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Four Soulmates in an Other World

von

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Alpträume

„Alles was man vergessen hat, schreit im Traum um Hilfe.“
 

 

Elias Canetti
 


 

 

♥♦♣♠
 


 


 

Nur das leise Blättern von Papier war zu hören, als Vanitas vehement versuchte sich aufs Lernen zu konzentrieren. Es war spät, aber morgen stand ein Test an und bis dahin musste er wenigstens noch ein bisschen Lernstoff in seinen Kopf bekommen. Dafür hatte er auch den Stream heute eher abgebrochen. Nicht weil etwa er unkonzentriert war… Nicht weil die Zuschauer sich schon darüber beschwert hatten, dass er heute im Spiel nichts gebacken bekam…
 


 

Ein erneutes Blättern.
 


 

Er musste den Abschnitt noch einmal lesen. Wieso war er heute nur so durcheinander? Das sah ihm überhaupt nicht ähnlich. Normalerweise hatte er ein geradezu fotografisches Gedächtnis. Aber irgendwie wanderten seine Gedanken immer wieder zurück zum Vortag.
 

Wieso hatte dieses Ereignis mit Jeanne ihn so aus der Fassung gebracht? Er hatte sie nur ein Stück zurückgezogen. Vermutlich war sie nicht einmal in akuter Lebensgefahr gewesen. Warum also bekam er diese Szene nicht aus dem Kopf?
 


 

Vielleicht ein Trauma? War es, weil er seinen Vater bei einem Autounfall verloren hatte? Weil er damals derjenige war, der weggezogen werden musste? Ja, genau. Das musste es sein.
 

Aber irgendwie war da noch etwas anderes…
 

Das Gefühl seinen Arm um Jeannes Taille zu schlingen und sie an sich zu ziehen hatte irgendetwas in ihm ausgelöst. Und es war anders als das leichte Kribbeln im Bauch, was er empfand, wenn er sie beim Arbeiten beobachtete. Nein. Irgendetwas hatte ihn durchzuckt wie ein Blitzschlag. Wie eine Erinnerung, die eindeutig keine sein konnte.
 


 

Angestrengt fuhr er sich mit der Hand durchs Gesicht, kniff die Augen zu. Hatte er so ein Date schon einmal gehabt? Nein, daran würde er sich doch erinnern.
 


 

Irgendetwas stimmte mit ihm in letzter Zeit nicht. Er hatte Alpträume, seltsame Déjà-vus und regelrechte Halluzinationen.

Das musste der Stress sein. Die Sorge um Misha, ein Medizinstudium, der Job, die Streams, ein Date und dann auch noch ein irritierender Mitbewohner. Das war eindeutig zu viel für ihn. Er war müde.
 

Vielleicht würden ein paar Beruhigungsmittel helfen? Es war nicht schwer für ihn an so etwas heran zu kommen. Er kannte ein paar ältere Studenten, die bereits ihre Praxisausbildung im Krankenhaus begonnen hatten. Vielleicht sollte er Johann fragen.
 


 

Er rieb sich über die Augen. Genug gegrübelt. Es war Zeit zu lernen!
 


 


 


 

„VANITAS! LASS DAS BUCH LOS!“, hörte er jemanden brüllen.
 

Erst verschwommen und dann immer deutlicher konnte Vanitas Noé vor sich sehen. In zerrissener Kleidung, blutgetränkt und mit angstgeweiteten Augen. Dominique stand hinter Noé und hielt ihn fest, hielt ihn davon ab näher zu kommen. Beide trugen seltsame Kleidung im Stil des ausgehenden 19. Jahrhunderts.
 

Was war hier los?
 

Vanitas fühlte sich wie in Trance. Die Umgebung wie in Watte gepackt. Noés verzweifelte Schreie nahm er kaum wahr. Und warum hatte er solche Schmerzen im rechten Arm? Sein Blick streifte die Umgebung. Lag dort jemand auf dem Boden?
 

Jeanne. Sie sah blass und leblos aus. Ein kleiner Junge kniete weinend über ihr. Etwas weiter hinten lag eine weitere Gestalt. Klein und schmächtig mit weißblondem Haar. Misha?
 


 

Der Schmerz in seinem Arm wurde heftiger. Offenbar hielt er ein Buch vor sich, dessen pechschwarze Seiten sich von allein umblätterten, als wären sie vom Wind getrieben. Leuchtend blaue Schriftzüge lösten sich vom Papier, begannen zu schweben und fügten sich zu blendenden blauen Lichtstrahlen zusammen.
 

Er zitterte am ganzen Körper. Je stärker das Buch zu leuchten anfing, desto schwerer wurde es seine Hand davon zu lösen. Was meinte Noé? Warum war er hier? Warum tat es so weh?
 

Tränen bildeten sich in Vanitas Augen, als er schließlich zu schreien begann. Er wollte nur noch, dass es aufhörte. Dass es aufhörte weh zu tun. In seinem Körper und auch in seinem Herzen vom Anblick des Leides vor sich.
 


 

Der Boden unter seinen Füßen begann zu beben, das Licht des Buches inzwischen so hell, dass es seien Augen blendete; sein Brustkorb fühlte sich an, als würde er zerreißen.
 

Er erwartete eine Explosion, doch stattdessen, hörte Vanitas plötzlich die dunkle Stimme eines unbekannten Mannes.
 


 

‚Komm zurück!‘
 


 

In einem erstickten Schrei füllten Vanitas‘ Lungen sich wieder mit Luft. Seine Augen waren schockgeweitet, seine Stirn feucht von Schweiß. Ein Zucken ging durch seinen Körper, während er gerade noch verhindern konnte von seinem Stuhl zu fallen.
 

Erst nach einigen Sekunden wurde ihm klar wo er sich befand, als er seinen Schreibtisch mit den Lernutensilien erkannte.
 


 

Ein Alptraum.
 

Schon wieder. Offenbar war er so erschöpft gewesen, dass er über dem Lernen eingeschlafen war.

Sein schneller Herzschlag und das unruhige Atmen machten ihm klar wie viel realer und klarer sich der Traum angefühlt hatte als sonst.
 

Es war zum verrückt werden. So konnte es doch nicht weiter gehen. Ob er zum Arzt sollte?
 

Vanitas brauchte ein paar Minuten bis er sich vollkommen beruhigt hatte. Langsam stand er auf und schloss das Medizinbuch auf dem Tisch. Es brachte wohl nichts weiter zu büffeln. Er sollte duschen und ins Bett gehen.
 


 

Der Benachrichtigungston seines Handys machte Vanitas darauf aufmerksam, dass eine Email eingegangen war. Als er die Nachricht öffnete sprang ihm ein seltsam bekannt klingendes Pseudonym in der Absenderleiste entgegen. „Lehrmeister Germain“. Wer mochte das sein?
 


 

Müde überflogen Vanitas‘ Augen die Mail, ehe sie zu strahlen begannen. Man hatte ihn endlich auch zu dem großen Y-tuber-Event eingeladen.
 

‚Ja! Nimm das, Noé!‘, dachte er selbstzufrieden, während er weiter las. Es handelte sich um eine Art Preisverleihung, bei der erfolgreiche Streamer ihre Kanäle mit Trailern präsentierten. Den Gewinnern der jeweiligen Kategorien winkten ein Preisgeld und ein Treffen mit dem Veranstalter.
 

Auf letzteres hätte Vanitas gut verzichten können, aber es schadete nicht Kontakte zu knüpfen und Geld konnte er immer gebrauchen.
 

Die Teilnehmer wurden ermutigt in Begleitung zu kommen. Aber wen sollte er zu so etwas schon mitnehmen? Noé war ja selbst Teilnehmer und würde seinerseits sicher Dominique mitbringen. Vanitas hatte niemanden, mit dem er so einen Erfolg feiern könnte.
 


 

Dieser Gedanke drückte seine Stimmung wieder ein wenig. Es war wirklich Zeit Schlafen zu gehen. Er musste nach dem Test morgen noch arbeiten.
 


 


 


 

Am nächsten Tag verließ Vanitas den Prüfungssaal mit gemischten Gefühlen. Eigentlich war der Test ganz gut gelaufen, oder? Ein Blick auf die Armbanduhr verriet ihm, dass er sich beeilen musste auf Arbeit zu kommen. Wieso waren seine Schichten nur immer so knapp eingeteilt?
 


 

Im Café angekommen legte er sich schnell eine der braunen Schürzen um und verschwand hinter dem Tresen.

Der Laden war klein und die meisten Menschen kamen nur für einen Kaffee zum Mitnehmen vorbei oder holten sich den Kuchen direkt an der Theke ab, wodurch zwei bis drei Mitarbeiter pro Schicht ausreichten. Mit wem hatte er heute eigentlich…?
 


 

Vanitas stockte der Atem, als er Jeanne an der Kasse stehen sah. Auch das noch… Wie sollte er sich denn jetzt verhalten? Er musste sie mit seinem Benehmen bei ihrem gemeinsamen „Date“ mehr als nur vor den Kopf gestoßen haben.
 


 

Ihm war natürlich klar, dass Jeannes Gerede von wahren Gefühlen nur gespielt gewesen war und dass sie irgendetwas aushecken wollte, vielleicht sogar ihn loszuwerden. Er war gern auf das Spiel eingegangen, um ein bisschen mit ihr flirten zu können und sie dadurch noch mehr zu verwirren, aber…Sie so anzuschnauzen und sitzen zu lassen. Das hatte er nicht gewollt. Sie war mit Sicherheit sauer auf ihn. Das konnte ja ein heiterer Arbeitstag werden…
 


 

Jeanne blickte auf und man merkte ihr an, dass ihr die Situation sofort unangenehm war. Verlegen sah sie zur Seite und murmelte ein „Hallo“.
 

Nachdem sie den Kunden vor sich abkassiert hatte, ging sie auf Vanitas zu, um ihm kurz die Absprachen für den Tag zu erläutern, sah ihn jedoch dabei nicht an. Kurz darauf wendete sie ihm den Rücken zu, um weiter zu arbeiten.
 

War das ihre Art sauer zu sein? Seine Existenz zu ignorieren und weiter zu arbeiten, als ob nichts wäre? Irgendwie hatte Vanitas erwartet, dass sie ihn anfauchen und mit bösen Blicken strafen würde, so wie sie es sonst immer tat, wenn er sie mit seinen Flirtereien am Arbeitsplatz nervte.

Aber das…? Irgendwie störte ihn dieses zurückhaltende Verhalten viel mehr.
 


 

Als der erste Kundenansturm abebbte und es ruhiger im Café wurde, machte sich das Schweigen zwischen ihnen immer deutlicher bemerkbar. Nervös putzte Vanitas den Tresen mit einem Lappen.

Sollte er einfach so tun, als ob dieses „Date“ nie stattgefunden hatte? Sollte er einen provokanten Spruch bringen, um das Eis zwischen ihnen zu brechen? Selbst ein Streit wäre ihm im Moment lieber gewesen als diese Stille.
 

Er wollte gerade etwas sagen, als Jeanne zuerst die Stimme erhob.
 

„Tut mir leid, wegen vorgestern.“
 

Perplex sah er sie an.
 

Jeannes Wangen wurden leicht rot, als sie weitersprach. „Ich hätte vorsichtiger sein müssen. War es dir irgendwie unangenehm, dass ich dich angefasst habe? Bist du sauer auf mich?“
 

Vanitas Mund öffnete sich vor Überraschung, aber kein Wort kam aus ihm heraus. Was passierte hier gerade? Warum gab sie sich jetzt die Schuld? Träumte er schon wieder?
 


 

„Nein…“, brachte er irgendwie heraus. „Mir ging es nicht gut. Tut mir leid. Ich hätte dich nicht dort stehen lassen sollen.“
 

Puh. Wieso war es so schwer diese Worte herauszupressen? Er war es einfach nicht gewohnt sich entschuldigen zu müssen. Normalerweise sah er das auch überhaupt nicht ein. Zum Glück sah Noé immer über seine ruppige Art hinweg. Aber mit Frauen war das etwas anderes, oder?
 

Jeanne sah ihn einen Moment lang überrascht an, bevor sie glücklich zu lächeln begann.
 

„Ach so war das. Verstehe.“
 


 

Ehe sie weiter sprechen konnten kam der nächste Kunde in den Laden, um den Jeanne sich auch sogleich kümmerte.
 

Vanitas hingegen stand mit offenem Mund da und konnte nur durch die in ihm aufsteigende Hitze erahnen, wie rot seine Wangen gerade aussehen mussten.
 


 

Moment! Hatte er gerade Herzklopfen?
 

So ein Lächeln… So ein Lächeln hatte er noch nie zuvor bei ihr gesehen. Nicht einmal den Kunden gegenüber.
 

War er gerade dabei sich tatsächlich…
 

Wild schüttelte er den Kopf. Nein, völlig unmöglich. Das hier war nur ein angenehmer Arbeitsflirt um etwas Stress abzubauen. Nicht mehr und nicht weniger!
 


 

Eilig machte er sich daran neuen Kaffee aufzusetzen. Solche Gedanken hatten in seinem Kopf nichts verloren. Er war besser Menschen auf Abstand zu halten, wenn er irgendwie durch dieses Leben kommen wollte ohne noch weiter verletzt zu werden. Das war auch bei Jeanne oder Noé nicht anders.
 

Er versuchte sich schnell wieder auf die Arbeit zu konzentrieren und bemerkte fast nicht einmal die Worte, die plötzlich seinen Mund verließen.
 


 

„Hey, Jeanne. Hast du Lust mich zu einer Veranstaltung zu begleiten?“



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