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Juli 1970

Pathologie eines Philologen
von

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Die Realität der Phantasie

Michael nickt. "Ich denke, ich verstehe. Ich werde versuchen..." Aber plötzlich verschwimmt die Umgebung, die Farben wirbeln durcheinander und Michael ist gerade mit seinem überlichtschnellen Raumer auf einem unbekannten Planeten gelandet. Alle Meßinstrumente zeigen normale Werte, es handelt sich zweifelsohne um einen erdähnlichen Himmelskörper, aber irgend etwas liegt in der Luft, was Michael Gefahr signalisiert.
 

Kaum hat er, mit seiner Laserpistole bewaffnet, das schützende Schiff verlassen, wirft sich auch schon eine schöne, in Fetzen gekleidete Frau schutzsuchend in seine Arme. Sie schluchzt hysterisch und aus ihren unergründlichen grauen Augen fließen die Tränen literweise. "Helfen sie mir! Sie wollen mich fangen! Ich bin geflohen! Oh, helfen sie mir!" In der Ferne sind einige Staubwolken auszumachen, die sich unaufhaltsam nähern.
 

Obwohl er richtig tough ist, rührt das grausame Schicksal der Schönen doch Michaels Herz. Per Fernsteuerung richtet er die Laserkanone seines Schiffes auf die Staubwolke, und noch bevor die Verfolger in gefährliche Nähe kommen können, werden sie aus der Welt geblasen.
 

"Oh, mein tapferer Held!" ruft die Schöne aus und strahlt Michael bewundernd an. Dann legt sie ihren blondbeschopften Kopf wieder an seine Schulter und läßt sich ohne Widerspruch umarmen. "Oh, Miiischa", schnurrt Anna, und da erschüttert ein Krachen die Welt.
 

Michael schreckt auf. Ein Windstoß muß eine Tür zugeworfen haben. Es ist hell, ein verstörter Blick zur Uhr zeigt ihm, daß es bereits Mittag ist, und aus der Küche - die direkt unter dem Schlafzimmer liegt - sind eindeutige Geräusche zu hören: jemand wäscht ab! Das Bett neben Michael scheint unbenutzt, aber Anna hat es schon immer sehr eilig mit dem Bettenmachen gehabt. Wahrscheinlich ist sie schon vor Stunden aufgestanden.
 

Glücklich springt Michael auf. Anna ist wieder da und würde wieder seine Muse sein - und er würde wieder schreiben! Ohne sich mit der Morgentoilette oder gar einer Rasur aufzuhalten läuft Michael die Treppe hinunter.
 

Das fröhliche 'Hallo, Anna!' bleibt ihm jedoch im Halse stecken, als er die Küchentür aufstößt. Die dunkelrot gelockte Schönheit, die in Annas Schürze am Spültisch steht und das Geschirr des Vortages säubert, ist niemand anderes als Athena.
 

"Guten Tag, Herr Drake", begrüßt die Göttin ihn freundlich. "Da sie durch meine Schuld einen halben Tag verloren haben, dachte ich mir, ich könnte ihnen bei der Hausarbeit ein wenig unter die Arme greifen."
 

"Äh, danke, meinen herzlichsten Dank", erwidert Michael lahm und wie im Reflex öffnet er die Kühlschranktür, um sich etwas zum Frühstück herauszusuchen. Zuvorderst liegt eine angebissene Brotscheibe, belegt mit dicken, unregelmäßig geschnittenen Käsestücken. Der Anblick dieses Objektes aus dem Traum verdirbt Michael den Appetit.
 

Athenas graue Augen blitzen, als sie fragt: "Und? Glauben sie jetzt an die Realität der Phantasie?"
 

Michael läßt sich schwer auf einen Küchenstuhl fallen. "Was soll ich sagen... aber solange ich keine Muse habe, kann ich dem status quo nicht abhelfen - sosehr mir auch selbst daran liegt." Schaudernd denkt er an Cesavars Ausführungen.
 

Athena reißt die grauen Augen auf. "Eine persönliche Muse wollen sie haben?!"
 

"Mit Anna wäre ich ja schon zufrieden", beschwichtigt Michael sie.
 

"Erst die Arbeit, dann das Vergnügen", weist Athena ihn scharf zurecht. Dann legt sie die Schürze ab. "Aber lassen sie mich überlegen." Sie beginnt, in der Küche auf und ab zu gehen und ihre langen, gebräunten Beine lassen das Seidenfutter ihres Minikleides rascheln.
 

"Kommen sie mit", sagt die Göttin dann plötzlich, greift nach Michaels Arm und übergangslos stehen sie in der Königin-Winifred-Straße mit ihren klassizistischen Bürgerhäusern und den großen Gärten hinter den schmiedeeisernen Gittern, gerade an der Einmündung auf die Schloßallee, wo die Fußgängerzone beginnt. Mitten auf der ehemaligen Prachtstraße zwischen Bischöflichem Palais und Bahnhof steht, beschattet von dichtbelaubten Linden und Platanen, der Eichkatzerl-Brunnen. Das Wasser im Schatten fast schwarz, spiegelt sich dort nur das von der Sonne durch das Blätterdach erleuchtete bronzegoldene Gesicht des Mädchens, das eines der metallenen Eichhörnchen mit metallenen Nüssen lockt. Sie scheint Michael vom Grund des Brunnenbeckens aus anzusehen. Plötzlich blinzelt das Mädchen und steigt von dem Stein auf dem es eben noch hockte herunter, watet durch das gerade knietiefe Wasser und stellt sich neben Athena, die sie Michael hinschiebt. "Das ist Cassandra", sagt die Göttin, "ihre persönliche Muse." Und wieder löst sie sich in Luft auf.
 

Die lebendig gewordene Brunnenfigur lächelt Michael ein wenig scheu, aber zutraulich an, lockt das ebenfalls lebendig gewordene kleine Eichhörnchen...
 

Nein, er sollte beim Streifenhörnchen bleiben. Also:
 

Cassandra lockt das ebenfalls lebendig gewordene Streifenhörnchen herbei, das springt in ihre Schürzentasche. Dann nimmt der Dichter die Muse mit zu sich nach Hause.
 

In der heimischen Küche breitet Michael den Inhalt seines Kühlschrankes vor Cassandra und dem zahmen Taschentier aus. Dann geht er in sein Arbeitszimmer, um die niemals beendete Geschichte zu holen, getippt auf ein Blatt, das noch immer in die alte Koffermaschine eingespannt ist. Und während Cassandra ißt, dabei Casus Belli einige Bröckchen zuteilt, liest Michael seiner neuen Muse vor...
 

...sowas wie...
 

"Die Amöben kommen. Vor gar nicht allzulanger Zeit lebten auf einer fremden Welt zwei ganz seltsame Wesen. Es handelte sich um eine Art Amöben, aber viel größer, als wir sie kennen, und sie konnten, nach echter Amöbenart, ihre äußere Form nach Belieben verändern. Meistens hielten sie sich in einem langen, breiten Fluß auf, der die gleiche bräunliche Farbe hatte, wie ihre Körper. Und hätte ein Mensch von diesem Flußwasser gekostet, hätte er gemerkt, daß es Spezi war, und die Amöben Speziamöben. So lebten die Amöben ohne besondere Ambitionen, flossen nur so dahin oder ließen sich treiben, jahraus - jahrein."
 

'Na, so doll ist das ja nicht.' Michael kaute enttäuscht an seinem Zeigefinger. 'Aber es ließe sich zum Prinzip erheben. Also:'
 

"So doll ist das ja nicht", bemerkt Michael nachdenklich.
 

"Lies doch weiter", drängelt Cassandra.
 

"Jadoch! Also... Eines Tages jedoch wurde ihr friedliches Dasein gestört und zwar durch einen starken, auffordernden, ja geradezu zwingenden Gedanken, dem die Speziamöben, ob sie nun wollten oder nicht, folgeleisten mußten. Und dieser, aus unbekannter Quelle stammende Gedanke besagte: "Macht euch die Welt der Götter untertan."
 

Ehe die Amöben es sich versahen, die bisher friedlich ihr Leben gefristet hatten, schwammen sie nicht mehr in ihrem süßen, etwas klebrigen Spezifluß, sondern in einem salzigen, etwas öligen Meer, und wieder störte ein Gedanke die Amöben: "Nur durch den Herrscher dieser Welt könnt ihr euer Ziel ereichen. Macht ihn euch gefügig."
 

Im Pseudopodienumdrehen waren die Speziamöben im Olymp, gerade vor Zeus' Thron, und noch ehe der erboste Gott irgendwelche Gegenmaßnahmen ergreifen konnte, flossen sie... hier hört es auf. In dem Moment eröffnete Anna mir, daß sie mich verläßt." Traurig läßt Michael den Kopf hängen.
 

Cassandra klopft ihm sanft auf die Schulter. "Komm, fasse dich. Zeus ist sicher bereit, dir einen Wunsch zu erfüllen, wenn du die ganze Angelegenheit zu göttlicher Zufriedenheit geregelt hast. Und wenn du den Wunsch gut nutzt..."
 

Michael nickt und greift zu dem Glas Spezi, das auf dem Tisch neben der Schreibmaschine steht. Etwas Unsichtbares schlägt es ihm jedoch aus der Hand und die Flüssigkeit ätzt dort, wo sie den Küchenboden trifft, tiefe Löcher in das Linoleum.
 

"Was zum..." aber weiter kommt Michael nicht. Plötzlich steht er im Nichts, Cassandra neben sich und Casus Belli fest in seinen Zeigefinger verbissen. Michael fühlt, wie seine Arme plötzlich kalt werden und in seinen Innereien Schmetterlinge flattern, dann wird ihm für einen Moment schwarz vor Augen.
 

"Halt deine Hand still", verlangt Cassandra, und mit geschickten Bewegungen, die zeigen, daß sie Erfahrungen mit solchen Situationen hat, löst sie ihr beißwütiges Schürzentaschentier von Michaels Zeigefinger. Anscheinend verdankt das so niedlich aussehende Tier seinen martialischen Namen dem Umstand, daß es in kritischen Situationen dazu neigt, in fremde Finger zu beißen.
 

Der Anblick seiner halb abgebissenen Fingerkuppe verursacht Michael neue Übelkeit, aber da streicht schon eine sonnengebräunte Hand über die Verletzung und Blut und Wunde sind verschwunden. Erst im Nachhinein spührt Michael einen dumpf pochenden Schmerz, der bald vergeht.
 

"Tut mir leid... das mit Casus Belli", sagt Cassandra zerknirscht.
 

Michael zuckt mit den Schultern. Immerhin hat Athena ihn ja umgehend geheilt. "Schon vergessen", sagt er darum großzügig. Und jetzt hat Michael auch einen Blick für seine Umgebung. Er, Athena und Cassandra befinden sich inmitten einer sonnendurchglühten Wüste, am Rande einer Oase, die aus etwa zwanzig um ein Wasserloch stehenden Palmen besteht. "Was ist passiert?" will er von Athena wissen.
 

"Ich habe sie beide hierher versetzt, um sie vor einem zweiten Anschlag der Amöben zu bewahren."
 

"Einem zweiten Anschlag?" fragt Michael ungläubig, aber da keimt schon ein Verdacht auf, den Athenas Erklärung auch bestätigt.
 

"Das Glas Säure... wer weiß, was als nächstes gekommen wäre." Athena deutet zu einem weißen Etwas hinter der Palmengruppe. "Da hinten steht ein Zelt für sie, mit allem, was sie für einen vierundzwanzigstündigen Aufenthalt hier brauchen. Ich denke, daß sie hier vor weiteren Angriffen sicher sind. Sie können sich also ganz auf die Arbeit an dem bekannten Problem konzentrieren, Herr Drake. Erzählen sie ihrer Muse die unvollendete Geschichte zuende, und falls doch irgendetwas passieren sollte, versuchen sie, die Stadt zu erreichen." Die Göttin deutet vage in eine Richtung, in der sich - wie in alle anderen Richtungen - heller Sand erstreckt. "Suchen sie dort meine Kontaktperson in dieser Welt auf. Sie ist eine Hexe und in der Stadt hinlänglich bekannt. Sie wird ihnen in allem weiterhelfen können. Chairete!" Und Athena verschwindet.
 

Michael und Cassandra sehen sich jedoch zunächst genauer um. Das niedrige, langgestreckte Zelt liegt teilweise im Schatten der Palmen. In seinem Inneren ist es überraschend hell, da das Sonnenlicht durch die weißen Zeltbahnen nur wenig gedämpft wird - dabei aber erstaunlich kühl. Senkrecht aufgespannte Stoffbahnen unterteilen das Zelt in drei 'Räume', die beiden inneren sind mit Teppichen und Kissen reichlich ausgestattet, im ersten stehen, mit Tüchern abgedeckt, große unglasierte Tontöpfe, die mit trockenen Lebensmitteln gefüllt sind. Es finden sich auch Becher und Teller, aber kein Besteck. Casus Belli läßt sich ohne Umschweife in einen Topf mit Nüssen fallen und beginnt, geräuschvoll zu knabbern.
 

Cassandra findet bei ihren Nachforschungen auch zwei lange Baumwollhemden, bestickt mit Arabesken, die der Wüste besser angepaßt sind, als die Hohenheimer Sommertracht. Und Michael fühlt sich in ein Märchen aus Tausend-und-Einer-Nacht versetzt, als er aus dem Augenwinkel beobachten kann, wie Cassandra ihre Schürze abbindet und beginnt, das Kleid auszuziehen, um die zur Verfügung gestellte Kleidung anzulegen. Jetzt mustert er ihren sehr schlanken, aber wohlproportionierten honigfarbenen Körper unverhohlen und fühlt sich so lebendig wie schon lange nicht mehr. Cassandra ist wirklich eine betörend schöne Frau, an die Anna kaum heranreicht. In dem Moment dreht sich seine Muse nackt zu ihm um und scheint in seinen Augen seine Gedanken zu lesen. Tatsächlich scheint sie seine Gefühle sogar zu erwidern, denn sie kommt zu ihm, läßt sich bereitwillig auf die seidigen Lippen küssen, umarmen, liebkosen.
 

Als Michael erwacht, sucht er vergeblich nach seiner werdenden Manneszier - sein Kinn ist so glatt wie Cassandras bezauberndes Hinterteil. Er blickt verträumt auf seine geliebte Muse, die - noch schlafend - neben ihm liegt. Sieht er da wirklich ein paar weiße Strähnen in ihrem dunklen Haar? Kopfschüttelnd erhebt Michael sich, um in dem 'See' vor dem Zelt ein wenig zu baden.
 

Als er aus dem klaren Wasser eine Handvoll zum Trinken schöpfen will, sieht er in der spiegelglatten Wasserfläche, daß seine Haare einen satten Schwarzton haben, den er seit Jahrzehnten vermißt. Und auch sein Gesicht erscheint eher wie das eines twen, als wie das eines Mannes von über fünfzig. Cassandras Spiegelbild wird neben seinem sichtbar. Michael erschrickt und auch Cassandra ist sichtlich schockiert über ihre Erscheinung: sie sieht aus wie eine alte, abgehärmte Frau. Die Muse schlägt, stumm vor Entsetzen, die Hände vor das alte Gesicht, und Michael muß an Geschichten von Vampiren denken, die es auf die Jugend, nicht auf das Blut ihrer Opfer abgesehen haben. Sollte er etwa...
 

"Laß uns schnell diese Hexe suchen", sagt Cassandra gepresst und unterbricht damit Michaels düstere Gedanken. Dann läßt sie die Hände sinken, sieht ihren Dichter an und fügt hinzu: "Solange wir beide noch laufen können."
 

"Du meinst... es geht weiter?" Aber Michael braucht gar nicht Cassandras geflüstertes "Ich fürchte es", um seine Frage zu beantworten. Die jugendliche Kraft, die er für einen Moment in seinen Gliedern gespürt hat, ist fast schon wieder aus ihnen verschwunden, es bleibt zunehmende infantile Schwäche. Michael wagt kaum, sich das weitere Fortschreiten des Prozesses in letzter Konsequenz auszumalen.
 

"Wahrscheinlich ist es das Werk der Amöben, die uns auf dem Weg hierher gerade noch etwas anhängen konnten", vermutet Cassandra, besieht sich ihre faltig und altersfleckig gewordenen Hände. "Erzähle mir um unseretwillen den Rest der Geschichte!"
 

Ja, das würde Cassandra goutieren. Der ein bißchen dämliche und ein bißchen uneinsichtige Dichter, dem die Muse in jeder Hinsicht auf die Sprünge helfen muß... Michael grinste in sich hinein.
 

Und als der Dichter sich mit seiner Muse und etwas Proviant und Wasser auf den Weg in die Stadt macht, beide sich durch die unbarmherzig heiße Wüstenlandschaft schleppen, erzählt Michael - streckenweise atemlos und vom Stimmbruch gequält - das Ende der Geschichte von den Amöben: "Die beiden Speziamöben hatten es also bis vor Zeus' Thron geschafft. Sie flossen zusammen und bildeten ein riesiges Gesicht mit stechenden Augen, um Zeus zu hypnotisieren. Aber diesem bahnbrechenden Einfall blieb der Erfolg versagt, denn gerade in diesem Moment stürzte Hermes mit einer wichtigen Nachricht bei seinem Chef herein. Er sah sofort, was vor sich ging und konnte die übrigen Götter alarmieren. Mit vereinten Kräften gelang es ihnen, die Amöben aus dem Olymp zu vertreiben.
 

Doch die Amöben waren noch nicht besiegt. Sobald sie erfahren hatten, daß ihr Schöpfer aufgefordert worden war, sie in ihre angestammte Welt zurückzuverfrachten und ihm dafür von den Göttern eine Muse zur Verfügung gestellt worden war, überlegten sie, wie sie sich ihres Schöpfers entledigen könnten. Sie versuchten es mit einer List: in ein Trinkglas füllten sie einen Teil ihres stark ätzenden Endoplasmas, und hofften, der Schöpfer würde davon trinken. Doch diesem Anschlag blieb der Erfolg versagt. Zu allem Überfluß wurden Schöpfer und Muse von den Göttern auch noch in eine ferne Welt versetzt, die die Speziamöben nicht körperlich aufsuchen konnten. Sie ließen jedoch nicht locker. Mit Fernbeeinflussung bewirkten sie eine Altersverschiebung von Schöpfer und Muse, so daß sich der erstere unaufhaltsam verjüngte, während letztere ebenso unaufhaltsam älter wurde.
 

Der Schöpfer jedoch, eigentlich schon verloren, ließ nicht locker. Er blieb sich seiner Pflicht bewußt und vertrieb die Speziamöben aus seiner Welt zurück in ihre eigene - ganz einfach indem er sie an ihr vormals so friedliches Leben zurückdenken ließ, an ihren Spezifluß und ihre freundliche kleine Welt."
 

'Da hätten wir also auch eine Spur Heroismus', und wieder grinste Michael zufrieden.
 

"Die Speziamöben bekamen tatsächlich Heimweh. Und obwohl der Gedanke der Eroberung noch immer tobte und wütete, hatte er nun längst keine Chance mehr: die Speziamöben zog es unaufhaltsam nach Hause. So verstummte der Gedanke schließlich von selbst und verhallte in der Unendlichkeit. Kaum war das geschehen, waren die Amöben bereits wieder auf ihrer Heimatwelt, in ihrem Spezifluß und lebten weiter wie vor ihrem Eroberungszug - in Frieden und vielleicht ein bißchen träge, aber rundherum glücklich und zufrieden. Das war's." Michael tut einen tiefen Atemzug, dann verwünscht er die heiße Luft und klagt in Erinnerung an die in der Eiswüste verbrachte Nacht mit seinem Kinderstimmchen: "Immer diese Extreme." Er rafft den zu langen Saum seines Gewandes ein Stückchen höher, nimmt wieder Cassandras Hand und läßt sich von ihr über den in Wellen erstarrten, sandfarbenen Ozean führen, der sich endlos in alle Richtungen erstreckt.
 

Dann plötzlich funkelt am Horizont, nein, hinter der nächsten Düne, ein phantastischer Edelstein. Es ist eine Stadt, aus weißen Steinen erbaut, mit zahlreichen Türmchen und blaugrün gekachelten Kuppeln, mit den Wipfeln hoher, schattenspendender Bäume, mit belebten Straßen und belebenden Brunnen. Und mit einer Hexe, die in einem der sicher herrlich kühlen Paläste leben muß. Michael bereitet es keine Mühe mehr, mit Cassandras immer zögernder gewordenen Schritten mitzuhalten, und endlich stehen sie vor dem Stadttor, betreten die Stadt. Cassandra, die kaum noch aus eigener Kraft gehen kann und sich schon lange auf Michaels Schulter stützt, sinkt neben einem Trinkbrunnen auf den Boden. Michael richtet sie mühsam auf, schöpft dann mit seinen Patschhändchen etwas Wasser für seine Muse und benetzt ihre Lippen. "Wie sollen wir nur die Hexe finden?" jammert er und ihm ist nach Weinen zumute.
 

Cassandra seufzt nur, aber Casus Belli arbeitet sich aus ihrer Manteltasche hervor, sieht sich einen Moment um, und läuft dann in kleinen Sprüngen vorbei an verdutzten Kameltreibern und Händlern.
 

"Nicht so schnell!" ruft Michael und Casus Belli hält tatsächlich inne, kommt wieder zurück und wartet diesmal, bis Michael seiner greisen Muse auf die Beine geholfen hat und sie dem Taschentier folgen können. Und so erreichen sie schließlich eine hohe Mauer aus weißem Marmor, die im Lichte der untergehenden Sonne wie lauteres Gold glänzt. Man hört deutlich das Rauschen von Wellen, als würde das Meer direkt an die andere Seite der Mauer branden. Auf Michaels zaghaftes Klopfen schwingt das große, bronzebeschlagene Holztor lautlos nach innen auf, dahinter erstreckt sich ein weitläufiger, saftig grüner Wald. Casus Belli ist bald zwischen den Pflanzen verschwunden und auch Michael und Cassandra betreten den Garten. Das Tor schließt sich hinter ihnen wieder und das Rauschen der Meereswellen ist nun von der anderen Seite der Mauer zu hören. Tatsächlich scheint es die Mauer selbst zu sein, die die Geräusche hervorbringt und so gewissermaßen für akustische Kühlung sorgt.
 

Die Zweige der Büsche und Bäume biegen sich von selbst zur Seite und bilden für die Besucher einen Weg zum Hause des Gartenbesitzers. Und nach einigen Metern ist es zu sehen: mitten im Garten steht ein römisch wirkendes Landhaus - eine Villa. Die sich zur Seite neigenden Pflanzen dirigieren Michael und seine Muse zum Eingang und in einen säulenumstandenen Innenhof.
 

"Ah, Klienten", ruft eine jugendliche Stimme freudig aus. "Wie kann ich behilflich sein?" Und aus einer dunklen Öffnung tritt ein schwarzhaariges Mädchen hervor, gekleidet in eine bodenlanges weißes Kleid.
 

Cassandra stützt sich schwer auf Michael, wirkt bereits wie eine Mumie ihrer selbst. "Seid ihr die Hexe, Athenas Kontaktperson?"
 

"Das bin ich in der Tat", antwortet die Hexe. "Mein Name ist Para."
 

Cassandra stellt sich und Michael vor und erklärt in knappen Worten den Sachverhalt.
 

Und Para nickt natürlich, hat die Lösung schon parat. "Ahja. Angesichts des Fortschreitens scheint Eile geboten zu sein. Kommt mit." Sie hilft dem kleinen Michael, Cassandra zu stützen und gemeinsam führen sie die Muse durch einen obsidiangepflasterten Gang, der in einen kleinen Hof führt, fast völlig von einem leeren Marmorbecken eingenommen. In dessen Mitte wiederum steht ein schlanker Marmorsockel und darauf eine rötlich schimmernde Schale.
 

Eine lässige Handbewegung der Hexe veranlaßt die Schale dazu, sich zu neigen und eine klare, goldene Flüssigkeit sprudelt aus ihr hervor, die das Becken schnell zu füllen beginnt. Nach einer weiteren Handbewegung senkt sich die Schale wieder auf ihren Sockel und Para hilft Cassandra, in das Becken zu steigen. Kaum kommen die nackten Füße der altgewordenen Muse mit der sprudelnden goldenen Flüssigkeit in Berührung, bewegt sie sich leichter und geht, ohne zu zögern, auf den Sockel in der Mitte des Beckens zu. Schließlich steht sie bis zur Taille im 'Wasser' des Jungbrunnens und ihre Kleidung zersetzt sich blubbernd in der Flüssigkeit.
 

"Tauch' ganz unter", fordert Para Cassandra auf und sie tut es. Die goldene Flüssigkeit sprudelt und der sich bildende, metallisch blitzende Schaum treibt langsam auf den Beckenrand zu. Von Cassandra ist nichts mehr zu sehen.
 

Doch dann taucht sie wieder auf, und die kurzen, bronze schimmernden Haare kleben naß an ihrem Kopf. Mit ihren schlanken, honiggoldenen Fingern streift sie die Strähnen zurück, die ihr in die Stirn fallen, dann kommt sie langsam zurück an den Beckenrand, wieder in ihrem schönen, jugendlichen Körper.
 

Von irgendwoher hat Para ein großes Handtuch geholt und legt es Cassandra um die Schultern, dann wendet sie sich Michael zu. "Komm, jetzt werden wir uns um dein Problem kümmern." Sie nimmt den Knaben an der Hand und führt ihn zurück durch den obsidiangepflasterten Gang und den Hof in einen angrenzenden Raum. Hier hängen an langen Schnüren, die unter der Decke quer durch den ganzen Raum gespannt sind, zahlreiche trockene Kräuterbüschel, und ein großer, leerer Tisch mit dunkel gefleckter Holzplatte steht im Zentrum des Zimmers. Auf dessen Kante setzt sie Michael nun.
 

Die Holzplatte riecht merkwürdig, findet Michael, dann faszinieren ihn die langen Haare der Hexe. Er faßt danach, aber Para entzieht sich ihm geschickt, drückt mit ihren Händen seine auf die Tischplatte und starrt ihn plötzlich an. Ihre stachelbeergrünen Augen haben geschlitzte Pupillen, wie eine Katze, und sie spiegeln - jedes für sich - Michaels rundes Kindergesicht.
 

Plötzlich bricht Para den Augenkontakt ab und läßt Michael los. Sie wendet sich an Cassandra. "Jetzt können wir nur noch warten", sagt sie und zieht sich mit der Muse in eine entfernte Ecke des Raumes zurück, redet in gedämpftem Ton auf sie ein.
 

Casus Belli hüpft neben Michael auf dem Tisch, schnuppert an ihm - und flieht laut quiekend zu Cassandra, als der Dichter mit einem plötzlichen Ruck seine gewöhnliche Größe und sein natürliches Alter wiedererlangt, seine Kleidung wieder ausfüllt. Michael rutscht von der Tischkante und sieht prüfend an sich hinunter. "Ich wünschte, ich wäre jünger", sagt er leise.
 

Cassandra kommt heran und streicht ihm lächelnd über die Bartstoppeln. "Aber du bist doch gar nicht alt", sagte sie ebenso leise und haucht ihm einen Kuß auf die stachelige Wange.
 

Michael lächelt geschmeichelt.
 

Die Hexte ist mit dem Ergebnis ihrer Bemühungen zufrieden, bietet ein Abendessene oder die umgehende Heimreise an: "Ich kann euch nach Hause teleportieren, dann braucht ihr nicht auf Athena zu warten."
 

"Die Amöben sind ja zurückgeschickt", sagt Michael nachdenklich. "Eigentlich könnten wir wirklich nach Hause."
 

"Brauchst du mich denn noch?" fragt Cassandra. "Du wolltest dir von Zeus doch Anna zur Belohnung wünschen." Die verschiedenfarbigen Augen seiner Muse ruhen mit einem undeutbaren Ausdruck auf Michael.
 

"Was für eine Frage! Natürlich brauche ich dich!" Tatsächlich träumt Michael schon davon, umfangen von der Liebe seiner Muse endlich wieder einen großen Roman zu schreiben.
 

Cassandra lacht. "Dann sollte ich wohl bei dir bleiben."
 

"Warum denn auch nicht?" fragt Michael erstaunt.
 

Para mischt sich ein, bevor Cassandra auf die Frage ihres Dichters antworten kann: "Es wäre aber eine Verschwendung, dein Potential als Zauberin verkommen zu lassen. Dein zahmes Burunduki ist ein Zeichen für exorbitantes Talent."
 

"Gibt es denn nicht eine Art Fernkurs für potentielle Zauberinnen?" will Cassandra wissen.
 

"Noch nicht... aber ich werde ein Lehrbuch zusammenstellen und dir das Material regelmäßig schicken."
 

Para und Cassandra besprechen noch kurz die Lehrgangsmodalitäten, dann teleportiert die Hexe Michael und seine Muse wieder nach Hause.
 

Michael und seine Muse stehen schon eine Weile hinter dem Haus im drake'schen Garten und sehen dem Mondaufgang zu. Cassandra schmiegt sich eng an Michael, steicht mit der Hand über sein borstiges Kinn und flüstert: "Das wird ein schöner Bart... schreib seine Geschichte doch mal auf."
 

Michael küßt seine Muse. "Wenn du mir beistehst..."
 

Cassandra lacht leise. "Ich werde deine Phantasie schon anheizen", flüstert sie dann sehr dicht an Michaels Ohr.
 

Und plötzlich ertönt eine wunderschöne Stimme von der Terrassentür her: "Herr Drake, sie haben einen Wunsch frei!" Im schwachen Lichtschein, der aus dem Flur durch die verglaste Wohnzimmertür bis nach draußen dringt, sieht Michael Athenas wohlgeformte Silhouette. "Was rätst du mir, zu wünschen?" fragt er seine Muse leise, damit die Göttin es nicht hört.
 

Cassandra überlegt nur kurz. "Wünsch dir ein unbeschränktes Teleportations-Abonnement."
 

Michael nickt und ruft es zu Athena hinüber.
 

Die Göttin schweigt, verschwindet kurz und taucht wieder auf. "Dem sterblichen Helden Michael Drake wird ein unbeschränktes Teleportations-Abonnement gewährt", verkündet sie.
 

Ehrlicherweise muß Michael sich eingestehen, daß die Götter ohne seine Geschichte von den Amöben ja gar nicht bedroht gewesen wären, aber er nimmt die Belohnung als Held und Retter der Götter tapfer schweigend entgegen. Und Athena verschwindet entgültig.
 

Ob Cassandra ihm wohl nachsehen könnte, daß er nun wieder... nun, nicht direkt gemogelt, aber doch die Probleme mit dem altbekannten Trick gelöst hatte? Aber solche phantastischen Verwicklungen sind nun einmal durch den sprichwörtlichen Gott am besten zu lösen. Zur Versöhnung sollte er vielleicht noch einen kleinen Nachschlag liefern, um wieder Unruhe hineinzubringen. Ein Ende mit Konfliktpotential würde Cassandra gefallen:
 

Irgendwo tuckert ein Dieselmotor und eine Autotür klappt.
 

Michael und Cassandra gehen eng umschlungen durch die Terrassentür ins Haus, Casus Belli folgt ihnen.
 

Im Flur steht Anna, in einen hellen Reisemantel gehüllt, die blonden Haare etwas länger, als Michael sie in Erinnerung hat, neben sich einen großen, weißen Koffer.
 

In dem Moment kam Para mit einigen Sträußen blühender Kräuter wieder in den Innenhof zu Michael. "Bist du soweit?" fragte sie.
 

Michael nickte und besah sich kritisch das Grünzeug. "Damit werde ich wieder zurückgeschickt?"
 

Überrascht musterte die Hexe ihren Besucher. "Aber nicht doch. Die will ich auf dem Weg nur zum Trocknen aufhängen. Dich werde ich in eine Zeitmaschine stecken. Aber da wir ohnehin durch mein studiolo müssen, kann ich das auch gleich erledigen."
 

* * *
 



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