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Juli 1970

Pathologie eines Philologen
von

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Das Merburger Mysterium

Entsetzt über seine unsittlichen Gedanken schrak er auf und blickte sich ertappt um, doch es war noch recht dunkel - gerade erst begann es zu dämmern - und Michael hörte nur das verhaltene Rattern der Zugräder. Das Blut pochte schwer in Michaels Schläfen, und das Herz schien ihm im wörtlichsten Sinne in die Hose gerutscht zu sein. Wie konnte er nur auf solche Ideen kommen?! Da mußte wahrhaftig ein böser Dämon sein Unwesen in der Traumwelt treiben, wenn er auf einmal den Wunsch verspührte, kleine Jungs zu schänden.
 

Michael schluckte mehrmals trocken. Er mußte sich irgendwie ablenken. Kurz entschlossen schaltete er das Licht an seinem Kopfende an, griff aufs Geradewohl in die Aktentasche neben seiner Schlafstatt und erwischte so ein Heft über St.Michael in Merburg, das den Fremdenverkehrsbroschüren beigelegen hatte. Er schlug es auf und las:
 

'Die Geschichte der Michaelis-Kirche zu Merburg
 

Nach der Legende erschien einem heidnischen Fischer früh an einem Julitag auf einem Hügel ein geflügelter Mann. Auf die Frage des Fischers, wer er denn sei, antwortete der Mann, er sei Michael Drakomachos. Darauf erhob sich der geflügelte Mann in die Luft und flog davon. Einen Tag später erreichte ein Missionar aus dem Kloster Bannstedt das Fischerdorf bei Merburg und der Fischer berichtete von der Begegnung. Da der Missionar des Griechischen mächtig war, verstand er, daß sich der Geflügelte als 'Michael, Streiter wider den Drachen' vorgestellt hatte, und er erkannte, daß es der Erzengel Michael gewesen sein mußte, der damit bezeichnet hatte, wo ihm ein Heiligtum errichtet werden solle. Also wurde auf dem Hügel die Michaelis-Kirche errichtet.
 

Diese Erzählung begegnet in zwei Versionen, nach der jüngeren soll der Engel dem Missionar persönlich erschienen sein. Die erste Version der Engelserscheinung entstammt der Ende des 10.Jahrhunderts in Latein abgefaßten Chronik des Klosters Bannstedt, zugleich haben wir es dabei mit der ersten Erwähnung Merburgs überhaupt zu tun. Aus dieser Chronik wissen wir auch, daß die Kirche im Jahre 968 dem Erzengel Michael und Johannes dem Täufer geweiht wurde. An die ältere Version der Legende knüpft auch das Merburger Mysterienspiel an, das seit 1868 alle sechs Jahre in der Nacht vom 17. auf den 18. Juli begangen wird.
 

St.Michael gehört seit 1250 zu Merburg und avanchierte unter der Herrschaft der kriegerischen Häuptlinge von Merburg Mitte des 14.Jahrhunderts zur Hauptkirche der Stadt. Der Bau wurde in dieser Zeit nach dem herrschenden gotischen Geschmack modernisiert. Nach dem Tod des letzten Häuptlings fiel dessen Herrschaftsgebiet an das Herzogtum Nordmark und Merburg wurde von 1720 bis 1880 Sommersitz der nordmärkischen Herzöge. Herzog Christian Albrecht ließ den während des Kampfes um die Stadt zerstörten Engelsturm der Michaelis-Kirche wieder aufbauen und stiftete die überlebensgroße Engelsfigur, die den Turm seit 1743 bekrönt. Es heißt, zu ihrer Herstellung seien genau die Kanonen eingeschmolzen worden, mit denen der Turm zuvor zerschossen worden war. Die von Herzog Christian Albrecht in Gang gesetzte Wiederherstellung des Kirchenbaus fand mit der Fertigstellung der klassizistischen Blendfassade im Jahre 1802 ihr vorläufiges Ende.
 

Die ebenfalls im Kampf um Merburg zerstörten gotischen Glasfenster von St.Michael wurden jedoch erst Mitte des 19.Jahrhundert wieder durch Fensterbilder ersetzt. Der Entwurf zu den alttestamentlichen Motiven der nach Süden gehenden Fenster stammt von Auguste Miserone aus dem Jahre 1830, die neutestamentlichen Motive für die nördlichen Fenster entwarf Paul Eduard Kamm im Jahre 1842. Die Ausführung wurde durch Künstler der Merburger Glashütte in den Jahren 1842 bis 1850 besorgt. Durch das Jahrhundertunwetter im Frühjahr 1948 wurden die meisten dieser Glasfenster schwer beschädigt oder sogar zerstört. Ihre Reste sind im Historischen Museum Merburg ausgestellt.
 

Das byzantinische Goldmosaik in der Apsis stammt aus einem aufgelassenen orthodoxen Kloster in Syrien und wurde wohl im frühen 6.Jahrhundert geschaffen. Herzog Christian Edward brachte es 1876 von einer Kleinasienreise mit, ließ das fragmentarische Mosaik zur jetzigen Form ergänzen und in die Apsis der Michaelis-Kirche einpassen. Jüngste Restaurierungen des Mosaikes haben gezeigt, daß durch seine Einfügung eine ältere, wohl manieristische Ausmalung der Apsis zerstört wurde.'
 

Nachdenklich rieb Michael über seinen Ringfinger, an dem er noch das Phantom des geschenkten Ringes fühlen konnte. Er sah den Ring fast vor sich, den kühlen Stein mit der unregelmäßigen Vertiefung des Pegasus, groß und tiefgrün in der schlichten ovalen Fassung. Er glaubte sogar, Spuren des jahrzehntelangen Tragens, oberflächliche Einkerbungen und feine Ritzungen in der Goldfassung zu fühlen. Nefuts Vater hatte ihm den Ring von Großvater Drake gegeben, der in dieser Wirklichkeit verloren war. Doch leider hatte der Traum nicht Substanz genug gehabt, den Ring zu manifestieren.
 

Und wie kam er, als Vater zweier doch wohlgeratener Kinder, als Dichter mit einer so höchst anschmiegsamen weiblichen Muse, zu diesem homoerotischen, letztlich pädophilen Traum? Offensichtlich basierte der Hintergrund des Traumes doch auf dem 'König für eine Nacht'. Die Geschichte war jedoch ihres ursprünglichen orientalischen Dekors entledigt und ins hellenische gewendet worden. Das lag vielleicht an der eingehenden Lektüre der Alexanderhistoriker, die Michael für seinen Roman und die Beschreibung der Eroberung Tyros' durch den Makedonen unternommen hatte; und dazu waren wohl die Erkenntnisse aus der altphilologisch dominierten Studienzeit gekommen - vor allem die Griechisch-Lektüren - die anscheinend tiefer in seinem Unterbewußtsein verankert waren, als er dachte. Wie funktionierte eigentlich die Phantasie eines Menschen? Das wäre ein interessantes Tagungsthema!
 

Michael zog das Lesezeichen aus dem hinteren Teil des Heftes über St.Michael, um die Seite zu markieren, an der er die Lektüre vorerst abzubrechen gedachte. Der Papierstreifen war mit einer verschlungenen Wellenlinie versehen, doch es gelang ihm, diese Linie als Buchstaben und schließlich als grammatikalisch korrekten Satz zu entziffern:
 

'Sei auf der Hut vor dem Druiden und seinem Enkel, sie führen Böses im Schilde.'
 

Michael schüttelte den Kopf. Was ging ihn das an? Aber es machte ihn unruhig und ließ ihn wieder an Amemnas Enkel denken. Der Schlaf floh ihn für den Rest der Nacht.
 

*
 

Donnerstag, 16.7.1970
 

Als Michael sich schon sehr früh zum Frühstück in den Speisewagen begab, hatte der Zug bereits die Nordmark erreicht. Und nachdem er beim Steward Kaffee und Croissants bestellt hatte, bewunderte er die wie gebügelt wirkende Landschaft, die sich in beide Richtungen bis zu den Horizonten erstreckte. Während er aß, verschwand die noch tiefstehende Sonne langsam hinter aufziehenden Regenwolken und einzelne Tropfen klatschten schwer gegen die Fensterscheiben. Die schemenhafte Silhouette einer fernen Stadt versank hinter dem östlichen Horizont, und vor dem dunkel gewordenen Himmel spiegelte sich ein bekannt erscheinendes Gesicht in der Fensterscheibe.
 

"Ich wünsche, wohl geruht zu haben", sagte eine Frauenstimme mit leichtem Akzent. Die zur Stimme gehörige südeuropäisch aussehende junge Dame war mittelgroß und schlank, ihr nüchternes, dunkelgraues Seidenkostüm hätten jeder Bankerin zur Ehre gereicht.
 

"Danke, ich kann nicht klagen", erwiderte Michael höflich und zog die Beine ein, damit die Dame es sich ihm gegenüber am Fenster bequem machen konnte. "Kennen wir uns irgendwoher?" fragte er dann. Und obwohl ihm die Dame mit den hochgesteckten, welligen schwarzen Haaren, als er sie so im Profil sah, wirklich vage bekannt vorkam, erschrak er doch über seine abgegriffenen Worte.
 

Die Dame sah ihn jedoch nur lächelnd, etwas von unten herauf an. "Das mag möglich sein", sagte sie gestelzt, blickte unentschlossen in die Speisekarte, schloß sie wieder und lehnte sich zurück, um ihren Gegenüber anzusehen. Noch immer wie über einen geheimen Witz lächelnd, sagte sie schließlich: "Da sie Merburg bald erreichen, sollte ich sie warnen. Sie begeben sich in Gefahr und sie werden Verbündete brauchen im Kampf gegen den Dämon." Der leichte Akzent ließ das letzte ihrer gleichmütig geäußerten Worte wie 'Daimon' klingen.
 

Michael antwortete darauf mit einem breiten Grinsen. "Sie wollen sich über mich lustig machen", stellte er fest. Sicher wollte ihn diese Südländerin doch nicht - wie der Tiarna-na-Sidhe - an ihr gemeinsames keltisches Erbe erinnern.
 

Die Dame war jetzt ernst. "Nein, Herr Drake, das will ich nicht. Und ich denke, sie wissen auch schon über einiges Bescheid."
 

Einen Moment musterten Michael die dunklen Augen so intensiv, daß ihm unbehaglich in seiner Haut wurde. "Wovon sprechen sie?"
 

"Sie werden Verbündete brauchen", wiederholte die Dame leise und beugte sich ihm entgegen. "Wenn es soweit ist, denken sie an Sofia Kaifronesis."
 

Michael schüttelte, wieder grinsend, den Kopf und wollte etwas Geistreiches erwidern, aber als er den Mund aufmachte war der Platz ihm gegenüber leer, die Frau hatte sich in Luft aufgelöst. Verdutzt schloß er seinen Mund wieder. War sie nun eine Gestalt seiner Phantasie gewesen, oder hatte er eine Halluzination gehabt? Er konnte sich die Ungewißheit über seine Wahrnehmung nur durch den Schlafmangel erklären, doch hätte er nie gedacht, daß ihn eine einzige unruhige, halb durchwachte Nacht im Zug in solcher Weise mitnehmen würde. Vor einigen Jahren - nein Jahrzehnten, mußte er sich gestehen - hatte es ihm nichts ausgemacht, tagelang fast ohne Schlaf auszukommen. Und hieß es nicht, im Alter bräuchte man weniger Schlaf?
 

Gerade als seine Gedanken wieder zum Grund seiner Schlaflosigkeit zu schweifen begannen und wieder der Zweifel an der Festigkeit seiner ethischen Grundhaltung wuchs, dachte er sich Cassandra ihm gegenüber auf den Platz, auf dem die merkwürdige Frau sich für einen Moment niedergelassen hatte. Michael war in dem Moment davon überzeugt, sie sich nicht eingebildet zu haben, denn einen so merkwürdigen Namen wie Sofia Kaifronesis hätte er sich niemals ausgedacht!
 

* * *
 



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