Werke vorne im ersten Regal mit den Institutsschriften unter der Signatur 'FriPhiPL07' standen. Seine Dissertation stand im Magazin 'Deutsche Lyrik' und 'Faszination Morgenland' war im Druck. Die durchgesehenen Korrekturfahnen hatte er in den Briefkasten gesteckt, als er seine Tochter Greta nebst Familie vor einigen Tagen am Basler Flughafen verabschiedete. Er würde im kommenden Trimester an das Thema Orient anknüpfen, im Vorlesungsverzeichnis war es angekündigt als 'Die Geschichten in Geschichten. Wurzeln und Entwicklung einer Erzähltradition'. Natürlich war er bei seinen Recherchen dazu an den antiken Romanen nicht vorbeigekommen... und warum sollte er nicht zu seinen altphilologischen Wurzeln zurückkehren und Antike und Antikenrezeption in den Mittelpunkt einer Vorlesung stellen? Auch sein neuer Roman sollte ja mehr oder weniger im antiken Gewand daherkommen. Nach den Worten seines Verlegers hatten solche Themen zur Zeit beim Publikum die besten Chancen.
 

Michael schlenderte durch 'sein' Magazin. Im hinteren Teil des Raumes standen die antiken Autoren, allen voran natürlich Apuleius, 'Phan.Lat.001'. Er ging ein Regal weiter zu den 'Phan.Graec.' Wieso hatte Achilleus Tatios die Signatur 'Phan.Graec.082'? Zählten die Griechen neuerdings rückwärts? Aber daneben stand Agathons 'Antheus' unter 'Phan.Graec.083'. Michael hatte sich bisher nie etwas dabei gedacht, nun jedoch kam es ihm merkwürdig vor.
 

Er inspizierte systematisch die Regale des Magazinraumes 'Märchen und Phantastische Literatur': 'Phan.Aeg.', 'Phan.Ind.', 'Phan.Orient' und so fort, alle fingen mit 001 für den alphabetisch ersten Autoren des jeweiligen Regales an. Wo waren also 'Phan.Graec.001' bis '...081'?
 

Es waren auch nach eingehender Prüfung keine auffälligen Lücken in der alphabetischen Abfolge der 'Phan.Graec.' zu bemerken, aber es war merkwürdig, daß Achilleus Tatios nicht mit '001' signiert war. Michael inspizierte noch einmal die Stirnseiten der Regale mit den Quellentexten: die 'Phan.Graec.' waren auf ein Regal beschränkt und das stand direkt vor der hinteren Wand des Raumes. Natürlich gab es da noch die stets verschlossene Tür in dieser Wand, ebenfalls eine Brandschutztür. Aber wäre dahinter ein weiterer Teil dieses Magazins, müßte das doch an der Tür oder neben der Tür an der Wand kenntlich gemacht sein, auch falls es sich um eines der nur eingeschränkt zugänglichen Rara-Magazine handeln sollte.
 

Da war doch was faul! Noch einmal schritt Michael die Regale ab, diesmal alle: Quellen, Sekundärliteratur, Handbücher und Bibliographien - nichts zu finden. Also mußte er wohl wieder hinunter gehen in den Katalograum und den Systematischen Katalog durchsehen.
 

Michael ging zurück zum 'Phan.Graec.'-Regal, um seinen Notizblock zu holen und versuchte spaßeshalber doch einmal die Türklinke der grau gestrichenen Brandschutztür. Sie war verschlossen. Wie war das noch mit dem 'Durch Wände zu gehen'?
 

Michael grinste, hielt die rechte Hand in der vorgeschriebenen Weise und zog die imaginäre Schleifenlinie mit den ausgestreckten Fingern nach. "Sesam öffne dich", befahl er, aber natürlich tat sich nichts. Cassandra hatte ihm ja erklärt, daß seine magischen Fähigkeiten auf das Teleportieren beschränkt waren... allerdings hatte er es bei der Tür versucht, dabei war es doch ein Zauber 'Durch Wände zu gehen'!
 

Michael versuchte es also ein zweites Mal, diesmal einige Meter neben der verschlossenen Tür.
 

In der Wand tat sich eine fast türgroße Öffnung mit unregelmäßigen Rändern auf. Michael schnappte erschrocken nach Luft und war froh, im Magazin allein zu sein. Wie sollte er soetwas einem der Bibliotheksangestellten erklären?
 

* * *
 



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