Verblassendes Licht
Endlich ist das neue Kapitel komplett. Zuvor möchte ich mich (mal wieder) ganz herzlich für eure bisherige (Kommi)Unterstützung und vor allem für eure Geduld (!!!) bedanken. Ich gebe ganz offen zu, dass mir die Fortsetzung dieser zunehmend dramatisch werdenden Fanfic schwer fällt. Schließlich bin ich auch nur einer von vielen, unerfahrenen Hobbyautoren und zweifle daher oft, ob ich alles in dieser Story wirklich gut genug durchdacht habe und passend darstelle. Ihr dürft mir deshalb gerne Löcher in den Bauch fragen, wenn euch was unklar ist.
Genug gelabert, kommen wir lieber zu Kapitel 28: Schon wieder muss Inu Taisho seine geliebte Izayoi allein lassen, um drohendem Unheil entgegen zu treten. Unglücklicherweise ist es dieses Mal ausgerechnet sein Sohn, der ihm erneut Sorgen bereitet. Sesshomaru hat zutiefst mit dem Trauma seines grausamen Todes zu kämpfen und keiner vermag einzuschätzen, welche Folgen das haben könnte...
Enjoy reading!
Seit ich mich erinnern kann, habe ich den Tod gehasst und erbittert gegen ihn gekämpft. Aber es war ein vergeblicher Kampf, letztendlich habe ich immer verloren.
Der Tod ist ein furchtbarer, ein gnadenloser Jäger. Ihm kann niemand entfliehen. Im Gegenteil, je mehr seine Beute ihm zu entfliehen versucht, desto eher holt er sie ein. Und wenn er nicht sofort das bekommt, was er will, so holt er sich Ersatz.
Oft genug musste ich in das höhnische Antlitz des Todes blicken, wenn ich ein Leben gerettet hatte und er sich dafür ein anderes nahm. Hilflos habe ich mich auslachen lassen müssen. Hilflos habe ich die trauernden Tränen der Hinterbliebenen ertragen müssen. Und hilflos bin ich, wenn mir der Tod seine nächste Herausforderung entgegen ruft und ich dem Ruf folgen muss, mit dem Wissen niemals siegen zu können. Diese Hilflosigkeit ist die schlimmste aller Qualen für einen Heiler.
Deshalb fühlte ich damals eine große Genugtuung, als mein Herr das Unglaubliche schaffte. Als Inu Taisho um das Leben seines Sohnes gekämpft und gesiegt hatte, als er dem Tod seine Beute entrissen hatte, war das ein wunderbarer Triumph für mich. Aber in meiner Schadenfreude hatte ich zwei Dinge übersehen. Erstens verdrängte ich die Tatsache, dass mein Herr noch den Preis für seine Herausforderung zu zahlen hatte, dass der Tod irgendwann Ersatz bei ihm einfordern würde. Zweitens dachte ich nicht daran, dass mein tückischer Feind sogar aus Verlusten Gewinne erzielen kann. Der Tod gab den ihm Geraubten nie wirklich frei, heimlich und auf hinterlistige Weise machte er ihn sich stattdessen zu Nutzen, und Sesshomaru wurde des Todes Vollstrecker.
Wenn ich heute in die Vergangenheit zurück blicke und mein Leben überdenke, wird mir klar, dass einer meiner größten Fehler die Überheblichkeit und Selbstüberschätzung war. Ich hätte von Anfang an meine Grenzen erkennen müssen und mir nicht so viel auf meine heilerischen Fähigkeiten einbilden dürfen. Einen verletzten Körper kann ich heilen, aber eine verletzte Seele heilen, das konnte ich nie.
Erst, wenn man sich seiner Schwächen bewusst ist und sie akzeptiert, kann man wahre Stärke entwickeln. Erst heute weiß ich, der Sieg liegt in Anerkennung der Niederlage.
Eine erste Ahnung von den Grenzen meiner Macht bekam ich damals, als ich die Spur Sesshomarus verfolgte, nachdem er traumatisiert davon gelaufen war.
Dafür, dass er eigentlich noch extrem geschwächt war, hatte sich der Hundedämon erstaunlich weit und schnell vom heimatlichen Schloss entfernt. Sein Weg führte in die westlichen Berge. Später, als ich alle Einzelheiten kannte, verstand ich, warum er ausgerechnet diese Richtung gewählt hatte. Er hatte den gleichen Weg genommen, den auch Inu Taisho einschlagen hatte. Eine wohl unbewusste Sehnsucht des Sohns nach seinem Vater hatte Sesshomaru wahrscheinlich dorthin getrieben.
In den Nachmittagsstunden des folgenden Tages erreichte ich das Gebiet des westlichen Wolfsrudels. Verwundert stellte ich fest, dass dort außer Sesshomarus Ausstrahlung überhaupt keine dämonischen Energien zu spüren waren. Offensichtlich waren alle Dämonen, die in den westlichen Bergen gelebt hatten, verschwunden oder hatten sich versteckt. Aber warum?
Ich fand keine Erklärung dafür und das steigerte meine Besorgnis. Hastig suchte ich weiter nach dem entflohenen Fürstensohn und fand ihn schließlich auf einer Waldlichtung. Am Ende hatte sein geschwächter, verletzter Zustand nun doch Tribut gefordert. Sesshomaru war in einen Heilschlaf gefallen, allerdings war er bereits in der Endphase davon, er konnte also jederzeit daraus erwachen. Zudem befand er sich immer noch in seiner wahren Hundegestalt. Das bedeutete, ich musste extrem vorsichtig sein, denn in ihrer wahren Gestalt reagieren die meisten Dämonen eher instinktiv statt rationell und das konnte gefährlich sein. Dass Sesshomaru sicher auch noch außer Sinnen war, komplizierte die Situation zusätzlich.
Langsam näherte ich mich dem riesigen Hund und überlegte krampfhaft, was ich tun sollte. Die Idee Sesshomaru erneut einen fesselnden Bann aufzuerlegen, ihn zurück ins Schloss zu schaffen und wieder einzusperren, verwarf ich schnell wieder. Diese Vorgehensweise war das letzte Mal ein unverzeihlicher Fehler von mir gewesen und dementsprechend auch schiefgegangen. Jemanden, der wie Sesshomaru das Trauma einer schrecklichen Gefangenschaft erlebt hatte, durfte und konnte man nicht gewaltsam festhalten. Doch was konnte ich sonst tun?
Das einzig Vernünftige war wohl auf meinen Herrn zu warten, seinen bewusstlosen, wehrlosen Sohn solange zu bewachen und sich dabei möglichst unauffällig zu verhalten, um keine Feinde anzulocken. Dummerweise war ein riesiger Dämonenhund von Sesshomarus Stärke nicht gerade unauffällig, die in seiner wahren Gestalt offen gezeigte Dämonenaura war wie eine Einladung und strahlte meilenweit. Ich entschloss mich daher den Fürstensohn in seine menschenartige Form zu verwandeln und mich mit ihm irgendwo zu verstecken.
Behutsam, damit er mich nicht als Bedrohung empfand und aus seinem Schlaf geweckt wurde, kniete ich mich neben den weißen Hund und streckte sacht eine Hand nach seinem Kopf aus. Meine Umgebung hatte ich fast völlig vergessen. Eine barsche Stimme holte mich aus dieser Unaufmerksamkeit.
„He du! Verschwinde da, du Narr!“
Überrascht drehte ich mich um und sah eine größere Gruppe Menschen am Rand der Waldlichtung stehen. Es waren ungefähr zwanzig, unterschiedlich alte Männer mit ebenso unterschiedlicher Bekleidung. Einige von ihnen trugen Rüstungen, andere einfache Bauernkleider, wieder andere hatten Mönchskutten an. Sie alle waren bewaffnet. Erstere mit Schwertern, Lanzen oder anderer typisch kriegerischer Ausrüstung, die Bauern mit Ackergeräten und die Mönche mit Holzstäben und Bannzetteln.
Es war nicht schwer zu erraten, was diese Menschen vorhatten. Ohne mir meine innere Unruhe und Sorge anmerken zu lassen, stand ich auf.
„Bitte, es gibt keinen Grund für aggressives Verhalten. Ich verfolge keine bösen Absichten. Lasst mich bitte friedlich meine Aufgabe erfüllen, dann wird nichts geschehen. Ich will nur helfen.“
„Passt auf, das ist auch ein Dämon“, rief einer der Mönche, „er will nur seinesgleichen schützen.“
„Nein“, versuchte ich zu beschwichtigen, „ich möchte uns alle schützen. Ich bitte euch nochmals, zieht euch zurück, lasst uns in Ruhe und bedroht uns nicht weiter. Ich verspreche euch, ihr werdet dann nie wieder von uns behelligt werden.“
„Das Versprechen eines Dämons“, höhnte einer von den Kriegern, ein noch sehr junger Mann: „Glaubst du etwa, auf so etwas fallen wir rein? Ich erzähl dir mal was: der letzte Dämon, dem ich mein Vertrauen geschenkt habe, hat meine gesamte Familie auf dem Gewissen. Kein Mensch kann sich vorstellen, was dieser Dämon alles mit uns gemacht hat. Nur mein älterer Bruder und ich haben wie durch ein Wunder überlebt. Und wir haben uns geschworen, dass wir das Land von euch Ungeheuern säubern werden. Dieses Hundemonster und du, ihr werdet uns nicht entkommen!“
„Bitte“, versuchte ich es noch einmal, „ihr wisst nicht, was ihr tut. Ihr wisst nicht, welche Mächte ihr zu wecken droht!“
Gleichsam einer Bestätigung meiner Worte hörte ich plötzlich ein bösartiges Knurren in meinem Rücken. Die Zusammenballung einer sich sammelnden und sich aktivierenden Dämonenenergie verdunkelte den Himmel.
Entsetzt blickte ich hinter mich und sah in glühend rote Dämonenaugen. Sesshomaru war aufgewacht! Grollend richtete er sich auf. Die Menschen wichen unwillkürlich einige Schritte vor dem angsteinflößenden Hund zurück. Doch sie fingen sich schnell wieder, insbesondere die Krieger und Mönche bezogen daraufhin Kampfposition.
Ich war wie gelähmt und verpasste so wahrscheinlich die letzte Chance ein Eskalieren der Situation zu verhindern. Mehrere Speere flogen an mir vorbei und bohrten sich in Sesshomarus Flanke, zu spät gelang es mir einen Schutzschild zu errichten, an dem alle weiteren Waffenattacken abprallten. Sesshomaru gab ein kurzes, schmerzerfülltes Winseln von sich und leckte kurz über die Speerwunde. Dann knurrte er wieder und preschte im nächsten Moment an mir vorbei wie wildgeworden davon.
„Verfolgt ihn, treibt den Mononoke in Enge“, brüllte ein älterer Krieger, „drängt ihn zum Dorf. Er flüchtet wie erhofft genau in unsere vorbereitete Falle!“
„Nein...“, stöhnte ich, „hört auf... lasst ihn... und versucht auf keinen Fall ihn zu fangen oder gar ihn zu fesseln!“
Ich war zu Boden gestürzt, als Sesshomaru an mir vorbei gerannt war. Verzweifelt raffte ich mich wieder auf und suchte hektisch nach meinem magischen Stab, der mir aus der Hand gefallen war. Ich wollte die Menschen aufhalten, doch ehe ich mich versah, war ich von vier Mönchen umstellt, die mir Perlenketten entgegen streckten. Ein schmerzhaftes Schwindelgefühl erfasste mich. Sie versuchten mich zu läutern, mir meine Dämonen- und Lebenskraft zu entziehen. Ich brach in die Knie, mein Bannkreis schützte mich nicht. Halb besinnungslos tastete ich nach meinem Stab.
Die Mönche hatten beachtliche Kräfte und verstanden diese hervorragend einzusetzen, derartig überrumpelt hatte ich keine Chance. Ich spürte, wie mein Youki entwich, mein Geist und Körper sich in brennendem Licht aufzulösen begann. Mit meinem letzten Bewusstseinsfunken bekam ich meinen Stab zu fassen, aktivierte meine letzte Energie und flüchtete in Unsichtbarkeit.
Es war beängstigend ruhig, als ich wieder zu mir kam. Panisch öffnete ich die Augen. Ich befand mich immer noch auf der Waldlichtung, auf der die Menschen Sesshomaru und mich angriffen hatten. Doch nun waren alle verschwunden. Die Mönche, die versucht hatten mich zu läutern, waren sicherlich überzeugt gewesen mich vernichtet zu haben. Sie hatten sich dann wohl der Treibjagd auf Sesshomaru angeschlossen.
Zitternd stand ich auf, ließ meine geschwächten Sinne schweifen und suchte nach dämonischen Ausstrahlungen. Doch ich spürte nichts direkt, nur noch eine hinterlassene Spur davon. Voller Angst, dass mich das eventuell zu einem toten Dämonenhund führen würde, folgte ich dieser Fährte.
Nach einiger Zeit entdeckte ich ein Menschendorf. Oder vielleicht eher das, was mal eine menschliche Siedlung gewesen war. Erschüttert blieb ich stehen.
Ich habe schon mehr Tote und Schlachtfelder gesehen als ich zählen kann. Dennoch schockt mich deren Anblick immer wieder. So war es auch dieses Mal.
Wie versteinert starrte ich auf zerstörte, teilweise völlig zertrümmerte oder brennende Hütten, dann auf eine Menge, überwiegend bis zur Unkenntlichkeit verstümmelte Menschenleichen und zuletzt auf einen flachen Krater. Inmitten dieses Kraters kauerte eine verletzte, menschenartige Gestalt. Diese war jedoch kein Mensch, es war eine dämonische Gestalt mit langen weißen Haaren, gespenstischen, glühenden Augen, nadelspitzen Zähnen und rotvioletten, gezackten Streifen auf den Wangen und Unterarmen. Sesshomaru.
Mit dem linken Arm stützte sich der Hundedämon am Boden ab und sah mir drohend entgegen. Lodernde Wut und hasserfüllte Bosheit sprach aus seinem Blick. Die langen, scharfen Krallen seiner Rechten umklammerten krampfhaft den Hals eines jungen Menschenkriegers mit gebrochenem Genick und verätzter Rüstung. Schauriges, rötlich wallendes Licht umloderte beide.
Ich weiß nicht mehr, wie lange ich dort gestanden hatte, absolut regungslos, bis eine Hand, die sich plötzlich auf meine Schulter legte und diese schmerzhaft fest packte, mich aus meiner Erstarrung holte. Reflexartig drehte mich abwehrend beiseite, stockte dann aber mitten in der Bewegung.
Neben mir stand Inu Taisho.
Ebenso unbewegt und starr wie ich zuvor blickte mein Herr auf die vor ihm liegende, gruselige Szenerie, auf das entsetzliche Blutbad. Sein Gesicht war aschfahl. Der Griff seiner linken Hand, mit der er sich an meiner Schulter festhielt, verstärkte sich, sein ganzes Gewicht schien sich gegen mich zu lehnen. Er sah aus, als würde er jeden Moment zusammenbrechen, sofort fasste ich unter seinen linken Arm und stützte ihn.
„Oh, Ieyasu“, flüsterte mein Herr erstickt, „was ist hier geschehen?“
Nachdem er sich etwas von seiner Fassungslosigkeit erholt hatte, machte sich Inu Taisho tranceartig von mir los. Den rechten Arm ausstreckend trat er einige Schritte vor.
„Sesshomaru...“
„Nicht, mein Herr!“
Schnell ergriff ich Inu Taisho am Handgelenk und hielt ihn zurück.
„Kommt ihm nicht zu nahe!“
Zornig schüttelte der Fürst meine zurückhaltende Hand ab.
„Soll ich mich etwa vor meinem eigenen Sohn fürchten?“
„Er wird Euch nicht erkennen“, warnte ich ihn, „Eurer Sohn ist in dem Zustand eines verletzten, rasenden Raubtiers. Er muss sich erst wieder beruhigen und zu sich kommen. Überlasst das lieber mir. Glaubt Ihr nicht, dass das auch in Sesshomaru-samas Sinne ist? Er würde bestimmt nicht wollen, dass Ihr ihn in diesem Zustand seht.“
Inu Taisho zögerte kurz, schüttelte dann aber den Kopf.
„Es mag richtig sein, dass es gefährlich ist und Sesshomarus Stolz widerspricht. Doch was für ein Vater wäre ich, wenn ich mich jetzt von ihm abwenden würde? Ich werde vor meiner Verantwortung nicht davonlaufen.“
Damit setzte sich mein Herr wieder in Bewegung und ging langsam auf Sesshomaru zu.
Als Sesshomaru seinen Vater auf sich zukommen sah, ließ er den Leichnam des getöteten Menschen los, richtete sich aus seiner kauernden Stellung auf und nahm eine kampfbereitete Haltung ein. Sein ganzer Körper zitterte unter starker Anspannung. Ein bestialisches, warnendes Knurren entwich seiner Kehle.
Bang beobachtete ich, wie Inu Taisho fast direkt vor seinem Sohn stehen blieb und ihm langsam beide Hände entgegenstreckte. Sesshomaru duckte sich etwas, im nächsten Moment holte er mit der Rechten aus und sprang seinen Vater an. Ich sah, wie sich seine hellgrün aufschimmernden Krallen durch die Rüstung und Brust meines Herrn bohrten. Inu Taisho zuckte etwas zusammen, sein Gesicht verzerrte sich vor Schmerz, doch er blieb standhaft stehen. Er packte seinen Sohn an den Schultern, schloss seine Arme um den rasenden Dämon und zog ihn fest an sich. Sesshomaru wand sich in der Umarmung und befreite sich schließlich daraus. Bebend wich er einen Schritt zurück und starrte seinen Vater mit weit aufgerissenen Augen an. Reglos und schweigend blickte Inu Taisho zurück, ohne auf die schreckliche Wunde zu achten, die sein Sohn ihm zugefügt hatte.
Einige unerträglich lang andauernde Sekunden vergingen, dann machte Sesshomaru noch einen Schritt zurück und sank plötzlich schwankend in die Knie. Sofort kam Inu Taisho zu ihm und hielt seinen stürzenden Sohn fest. Eine kaum erkennbare Weichheit legte sich daraufhin über Sesshomarus dämonische Gesichtszüge, seine Anspannung wich und die tiefrote Glut seiner Augen wandelte sich in glänzendes Gold. Etwas wie eine Erinnerung, eine Mischung aus ungläubigem Erkennen und vertrauensvoller Freude schien ihn zu erfüllen.
„Chichi-ue?“
Sesshomarus Stimme war nur noch ein Hauch, als er dieses Wort fragend aussprach. Seine goldenen Augen schlossen sich. Bewusstlos brach er in den Armen seines Vaters zusammen.
Mit einem kaum hörbaren und erleichterten Schluchzen drückte Inu Taisho seinen Sohn an sich.
Auch meine Erleichterung war grenzenlos. Hoffnungsfroh, dass sich nun endlich alles zum Guten wenden könnte, und mit dem Bestreben zu helfen gesellte ich mich zu den beiden.
„Ich werde es nicht zulassen, ich werde es nicht zulassen“, flüsterte mein Herr ständig wiederholend vor sich hin und streichelte seinem besinnungslosen Sohn dabei sanft über die Haare: „Ich werde es nicht zulassen... ich habe dich zurückgebracht und so werde ich dich beschützen, selbst wenn die warnende Prophezeiung des Todes sich erfüllt!“
Erschrocken und verwundert sah ich meinen Fürsten an, ich verstand nicht, was diese seltsamen Worte zu bedeuten hatten, noch nicht. Aber der Fürst beachtete mich nicht und daher erhielt ich keine Erläuterungen auf meinen fragenden Blick. So legte ich meine Hand auf Inu Taishos Schulter.
„Lasst uns gehen, Herr.“
Inu Taisho schaute kurz auf und nickte stumm. Er stand auf, hob seinen Sohn behutsam hoch und trug ihn fort aus dem vernichteten Menschendorf. Bevor er sich danach in einen blauweißlichen Energieball verwandelte und verschwand, blickte er noch einmal kurz in meine Richtung. Seine goldenen Augen wirkten hart und entschlossen, aber sie schimmerten auch, fast so, als habe er geweint.
Ich blieb allein zurück und sah mich nochmals kurz um. Doch es war deutlich, dass ich in der zerstörten Siedlung wohl kein überlebendes Wesen mehr finden würde. Ich konnte nichts mehr tun. Auch die Bestattung der Toten musste ich den Menschen selbst überlassen. Es war zu gefährlich sich noch länger hier aufzuhalten. Denn das, was hier geschehen war, war sicher nicht unbemerkt geblieben.
Mit deutlichem Unbehagen wandte ich mich ab und aktivierte meine Kräfte, um meinem Herrn zu folgen. Ich ahnte, dass das Ereignis noch Folgen haben würde. Doch ich wusste nicht, welch schwerwiegende. Wie hätte ich auch ahnen sollen, dass woanders weiteres Unheil entstand, das sich bald darauf mit dem Geschehenen zu einem wahren Unglück zusammen braute.
* * * * *
Die Nacht warf ihre düsteren Schatten über die Meeresküste.
Etwa drei Wochen waren vergangen, der Mond hatte seine volle Kraft überschritten. Sein mehr um die Hälfte reduziertes Licht reichte nicht aus, um die Schatten eines nahegelegenen Bergwaldes zu durchdringen, in dem sich die Gestalt eines Mannes verbarg. Dieser saß unterhalb einer Kiefer am Rande eines steilen Abhangs im Gras und betrachtete mit rot glimmenden Augen den weit entfernen Horizont der See. Ungeduldig rupfte er einige Grashalme aus und zerrieb sie in seinen klauenartigen Händen. Auf seiner Stirn war ein kleines maskenartiges Gesicht zu sehen, das schlief.
„Äh... Ryokossei-sama...“
Der Angesprochene rührte sich nicht, er sah nicht einmal beiseite. Neben ihm schwebte ein winziger, pummeliger Drache in der Luft.
„Rede!“
Der deutlich aggressive Ton, der in diesem kurzen Befehl lag, war nicht zu überhören. Offensichtlich war Ryokossei mal wieder sehr schlechter Laune, so wie fast ständig in letzter Zeit seit Bundoris Tod.
Der kleine Drache unterdrückte ein Seufzen. Er selbst vermisste den sadistischen Drachenlord nicht, er war froh gewesen, dass er nie etwas direkt mit diesem Ungeheuer zu tun gehabt hatte. Aber bedauerlicherweise war nun dafür der Umgang mit Ryokossei noch schwieriger geworden. Denn seit Bundoris Vernichtung verhielt der sich völlig unberechenbar und extrem böswillig. Von der gelegentlichen Unsicherheit, die Ryokossei immer geschickter hinter seiner zunehmenden Grausamkeit verbarg, ahnte der kleine Drache nichts.
„Ähm... also, ich war wie befohlen wieder im Westen und habe...“
Ruckartig wandte Ryokossei seinen Kopf, seine rotleuchtenden Augen schienen den neben ihm schwebenden Drachenwinzling geradewegs zu durchbohren. Auch das unheimliche Maskengesicht auf Ryokosseis Stirn war nun wach geworden und starrte dem Kleinen ebenso entgegen.
„Sag mir endlich, was mit dem Juwel der vier Seelen ist!“
„Äh, d-das weiß ich... im-immer noch nicht...“, stammelte der kleine Drache und wich etwas zurück, als er bemerkte, wie sich beide Augenpaare in Ryokosseis Gesicht zu Schlitzen verengten.
„Bi-bitte, Ryokossei-sama, ich habe getan, was ich konnte... Un-und ich versichere Euch, dass wirklich niemand, nicht einmal Inu Taisho, weiß, wo das Juwel abgeblieben ist... Es scheint spurlos verschwunden zu sein. Genau wie der, der es gestohlen haben soll...“
„Pah! Ausgerechnet dieser dämliche Yoshio“, fauchte der Drachendämon in Menschengestalt und spuckte verächtlich auf den Boden, „ich hätte diesen Jammerlappen abmurksen sollen. So vergnüglich es sein mag mit seinen Werkzeugen zu spielen, es ist besser, sie restlos zu zerstören, wenn sie unbrauchbar geworden sind.“
Ryokosseis kleiner Spion beschloss den letzten Satz als ernste Warnung zu verstehen und berichtete daher hastig weiter:
„Ich habe dafür Neuigkeiten von der südlichen Westküste. Dort sind viele Menschenschiffe vom Festland aufgetaucht. Es scheint eine Invasionsarmee zu sein, so wie die vor fast sieben Jahren. Ihr sagtet doch, Ihr wollt sofort informiert werden, wenn so etwas mal wieder passiert.“
„Kriegsschiffe vom Festland?“ Ryokosseis Stimmung hob sich augenblicklich. „Na, endlich! Gut. Wenigstens auf Menschen und ihre Eroberungsgelüste kann man sich verlassen. Dann dürfte ja jetzt die geheime Fracht angekommen sein.“
„Äh“, wagte der kleine Drache einzuwerfen, „was findet Ihr denn an irgendwelchen Eroberungszügen von Menschen und ihren Schiffen so toll? Und was für eine Fracht meint Ihr denn?“
„Mach dir mal nicht zu viele Gedanken, Würmchen“, bemerkte Ryokossei hintergründig lächelnd, „dafür taugt dein winziges Hirn nicht. Und du willst doch nicht, dass mir deine angeborene Naivität auf die Nerven geht, oder?“
Auf diese Frage folgte keine Antwort. Das Schweigen war Beweis genug, dass der kleine Drache nicht ganz so dumm war, wie Ryokossei es ihm vorgeworfen hatte, sondern sehr wohl ein funktionierendes Gehirn besaß.
Ryokossei beachtete seinen gekränkten und verängstigten Spion nicht mehr, er stand auf und streckte einen seiner Arme aus, auf seinem Zeigefinger landete plötzlich ein Nachfalter.
„Richte dem Hyoga aus, dass alles vorbereitet ist. Ich werde den Hund zum Wald ohne Wiederkehr locken. Dort soll er ihn erwarten. Während er den Köter beseitigt, werde ich mein Verspechen einlösen und ihm beim Fang von lebenden Seelen helfen. Sag ihm, er wird die Seelen aller hier lebenden Menschen bekommen!“
Der Nachfalter schlug mit seinen Flügeln, löste sich von der Krallenspitze des Drachendämonen und segelte davon. Total perplex sah Ryokosseis zwergenhafter Diener dem Schmetterling nach.
Hyoga? Was war denn bitte ein Hyoga? Was sollte das alles? Wer der Hund sein sollte, dem Ryokossei da offensichtlich eine Falle stellen wollte, war allerdings klar. Nur konnte sich der kleine Drache nicht vorstellen, wie das funktionieren sollte. Immerhin waren schon ganze Armeen und Bundori an Inu Taisho gescheitert.
„So“, sagte Ryokossei in diesem Moment, „das wird hoffentlich für ein Weilchen für Ablenkung sorgen und mir genügend Muße für weitere Pläne verschaffen. Vielleicht bekomme ich so auch ein paar Antworten auf noch offene Fragen.“
Nach diesen Worten packte der Drachendämon seinen winzigen Artgenossen und lächelte ihn zweifach mit seinem normalen Gesicht und der auf seiner Stirn sitzenden Maske an:
„Sag mal... hattest du nicht erzählt, dass sich Inu Taisho vor seiner Rückkehr in sein Schloss zuletzt in den westlichen Bergen und südlich davon rumgetrieben hat?“
„Äh j-ja“, stotterte der Winzdrache, der sich keinen Reim darauf machen konnte, was die Frage sollte, „je-jedenfalls habe ich seine Dämonenaura da mal gespürt. Und in den westlichen Bergen kursierte unter Menschen zudem so ein komisches Gerücht, dass ein weißer Hund dort Amok gelaufen sein soll.“
„Schön“, meinte Ryokossei, „das scheint doch eine interessante Sache zu sein. Dann werden wir uns beide da mal ein bisschen genauer umschauen...“
Weiterhin lächelnd und seinen kleinen Diener fest umklammernd verließ Ryokossei die Meeresküste, zog sich ins Landesinnere zurück und schlug einen Weg nach Westen ein.
In den letzten Wochen hatte der Drachendämon gründlich nachgedacht, fleißig nachgeforscht und sämtliche Informationen, die er während dieser Zeit über Inu Taishos Tun gesammelt hatte, mit vergangenem Wissen vereint. Und dabei waren ihm einige Merkwürdigkeiten aufgefallen. Es war Zeit einige Vermutungen zu überprüfen.
Ryokosseis Lächeln verbreiterte sich zu einem Grinsen. Er war vielleicht nicht so mächtig wie sein älterer Bruder, aber er hatte einen ebenso intriganten Geist. In diesem Sinne war er teils sogar klüger, denn Bundoris Naturell hatte dem toten Drachenlord das Verständnis für bestimmte Dinge verwehrt.
Mit diesen Gedanken verschwand Ryokosseis unterschwellige Unsicherheit, ein triumphierendes Gefühl machte sich in ihm breit. Wenn sich seine Vermutungen bestätigten, war die Zeit der Rache gekommen. Dann würde er den Herrn der Hunde mit dessen eigenen Waffen schlagen können.
Soweit das achtundzwanzigste Kapitel.
Wer seit Kapitel 17 bezüglich der vergangenen Zeit mitgezählt hat (was gar nicht so einfach ist bei meinen ungefähren Zeitangaben, aber orientiert euch mal an den Mondphasen^^), der weiß, dass Izayoi mittlerweile im zweiten, bald im dritten Monat schwanger ist... also wird es langsam und unaufhaltsam immer gefährlicher, ein gewisser Höhepunkt rückt näher und näher... *jaul*
Das Kapitel war irgendwie ein hartes Stück Arbeit (vor allem die Vater-Sohn-Szene). Ich hoffe, es ist dementsprechend gelungen und nachvollziehbar (falls nicht, *sorry*). Hilfreiche Kritik wird durchaus gern gesehen. :)
Übrigens: bis mindestens zum Jahreswechsel ruht diese Fanfic weitgehend auf Eis, ich fordere daher (mal wieder) eure Geduld heraus. Als Ersatz und kleines Trostpflaster für alle, denen das zu lange dauert, habe ich mit dem Hochladen einer weiteren Story begonnen:
http://animexx.onlinewelten.com/fanfiction/164767/
(das ist eine Art Prequel-Geschichte zu „Anfang aller Feindschaft“, ihr könnt ja mal reinschauen, wenn ihr mögt)