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Juli 1970

Pathologie eines Philologen
von

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Der Dämon

Draußen war es noch hell und auch wieder trocken, als sich Hiller und Michael durch den Park zurück zum Hotel begaben. Ashmody hatte sich bei ihrem Weggang noch angeregt mit dem Vortragenden unterhalten, aber per Handzeichen zugesichert, bald nachzukommen. Der Blondbeschopfte war in der nach draußen strebenden Menge irgendwo verschwunden, aber - so ermahnte Michael sich - man sollte ja auch nicht völlig unrealisierbaren Träumen nachhängen.
 

Die Hotelbar war ein großer, durch die Beleuchtungsverhältnisse jedoch wie geteilt wirkender Raum. Links von der Tür dominierte die von Chrom, Glas und edlen, polierten Hölzern blitzende Theke den hell erleuchteten Teil. Es saßen einige Gäste an der Theke und wurden von insgesamt drei Barkeepern versorgt.
 

Die rechte Hälfte der Bar wurde nur von den tief über den Tischen hängenden schwachen Lampen erhellt. Die intimere Atmosphäre dieses Teils, der durch einen breiten Durchgang mit dem Hotelrestaurant verbunden war, wurde noch verstärkt durch die halbhohen hölzernen Stellwände, durchbrochen von orientalisch wirkenden Schnitzereien. Und auch die Tischchen mit Messingplatten und die Stühle mit den geschwungenen Beinen erinnerten an den Orient. Wie auch im Restaurant führte die der Eingangstür gegenüberliegende Glaswand auf die Terrasse, auf der ebenfalls zierliche Tische und Stühle aufgestellt waren. Die gelb leuchtenden Lampions wirkten wie kleine Sonnen vor dem gerade beginnenden farbenprächtigen Sonnenuntergang über dem Meer.
 

Michael und Hiller waren sich darin einig, daß sie beide noch einen kleinen Imbiss vertragen konnten, also setzten sie sich an einen der Tische nahe dem Durchgang zum Restaurant. Hiller bestellte Pasta und Michael wählte, mit einer Verbeugung vor dem genius loci, eine Merburger Fischpfanne.
 

"Hallo, Max!" rief plötzlich eine tiefe Frauenstimme, als gerade die Getränke gebracht worden waren.
 

Hiller erblickte die Besitzerin der Stimme hinter Michaels Rücken und winkte die Frau an den Tisch. "Hi, D.B.! Darf ich dir unseren Kollegen Mike Drake vorstellen? Heute morgen frisch hier eingetroffen - D.B.Ashmody," stellte Hiller vor.
 

Die erstaunlich großgewachsene Frau mit einer dichten Mähne schwarzer, lockiger Haare reichte Michael ihre große, kräftige Hand. Sie trug ein bodenlanges, ärmelloses Kleid, der blauschwarze Stoff mit orientalischen Mustern golddurchwirkt. Ihre Haut war fast so dunkel wie die Hawkes, was sie angesichts ihrer nahöstlichen Physiognomie sicher nicht allein der Sonne verdankte. Mit ihrem athletischen, durchtrainierten Körper machte sie auf Michael nicht gerade den Eindruck einer hauptberuflich geistig arbeitenden Person.
 

Danielle Ashmody musterte Michael mit einem amüsierten Lächeln. "Erfreut, sie kennenzulernen, Herr Drake... ich bin schon gespannt auf deinen Vortrag morgen, Max", sagte sie dann zu Hiller und setzte sich. "Sie haben heute morgen also schon Anwar Hawke kennengelernt, Herr Drake?"
 

"Nenn' ihn einfach Mike", gestattete Hiller der Frau und grinste Michael so offenherzig an, daß dieser es nicht übers Herz brachte, seinem Kollegen endlich zu sagen, wie sehr er diese Verkürzung seines Namens haßte. "Aber woher weißt du das?"
 

"Merburg ist ein Dorf", erklärte Ashmody. "Er ist an der Aufklärung des Mordes an der Griechin beteiligt. Ich habe ihn heute vormittag am Strand getroffen. Wenn man sich vorstellt, daß hier jetzt irgendsoein Irrer herumläuft, der Leute schlachtet, wird einem ganz anders." Sie schüttelte sich.
 

Hiller legte seine aus den Fragen des Coroners zusammengestellte Theorie dar, wonach sich jemand anscheinend an einem keltischen Menschenopfer versucht hätte.
 

"Sah ganz so aus", stimmte Ashmody zu. "Ich wohne vis-à-vis", erklärte sie Michael, "in dem alten Leuchtturm."
 

Aber Michael ging nicht darauf ein. "Irgendwoher muß ich ihn kennen", sagte er leise, denn er erinnerte sich daran, wie sehr ihn die Begegnung mit dem Pathologen beunruhigt hatte. Wieso ähnelte er so frappierend der Traumgestalt Nefut?
 

"Träume sind vielleicht wirklich mehr als die Verarbeitung schon erlebter Geschehnisse."
 

Konnte Ashmody seine Gedanken lesen?
 

Hiller schaute verwirrt von einem zum anderen. "Wovon sprecht ihr?"
 

"Über Phantasie und Einbildung", behauptete Ashmody.
 

Michael griff das Stichwort auf. "Ein Hauptmotiv der romantischen Literatur."
 

"Und durch die Phantasie wird der Mensch zum Schöpfer und Gott." Offenbar befand Hiller sich wieder auf festem Boden. "Man denke nur an die Geschichte von Connor, dem Geschichtenerzähler. Gott strafte ihn, weil er sich Dinge ausdachte und von denen als Wahrheit berichtete."
 

Michael nahm einen Schluck Bier und dachte an seine diesbezüglichen Gespräche während des Gastmahles bei Amemna. Im Rückblick kam es ihm nicht im geringsten wie ein Traum vor, sondern wie eine tatsächliche Begebenheit. Nur daß es dem Ring seines Großvaters nicht gelungen war, feste Form anzunehmen.
 

Ashmody sah Michael an. "Waren sie schon im hiesigen Museum? In der Schatzkammer sind einige wirklich schöne antike Schmuckstücke ausgestellt." Und sie spielte mit dem Stiel ihres Weinglases. Durch ihr Aussehen und ihre verwirrenden dunklen Augen wurde sie für Michael in dem Moment zur leiblichen Verkörperung seiner unsterblichen Romanheldin Hannah aus Tyros, der Tochter eines Engels - oder eines Dämons.
 

*
 

Während des Essens sprachen Hiller und Ashmody über Jacices unterhaltsames historisches Essay, die verschiedenen Vorträge am nächsten Tag und die bevorstehende Engelsnacht - den Auftakt des Mysterienspiels.
 

"Du wirst es dir doch ansehen, nicht wahr Mike?" fragte Hiller. "Ich habe eine Tonaufnahme davon gehört, und der himmlische Gesang in St.Michael klingt wirklich großartig. Die Kirche hat eine einmalige Akustik."
 

Michael nickte dazu, beteiligte sich aber nur halbherzig am smalltalk. Er betrachtete Ashmody und plötzlich begegneten ihre blitzenden dunklen Augen die seinen. Michael war es peinlich, daß seine Gedanken in dem Moment zu der Frage von Ashmodys vermutlichem Alter schweiften. Sie sah sehr jung aus, als sei sie noch unter dreißig, aber die gedämpfte Beleuchtung am Tisch mochte schmeicheln und eine ordentliche Professur wie ihre an der Universität Bannstedt setzte einige Jahre Lehrtätigkeit voraus. Und nun war er sich sicher, daß Ashmody genau wußte, was er dachte - wodurch er sich noch unbehaglicher fühlte. Dabei war es doch Unsinn anzunehmen, daß Gedankenlesen tatsächlich möglich war. Ihn irritierten sicher nur diese hypnotischen schwarzen Augen unter den schön geschwungenen Brauen.
 

Sein ganzer Körper kribbelte, als Ashmody ihren Blick eine Weile auf ihm ruhen ließ. Überrascht stellte er fest, daß er sich vor Begierde nach dieser Frau verzehrte. Sie schien allein mit ihren Augen seinen Hormonen Befehle geben zu können. Wie hatte er nur je befürchten können, päderastische Neigungen zu entwickeln? Wenn er jetzt mit Danielle allein wäre, vielleicht an einem der fast uneinsehbaren Ecktische... aber das war doch Blödsinn! Er hatte nie etwas für große, fast maskulin wirkende Frauen übriggehabt. Und dennoch spürte sein Körper schon den ihren an sich, ihre Lippen auf seinen, ihr langes, lockiges Haar an seinen Wangen, ihre Brüste...
 

"Will von euch noch einer was zu Trinken?" fragte Hiller plötzlich und stand auf.
 

Michael zwang sich in die Realität zurück, und auch Ashmody wandte den Blick von ihrem Gegenüber ab. Michael bildete sich ein, sie erröten zu sehen. Aber als sie ein weiteres Glas Weißwein verlangte, war ihre tiefe Stimme so ruhig und fest wie zuvor. Michael wollte noch ein Bier und Hiller ging zur Theke, um die Bestellung aufzugeben.
 

Die ersten Schlucke der neuen Getränke wurden schweigend getrunken, dann fragte Ashmody: "Wie lange bleiben sie denn in Merburg?"
 

Michael zuckte mit den Schultern. "Vermutlich eine ganze Woche, so lange habe ich zumindest das Zimmer gebucht. Ich wollte mir nach dem Kongress noch ein bißchen die örtlichen Sehenswürdigkeiten und die Umgebung anschauen."
 

"Das Museum ist wirklich unbedingt sehenswert", warf Hiller ein. "Und laß dir von D.B. den Leuchtturm zeigen. Von ganz oben hat man einen tollen Ausblick. Das überbietet nur der Engelsturm." Offenbar hatte Max Hiller die grande tour schon absolviert.
 

Michael hatte mit sich zu kämpfen, nicht dem Impuls nachzugeben, Ashmodys Hand zu ergreifen, als er fragte: "Hätten sie denn mal Zeit, mir den Leuchtturm zu zeigen?" Er versagte sich einen weiteren Schluck aus dem Bierglas, denn er fühlte, daß er vor Erregung zitterte.
 

"Wenn sie wollen, noch heute. Es sind von hier nur gut zehn Minuten zu laufen." Das Lächeln auf Ashmodys Lippen war so süß und einladend, daß Michael sich kaum beherrschen konnte, aufzuspringen und sie an sich zu ziehen. Doch er war tatsächlich aufgesprungen. Hastig trat er ein paar Schritte vom Tisch und damit von dem Ziel seiner Begierde zurück. "Ich.. ähm.. ich", stotterte er, ohne zu wissen, wie er die Situation noch retten konnte.
 

Aber auch Ashmody war plötzlich aufgestanden. "Eine gute Idee! Gehen wir sofort." Die große Frau hakte sich bei Michael unter, winkte Hiller zum Abschied zu und zog den verdutzten Mann an ihrer Seite mit sich hinaus in das Hotelfoyer. Auf dem Weg klopfte Michaels Herz schmerzhaft schnell und heftig, doch bevor er recht begriff, daß ein warmer, kräftiger Arm um den seinen geschlungen war, er das Objekt seiner Begierde in unmittelbarer Reichweite hatte, löste Ashmody sich schon wieder von ihm und ging zum Zeitungsstand, um neugierig einen Blick auf die Schlagzeilen der Abendblätter zu werfen. Michael folgte ihr.
 

'Tote vom Badestrand identifiziert'
 

hieß es auf der Titelseite des Merburger Abend-Merkur und unter der Schlagzeile war ein Bild abgedruckt, das sehr nach Paßfoto aussah. Es handelte sich eindeutig um die Frau, die Michael im Zug erschienen war - Sofia Kaifronesis - aber der Bildunterschrift nach handelte es sich um
 

'Dr.Maria Theodorou aus Hohenheim, RBO.'
 

Bei einem Blick in den Artikel sprangen Michael einige Schlüsselworte in die Augen:
 

'Griechin - Dozentin für Byzantinische Literatur an der Friedrich-Philipp-Universität Hohenheim - in den frühen Morgenstunden tot aufgefunden.'
 

Und plötzlich bildete sich ohne Michaels bewußtes Zutun die Gleichung: Griechin = Griechisch = sofia kai fronesis.
 

Die Frau - der Geist? - der ihm erschienen war, hieß nicht Sofia Kaifronesis, tatsächlich hatte sie sich als 'Weisheit und Vernunft' vorgestellt, diese junge griechische Philologin, der er wohl während des Trimesters mehrmals in der Woche auf den Fluren des Bischöflichen Palais über den Weg gelaufen war. Deswegen war sie ihm also bekannt vorgekommen und er wunderte sich, warum ihm das nicht eher eingefallen war. Die Erkenntnis einer Geisterbegegnung versetzte seinen animalischen Trieben einen gehörigen Dämpfer, und Ashmodys Augen, die ihn durchdringend musterten, hatten in der hell erleuchteten Eingangshalle ihre elektrisierende Wirkung verloren. Michael war darüber etwas enttäuscht, aber andererseits auch beruhigt, ihre Nähe nun so gelassen ertragen zu können.
 

"Sie kannten die Frau also", bemerkte Ashmody leise.
 

"Nicht persönlich, zumindest nicht..." '...zu ihren Lebzeiten', war Michael versucht, zu ergänzen, aber das verkniff er sich. Ihm war nach Bewegung an frischer Luft.
 

"Am besten gehen wir hinten 'raus", erklärte Ashmody und zeigte auf ein Schild neben dem Zugang zur Bar, das den Weg 'Zur Promenade' wies.
 

Michael folgte seiner Fremdenführerin.
 

* * *
 



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