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Juli 1970

Pathologie eines Philologen
von

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Das Ende eines Traumes

Er zog die Flügel eng um sich, und die Federn raschelten leicht. Die Sehnsucht zerfraß ihn, besonders da er um ihre Nähe wußte. Warum hatte er sie nur ziehen lassen? Er mußte zu ihr. Stoff und Glas bildeten eine Barriere, die er jedoch leicht überwand. Nur ein kleines Stück nach Westen, dort wartete sie und so beeilte er sich, über das Wasser zu ihr zu fliegen. Er schrie vor Freude, seine Schwingen nach so langer Zeit wieder ausbreiten zu können, den Widerstand der Luft zu spüren und dahinzugleiten, doch seine eigene Stimme klang ihm ein wenig fremd in den Ohren. Es war so lange her.
 

Als er den Turm ein zweites Mal umkreiste, sah er sie auf seiner Spitze stehen, neben ihr merkwürdige Gerätschaften aus Glas und Metall, aber sie war wie immer. Ihr langes Haar wehte im Wind, sie begrüßte ihn mit ihrem Gesang, und schon schlug sie mit ihren dunklen Flügeln, um zu ihm aufzusteigen. Sie jagten sich ein Weilchen über dem Meer, dann kehrten sie zurück zum Turm, dessen Spitze ihnen gerade genug Platz bot, wenn sie sich eng umschlungen hielten, und er spürte ihren Körper, sah ihr dunkles Gesicht im Licht seiner Flügel. Sie küßten sich leidenschaftlich und ebenso leidenschaftlich liebten sie sich, denn es war so lange her. Und noch einmal erhoben sie sich in die Luft und sie flogen für ein Weilchen gemeinsam, so dicht nebeneinander, daß ihre Flügel sich bisweilen streiften. Und noch einmal liebten sie sich, in der Luft, bis sie fürchteten, vor Erschöpfung ins Meer zu stürzen, erst dann kehrten sie zurück zum Land.
 

"Wirst du deine Natur wieder vergessen?" fragte sie leise, nachdem sie erneut zum Turm zurückgekehrt waren.
 

"Nein!" versprach er und hoffte, sein Versprechen halten zu können. Er erhob sich wieder und stieg in die Höhe, bis der Turm nur noch ein Punkt unter ihm war, die Meeresbucht eine kleine Pfütze und er freute sich, für ein Weilchen die Kraft seiner Schwingen spüren zu können, das heiße Feuer, das in seinen Adern pulsierte und die Luft der Nacht, die ihn trug. Er würde sich erinnern! Und doch fürchtete er, daß es nicht so sein würde.
 

*
 

Freitag, 17.7.1970
 

Michael wachte auf, als es draußen noch dämmrig war. Neben ihm atmete leise Anna - dachte er, doch dann sah er den auffällig rotblonden Schopf zwischen den schwarzen Laken. Er hatte sich gestern also tatsächlich von dem Bürschlein becircen lassen, es genossen und ganz offensichtlich hatte es ihm auch gutgetan. Er setzte sich auf, spannte die Schultern und wunderte sich einen Moment über den leichten Muskelkater in Rücken und Brust. Wahrscheinlich hatte er deswegen von einem Flug geträumt.
 

Cassandra hatte er glatt vergessen. Seine einzige Entschuldigung war, daß seine Muse natürlich nie eine vergleichbar überwältigende erotisierende Wirkung auf ihn hatte ausüben können, wie dieser junge Mann. Aber vielleicht sollte er nun wirklich auf sein Zimmer gehen. Er streichelte das helle Haar seines schlafenden jugendlichen Liebhabers und stand auf. Dann suchte er seine Sachen zusammen, zog sich an und trat sich nahe dem Fenster fast eine Glasscherbe in den noch nackten Fuß. Die gläserne Balkontür war zerstört, bemerkte er bei genauerer Untersuchung, die bodenlange durchscheinende Gardine davor an einigen Stellen zerschnitten und dunkel befleckt. Es sah so aus, als ob da jemand durch die geschlossene Tür nach draußen gerannt war, denn auf dem Balkon lagen noch viel mehr Scherben, als auf dem Teppich. Er selbst war unverletzt und auch Gingers schlanke Glieder waren, soweit sie zwischen dem Bettzeug zu sehen waren, unversehrt. Vielleicht war die Tür schon zerstört gewesen, als sie heraufgekommen waren. Auf solche Kleinigkeiten hatte er da nicht geachtet, und auch jetzt war es völlig unerheblich.
 

Michael riß eine Seite aus seinem Taschenkalender.
 

'Hab Dank für die Eröffnung einer neuen Welt. Vielleicht auf ein anderes Mal? Mischa',
 

schrieb er und legte das Blatt neben Gingers Kopf auf die Matratze, dann ging er.
 

In seinem eigenen Bett lag Cassandra und sah ihn aus ihren verschiedenfarbigen Augen an. "Ich habe es geahnt. Das Unheil hat begonnen", sagte sie nur. Dann drehte sie ihm den Rücken zu.
 

"Was meinst du?" stellte Michael sie daraufhin zur Rede. "Nur weil du eifersüchtig bist, heißt das noch lange nicht, daß das ein Unheil ist! Sei bitte etwas zurückhaltender in deiner Wortwahl."
 

"Ich meine doch nicht deine Affäre. Ich rede von deinem Untergang", antwortete sie, ihre Worte etwas gedämpft durch das Kissen.
 

Michael setzte sich neben sie, drehte sie sanft zu sich um. "Ich dachte, du wärst nicht in mich verliebt."
 

Cassandra sah ihn traurig an. "Ich bin nicht verliebt, ich mag dich nur so, wie du bist. Aber nun hat unaufhaltsam die Veränderung begonnen. Merkst du selbst es denn gar nicht?"
 

Michael lächelte. "Natürlich merke ich, daß ich jünger geworden bin. Man sieht es ja wohl ziemlich deutlich. Aber das ist sicher keine unheilvolle Veränderung."
 

Cassandra schloß die Augen; Michael glaubte, eine Träne in ihrem Augenwinkel sehen zu können. Sie schwieg eine Weile, seufzte nur. Doch dann, als Michael ihr über die kurzen Haare strich, öffnete sie die Augen wieder und sagte endlich: "Deine Verjüngung ist nur Symptom der Veränderung... du wirst es noch früh genug merken und - wenn stimmt, was ich fürchte - wird es dich im eigentlichen Sinne des Wortes zerreißen. Einander feindliche Mächte wollen dich für sich und ihre Absichten gewinnen und sie haben bereits ihr Netz um dich gewoben. Ich sehe nicht, wie du ihnen entkommen könntest... und für mich wird hier bald kein Platz mehr sein."
 

Michael machte es rasend, wenn seine Muse begann, zu unken. "Das ist doch wohl ganz allein mein Problem! Was hast du denn damit zu tun?!" schrie er.
 

Cassandra wich erschrocken vor ihm zurück.
 

Michael war selbst erschüttert über seinen Ausbruch, aber er hatte sich so wohl gefühlt, als er aufwachte, und Cassandra schien es nur darauf abgesehen zu haben, dieses Wohlgefühl zu zerstören. "Entschuldige", sagte er halbherzig. "Aber warum machst du dir Sorgen?"
 

Cassandra setzte sich auf, sah ihn traurig an. "Du brauchst keine Muse mehr, seit die Verwandlung begonnen hat. Und die Mächtigen sind schon jetzt zu stark in Merburg, als daß ich mich hier wohlfühlen könnte. Aber es wird noch mehr werden. Das ist kein Ort für eine Muse - ich muß gehen."
 

"Und das macht dir zu zu schaffen", folgerte Michael.
 

"Es tut mir einfach leid um dich, denn ich weiß, daß du jeden Verbündeten brauchst, den du kriegen kannst. Ich hätte dir vielleicht helfen können, deinen Verstand zu gebrauchen... ich wäre dir eine wahrhafte Verbündete gewesen, denn ich hatte nie ein Interesse daran, dich zu beeinflussen oder für meine Zwecke zu benutzen." Sie sah ihn so treuherzig-aufrichtig an, daß Michael nicht anders konnte, als ihr zu glauben.
 

Und er erinnerte sich an die Worte der Griechin - ihres Geistes wohl richtiger - im Zug. Auch sie hatte sich als Verbündete angeboten. Das klang alles sehr nach Kriegsvorbereitungen. "Wer tritt denn gegen wen an in diesem hübschen Städtchen?" wollte er von Cassandra wissen.
 

"Aber das weißt du doch längst. Die beiden Parteien versuchen doch schon, dich für sich einzuspannen."
 

"Also geht es Chaos gegen Ordnung oder Licht gegen Schatten?" fragte Michael scherzhaft. Die Botschaften an ihn hatten von einem Druiden und einem Dämon gesprochen. "Wer steht denn auf welcher Seite?"
 

"Das kann ich dir nicht sagen. Allerdings sind beide Parteien zur Zeit noch gleichstark. Durch deine tätige Mithilfe will jede von ihnen das Gleichgewicht der Macht zu ihren Gunsten beeinflussen, und beide sind bestrebt, die Welt in ihrem Sinne zu ändern", antwortete Cassandra langsam.
 

"Und wie geht es aus?" wollte Michael wissen.
 

"Das hängt von deiner Entscheidung ab. Jenseits des Punktes der Verwandlung ist die Zukunft nicht festgeschrieben. Fest steht nur, daß ich nicht ertrage, bis zur Vollendung der Verwandlung bei dir zu bleiben... also werde ich noch heute gehen."
 

"Willst du nicht wenigstens bis zum Ende der Tagung warten?" fragte Michael, auch wenn er im Stillen hoffte, daß sie 'nein' sagen würde. Er mußte immerzu an 'seinen' Antinoos denken.
 

Cassandra sah ihren Dichter lange schweigend an. "Du hängst schon in ihren Fallstricken", sagte sie dann. "Ich wünsche dir viel Glück." Sie setzte sich einen Moment neben ihn auf die Bettkante und küßte ihn - liebevoll wie eine Abschied nehmende Mutter - auf die Wange. Dann stand sie auf und ging ins Bad.
 

Michael warf Jacke und Hose auf einen Stuhl in der Nähe und legte sich quer über das Bett, schloß die Augen und rief sich den Anblick des schlafenden Ginger wieder ins Bewußtsein, schlief selber ein.
 

*
 

Als Michael aufwachte, ereilte ihn als erstes die Gewißheit, daß Cassandra ihn nun entgültig verlassen hatte - der Traum von der Muse war zuendegeträumt. Doch mit ihrem Verschwinden schien ihm auch die Verläßlichkeit seiner Sinneswahrnehmung abhanden gekommen zu sein. Er mußte einen Moment überlegen, ob die Erlebnisse der vergangenen Tage seine Erfindung oder Wirklichkeit gewesen waren: die Götter und Hexen, die andere Wirklichkeit, Elfenkönig und Geister. Traum und Dichtung schien mit der Realität in Wechselwirkung getreten zu sein.
 

Aber nach einigem Nachdenken rückte die Welt wieder zureckt. Michael kratzte sich am Kinn und stellte fest, daß - vorausgesetzt, er schlief nun nicht mehr - zumindest der Bart nicht eingebildet war. Im Bad blickte ihm allerdings unerwarteterweise ein etwa dreißigjähriger Mann aus dem Spiegel entgegen, den er seit Jahrzehnten dort nicht mehr gesehen hatte. Michael entschloß sich jedoch nach einem Augenblick des Erschreckens, das ebenfalls als Tatsache hinzunehmen und weigerte sich, über seine fortschreitende Verjüngung nachzudenken. Vielleicht war das Ganze ja auch nur eine optische Täuschung, denn der Spiegel war nach dem Duschbad doch etwas beschlagen.
 

Was ihn jedoch wirklich beunruhigte war die Erkenntnis, daß Cassandra fort war, es ihm aber nichts ausmachte! Sein Interesse an ihr war so schnell eingeschlafen, wie das an jeder beliebigen seiner schon Jahre zurückliegenden, bedeutungslosen Liebschaften. Angesichts der Tatsache, daß sie wahrhaft seine Muse gewesen war, war das eigenartig. Doch ihr Weggang hatte den göttlichen Funken der Inspiration nicht wieder erlöschen lassen, Michael konnte keinen Mangel verspüren. Aber vielleicht fachte Ginger diesen Funken ja nun an - oder seine Verführungskünste, die Erfüllung bisher nur erträumter Genüsse, sorgten für die Glut.
 

Als Michael nach seiner Uhr griff und vor dem Einstecken gewohnheitsmäßig den Deckel öffnete um einen Blick darauf zu werfen, bemerkte er, daß es schon deutlich nach neun war. Damit hatte er zumindest den ersten Vortrag der Rubrik Theorien über Engel und Götter verpaßt, mit dem Titel 'Das Pandaimonion Universalis von Gottistgerecht Zimbel - Ansätze zu einer Theologie der Romantik'. Der Name des Vortragenden sagte ihm allerdings nichts. Er erwog, zumindest den zweiten und dritten Vortrag der Rubrik anzuhören und dafür auf das Frühstück zu verzichten. Aber sein Magen knurrte gerade in dem Moment laut und vernehmlich und so fiel die Entscheidung zugunsten des Frühstücksbuffets des O'Sullivan'S aus. Dann konnte er danach auch den mysteriösen Brief bei der Polizei abgeben und kam reichlich zurecht zur Rubrik Jenseitige Gewalten. Also griff er nach der Jacke, nahm sie über die Schulter und verließ sein Hotelzimmer.
 

* * *
 



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