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Liebe, Leid und Leben

Mamorus Jugend
von

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Der Kampf gegen die drei Sailorkrieger, die den Herrn der Erde bedroht hatten, war sehr energieraubend für es gewesen. Mehr noch, als es erwartet hatte. Nachdem es sich vergewissert hatte, dass der Herr der Erde sicher in seinem Zuhause war, und es in sein Versteck zurück gekehrt war, hatte es sich zum Schlafen gelegt. Doch nun, einige Stunden später, hob es seine Augenlider wieder. Draußen herrschte noch immer die Dunkelheit der Nacht. Aber lange würde es nicht mehr dauern, bis die goldenen Strahlen der Sonne den sandigen Boden der Prärie erhitzen würden.

Es bemerkte, dass etwas mit ihm absolut nicht in Ordnung war. Bei dem Kampf vor wenigen Stunden hatte es mehr Kraft aufs Spiel gesetzt, als es eigentlich hätte hergeben dürfen.

Eigentlich hatte es damit gerechnet, viele Wochen in seiner jetzigen, menschlichen Gestalt ausharren zu können. Ohne fremde Energie. Was es allerdings nicht bedacht hatte, das war die Tatsache, dass ihm auch dann Energie verloren ging, wenn es seinen Ruf nach dem Herren der Erde schickte, oder wenn es auf die Suche nach dem Kristall ging. Der Kampf vor einigen Stunden hatte dann das seine dazu beigetragen.

Es hatte keine andere Wahl. Es musste los. Jetzt sofort. Es musste Energie sammeln. Und das ungeachtet der Tatsache, dass die Sonne in nicht allzu langer Zeit aufgehen würde. Es konnte nicht riskieren, bis zur nächsten Nacht zu warten. Unter Umständen konnte bis dahin alles zu spät sein. Und es wollte um keinen Preis seinen festen Körper jetzt schon wieder verlieren, wo es ihn sich doch so hart erarbeitet hatte, durch das Ansammeln gigantischer Mengen an Energie. Vor allem aber wollte es seine neue Tarnung nicht aufgeben. Es hatte sich als menschliches Wesen eine neue Identität aufgebaut, die es unter gar keinen Umständen wieder hergeben wollte.

Also verließ es sein Versteck, erhob sich in den Himmel und flog durch die kühle Luft Richtung Orendaham.

Es musste vorsichtig sein, denn jetzt, wo es einen festen Körper besaß, konnte es von den Menschen erkannt werden. Als es noch ein körperloser Schatten gewesen war, hatte man all die Leute, die es gesehen hatten, für krank erklärt. Wie wohl würde man auf sein jetziges Äußeres reagieren?

Glücklicherweise bedeckte die Nacht es mit dem schützenden Mantel der Dunkelheit. Es hoffte bloß, jemanden zu finden, um diese Uhrzeit, an einem nicht erhellten Ort, mit genügend Energie, und der es nicht sehen können würde. Was sollte es tun, wenn es das nächste Mal am helllichten Tage frische Energie dringend benötigen würde? Selbst, wenn es jemanden fände, der ihm Energie geben konnte, wie lange würde die dann reichen?

Es hatte Glück. Es fand - in Orendaham angekommen - tatsächlich einen Mann, der vielversprechend wirkte. Er lud gerade Ware von einem Kleinlaster durch eine Hintertür in ein Geschäft. Der Hinterhof, in dem der Wagen geparkt stand, war nur spärlich beleuchtet. Die perfekte Chance. Und es ließ sie nicht ungenutzt verstreichen...

Als es wieder in sein Versteck zurückkehrte, wurde der Horizont von den ersten Strahlen der Sonne erhellt. Viel frische Energie hatte es nicht gerade ergattern können.

Allmählich wurde die Zeit immer knapper. Es musste unbedingt bald den Kristall finden. Was auch immer dazu nötig war, musste eben geschehen!
 

Mit geschlossenen Augen tastete Mamoru nach dem Wecker und stellte ihn ab. Er seufzte schwer, rieb sich den Schlaf aus den Augen, gähnte lange, schlug die Decke zurück, schwang die Beine aus dem Bett und stand auf. Und genau in diesem Moment hörte er ein schrilles Kreischen in seiner unmittelbaren Nähe. Schlagartig öffnete er seine Augen und in derselben Millisekunde noch machte er einen gewaltigen, erschrockenen Satz zur Seite.

Er war Terra auf den Schwanz getreten. An den Wolf, der fast die ganze Nacht neben dem Bett verbracht hatte, hatte er gar nicht mehr gedacht.

"Terra!", rief er überrascht aus. "Entschuldige!"

Der Wolf stand da und schaute auf sein hinteres Ende. Er wedelte ein paar Mal langsam mit dem Schwanz, wie um zu testen, ob er noch dran war. Dann sah er Mamoru vorwurfsvoll an.

"Das war wirklich nicht mit Absicht", sprach der Herr der Erde besänftigend auf das Tier ein und kniete nieder. "Verzeihung."

Er streichelte Terra über den Kopf, und der Wolf schien ihm sein Missgeschick schon nicht mehr übel zu nehmen. Er drückte seinen Schädel gegen Mamorus Hand. Das silbergraue Fell schimmerte im Licht der Sonne, das durch die Fensterscheiben fiel.

"Weißt Du was?", fragte Mamoru, als er sich Terra genauer besah. "Dieser schwarze Fleck da ist mir an Dir noch nie aufgefallen..."

Er fuhr mit dem Daumen sachte über einen länglichen, schwarzen Flecken, der auf Terras Stirn prangte, genau in der Mitte zwischen den beiden Augen. Doch dann schenkte er der Fellfarbe des Tieres keine weitere Beachtung.

"Hast Du Hunger?"

Mamoru lächelte. Er stand auf und verließ das Zimmer. Der Wolf trottete ihm sofort nach. Gemeinsam gingen sie in die Küche, und Mamoru suchte ein Stück Fleisch raus, von dem er dachte, es sei das passende Frühstück für das Tier. Er stellte dann noch einen Napf mit Wasser bereit. Und als er zufrieden feststellte, dass es Terra schmeckte, da bereitete er sein eigenes Frühstück.

Kaum eine halbe Stunde später hatte sich Mamoru für seinen Schultag bereit gemacht. Er und Terra betraten gut gelaunt das Haupthaus.

"Guten Morgen, Tante Kioku! Guten Morgen, Onkel Seigi!"

Damit schlenderte Mamoru in die Küche. Seigi war in seine Zeitung vertieft und schlürfte Kaffee.

"Guten Morgen", sagte er etwas geistesabwesend.

Kioku allerdings wandte sich ihrem Neffen mit fröhlich aufgelegtem Gesicht zu:

"Hey, Kurzer. Guten Mor... - was ist das denn???"

Schreckensbleich und mit ausgestreckter Hand wies sie auf den Wolf, der hinter Mamoru erschienen war.

"Harmlos", antwortete Mamoru prompt. "Sein Name ist Terra. Er kommt von drüben, von der Mustang-Ranch. Er wird auch gleich wieder verschwinden."

Auch Seigi fand einige Sekunden Zeit, seine Zeitung sinken zu lassen und sich den Wolf näher anzusehen.

"Stattliches Tier", war sein Kommentar.

Terra lief lässig durch die Küche, schnupperte überall herum, begutachtete alles sehr genau und legte sich schlussendlich neben den Stuhl, auf den sich Mamoru inzwischen gesetzt hatte.

"Gibt's was Neues?", erkundigte sich Mamoru mit Blick auf die Zeitung. Als Antwort darauf händigte ihm Seigi wahllos einen Teil aus, ohne dabei auch nur ein Wort zu verlieren.

"Hey, ihr beiden Männer! Vergesst ja die Zeit nicht!", erinnerte Kioku, während Mamoru, gleich seinem Onkel, die Nase in die Zeitung steckte. Schon als er die Blätter auseinander faltete, kamen ihm ein Dutzend Werbeprospekte entgegengefallen.

"Unfassbar", murmelte er, als er die Reklame aufhob und auf den Tisch legte, "selbst in dieser Einöde wird man mit Werbung zugemüllt." Damit widmete er sich also endlich den Artikeln.

Kioku räumte die Werbeprospekte in den Papiermüll und wiederholte:

"Leute! Kommt mal auf Touren. Schatz, Du musst zur Arbeit, und Du, Kurzer, solltest Dich in die Schule aufmachen!"

"Gleich", murmelten beide.

Mamoru überflog in Windeseile einen kleinen Artikel mit der Überschrift:

<Japan: Mädchen bei Mikrowellenexplosion ums Leben gekommen - Untersuchungen in der Mikrowellenfirma TAEQ laufen noch...>

Ein sehr gehässiger Gedanke und die Erinnerung an Hikari schlichen sich in sein Gehirn. Doch bevor der Herr der Erde diesem Gedankengang weitere Beachtung schenken konnte, hatte ihm seine Tante die Zeitung schon entrissen und ihn und seinen Onkel darauf aufmerksam gemacht, dass es jetzt wirklich Zeit zu gehen sei.

Als sich Seigi und Mamoru dann also endlich auf den Weg zum Wagen machten, verließ Terra mit ihnen das Haus. Er heftete sich an Mamorus Fersen.

"Du kannst nicht mitkommen", erklärte der Junge.

Terra kam nochmals ein paar Schritte näher zu ihm hin und drückte den Leib gegen Mamorus Beine.

"Es geht wirklich nicht", sagte er entschuldigend. "Geh nach Hause!"

Er wies mit ausgestrecktem Arm nach Westen, nämlich in die Richtung, in der die Mustang-Ranch lag.

Terra rührte sich zunächst nicht und starrte den Herrn der Erde nur an.

Doch auf dessen Wink hin drehte der Wolf sich schlussendlich doch um und raste mit ausgreifenden Schritten der Mustang-Ranch entgegen.

Mamoru lächelte ihm hinterher. Dann stieg er zu seinem Onkel in den Wagen, um zu dem kleinen Bahnhof in Orendaham gebracht zu werden, wo Fala, Elly und Tony schon auf ihn warten würden.
 

General Zoisyte, der Herr über Europa, saß in seinem Arbeitszimmer am Tisch und grübelte. Er fand einfach nicht heraus, was genau mit dem Energindikat nicht stimmte. Er war sogar persönlich in verschiedenen Teilen der Erde gewesen, nur um das festzustellen, was ihm sein Diener Karneolyte schon längst berichtet hatte: Der Energindikat schlug kaum aus. Er reagierte so ziemlich auf gar nichts. Er war nicht sensibel genug eingestellt.

Zoisyte bastelte nun schon seit Tagen daran herum. Bislang ohne Ergebnis.

Äußerlich sah der Energindikat aus, wie ein handtellergroßer, perfekt runder, flacher, grauer Stein, auf dessen Oberseite ein Display und einige bunte Knöpfe, Schalter und Regler befestigt waren. Doch im Moment war die Hülle mittig gespalten und ein Innenleben, das vor winzigen Drähten nur so überquoll, breitete sich auf dem Tisch aus, und bildete zusammen mit Werkzeugen, Ersatzteilen und Schaltplänen ein unübersichtliches, heilloses Durcheinander.

Unverständliche Sachen vor sich hin murmelnd vertiefte sich Zoisyte ganz in seine Arbeit und bemerkte darüber nicht, wie Kunzyte im Arbeitszimmer auftauchte. Einige Sekunden stand er stumm da und beobachtete lächelnd, wie Zoisyte hier und da etwas zusammenlötete, einige Drähte verband oder auf den Tasten der kleinen Maschine herumtippte. Doch irgendwann trat Kunzyte näher heran und beugte sich über den Herren von Europa.

"Kommst Du voran?", fragte er.

Blitzschnell ruckte Zoisytes Kopf herum.

"Kunzyte! Hast Du mich erschreckt!" Er beruhigte sich schnell wieder. "Ich werde aus dem Ding nicht schlau. In den ersten Testphasen hat es einwandfrei funktioniert. Und jetzt auf ein Mal spinnt es. Solange ich nicht weiß, was daran falsch ist, kann ich es auch nicht reparieren."

"Lass Dich ja nicht aus der Ruhe bringen", ermutigte ihn Kunzyte. Er nahm Zoisytes langen, dunkelblonden Zopf in die Hand und fuhr sachte am Haar entlang.

"Kunzyte", flüsterte Zoisyte tonlos. Er warf seinem Befehlshaber einen schmachtenden Blick zu. Und Kunzyte verstand. Er näherte sein Gesicht an das von Zoisyte und küsste ihn sanft. Noch währenddessen legte Zoisyte die Hand sachte an die Wange des Älteren. Endlose Sekunden verstrichen. Dann lösten sich ihrer beider Lippen langsam wieder von einander.

"Du hast noch Zeit", wisperte Kunzyte dem Jüngeren ins Ohr. "Du hockst schon so lange an diesem Ding ... willst Du nicht mal eine Pause einlegen?"

Zoisyte schüttelte den Kopf.

"Ich könnte doch an nichts Anderes denken", erklärte er. "Außerdem weißt Du selbst, wie wichtig es ist, rasch fertig zu werden. Unsere Königin Perilia ist schon ungeduldig, und ich will nicht riskieren, das Zeitlimit zu überschreiten, das sie mir gesetzt hat. Mir bleiben noch sieben Wochen. Das ist nicht gerade viel. Wenn ich Pech habe, und den Fehler einfach nicht finde, muss ich mir vielleicht ein völlig neues System einfallen lassen - und es dann auch noch zusammenbauen. Das kostet Unmengen an Zeit!"

Er warf Kunzyte einen Verzeihung heischenden Blick zu.

"Ich verstehe ja", meinte Kunzyte. Er seufzte schwer. "Trotzdem. Manchmal ist es besser, einfach mal abzuschalten. Nur so bewahrt man sich einen kühlen Kopf. Der Rest kommt wie von selbst, wenn Du Dich zur Abwechslung mit was Anderem beschäftigst. Zum Beispiel ... mit mir?"

"Also gut", lächelte Zoisyte verlegen, aber glücklich. "Du hast mich überredet."

Er warf noch einen letzten Blick auf den Energindikat, ehe er von Kunzyte an der Hand fortgeführt wurde. Es würde wohl noch eine Menge Zeit vergehen, bevor das Gerät einwandfrei funktionierte.
 

Kaum, dass Mamoru, Fala, Tony und Elyzabeth das Klassenzimmer betreten hatten, da kam auch schon Tim, einer ihrer Klassenkameraden, zu ihnen gelaufen und erzählte mit aufgeregter Stimme:

"Leute, habt ihr schon gehört, was John heut erzählt hat? Der Wahnsinn. Das müsst ihr euch anhören!"

"Was ist denn los, Tim?", fragte Tony nach und legte erst mal ihre Schultasche ab.

"Es ist unglaublich", machte Tim weiter Werbung, ohne indes wirklich auf den Punkt zu kommen. "Geht zu ihm, hört es euch an! Voll Spannend!"

Und damit hechtete Tim auch schon den nächsten entgegen, um die Kunde zu verbreiten.

"Was ist denn mit dem los?", wunderte sich Tony kopfschüttelnd.

John war von vielen anderen Klassenkameraden umringt und erzählte wild gestikulierend irgendwas. Auch Mamoru und die drei Mädchen kamen hinzu und hörten sich an, was John nun zum wahrscheinlich vierten oder fünften Mal erzählte, ohne dabei müde zu werden:

"...es war richtig komisch! Wir wissen bis jetzt immer noch nicht, wie das passieren konnte. Und mein Onkel benimmt sich seither so merkwürdig..."

Auch wenn John das, was er da sagte, absolut ernst meinte, so spürte man doch, dass er Theater spielte und alles etwas mehr dramatisierte, als nötig wäre. Er wollte einfach mal im Mittelpunkt stehen.

"Nun mal der Reihe nach", fiel ihm Tony ins Wort. "Was also ist mit Deinem Onkel passiert?"

"Also", machte John. Er freute sich, dass er seine Geschichte ein weiteres Mal zum Besten geben konnte. "Mein Onkel ist heut früh, wie auch sonst immer, bei der Arbeit gewesen. Er hat ja ein kleines Geschäft in Orendaham. Es war noch ganz früh, und er hat grad irgendwas verladen. Er holt ja immer mit seinem Kleinlaster so Kram für seinen Laden ab. Na ja, ist ja auch egal. Jedenfalls meint er, er wär überfallen worden. Er kann sich auch nicht so wirklich an alles erinnern. Er sagt bloß, irgendwer sei von hinten gekommen und hätte ihn angegriffen. Er hat sich gewehrt, aber sehr schnell ist er total müde geworden. Vielleicht hat ihm jemand nen Lappen mit Chloroform vor den Mund gehalten, oder so. Er weiß es nicht mehr. Jedenfalls ist er bewusstlos geworden. Der Kerl, der seine Wohnung neben dem Laden hat, der hat ihn dann gefunden. Aber es war total komisch! Es hat nix gefehlt, weder von der Ware, noch das Geld aus dem Laden, oder die Brieftasche von meinem Onkel, nix! War alles noch da! Aber was wirklich, wirklich komisch war: Mein Onkel ist seitdem so müde, der ist gar nicht mehr richtig wach zu kriegen. Dieser Kerl, dieser Nachbar, der kennt meinen Onkel gut. Der hat bei meiner Tante angerufen, und seitdem ist mein Onkel zu Hause. Selbst beim größten Krach wird der nicht wach. Und wenn wir ihn mal wach kriegen, dann nur kurz, und dann pennt der wieder ein. Keiner hat ne Ahnung, was das soll. Jemanden betäuben, nur so, ohne Grund, aus Jux und Tollerei! Wer macht so was? Jedenfalls versucht jetzt die Polizei was drüber rauszufinden. Ist aber nicht einfach. In der kurzen Zeit, wo mein Onkel wach war, hat er erzählt, er hat den Fremden nicht gesehen. Es war zu dunkel. Aber er meint, er hätte irgendwas Komisches an dem Fremden gesehen. So was wie Flügel. Hat er zumindest gesagt. Komische Sache. Jedenfalls suchen sie jetzt nach dem Fremden. Aber keiner hat ne Ahnung, wie man den schnappen könnte. Mein Onkel schläft jetzt die ganze Zeit. Wirklich seltsam, das alles, findet ihr nicht? Hmmm?"

Allgemeines, zustimmendes Raunen seitens der Umstehenden.

Mamoru ließ sich das alles noch mal durch den Kopf gehen. Die Geschichte klang in seinen Ohren sehr vertraut. Ein nächtlicher Angriff, keine Verletzungen, kein Diebstahl, nur eine wahnsinnige Müdigkeit ... das klang doch alles sehr nach dem Schattenwesen.

"Er sagte, er habe Flügel gesehen?", vergewisserte er sich.

John nickte. "Ja, ja! Flügel! Total komisch, das alles! Wer hat so was denn schon gehört? Flügel! Keine Ahnung, was das wirklich gewesen sein könnte. Mein Onkel hat ja gesagt, es war dunkel, und er konnte nicht wirklich was sehen. Aber er sagt, er erinnert sich daran, dass er den Eindruck hatte, Flügel an dem Fremden gesehen zu haben. Das alles ist doch voll merkwürdig, nicht wahr?"

"Flügel. So was Verrücktes", pflichtete ihm Mamoru bei. Doch in Gedanken war er schon lang woanders. Das Schattenwesen trieb also noch immer sein Unwesen. Und es hatte doch noch nicht genug. Seit es Mamoru vor der Reise nach Amerika diese immense Energie abgezogen hatte, hatte Mamoru nichts mehr von diesen eigenartigen Überfällen gehört. Was mochte wohl dahinter stecken? Er kannte noch immer nicht die Motive des Schattenwesens. Einerseits schien es die gesammelte Kraft für irgendwas zu verbrauchen, das extrem viel Energie verschlang. Andererseits verletzte das Schattenwesen niemanden ernsthaft, es schien gegen das Dunkle Königreich zu kämpfen - so hatte es zumindest damals beim Kampf gegen Jedyte ausgesehen - und außerdem war es offensichtlich seine Absicht, Mamoru zu beschützen, wie beispielsweise gegen die drei Sailorkrieger von neulich.

Was sollte das alles?

So sehr Mamoru auch nachdachte, für ihn machte die ganze Sache einfach keinen Sinn. Er versuchte sich mit aller Gewalt vorzustellen, was das Wesen mit der gesammelten Energie anstellen mochte, doch er kam nicht drauf. Er zermaterte sich fast den ganzen Tag das Gehirn darüber. Und selbst, als er sich mit Elly, Tony, Fala und Rick am Spätnachmittag in der Tenebrae traf, grübelte er noch stumm vor sich hin.

"Nimmt Dich das wirklich so sehr mit?", fragte Tony nach. Sie konnte sich ungefähr denken, was in Mamorus Kopf vorging. Nämlich das gleiche, worüber er schon den ganzen Tag nachdachte.

"Ich verstehe es nicht", antwortete er murmelnd. "Was John da erzählt hat, geht einfach nicht in meinen Kopf."

Sie hatten Rick erzählt, was Johns Onkel passiert war. Doch für ihn schien es keine große Sache zu sein. Überhaupt konnte ihn kaum was schnell aus der Ruhe bringen.

"Kleener, Du solltest in Deinem Kopp auch echt andres Zeuch drin stecken ham, möchte ich meinen. Mach Du Dir ma' keene Gedanken nich um 'n Scheiß, den De ja doch nich ändern tun kanns, wa?"

Und damit nahm er einen kräftigen Schluck Bier.

Fala seufzte schwer. Dann stand sie auf.

"Entschuldigt mich für eine Weile, ich komme nachher wieder."

Damit wandte sie sich ab und ging.

Mamoru schaute ihr überrascht nach. "Wohin geht sie?"

"Wat weiß ich?", antwortete Rick. "Vielleicht zu ihrer Großmutter."

Vor einiger Zeit mal hatte Rick Mamoru gegenüber erwähnt, dass Fala eine blinde Großmutter hier in Orendaham hatte, doch Mamoru hatte das sofort wieder vergessen. Doch nun war sein Interesse erwacht.

"Bin gleich wieder da", murmelte er, sprang auf und jagte nach draußen. Die Anderen am Tisch hatten keine Chance, rechtzeitig zu reagieren und ihn abzuhalten.

Irgendwie traute Mamoru Fala nicht. Sie war ihm einen Tick zu mystisch und geheimnisvoll. Ein Mädchen, das eine Krähe als Haustier hatte? Und das die Zukunft voraussagen konnte? Und das ihm auf unbeschreibliche Art so bekannt und zugleich so fremdartig erschien? Außerdem ging ihm durch den Kopf, wie ihn sein Traum von letzter Nacht vor einer Krähe gewarnt hatte. Eine Krähe ... Fala ... das Herz der Erde ... es war alles so unendlich verworren. Was mochte Fala mit dem Herz der Erde zu tun haben? In seinem Traum hatte die Mondprinzessin das Herz der Erde eingesetzt, um die Krähe zu verscheuchen. Was mochte das bedeuten?

Als er und die Anderen sich nach der Schule mit Rick in der Tenebrae getroffen hatten, da hatte Rick Terra und Apollo mitgebracht, wie an jedem anderen Tag auch. Apollo saß jetzt auf Falas Schulter. Sein angestammter Platz. Eine Krähe...

Wie konnte eine Krähe ihm gefährlich werden?

Mamoru verfolgte Fala quer durch Orendaham, und er achtete sorgfältig darauf, genügend Abstand zu halten, sodass sie und Apollo ihn nicht bemerkten.

Vielleicht würde Mamoru so endlich etwas mehr über das geheimnisvolle Mädchen herausfinden. Einige Minuten lang haftete er an ihren Fersen, bis sie die überdachte, hölzerne Treppe an einer Hauswand emporstieg und im ersten Stock des Hauses verschwand.

Mamoru gab ihr einige Sekunden Vorsprung und schlich dann um das Gebäude herum. Im Erdgeschoss befand sich ein kleiner Drugstore. Doch das im Stockwerk darüber mochte durchaus eine Wohnung sein. Mamoru besah sich den Briefkasten und die Klingel. Darauf stand in großen Lettern <DREAMING TEAR>. Der Nachname stimmte also auf jeden Fall.

Aber Mamoru wollte noch mehr rausfinden. Er musste unbedingt wissen, was Fala da drinnen trieb. Er ging in den winzigen, niedrig ummauerten Hinterhof, wo einige Mülltonnen, ein zerbrochener Stuhl und eine Regentonne herumstanden. Aus der oberen Etage führte ein Balkon heraus, die Schiebetür dahinter war einen Spalt breit geöffnet und leise Stimmen drangen heraus. Aber Mamoru verstand kein Wort. Er musste unbedingt näher ran.

Er kletterte mühsam auf den Rand der Regentonne, hielt sich an der Regenrinne fest und griff dann nach dem Balkongeländer. So gesichert konnte er zumindest nicht mehr von der etwas wackeligen Tonne runterfallen. Er konnte noch immer nicht wirklich in die Wohnung einsehen, da die Fenster und auch die Schiebetür von Gardinen verhängt waren, aber immerhin konnte er nun einige Fetzen dessen verstehen, was im Inneren der Wohnung gesprochen wurde.

Er vernahm Falas Stimme:

"...soll ich nur tun?"

"Zunächst musst Du Geduld haben, mein Kind", sagte darauf eine alte, krächzende Frauenstimme. Für einen winzigen Moment glaubte Mamoru doch tatsächlich, dass nicht ein Mensch, sondern Falas Krähe Apollo geantwortet hätte, so rau klang die Stimme. Aber das war doch völliger Blödsinn. Zumindest redete sich Mamoru das ein. Die unbekannte Stimme redete weiter, und der Herr der Erde bemühte sich, so viel wie nur möglich zu verstehen.

"Wenn er wirklich ... musst Du Acht geben ... kannst nicht vorsichtig genug sein. Ich spüre ein Geheimnis, das ... Genaues kann ich auch nicht sagen."

"Aber sonst bist Du Dir doch so sicher", meinte Fala.

"Oh, es ist keine Ungewissheit, die mich hindert...", sagte die Stimme. "Vielmehr ist ... was ich noch nicht ganz zu deuten weiß. Ich will vorsichtig ... aber frag ihn doch selbst. Er ist da."

Für einen kurzen Moment herrschte Stille. Oder flüsterten die beiden vielleicht miteinander? Mamoru reckte sich etwas höher, aber das einzige, was er hörte, war ein leises, hölzernes Knarren. Dann wurde die Schiebetür mit einem Ruck zur Seite geschoben und Fala starrte entgeistert auf ihn herab. Mamoru erschreckte sich so sehr, dass er den Griff um das Geländer lockerte. Er verlor das Gleichgewicht. Mit einem erschrockenen Schrei stürzte er zu Boden und wirbelte dabei eine Menge Staub auf. Auch die Regentonne fiel um und ergoss ihren halben Inhalt auf Mamoru. Er hustete, spuckte Wasser aus und versuchte sich den Matsch aus den Augen zu reiben. Fala legte ihre Hand an die Stirn, seufzte und schüttelte gleichzeitig den Kopf. Von drinnen kam Apollo angeflattert, ließ sich auf dem Balkongeländer nieder und krächzte laut. Es klang wie Hohngelächter.

Die unbekannte Stimme tönte von innen:

"Hatte ich Recht?"

"Ja", antwortete Fala. "Er ist hier." Zu Mamoru sagte sie dann:

"Wo Du schon mal da bist, kannst Du auch gleich reinkommen. Ich mach Dir die Tür auf."

Mamoru sah zu ihr rauf und sah sie mit Apollo im Inneren der Wohnung verschwinden.

"Mist!", fluchte er. Aber abhauen würde ihm jetzt doch nichts mehr bringen. Und vielleicht würde sich jetzt das eine oder andere Geheimnis klären. Zumindest hoffte er das. Er stand auf, ging zu der Treppe, die in den oberen Stock führte und wurde dort von Fala mit einem riesigen Badetuch in Empfang genommen. Sie sagte nicht ein Wort zu ihm, sondern drückte ihm nur das Tuch in die Hand und verschwand wieder in der Wohnung. Mamoru derweil zog sich die Stiefel aus, trocknete sich ab, versuchte sich vom gröbsten Schmutz zu befreien und betrat schließlich die Wohnung. Er hatte noch nicht ganz die Tür hinter sich geschlossen, da sah er sich schon mit neugierigen Blicken um. Ihm fiel nichts Außergewöhnliches auf. Es war eine Wohnung wie jede andere. Zunächst befand er sich in einem kurzen Gang, von dem links und rechts mehrere Türen abgingen. Geradeaus vor ihm erstreckte sich anscheinend ein größeres Zimmer, das von seinem jetzigen Standpunkt aus aber noch nicht eingesehen werden konnte. An den Wänden im Flur hingen einige uralte Fotos, die meisten davon schwarzweiß.

"Hey, Geheimagent! Kommst Du endlich?", tönte ihm Falas Stimme entgegen.

Mamoru tapste durch den Flur und betrat dann das Wohnzimmer. Es war sehr einfach eingerichtet. Es gab zwei Regale voller Bücher. Auf einer Kommode stand ein altes Radio. Eine weite, gläserne Schiebetür führte draußen auf den Balkon. Dort draußen war er vorhin noch gewesen.

Ein riesiger Webteppich mit indianischen Symbolen lag auf dem Boden. Darauf stand ein niedriger, hölzerner Couchtisch, um den sich einige Sitzmöbel gruppierten. Außerdem stand da noch eine lange Stange, auf deren oberem Querbalken Apollo saß und ihm entgegenkrächzte. Fala saß auf einer Couch und hatte beleidigt die Arme vor der Brust verschränkt. Sie schenkte Mamoru nicht mal einen Blick.

Und ihr gegenüber, in einem ledernen Sessel, saß eine alte Frau. Der runzligen Haut nach zu schließen mochte sie über hundert Jahre alt sein. Das silbern schimmernde Haar war auf dem Schädel mit einem dicken Knoten zusammengebunden. Sie musste wohl sehr lange Haare haben, wenn sie die Frisur offen tragen würde. Sie trug ein ledernes Kleid mit vielen türkisfarbenen Perlen. So, wie man sich eine Indianerin eben vorstellte. Sie hatte eine auffällige, lange Perlenkette um, an der Federn und Tierzähne befestigt waren. Die alte Frau hatte irgendwie etwas Besonderes an sich. Die gleiche mystische Aura, wie Fala sie hatte, umgab auch diese Frau. Aber sie strahlte noch etwas aus. Weisheit. Und unendliche Ruhe. Sie lächelte. Sie hielt die Augen geschlossen. Und dennoch schien es, als wüsste sie, in welche Richtung sie sprechen musste, wenn sie mit Mamoru reden wollte.

"Guten Tag, junger Mann", waren ihre ersten Worte nach dem langen Schweigen. Sie hatte ihm wohl etwas Zeit geben wollen, damit er sich umsehen konnte.

"Guten Tag", brachte er zögerlich heraus. "Es ... es tut mir wirklich Leid, dass ich Sie gestört habe. Ich ... ich wollte wirklich nur..."

Ja, was wollte er eigentlich? Wie war er nur auf die Idee gekommen, diese alte Frau könnte für ihn eine Gefahr darstellen? Oder Fala? Im Augenblick fühlte sich Mamoru, als sei er der größte Trottel, der in der Weltgeschichte herumrannte. Er druckste herum und suchte verzweifelt nach Worten, um seinen Satz zu beenden. Doch er fand sie einfach nicht. Sein Hirn war nicht nur leergefegt, es war regelrecht klinisch steril.

"Ich weiß, was Du willst", sagte die Frau darauf endlich.

"Wie bitte?", fragte er ein wenig verdaddert. Wie konnte sie wissen, was er wollte, wenn er es selbst nicht zu sagen wusste?

"Lass mich Dich ein wenig näher kennen lernen", forderte die Frau. Sie streckte ihm ihre Hände entgegen.

Zunächst stand Mamoru wie angewurzelt an seinem Platz. Bis ihm irgendwann ein Licht aufging. Rick hatte ihm gesagt, Falas Großmutter sei blind. Sie wollte ihn ertasten und sich so ein Bild von ihm machen. Zögerlich schritt er auf sie zu, kniete sich vor ihr nieder, ergriff ihre Hände zaghaft und führte sie zu seinem Gesicht und schloss seine Augen. Mit langsamen und behutsamen, aber dennoch kundigen Bewegungen fuhr sie seine Gesichtszüge nach.

Sachte tastete Mamoru nach ihren Empfindungen. Was er fühlte waren Neugierde, Freude, vielleicht eine gewisse Erwartung. Und da war noch was. Das gleiche Gefühl, das er bei Fala hatte. Leid. Und unendliches, verborgenes Wissen um etwas, das die Menschen eigentlich nicht kennen durften. Von ihr hatte Fala die Gabe - oder vielleicht auch den Fluch - geerbt, die Zukunft vorausahnen zu können. Er las die Empfindungen der alten Frau mit derselben Leichtigkeit, mit der sie sein Aussehen ertastete.

"Du bist ein hübscher, junger Mann", meinte die Alte, als sie ihre Hände wieder zurückzog. "Und in Dir schlummern große Kräfte."

Mamoru öffnete die Augen wieder und blickte sie eine Sekunde lang skeptisch an. Wusste sie etwa, dass er gerade in ihren Empfindungen so mühelos gelesen hatte wie in einem offenen Buch?

Er stand auf und setzte sich neben Fala auf die Couch. Eine regelrecht peinliche Stille entstand zwischen ihnen.

"Fala, mein Kind", sprach die Alte, "würdest Du mich und diesen jungen Mann für einen Moment alleine lassen?"

Fala rief empört aus:

"Was? Wo er doch gerade eben erst noch versucht hat, uns so schäbig auszuspionieren?"

"Sei bitte nicht so ungestüm", belehrte sie die Alte ruhig. Das Lächeln, bei dem schon einige Zähne fehlten, wich dabei nicht aus ihrem Gesicht. "Du weißt, manche Dinge geschehen, weil sie nun mal geschehen müssen. Er kam hier her zu uns, weil ihn eine Frage drängte. Er verlangt nach Wahrheit. Und hier kann er sie bekommen. Ich bitte Dich, mein Kind, lass uns einen Moment alleine."

Fala warf einen kurzen, hasserfüllten Blick auf Mamoru. Dann stand sie auf und ging zu Apollo. Sie sah den Vogel an, während sie fragte:

"Kann ich noch irgendwas für Dich tun, Großmutter? Brauchst Du noch etwas?"

"Nein, danke, mein Liebes", antwortete die Alte.

Fala streckte ihren Arm aus, und mit flatternden Flügeln hockte sich Apollo auf ihre Schulter. Die junge Indianerin warf einen letzten, warnenden Blick auf Mamoru. Sie verabschiedete sich mit den Worten "Mach's gut, Großmutter" und verschwand dann durch den Flur nach draußen.

<Was kommt jetzt?>, fragte sich Mamoru. In ihm baute sich Spannung auf. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was die Alte von ihm wollte.

"Also", stammelte er dann irgendwann, "mein Name ist..."

"Ich kenne Deinen Namen", unterbrach ihn die Alte bestimmt. "Du nennst Dich nun Mamoru, nicht wahr?"

<Nun? War das je anders?>

"Das stimmt", antwortete er verwirrt. Fala musste ihr wohl gesagt haben, wie er hieß.

"Mein Name lautet Wynona", fuhr die Alte fort. "Ich habe lange auf Dich gewartet. Und nun bist Du endlich gekommen."

"Sie haben auch die Fähigkeit, in die Zukunft zu sehen. Wie Fala", vermutete Mamoru.

Wynona nickte. "Sei bitte nicht so förmlich. Ich bin es ja immerhin auch nicht. Also sag einfach <Du> zu mir. Und Du hast Recht. Das Blut, das durch Fala fließt, das fließt auch durch meine Adern und gibt mir die Kraft, das zu sehen, was den Menschen verborgen bleibt. Aber sie und ich, wir sind nicht die Einzigen, die etwas Besonderes sind. In Dir schlummern uralte Geister einer längst vergessenen Zeit. Hab ich nicht Recht, Beschützer?"

"Beschützer?", fragte Mamoru nach. Er kam sich dabei reichlich blöd vor. In Gegenwart dieser Frau fühlte er sich irgendwie wie ein kleines, dummes Kind, das überhaupt gar nichts verstand.

Wynona nickte. "Das ist doch Dein Name. <Mamoru>. Derjenige, der beschützt."

"Ach, ja. Ja. Natürlich." Für einen kurzen Moment hatte er völlig vergessen, dass man seinen Namen auch übersetzen konnte. "Aber woher weißt Du..."

"Du hast es Fala, Rick und den anderen doch selbst erklärt."

Jetzt kam er sich wirklich blöd vor. Er hatte doch selbst gerade erst festgestellt, dass Wynona die Fähigkeit hatte, Zukünfte zu sehen. Er sollte sich besser nicht wundern, was die alte Indianerin nicht noch alles wissen mochte.

"Du hast Dir vorhin die Fotos im Flur angesehen, hab ich Recht?", fragte sie.

"Ja", antwortete Mamoru einfach.

"Gefallen sie Dir?"

Er zuckte mit den Schultern. Dann wurde ihm bewusst, dass sie das nicht sehen konnte, und beeilte sich zu sagen:

"Sie sind ganz okay."

"Ich kann sie schon lange nicht mehr sehen", erklärte Wynona. "Dennoch kann ich mich nicht von ihnen trennen. Ich freue mich, dass sie Dir gefallen. Wenn Du sie ansiehst, dann besteht vielleicht für mich die Möglichkeit, sie durch Deine Augen zu sehen. Deswegen schicke ich Fala oft in die Welt hinaus. Damit ich durch sie sehen kann. Leider klappt das nicht immer."

"Und als ich vorhin draußen stand..."

"...da habe ich gewusst, dass Du da warst", beendete Wynona den Satz.

"Du sagtest, eine Frage habe mich hier her gedrängt", sagte Mamoru. "Und dass ich hier die Antwort finden würde. Ich schätze mal, ich muss Dir nicht mehr viel erklären. Sage mir einfach, was Du weißt."

Wynona lachte leise auf. "Das tut mir Leid, aber das kann ich nicht. Es gibt gewisse Dinge, die darf ich Dir nicht sagen. Denn sie würden alles grundlegend verändern. Weder darf ich Dir von der Zukunft berichten, wie ich sie gesehen habe, noch darf ich Dir von der Vergangenheit erzählen. Das gilt sowohl für Deine persönliche Vergangenheit, als auch für die Vergangenheit allgemein. Denn es müssen erst gewisse Dinge geschehen, damit Du das begreifen kannst, was das Schicksal für Dich erwählt hat. Mit der Zeit wirst Du schon auf all Deine Fragen eine Antwort finden. Manches werde ich Dir offenbaren, manches werden Dir andere sagen. Und dann gibt es da noch Wissen, das Du in Dir selbst finden musst. Und dabei kann Dir keiner helfen."

"Hast Du Fala alles gesagt, was Du über mich weißt?", fragte Mamoru nach.

Wynona schüttelte den Kopf. "Es ist schon eigenartig, findest Du nicht? Du bist zu mir gekommen, um etwas über Fala zu erfahren. Stattdessen erfährst Du etwas über Dich selbst. Aber weißt Du was? Fala ist heute zu mir gekommen, um etwas über Dich zu erfahren. Nur leider kann ich ihr auch nur das verraten, was sie wissen darf. Sie hat ihre Fähigkeit von mir geerbt. Aber sie kann sie nicht kontrollieren. Das kann ich auch nicht. Aber ich habe einfach ein sehr langes Leben gehabt. Ich hatte mehr Zeit, um alles zu sehen und alles zu erfahren. Und inzwischen sind mir die Zusammenhänge klar. Doch Fala ist noch auf der Suche, genau wie Du. Wenn sie erst erkannt hat, wer Du bist, dann wird sie vieles verstehen, was jetzt für sie noch zusammenhanglos erscheint. Bis dahin musst Du viel Geduld mit ihr haben."

"Das bringt mich auf die entscheidende Frage", antwortete Mamoru. "Wer bin ich?"

Wynona schüttelte sachte den Kopf. "Das gehört zu dem Wissen, das in Dir drin steckt. Du kennst die Antwort. Aber Du lässt Dich noch zu leicht vom Wesentlichen ablenken."

Mamoru dachte darüber nach. Dann schüttelte er verwirrt den Kopf und sagte:

"Wenn ich wüsste, wer ich bin, dann würde ich nicht fragen. Vielleicht ist das ein Teil meines Lebens, den Du noch nicht gesehen hast, aber als ich noch ein Kind war, da habe ich mein Gedächtnis verloren. Ich kann nicht sagen, wer ich bin."

"Die eigentliche Frage, die Du Dir stellen musst", antwortete Wynona geduldig, "lautet nicht <wer bin ich> sondern <wer war ich>. Du weißt es. Aber Du übersiehst es. Du hast es gerade vor einer Minute gesagt, und es jetzt schon wieder vergessen."

Mamoru überlegte. "Was hab ich denn gesagt?"

"Erinnere Dich", forderte Wynona. "Wie lautet Dein Name?"

"Mamoru", antwortete er langsam und leise. "Derjenige, der beschützt."

"Und weiter?", fragte Wynona.

"Was weiter?", erkundigte er sich.

"Was beschützt Du?", wollte sie wissen.

Und da ging ihm ein Licht auf.

"Mamoru Chiba", stammelte er. "Derjenige, der die Erde beschützt. ...Aber das ist doch nur ein Name! Nichts weiter als ein Merkmal, um mich von anderen Menschen zu unterscheiden!"

Sie nickte. "Und Du unterscheidest Dich in vielen, sehr wesentlichen Dingen von allen anderen Menschen."

"Wie meinst Du das?", fragte er nach.

"Such doch die Antwort in Dir selbst", verlangte Wynona.

"In ... mir ... selbst..." Mamoru legte seine Hand über sein kräftig schlagendes Herz. Er glaubte nun zu wissen, worauf Wynona anspielte. Was sie sagte, war nicht nur bildlich zu verstehen, sondern wörtlich. In ihm drin schlummerte der Goldene Kristall. Jenes Instrument, das ihn zum Herrn der Erde erkor. Zwar wusste er selbst nicht viel über ihn. Aber was er wusste, das war, dass der Goldene Kristall viel Macht besaß. Er kontrollierte die Energien der Erde und die der Träume. Er sollte eine Waffe und ein Werkzeug sein.

Aber...

Mamoru sah Wynona fragend an. Und sie schien in ihrem inneren Ohr seine stumme Frage zu hören:

<Warum befindet sich der Goldene Kristall ausgerechnet in meinem Besitz? Warum ausgerechnet ich?>

"Du hast inzwischen festgestellt, dass Du der Herr der Erde bist", sagte Wynona. "Und der Goldene Kristall ist der Kristall der Erde. Er kontrolliert das Leben und die Träume auf diesem Planeten. Es ist Dein Planet. Und Du musst ihn mit diesem Kristall beherrschen. So ist Deine Bestimmung."

"Wieso ich?"

"Weil Du der Herr der Erde bist", antwortete sie einfach.

"Wieso bin ich der Herr der Erde?"

"Weil Du es schon immer warst."

Allmählich kam Mamoru sich veräppelt vor. "Ich meine, warum ausgerechnet ich? Warum nicht sonst wer?"

Wynona lächelte wieder ihr gütiges Lächeln und antwortete altklug:

"Irgendwer muss es ja sein."

Mamoru seufzte schwer. "Na gut, lassen wir das mal außen vor. Befassen wir uns mit der nächsten Frage: Wer ist Fala?"

"Auch diese Antwort befindet sich bereits in Dir", erklärte Wynona. "Aber Du erinnerst Dich nicht daran."

"Ich erinnere mich nicht daran?", echote er ungläubig. "Heißt das etwa, ich habe sie gekannt, bevor ich bei diesem Unfall damals mein Gedächtnis verloren habe?"

Wynona dachte einen Augenblick nach, ehe sie antwortete:

"Irgendwie ja. Und irgendwie nein. Nicht so, wie Du es verstehen würdest."

Mamoru gab ein hilfloses "Hä?" von sich.

"Du musst noch auf gewisse Ereignisse warten", vertröstete sie ihn. "Die Zeit selbst wird Dir die Antwort auf diese Frage liefern."

"Ist das wieder eins von diesen Gedönses, die passieren müssen, damit ich alles verstehen kann?", fragte Mamoru.

"Ganz genau", antwortete sie. "Die Zeit ist ein sehr empfindliches Gebilde. Die Menschen werden sie nie zur Gänze verstehen. Auch Du wirst lange brauchen. Aber Du hast die Chance, sie eines Tages verstehen zu können. Mit der Zeit wirst Du die Zeit begreifen."

Sie lachte leise. Dann fuhr sie fort:

"Es gibt einen bestimmten Grund, warum ich Dir gewisse Dinge jetzt noch nicht sagen darf: Wenn Du die Dinge weißt, bevor sie geschehen, dann besteht die Möglichkeit, das Du die Dinge änderst, bevor sie sind. Das wäre fatal. Du könntest ein Zeitparadoxon verursachen und ungewollt die ganze Welt damit zerstören. Alles muss seine Reihenfolge behalten. Die Zeit ist ein empfindliches Gefüge. Sie lässt sich nicht austricksen. Sie verteidigt sich mit allen Mitteln. Sie lässt sich nur ungern in Schranken weisen. Aber dennoch gibt es einige wenige Schranken, die ihr gesetzt werden. Selbst etwas so Mächtiges wie die Zeit muss Gesetzen folgen. Das Schicksal ist eines dieser Gesetze. Es gibt gewisse Dinge und Situationen, die sind unvermeidlich. Und weil absolut gewiss ist, dass diese Situationen geschehen werden, ist es auch ungefährlich, wenn ich Dir davon berichte. Aber manche Dinge verhalten sich anders. Dann bahnt sich eine Zukunft an, die passieren kann, es aber nicht unbedingt muss. Dann habe ich nur eine ungefähre Ahnung von dem, was noch passieren mag. Und dann weiß ich, ich muss vorsichtig sein mit meinen Worten. Dann sage ich lieber nichts als zu viel. Oder anders ausgedrückt: Ich will nicht in Verlegenheit kommen, wenn ich jemandem etwas prophezeie, und es wird zum Schluss nicht wahr; nur aus dem Grund, weil ich es prophezeit habe."

"Uff, das ist alles nicht so ganz einfach", stellte Mamoru fest. "Gut, dann frage ich nicht <wer ist Fala>, sondern ich stelle die Frage anders: Kann Fala für mich gefährlich werden?"

"Du spielst auf den Traum an, den Du letzte Nacht hattest?", riet Wynona mit wissendem Gesichtsausdruck. So langsam fragte sich Mamoru, was er vor dieser Frau geheim halten konnte. Sie musste ja Einblicke in seine geheimsten und intimsten Gedanken haben. Genau in diesem Moment wurde ihr Lächeln noch etwas breiter. Und eine sattrote Farbe machte sich auf Mamorus Wangen breit. Er hüstelte verlegen.

Als Mamoru nicht antwortete, brach Wynona schließlich das Schweigen:

"Also ist es so. Die Frage ist nicht leicht beantwortet. Ich will es dennoch versuchen. An und für sich brauchst Du meine Enkelin nicht zu fürchten. Sie ist ein liebes Kind, das bestimmt keiner Menschenseele etwas zuleide tun will. Aber sie befindet sich gerade in einer schwierigen Situation. Sie ist auf der Suche nach ein paar Antworten, und das schon seit sehr langer Zeit. Sie wird allmählich ungeduldig, und sie hat auch allen Grund dazu. Sie hat eine ungefähre Ahnung von ihrem Schicksal, und das macht es ihr nicht leicht. Sie hat bestimmt nicht vor, Dir zu schaden. Aber es kann dennoch sein, dass Du gut auf Dich aufpassen musst. Sie könnte einige Entscheidungen vorschnell fällen und es dann hinterher bereuen."

"Was ist denn ihr Schicksal?", fragte Mamoru dazwischen. "Und was sucht sie?"

"Ich fürchte, das sind Dinge, die Du besser nicht wissen solltest, Mamoru. So Leid es mir tut. Aber sie muss ihre Erkenntnisse allein sammeln, ihre Antworten alleine finden und ihrem Schicksal alleine entgegentreten. So wie Du auch. Das mag jetzt vielleicht etwas befremdlich für Dich klingen, aber Fala und Du, ihr seid euch ähnlicher, als Du vielleicht glaubst. Und ähnlicher, als sie es wahrhaben will."

"Also gut", meinte Mamoru. "Dann also zur nächsten Frage: Was ist das Schattenwesen? Und was hat es vor?"

"Ich kann Dir auch darüber nicht viel erzählen", gestand die alte Indianerin. "Dieses Wesen ist nicht immer das gewesen, als was Du es kennst. Es ist alt. So alt wie diese Welt selbst. Vielleicht sogar noch älter. Sein Verhalten mag Dir vielleicht unlogisch erscheinen, aber doch steckt eine Absicht dahinter. Das Wesen tut nichts, was sinnlos ist. Es hat eine sehr lange Zeit damit verbracht, zu warten. Und es wartete auf Dich. Nun hat es Dich gefunden. Aber es zögert noch damit, sich Dir zu zeigen. Es bereitet einen Test für Dich vor. Du wirst sogar schon seit einiger Zeit geprüft, ohne es zu merken. Das Wesen ist oft in Deiner Nähe, und doch bemerkst Du es nicht. Du kannst ... oder besser: Du solltest Dich mit dem Wesen nicht anlegen. Und vor allem gilt: Du kannst es nicht töten; ebenso wenig, wie Du einen Orkan töten könntest. Versuch nicht, Dich gegen es zu stellen, und es wird Dich weiterhin beschützen. Alles, was ich Dir sonst noch zu dem Wesen sagen kann, ist: Es wird sein Geheimnis bald offenbaren. Du musst Dich nur noch ein wenig gedulden. Die Zeit wird kommen, und dann erfährst Du alles, was Du wissen willst. Jetzt ist es noch zu früh dafür."

Wynona atmete tief durch. Sie machte irgendwie einen kranken, schwächlichen Eindruck.

"Ist alles mit Dir in Ordnung?", fragte Mamoru vorsichtig.

"Ja, ist schon gut", antwortete Wynona. "Ich bin eben nicht mehr die Jüngste. Ich bin müde geworden vom vielen Erzählen. Und Du hast für einen Tag wirklich genug erfahren. Es wäre wohl das Beste, Du machst Dich auf den Weg zu den Anderen. Sie warten schon auf Dich."

"Aber ... aber...", brachte er stammelnd raus. "Ich habe noch so viele Fragen! Wer war ich früher? Was war, bevor ich meinen Unfall hatte und mein Gedächtnis verloren habe? Wo finde ich den Silberkristall? Wer ist die Mondprinzessin? Und was hat es mit den Sailorkriegern auf sich, denen ich kürzlich begegnet bin? Und was ist mit dem Königreich des Dunklen? Und..."

"Es reicht für heute", sagte die alte Indianerin mit Nachdruck. "Finde Dich damit ab. Alles, was dringend gesagt werden musste, wurde gesagt. Ich kann Dir nur noch einen gut gemeinten Ratschlag mit auf den Weg geben. Lebe in den Tag hinein, und genieße die Zeit, die Du hast. Ich weiß, Du bist ungeduldig, und versessen darauf, Antworten auf Deine Fragen zu bekommen. Aber diese Antworten werden Dir nicht nur Gutes bringen. Dein Lebensweg wird mit Kummer und Schmerz bepflastert sein. Das Schicksal wird Dir schöne Tage bringen, aber auch Tränen und Leid. Im Nachhinein erst wirst Du das Schöne zu schätzen wissen und ihm nachtrauern, weil es bestimmte Dinge gibt, die man nur ein Mal hat, und dann nie wieder. Deswegen überleg Dir genau, was Du tust, und nutze Deine Zeit sinnvoll."

Mamoru nickte. Es war einfach ein Reflex, den er machen musste; auch wenn er wusste, dass Wynona es nicht sehen konnte. Oder vielleicht wusste sie doch davon, durch ihn. Er schloss diese Möglichkeit nicht ganz aus.

"Ich danke Dir für die Zeit und die Mühe, die Du für mich aufgebracht hast", sagte er. "Du hast mir sehr geholfen. Danke für alles, Wynona."

Sie nickte. "Gern geschehen. Eines Tages werde ich Dir mehr erzählen dürfen. Komm jederzeit zu mir, wann immer Dir danach ist. Es könnte sein, dass das Schicksal Dich zu mir führt, weil ein Gespräch zwischen uns wieder nötig ist. Jedenfalls freue ich mich jetzt schon darauf, das nächste Mal wieder Deine Stimme zu hören. Jetzt wäre es wirklich das Beste für Dich, zu gehen. Pass gut auf Dich auf, ja? Fala steht draußen und wartet schon auf Dich."

Mamoru zögerte noch, nun endlich raus zu gehen.

"Weiß sie von diesem Gespräch? Ich meine, vom Inhalt her."

Wynona verneinte. "Sie hat nicht die geringste Ahnung. Es ist Deine Entscheidung, was Du daraus machst."

"Ja", sagte er. "Mach's gut, Wynona. Es hat mich sehr gefreut, Dich kennen zu lernen. Ich werde ganz bestimmt bald mal wieder hier her kommen."

"Ich weiß", antwortete sie lächelnd. "Bis dann."

Mamoru ging aus dem Wohnzimmer und durch den Flur, durch den er gekommen war, und wo noch das matschige Badetuch lag, mit dem er sich abgetrocknet hatte. Er nahm es und hängte es mit der Schlaufe, die an einer Ecke befestigt war, an den Kleiderbügel, mangels eines passenderen Ortes. Dann zog er seine Stiefel an und verließ die Wohnung. Als er die Treppe runterlief sah er schon Fala, die ihm ungeduldig entgegenblickte.

"Lange hast Du gebraucht", stellte sie missgelaunt fest. "Was gab es denn so Wichtiges zu bereden?"

"Ähm...", machte er unschlüssig.

Sie hob ihre Hand, um ihm zu bedeuten, er solle schweigen.

"Schon gut", meinte sie, "so wichtig ist es mir gar nicht. Mich interessiert nur eines."

Sie kam einen Schritt näher und starrte ihm direkt in die Augen. Ihr Gesicht war bedrohlich nahe an seinem. Wieder erweckten ihre pechschwarzen Augen irgend etwas tief im Inneren von Mamoru. So etwas wie Erkennen. Aber wieso...?

"Alles, was ich von Dir wissen will", so erläuterte sie, "ist: Wer oder was bist Du eigentlich wirklich?"



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