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Juli 1970

Pathologie eines Philologen
von

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Oberon

Mittwoch, 15.7.1970
 

Michael betrachtete mit beginnender Verzweiflung die den Wohnzimmertisch bedeckenden Papiere. Immerhin erkannte er die Notizen für den Roman auf den ersten Blick, weil er dafür das mattgrüne Konzeptpapier verwendete, das ihm Greta vor Jahren einmal geschenkt hatte.
 

"Meinst du wirklich, daß du das alles noch durchlesen mußt?" fragte Cassandra von der anderen Seite des Zimmers aus. Auch sie hatte eine Menge Papier vor sich liegen - auf dem Fußboden und ihr Taschentier turnte munter darin herum - aber das waren vor allem alte Zeitungen. Ihre Zauberblätter hatte sie schon längst hübsch ordentlich zusammengeheftet.
 

Michael schüttelte den Kopf. "Ich will doch das Ganze nur eben sortieren." Irgendwo in der Masse lag sicherlich auch das Tagungsprogramm für Merburg. Und wenn er schon danach suchen mußte, konnte er auch gleich versuchen, ein wenig Ordnung zu schaffen.
 

Innerhalb der nächsten Stunde wuchsen um ihn herum auf den Sesseln und der Couch die Papierhaufen aus Notizen zum Roman und zu den Vorlesungen des nächsten und übernächsten Trimesters, aus Werbebroschüren verschiedenster Art, die er für sammelnswert gehalten hatte, und so fand er in der untersten Schicht tatsächlich einen Großteil des ihm im Frühjahr zugesandten Tagungsmaterials für den vom Philologenverband veranstalteten Kongress '"Mächte, freundlich und feindlich dem Menschen" - Phantastische Literatur der Romantik'.
 

"Weißt du, daß dieses Jahr zum siebzehnten Mal die Merburger Mysterienspiele begangen werden?" fragte Cassandra plötzlich. Zwischen den Zeitungen hatte sie die Prospekte des Fremdenverkehrsbüros von Merburg gefunden. "Genau zu der Zeit, wenn der Kongress läuft", ergänzte sie noch und sah hinüber zu ihrem Dichter.
 

Michael schaute vom Tagungsplan auf. "Es gibt sogar einen Vortrag über den Autor des Spiels... 'Der Engel mit dem Schwert. Ludwig Krafischer und sein Engelsoratorium in romantischer Tradition'", las er vor. "Und dann gibt es noch was zu den keltischen Mythen, zur Artussage und den Ritterromanen, zu Elfen und Gothic Novels... willst du mal einen Blick darauf werfen, um zu sehen, ob du einen der Vorträge mit mir besuchen willst - oder ob dir das Damenprogramm vielleicht eher zusagt?"
 

Cassandra schüttelte den Kopf. "Laß uns erst einmal hinfahren."
 

"Morgen abend ist der Eröffnungsvortrag", erinnerte Michael seine Muse.
 

"Und du mußt noch packen", konterte Cassandra. "Der Zug geht in drei Stunden von Hohenzell."
 

Michael nahm sich allerdings mehr Zeit dafür, Unterlagen und bereits gemachte Notizen für seinen Roman über die Unsterbliche auszuwählen, um unterwegs daran weiterarbeiten zu können, als für das Zusammensuchen der Übernachtungsutensilien und Kleidung zum Wechseln. Notfalls konnte er ja alles was er brauchen sollte, auch in Merburg kaufen.
 

*
 

Natürlich hatte Michael ein Schlafwagenabteil Erster Klasse gebucht. Da jedoch noch die Zollkontrolle zu erwarten war, setzte er sich zunächst auf die Sitzbank gegenüber den Betten und zog das am Zeitungskiosk auf dem Bahnhof erworbene Taschenbuch aus der Jackentasche, den 'Touristen-Verführer für Nordeuropa'. Cassandra kuschelte sich an ihn und sah ihm über die Schulter, als er begann, in dem Bändchen zu blättern. Den gesuchten Eintrag fand er unter 'M':
 

'Merburg - Britisches Protektorat Nord-Friesland, Stadt an der Nordsee. Erste Erwähnung im 10.Jh., Sitz friesischer Häuptlinge bis Anfang des 18.Jh., 1720 dem Herzogtum Nordmark angegliedert, im Frieden von Wien (1880) England zugeschlagen, seit 1883 Sitz der Verwaltung des British Protektorate North-Friesia. Urkunde über Stadtrecht von 1103 wohl Fälschung des 18.Jh., ebenso wie die angeblich frühmittelalterliche Burgruine (Olde Borch).
 

Verkehrsanbindung durch Eisenbahn (Euro-Norm-Spurbreite) und Straßenfahrzeuge (Grenzübergang Bannstedt), weiter verfügt Merburg über einen Yacht-Hafen und eine dem Flughafen der RAF angeschlossene zivile Fluglandebahn.
 

Gepflegte Übernachtungsmöglichkeiten: O'Sullivan'S (*****), Merburger Hof (****), Bannstedter Post (***), The Dancing Angel (***).
 

Sehenswürdigkeiten: Michaelis-Kirche, dreischiffige Basilika des 11.Jh. mit klassizistischer Blendfassade (1802 fertiggest.); Freesthingh oder auch Niewe Borch, Prachtbau des 16.Jh. mit ausgedehnter Gartenanlage und Tierpark, bedeutende Antikensammlung - zugleich Historisches Museum Merburg; Burgruine oder auch Olde Borch, im Stil der Neoromanik, vermutlich um 1750 nach Plänen des Herzogs Christian Albrecht zu Bannstedt; O'Sullivan'S, Grandhotel, 1912-14 von F.M.O.Pritchett, Esq., auf den Kellergeschossen eines Vorgängerbaues von 1830; Nixenbucht, seit den frühen 1920er Jahren von den Anliegern in mediterranem Stil gestaltet.
 

Ausflugsziele: Schloß Bannstedt (s.o. Bannstedt, H.N.); Vogelparadies Wattenmeer (s.d.).'
 

Michael würde in Merburg also in einer fünfsternigen Sehenswürdigkeit wohnen.
 

Die nebenstehende Bildseite, aufgeteilt in fünf Felder, zeigte eine Totale der palmenbewachsenen Nixenbucht, die zweitürmige Westfassade der Michaelis-Kirche, die Burgruine und die Gartenfassade des Freesthingh. Die halbe Seite wurde jedoch von einem Stich aus der Sammlung des Historischen Museums eingenommen. Es handelte sich um eine 'Vogelschau' Merburgs aus dem späten 18. Jahrhundert. Auffällig war die Küstenlinie mit einer fast kreisrunden Bucht, die von zwei mondsichelförmigen Halbinseln gebildet wurde. Auf der Spitze der östlichen Halbinsel stand die Burgruine, auf der westlichen Halbinsel ein Leuchtturm - sie standen sich gegenüber wie geharnischte Gegner. Der Ort selbst wurde von der Michaelis-Kirche dominiert.
 

Michael schloß das Buch und schaute aus dem Fenster, vor dem noch immer den Bahnsteig 5 des Nordbahnhofes Hohenzell zu sehen war. Dann gab es einen sanften Ruck - der Bahnsteig setzte sich in Bewegung - die Reise hatte begonnen. Der Bahnhof verschwand nach einer weiten Kurve aus Michaels Blickfeld und mit ihm, allmählich, die Wartungsgebäude des Bahngeländes und die aus aller Welt zusammenlaufenden Schienenstränge, bis nur noch drei den Weg des Zuges nach Norden begleiteten. Die drei- bis vierstöckigen Stadthäuser wichen den hohen Hecken der Gärten von Hohenzeller und schließlich Hohenheimer Vorortvillen, diese endlich der freien Natur. Die Lücken zwischen den dichtbelaubten Bäumen gaben den Blick frei auf die gegenüberliegende elsässische Seite des Flusses, dessen Verlauf der Zug die nächsten Stunden folgen würde, aufragende Felsen und davor der Abgrund, in dessen Tiefe der Rhein sich bleifarben seinen Weg bahnte. Die tiefstehende Abendsonne schien, nach einer weiteren Kurve, die den Zug noch näher an die Schlucht gebracht hatte, bis weit in das Abteil und die Westfassaden der Häuser wurden angestrahlt wie von einem starken Scheinwerfer.
 

Nach zehnminütiger Fahrt hatten sie den Grenzbahnhof Lahr erreicht. Auf dem Bahnsteig herrschte trotz der abendlichen Stunde noch reger Betrieb und Michael sah, von den schlanken Armen seiner Muse umfangen, müßig dem Treiben zu. Jenseits der Bahnsteigschranken standen einige der rot-goldenen großherzoglich-badischen Grenzbeamten, die die Papiere der soeben aus der Republik Baden-Oberrhein eingetroffenen Reisenden überprüften. Andere stiegen in den Zug ein und schon wurde die Abteiltür geöffnet und eine dunkelhaarige Grenzbeamtin bat um Michaels Pass. Sie warf nur einen kurzen Blick in das fast druckfrische Dokument, dann ging sie weiter zum nächsten Abteil.
 

Etwas wehmütig dachte Michael zurück an die Zeit, in der er mit seiner Frau jedes Jahr für ein paar Tage nach Baden-Baden zu reisen pflegte. Damals hatten die Grenzbeamten von Lahr auf ihren kleinen Umhänge-Klapptischchen noch jeden Reisenden aus Baden-Oberrhein im Zug ein Visum erteilt - natürlich erst nach eingehender Befragung und Überprüfung der Reise- und Ausweisdokumente - egal ob derjenige vorhatte, in das Großherzogtum zu reisen oder es nur durchqueren wollte. Doch die Zeiten der Ein- und Durchreisevisa für die 'Republikaner' waren inzwischen vorbei - ebenso wie seine Ehe mit Anna... und jetzt fehlte zu seinem Glück nur noch die Besiegelung ihrer Trennung durch eine ordnungsgemäße Scheidung.
 

Als der Zug seine Fahrt fortsetzte, erwiderte Michael Cassandras Umarmung und nach einer Weile versuchten sie, es sich zusammen in einem Bett gemütlich zu machen.
 

*
 

Von seinem Standort aus überschaute er eine endlos scheinende, leicht hügelige, frühlingshaft frische Graslandschaft unter einem strahlendblauen Himmel mit einigen Schönwetterwölkchen. Die Sonne stand hoch und die wenigen Bäume und Büsche, die der Landschaft einen parkähnlichen Charakter gaben, warfen nahezu keinen Schatten. In einiger Entfernung graste eine Schafherde. Etwas erstaunt bemerkte Michael, daß sein bis zum Horizont schweifender Blick keine Unterstützung durch Brillengläser brauchte und daß er... auf einem Pferd saß. Er besah sich das Schlachtroß und die Rüstung, die er selber am Leibe trug.
 

Die breiten Fransen der schwarz-weißen Schabracke seines Rappen reichten bis fast auf den Boden. Seine eigenen Arme und sein Brustkorb waren in schimmerndes Metall gehüllt, ebenso wie seine Beine, aber die Panzerung war nicht schwerer als gewöhnliche Kleidung. Und der Helm mit Federbusch, den er - natürlich? - trug, beeinträchtigte in keiner Weise sein Sichtfeld. In der Rechten hielt er eine Lanze, aufgestützt auf seinem rechten Steigbügel; der an ihrer Spitze trotz Windstille lustig flatternde Wimpel trug - seine? - Farben schwarz-weiß oder richtiger schwarz-silber. Der dreieckige Schild, der an einem Lederband vor ihm am Sattel hing, war weißgrundig und mit einem schlangenartig in sich verschlungenen schwarzen Drachen bemalt, der starke Ähnlichkeit mit dem Siegel hatte, das Michael Drake senior sich hatte anfertigen lassen. Zur Vervollständigung seiner Ausstaffierung hing an seiner linken Seite ein langes Schwert.
 

Er wollte einen König aufsuchen, das wußte er. Es wollten Abenteuer bestanden und Prinzessinnen geehelicht werden. Komme was da wolle - er war bereit, allen Schrecken der Hölle entgegenzutreten. Einzig diese fast überschäumende Lebensenergie, die ihn durchströmte, bereitete Michael ein wenig Unbehagen. So hatte er sich seit dreißig Jahren nicht mehr gefühlt.
 

Langsam setzte sein Pferd sich in Bewegung und es bereitete Michael keine Schwierigkeiten, es auf das dichte, weiß blühende Dorngebüsch auf dem sanft geneigten Abhang des Hügels zuzulenken. Das Tier setzte einen Huf nach dem anderen in einen weiten Kreis aus weißen Steinen und plötzlich stand es mitsamt seinem Reiter vor der Zugbrücke einer in den Himmel ragenden Burg mit spitzen gotischen Türmchen und Erkern, umgeben von einem wassergefüllten Graben. 'Einmal vor einem solchen Bauwerk zu stehen muß der Traum jedes Romantikers gewesen sein', dachte Michael, da senkte sich schon die Zugbrücke und das dahinter liegende Tor öffnete sich.
 

Schlanke, ätherisch schöne Gestalten in farbenfrohen hochgotischen Gewändern geleiteten ihn, plötzlich ohne Pferd, durch die lichtdurchfluteten Gänge und Säle des Schlosses. Rüstung und Lanze waren verschwunden, statt dessen trug er ein prächtiges Wams mit bis zum Boden reichenden offenen Ärmeln in seinen Hausfarben. Selbstbewußt straffte er seine breiten Schultern und legte die Linke locker auf den kühlen Knauf seines Schwertes.
 

Das letzte Paar großer, reich verzierter Torflügel wurde vor ihm geöffnet, dahinter lag der Thronsaal. Um den König waren seine ewig jugendlichen Edlen versammelt, sie selbst und ihre Damen von herzzerreißender Schönheit mit blondem Haar in allen Schattierungen zwischen Weißblond und Bronzerot. Hunderte von hellen Augenpaaren musterten den Ankömmling halb ängstlich und halb voller Hoffnung auf seinem langen Weg durch den Saal.
 

Der Thron stand auf einem niedrigen Podest. Dort saß der König im vertraulichen Gespräch mit einem seiner Berater, doch dann wandte er Michael sein hellhäutiges Gesicht zu. Sein langes, in leichten Wellen bis auf die Schultern fallendes Haar, nur von einem edelsteinbesetzten Stirnreifen gehalten, hatte einen warmen rötlichblonden Ton und seine Augen schienen meergrün zu sein, doch tatsächlich waren sie von einem hellen blaugrau, und der Widerschein seiner smaragdgrünen Seidengewänder verlieh ihnen die ungewöhnliche Farbe. Er war mager, seine Wangenknochen traten hervor und die leicht gebogene Nase war sehr schmal, aber obwohl ihm die elfenhafte Schönheit seiner Untertanen abging, war er doch wirklicher - als sei er das einzige tatsächlich lebendige Wesen unter Schattengestalten.
 

Ein Herold trat vor den König, verneigte sich tief und verkündete mit weittragender aber nicht lauter Stimme: "Sir Michael, genannt der 'Drachentöter', möchte euer Majestät seine Aufwartung machen und seine Dienste anbieten."
 

Michael verneigte sich höfisch, dann betrachtete er wieder den König. Wie sollte er ihn nur anreden? Worüber herrschte dieser König eigentlich? Michael war sich nicht sicher, ob er es jemals gewußt hatte.
 

"Ihr seht den Tiarna-na-Sidhe", erklärte der König mit kaum angedeutetem Lächeln auf den dünnen Lippen.
 

In Michaels Ohren klang der Name Gälisch - eine Sprache, die sein Großvater Drake beherrscht hatte, von der der jüngere Michael aber allenfalls zehn Worte verstand. 'Sidhe' war das gälische Wort für 'Geister' oder 'Feen'.
 

"Ihr würdet mich vermutlich eher nach Shakespeare's 'Sommernachtstraum' 'Oberon' nennen", fuhr der König fort. "Da ich euch im Traum erscheine, kann ich mich nur der Bilder bedienen, die ihr in euch tragt. Ihr seht mich als den König der Feenwelt und in eurer Vorstellung gehören zu 'Oberon' ein solches Schloß und diese Bewohner." Seine fast beiläufige Geste bezog die gesamte Umgebung einschließlich Michael ein.
 

"Es ist alles meine Erfindung?" vergewisserte Michael sich.
 

"In gewisser Weise", stimmte Oberon zu. "Ich und mein Anliegen jedoch sind... real... nun..." er zögerte, "zumindest entstammen sie nicht eurer Phantasie." Die Umgebung hatte sich geändert, und sie befanden sich in einem Arbeitszimmer, dessen Wände mit Tapisserien behängt waren, die Minne- und Kriegs-Szenen zeigten. Darunter standen Regale mit Buchrollen und Folianten. "Nehmt Platz", sagte Oberon freundlich und wies auf einen ledergepolsterten Stuhl mit hoher Lehne. Der König selbst setzte sich - zu leger für seine Rolle, fand Michael - halb auf die Kante des Tisches, vor dem er stand, die Füße noch auf dem dicken Teppich und die Hände neben sich aufgestützt. Er besah sich Michael neugierig. "Ihr seht tatsächlich nach einem Helden und Drachentöter aus", sagte er dann mit dem schon bekannten dünnen Lächeln auf den Lippen. "Und ein feines Schwert führt ihr."
 

Michael besah sich das Schwertgehänge. Der schwarz eingefärbte Ledergürtel war mit silbernen Ornamenten verziert, ebenso wie die Schwertscheide. Der kühle Knauf des Schwertes war eine Kugel aus glänzendem Hämatit, der lederne Bezug des Griffes trug die Spuren ständigen Gebrauchs, die gerade Parierstange wies einige Kerben auf. Michael zog das Schwert ein wenig aus seiner Hülle. Die Klinge war zweischneidig und - er prüfte es mit dem Zeigefinger seiner linken Hand - scharf geschliffen, so daß er sich unbeabsichtigt schnitt. Er ließ das Schwert zurückgleiten und saugte an der Verletzung.
 

"Aber nun genug der Artigkeiten", sagte Oberon entschieden und stand auf. Für einen Moment schaute er nachdenklich auf Michael hinunter, dann ging er um den Tisch herum, um sich den dahinter stehenden Stuhl heranzuholen. "Ich erwähnte schon, daß ich ein Anliegen habe... nein... ich erbitte flehentlich eure Hilfe - das trifft es eher." Der Feenkönig setzte sich Michael gegenüber auf die Stuhlkante. "Ich stehe im Kampf mit einem Dämon. Er wird alles, was mir lieb und teuer ist, an sich reißen, sofern man ihm nicht Einhalt gebietet. Doch allein komme ich gegen ihn nicht an." Oberon beugte sich nach vorne und starrte Michael eindringlich in die Augen. "Ich bitte euch, steht mir als mein Waffenbruder zur Seite. Uns verknüpfen Blutsbande... im Namen unserer gemeinsamen Ahnen erflehe ich eure Hilfe gegen das Böse, das die Macht an sich reißen will. Ihr dürft nicht zulassen, daß ich in diesem Kampf untergehe, ihr, als Streiter für das Gute und das Licht!" Mit den letzten Worten war Oberon aufgesprungen und packte Michael schmerzhaft fest mit kräftigem Griff an den Schultern. Seine Augen hatten das dunkle Grau von Gewitterwolken angenommen.
 

"Wie können wir gemeinsame Ahnen haben?" fragte Michael verdutzt, denn das widersprach jeder Logik. Wie sollte er mit Oberon, dem König der Sidhe - ganz abgesehen davon, daß es sich bei ihm nur um eine Traumgestalt handelte - verwandt sein?
 

Oberon las seine Gedanken. "Nein, ihr versteht nicht. Ich bin nicht 'Oberon', auch kein Elfenfürst. Ihr seht mich nur in eurem Traum in dieser Gestalt. 'Oberon' ist eine Metapher! Aber in euren sterblichen Adern fließt - ebenso wie in meinen - das Blut unserer gemeinsamen keltischen Vorfahren." Die Traumgestalt rückte wieder ein Stück von Michael ab.
 

Wenn sein Gegenüber solchen Wert auf sein keltisches Erbe legte - das ihn mit mindestens fünfzig Prozent aller Europäer verband -, lag es vermutlich nahe, daß Michael ihn im Traum als Figur der keltischen Mythologie sah.
 

Der seidengewandete Mann kniete vor Michael nieder und sagte feierlich: "Im Namen unserer gemeinsamen Vorfahren erbitte ich eure Hilfe rück' mal ein Stück."
 

Michael schlug erschrocken die Augen auf und brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Dann fiel ihm wieder ein wo er war und wer da neben ihm lag. Cassandra schob sich über ihn und kletterte dann hinauf in das obere Bett. Draußen war es schon dunkel, nur vereinzelte Lichter blitzten am Horizont auf.
 

"Tut mir leid, daß ich dich geweckt habe", sagte Cassandra von oben, "aber es wurde doch ein bißchen unbequem."
 

"Schon gut", versicherte Michael seiner Muse, zog die dünne Decke wieder zurecht und saugte dann an einem schmerzhaften kleinen Schnitt im Zeigefinger seiner Linken. Offenbar hatte er sich an irgendetwas geschnitten, vielleicht an einer Seite seines neuerworbenen Touristen-Verführers. Er schloß wieder die Augen.
 

Paradoxerweise glitt Michael diesmal bewußt in das Traumreich. Das Kissen war noch von Cassandras Duft durchdrungen und er verlor das Interesse an der Kontrolle über seine Gliedmaßen. Das leise Rattern des Zuges schläferte ihn wieder ein.
 


 

* * *
 



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