Kapitel 4: Silence
Allmählich füllten sich Varis' Lungen nach dem harten Aufprall an der Mauer zaghaft wieder mit Luft. Er wagte es nicht, tiefere Atemzüge zu nehmen um keine zu lauten Geräusche von sich zu geben. Während seine linke Hand sich weiterhin am Fensterbrett festkrallte, hielt die rechte immer noch das unbenutzte Blasrohr. Sein Blick wandte sich nach unten zu dem nicht weit entfernten Boden. Selbst wenn dieser Feldwebel bemerken würde, dass die Vorhänge sich noch von Varis' Sprung heftiger bewegten als sie es eigentlich durch den Wind allein sollten, brauchte er sich nur fallen zu lassen und wäre nach einem kurzen Sprint schon außer Reichweite. Der einzige Nachteil war dann nur diese verdammte Nonne, die immer noch selig in ihrem Bett schlief und eigentlich längst tot wäre – wenn er nicht gestört worden wäre.
Von Innen hörte er nun, wie die Tür geöffnet wurde und ein paar Leute das Zimmer betraten. Schritte durchquerten den Raum, näherten sich offenbar dem Bett. Ein kurzes Rascheln war zu hören, dann der Ansatz eines erschrockenen Schreis, der sofort abriss.
Varis ließ das Blasrohr nachdenklich um die Finger kreisen. Seine Neugier war längst geweckt, doch er wusste, dass er sich auf seinen Auftrag besinnen musste. Allerdings beinhaltete der Kontrakt nur den Tod dieser Nonne und nicht, dass sie vorher keine Gelegenheit mehr haben sollte, mit jemandem zu sprechen. Kurzerhand nahm Varis das Blasrohr zwischen die Zähne, griff mit der Rechten nun ebenfalls nach dem Fensterbrett und zog sich vorsichtig hoch. Er kauerte sich an den Rahmen des Fensters um keinen verräterischen Schatten auf den Vorhang zu werfen, nahm das Blasohr wieder in die Hand und lauschte dem Geschehen.
Im Zimmer hatte die Nonne inzwischen den ersten Schrecken überwunden, doch noch immer schien ihr jemand den Mund zuzuhalten. Dann begann der Feldwebel leise und beruhigend auf sie einzureden.
"Keine Angst, wir wollen Euch nichts tun. Wir sind vielmehr zu Eurem Schutz hier. Es wurde nämlich längst jemand entsandt um Euch zu töten."
Eine kurze Pause entstand.
"Ich bitte Euch, hört mir zu. Es ist wichtig, dass Ihr mit uns kommt. Wenn Ihr bleibt, seid Ihr so gut wie tot. Vandros hat unseren Vermutungen nach sogar einen Profi auf Euch angesetzt."
Wieder eine Pause, in der ein leichtes Lächeln über Varis' angespannte Gesichtszüge huschte.
"Ich nehme die Hand jetzt weg, aber ich will nicht riskieren, dass Ihr schreit und unser ganzes Vorhaben gefährdet. Die meisten Nonnen in diesem Kloster sind der Regierung treu ergeben und würden uns sofort verraten. Also wenn Euch Euer Leben lieb ist, schweigt Ihr und kommt mit uns."
Kurz darauf hörte man, wie die Nonne geräuschvoll einatmete und dann mit unsicherer, leicht zittriger Stimme sprach.
"Vandros will mich töten lassen? Warum?"
"Die einzig richtige Frage wäre wohl 'warum jetzt?', nicht wahr? Denn den Grund kennt Ihr ja wohl selbst am besten."
Mit einem lautlosen Stöhnen verdrehte Varis genervt die Augen. Dieser Kerl schien sich wirklich Mühe zu geben, als arroganter Mistkerl aufzutreten. Dabei hatte er bereits etwas so Schleimiges an sich, dass man sich schon beim bloßen Zuhören nach Wasser und Seife sehnte.
"Und... warum jetzt?"
"Weil etwas in Bewegung geraten ist. Wir können Vandros endlich von seinem Thron stürzen und das Volk in eine bessere Zukunft führen!"
Dieses Mal hätte Varis beinahe laut aufgelacht. Wer hätte das gedacht? Dieser Schleimbeutel entpuppte sich doch tatsächlich als Revolutionär.
"Was hat das mit mir zu tun?"
"Versteht Ihr denn nicht? Ihr seid der Schlüssel! Mit Euch haben wir endlich etwas in der Hand, um die Bevölkerung zu mobilisieren! Durch Euch ist er angreifbar! Die Leute werden das nicht einfach so hinnehmen! Wir versuchen schon seit einiger Zeit, ihn zu stürzen, doch wir hatten nie etwas Greifbares um unsere Ziele umzusetzen. Aber jetzt – jetzt haben wir Euch!"
"Wer ist 'wir'?" Das Zittern war aus der Stimme verschwunden und nun schwang eine große Portion Misstrauen in ihr mit.
"Kommt mit uns und ich zeige es Euch."
"Warum sollte ich Euch trauen?"
"Ihr habt keine andere Wahl, wenn Ihr weiterhin überleben wollt."
"Ich habe auch bisher überlebt. Weil ich mich still verhalten habe. Vandros hat so keinen Grund mich zu töten. Warum also sollte ich ihm einen geben?"
"Allein die Tatsache, dass Ihr noch lebt, ist ein Grund um Euch zu töten! Könnt Ihr das denn nicht begreifen? An irgendeiner Stelle ist etwas über Euch nach Außen durchgesickert und zufällig an die richtigen Leute – an uns geraten. Nun bietet sich uns endlich die langersehnte Chance und wir werden sie nicht ungenutzt verstreichen lassen!"
Mit jedem Satz hatte er sich tiefer in seine Begeisterung hineingesteigert und in der aufkeimenden nachdenklichen Stille war nur sein schweres Atmen zu hören, während Varis draußen stumm den Kopf schüttelte. Dieser Möchtegernweltverbesserer glaubte offenbar wirklich an das, was er von sich gab. Dabei gab es für dieses Land schon längst keine Hoffnung mehr, auch wenn es scheinbar wirklich noch ein paar Leute gab, die sich verbissen an den letzten Überresten festklammerten. Doch der Rest des Volkes war zu festgefroren in seinen Gewohnheiten, seinen Denkweisen, seiner blinden Ergebenheit gegenüber der Regierung. Um diese Leute von ihrem vorgeebneten Weg abzubringen musste man ihr stures Vertrauen in die Führung des Landes schon tief erschüttern und Varis konnte sich einfach nicht vorstellen, dass Vandros sich solche Blöße gegeben haben sollte. Immerhin war der Hohepriester vorsichtig und alles andere als dumm, sonst hätte er es wohl kaum so weit gebracht. Andererseits – wenn Vandros wirklich so umsichtig wäre, warum musste er dann Varis' Dienste in Anspruch nehmen?
"Auch Vandros hat Wind davon bekommen, dass sein kleines Geheimnis keines mehr ist."
"Und was habt Ihr jetzt vor? Was nützt Euch Euer Wissen? Vandros wird nicht einfach untätig zusehen, wie Ihr an seiner Macht rüttelt."
"Ganz einfach, wir gehen mit Euch an die Öffentlichkeit."
"Nein. Ohne mich. Das wäre mein Todesurteil!"
"Hört Ihr denn nicht zu? Euer Todesurteil wurde längst gefällt! Ihr habt nur diese eine Möglichkeit zu überleben. Kommt mit uns, wir werden Euch beschützen. Dann braucht Ihr Vandros' Leute nicht zu fürchten."
"Selbst wenn Ihr Recht habt – niemand wird Euch glauben. Niemand wird auf die Aussage einer kleinen Nonne hören."
"Es gibt Beweise."
"Sie alle wurden längst vernichtet."
"Nein, ich bin mir sicher, einer existiert noch. Nicht wahr?"
"Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht." Die Angst war in ihre Stimme zurückgekehrt, ließ sie brechen.
"Oh doch" Der Feldwebel sprach langsam, genoss jedes Wort. "Ihr wisst es ganz genau."
"Lasst ihn aus dem Spiel!" Mit einem Mal schwang die Angst in lodernden Zorn um. "Von mir aus komme ich mit Euch, aber Ihr lasst meinen Sohn aus dem Spiel!"
"Es ist also ein Sohn?"
"Nein!"
Varis' Finger schlossen sich immer enger um das Blasrohr, während er überrascht die Augenbrauen hochzog. Konnte es sein, dass Vandros das Gelübde seines Standes gebrochen hatte? Den Priestern waren weltliche Verbindungen strengstens untersagt und gerade der Hohepriester zögerte nicht mit dem Fällen eines Todesurteils, wenn doch einer seiner Untergebenen ein Verhältnis einging. Dass nun ausgerechnet er selbst eine Geliebte hatte – oder gehabt hatte – würde starke Zweifel an ihm aufkommen lassen.
"Es ist zwecklos. Wir wissen, dass Ihr das Kind damals nicht getötet habt, wie Vandros es von Euch verlangt hat – Ihr habt es weggeben. Nur wohin?"
"Ich bitte Euch, haltet ihn da raus!"
"Er weiß nichts von seiner Abstammung?"
"Er weiß nicht einmal etwas von mir. Hört zu, Ihr sagtet, mit mir hättet Ihr genug in der Hand. Wozu also braucht Ihr noch mehr?"
"Nur durch Euch kommen wir an Euren Sohn heran. Ihr habt Eure Spuren gut verwischt."
"Ihr braucht ihn doch gar nicht. Ich komme mit Euch und erzähle von mir aus jedem Publikum der Welt, dass Vandros jahrelang sein Bett mit mir geteilt hat."
"Ihr habt es doch selbst gesagt: Niemand wird auf die Aussage einer kleinen Nonne hören. Aber wenn wir dann zusätzlich noch das aus eurer Verbindung entstandene Kind präsentieren können, sieht die Sache anders aus. Dann nützt ihm auch alles Leugnen nichts! Die Leute werden genauer nachforschen – gründlicher, als wir es bisher konnten – und auf weitere Beweise stoßen. Er kann nicht alles spurlos vernichtet haben. Und dann ist er dran. Unser Land wird endlich aus seinem Schlummer erwachen und sich gegen die jahrhundertelange Unterdrückung durch die Priester auflehnen!"
Nur ungern stimmte Varis ihm zu, aber der Feldwebel hatte tatsächlich Recht. Wenn diese Nonne mit ihrem – nein, mit Vandros' Sohn an die Öffentlichkeit ging, würde tatsächlich ein Ruck durch das Volk gehen. Jedoch nicht in die erhoffte Richtung. Es würde sich einiges verändern, allerdings lediglich in den Führungsetagen. Vandros wäre zwar abgesetzt, aber ein neuer Hohepriester würde an seine Stelle treten, für eine Weile einen harten moralischen Kurs fahren, bis Gras über die Sache gewachsen war und dann in den herkömmlichen Trott verfallen.
"Ihr seid ja vollkommen übergeschnappt! Das klappt niemals."
"Es ist die einzige Chance, die wir derzeit haben. Und nun kommt endlich, wir müssen Euch wegbringen und selbst wieder zurück sein, bevor die Nonnen wach sind. Schließlich darf niemand Verdacht schöpfen, dass wir etwas mit Eurem Verschwinden zu tun haben."
"Nur wenn Ihr mir Euer Wort gebt, dass Ihr meinen Sohn nicht mit hinein zieht."
"Ich werde sehen, was ich tun kann."
Langsam führte Varis das Blasrohr an die Lippen und beugte sich ein wenig vor. Er hatte erfahren, was er wissen wollte und konnte sich nun wieder seinem eigentlichen Auftrag widmen. Vorsichtig tastete seine linke Hand nach dem Vorhang, schob ihn behutsam ein kleines Stück zur Seite – gerade genug, um das schmale Röhrchen in Position bringen zu können. Nun musste er warten, bis die Zielperson sich vom Bett entfernte, denn sein Blickfeld war eingeschränkt, reichte nur über einen sehr schmalen Teil des Raumes und um das Bett ins Visier zu bekommen, hätte er sich zu weit nach vorne lehnen müssen. Dazu konnte er zu wenige der Männer sehen. Er wusste nicht genau, wo sie standen und ob einem von ihnen womöglich die Bewegung des Vorhangs auffallen könnte.
Das einzige, was er sah, waren die Umrisse des Feldwebels, der nun mit kurzen, steif wirkenden Schritten den Raum durchquerte. Bis auf das leise Knirschen seiner Sohlen, das ebenfalls verklang als er stehenblieb, war eine Weile nichts mehr zu hören. Dann kroch die Stille allmählich davon, machte Platz für all die Geräusche, die man mit ihr nie wahrnehmen konnte – Kleinigkeiten, die sonst von ihr verschluckt wurden. Vom Rascheln der Kleidung, wenn sich einer der Männer bewegte, über das kurze Schaben der Stiefel am Boden, wenn jemand das Gewicht verlagerte, bis hin zu einzelnen Atemzügen, die durch Varis' Gehörgang krochen und sich in einem schier endlosen Echo gegenseitig zu einem einzigen, ohrenbetäubenden Sturm zusammenschlossen. Erst ein dagegen leise und unscheinbar wirkendes Rascheln ließ das akustische Durcheinander abrupt verstummen. Varis wusste genau, welchen Ursprung dieses Geräusch hatte: Endlich hatte sich sein Opfer von seinem Bett erhoben. Kaum hörbar waren die tapsenden Schritte, die die nackten Füße der Nonne auf dem Steinboden zurücklegten, doch Varis hallte jeder einzelne in den Ohren. Er nahm keine anderen Laute mehr wahr, war völlig auf diese Schritte fixiert, die langsam die Umrisse einer weiblichen Gestalt in sein Blickfeld führten.
Varis' Finger schlossen sich fester um das kleine Blasrohr, richteten es ein letztes Mal aus. Seine Augen waren auf das Ziel gerichtet, das immer klarere Konturen gewann. Er schätzte die Entfernung ab und holte ein letztes Mal Luft, nahm damit gleichzeitig alle Eindrücke seiner Umgebung ein letztes Mal in dieser wundervollen Klarheit in sich auf, bevor seine Sinne sich wieder zurückzogen und er einen Augenblick lang nichts weiter wahrnahm als Stille.
Dann schien es nur ein sanfter Atemhauch zu sein, mit dem die kleine Nadel plötzlich beschleunigt und nach vorne gerissen wurde. Varis folgte ihr mit den Augen, beobachtete, wie sie sich zielsicher in den Hals der Nonne bohrte. Er sah noch, wie sie ihre Hand zur Einstichstelle führte, bevor er sich zurücklehnte und das Blasrohr mit einem kurzen Handgriff wieder an seinem Platz verstaute. Dann hörte er auch schon den dumpfen Aufprall ihres Körpers und mehrere überraschte Rufe.
Zufrieden stieß sich Varis nach hinten ab und landete weich auf dem Rasen des Klostergartens. Mit einem prüfenden Blick auf das Fenster, dessen Vorhänge immer noch zugezogen waren, wich er schließlich in den Schatten einiger Bäume zurück und verschwand wie er gekommen war – als lautloser Schemen in der Nacht.
~~~~~~~~~~~ Lys Laberecke ~~~~~~~~~~~
Und wieder ein Kapitel mehr @.@ Diesmal kam es schneller als das letzte *lach* Hatte aber inzwischen auch guten Ansporn *.* *mal allen Kommischreibern zuwink* (allen? XDD~ naja, so viele waren's auch wieder nicht XD *meine vier (sorry Temel *extradurchflausch*) Leser mal knuffel* XDDDDD~~~ solange ihr mir wenigstens erhalten bleibt *.* danke =])
achja... falls es interessiert: ich habe vor, im nächsten Kapitel ein wenig näher auf Varis Vergangenheit einzugehen ^^
nya... dann will ich mal nicht länger nerven XD *wink*