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Das Ende alles Bösen

Shinji x Natsuki
von

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Schmerzen

An den Webmaster: Ich möchte diesen Fanfic unter dem Pseudonym "El Jugador" veröffentlichen. Danke.
 

Danke an jeden, der bisher durchgehalten hat. Ich hoffe, ihr seid nicht enttäuscht. Die Figuren aus "Kamikaze Kaitou Jeanne" gehören nicht mir, sondern Arina Tanemura und ihren Verlegern. Das "Romantik" bezieht sich auf Natsuki (Fynn) und Shinji (Access). Kritik ist jederzeit unter g.girlinger@aon.at erwünscht, positive wie negative.
 

Das Ende alles Bösen
 

Kapitel 2: Schmerzen
 

Warum?

Diese Frage hämmerte in seinem Kopf, als er durch die Straßen rannte, ohne sich um die Fuß-gänger zu kümmern. Er rempelte mehrmals jemanden an, rannte jedoch sofort weiter, ohne sich um die Schimpfworte zu kümmern. Tränen des Zorns und des Schmerzes mischten sich in seinen Augen und rannen über seine Wangen. Er konnte so gut wie nichts mehr sehen, aber das war ihm egal. Wenn er vor irgendein Auto rannte, war wenigstens dieser Alptraum vorbei. Diesmal würde er nicht als Engel wiedergeboren werden und dann wäre er endlich befreit.

Wie zum Trotz rannte er über die Straße, aber zu seinem Leidwesen bremste jedes Auto früh genug ab. Typisch, dachte er. Hunderte Leute verunglückten täglich im Straßenverkehr, aber wenn es mal jemand wollte, dann Pustekuchen. Also rannte er weiter über den Bürgersteig, seinem unbekannten Ziel entgegen. Shinji wollte nur weg, weg von allem, was ihn an sein Leben und damit an Natsuki erinnern konnte. Weg von dem Schmerz, der in seiner Brust pochte.

Keuchend blieb er schließlich stehen und ließ sich an einer Hauswand nieder. Stummes Wei-nen schüttelte seinen Körper, als er seinen Kopf zwischen den Händen verschränkte. Wie konnten sie ihm das antun? Es war ja ziemlich offensichtlich, dass er Natsuki auf den Wecker gegangen war, aber das... Und Seijuro! Er hatte wirklich geglaubt, sein Freund hätte seine und Fynns Liebe akzeptiert und seinen Anspruch aufgegeben. Wie hatten die beiden das tun kön-nen... noch dazu direkt vor seinen Augen! Beinahe wäre er vom Baum gefallen, wenn er sich nicht so verkrampft hätte. Danach war er weggelaufen.

Und jetzt saß er hier und wollte nur noch sterben. Es war ihm egal, was seine Eltern sagen würden, was Chiaki und Marron dazu sagten oder was der Herr persönlich davon hielt! Ver-dammt, sie alle hatten etwas, das ihrem Leben einen Sinn gab, aber sein Sinn war vor ein paar Minuten von einer einzigen Geste zerschmettert worden. Wahrscheinlich gab es niemanden, der momentan solchen Schmerz verspürte wie er.

Da irrst du dich, mein Junge, flüsterte plötzlich eine Stimme. Hastig hob er den Kopf und sah sich um. Nichts. In der Straße, in der er angehalten hatte, war niemand zu sehen. Du kannst mich nicht sehen, weil ich nicht hier bin. Ich bin weiter von dir entfernt, als du dir denkst. Aber ich kann dir versichern, dass du nicht der einzige bist, der leiden muss.

"Aber wer bist du?", fragte Shinji leise. Schließlich wollte er nicht, dass ein zufällig vorbei-kommender Passant ihn für verrückt hielt und die Polizei rief. Dann kam er zu seinen Eltern und im Moment wollte er allein sein. "Wieso willst du wissen, was ich fühle?"

Wer ich bin, kann ich dir leider nicht sagen, antwortete die Stimme bedauernd. Irgendetwas war an ihr, das Shinji seltsam anzog. Aber ich weiß, dass das Mädchen, welches du mehr als alles andere liebst, dich verletzt hat. Und zwar so sehr, dass du liebend gern sterben würdest, um sie und deinen Freund nicht mehr wiedersehen zu müssen.

"Woher weißt du das?" Die Tränen in seinen Augen waren versiegt, weil sie Misstrauen ge-wichen waren.

Ich sehe viele Dinge, mein Junge. Ich beobachte dich schon lange, seit deiner Geburt schon. Und ich weiß auch von deinem letzten Leben... Access Time.

Shinji sprang erschrocken auf. Niemand außer Marron, Chiaki, seiner Mutter, Yumemi und Seijuro wusste etwas von seinem letzten Leben. "Wo bist du?", rief er und sah sich wild um. "Und warum beobachtest du mich?"

Ich sagte doch, dass du mich nicht erreichen kannst, mein Junge, also bringt dir mein Aufent-haltsort nichts. Aber die Frage, warum ich dich beobachte, ist vernünftig. Die Antwort darauf ist,... weil du genauso bist wie ich. Wie ich bist du zum Leiden verdammt, schon seit Fynn Fish wiedergeboren wurde und sich nicht an eure Liebe erinnern konnte.

Shinji wollte gehen, der Stimme entfliehen, aber etwas in ihren Worten berührte ihn, hieß ihn zu bleiben. Darum setzte er sich zögernd wieder hin und versenkte den Kopf zwischen den Armen. Aber seine Ohren hörten wachsam der Stimme weiterhin zu.

Weißt du, auch ich habe einmal geliebt, erzählte die Stimme. Bis jemand, den ich ebenso mochte wie du deinen Freund, mir meine Liebe wegnahm. Wie du verfiel ich in Trauer und Schmerz. Aber anders als du lernte ich eine Möglichkeit kennen, meinen Schmerz zu kontrol-lieren. Ich kann dir helfen, Shinji, wenn du mich lässt!

"Wie", fragte Shinji heiser. Seine Augen waren vor Spannung weit aufgerissen. "Wie hast du deinen Schmerz bezwungen?"

Lange Zeit konnte ich das nicht, Shinji, genau wie du. Ich habe vor mich hingetrauert und gefleht, dass er endlich aufhören möge, aber der Schmerz verging nicht, weil er mein Wesen ausmacht. Aber dann habe ich eins erkannt: Der Schmerz wird immer bleiben, solange die Ursache dafür noch existiert.

"Und wie bist du deinen Schmerz losgeworden?"

Noch ist es nicht ganz so weit, gab die Stimme zu. Aber ich weiß jetzt, was ich dafür tun muss und das gibt mir die Kraft, ihn zu ertragen. Man muss das Übel an der Wurzel packen, Shinji, und dann muss man es ausreißen! Nur so wird dein Schmerz verschwinden!

In Shinjis Augen brannte Feuer. Im Moment würde er einfach alles tun, um die Seelenpein loszuwerden. Und dieser Unbekannte wusste eine Möglichkeit, ihn davon zu befreien! Ihm war es völlig egal, dass er ihn nicht kannte oder dass diese Stimme so viel von ihm wusste, Hauptsache, sie konnte ihm helfen. "Was soll ich tun?", fragte er.

Suche denjenigen auf, der dir deine Liebe weggenommen hat, Shinji, beschwor ihn die Stim-me. Mit einem Mal wirkte sie mächtig, so mächtig, dass sein Wille ihr Platz machte. Er warte-te auf seinen Auftrag. Suche Seijuro... und dann töte ihn!

Ein Teil von Shinji schrie gequält auf, als er das hörte, aber der größte Teil von ihm, der, wel-che den Zorn und den Schmerz empfand, lachte grimmig auf und bewegte seinen Körper dazu aufzustehen und die Fäuste zu ballen. Ein boshaftes Lächeln schob sich auf seine Züge. "Und dann wird... Natsuki mir gehören?", fragte er voll dunkler Vorfreude.

Natürlich, versprach die Stimme triumphierend. Wenn Seijuro erst beseitigt ist, wird sie er-kennen, dass du der einzige bist, den sie liebt. Aber solange es ihn gibt, wird sie dich nicht bemerken. Töte ihn, Shinji! Befreie dich von deinem Schmerz!

Nein!

Diese zweite Stimme war nicht so einschmeichelnd wie die erste. Sie schnitt wie ein Messer in seine Gedanken, sodass er aufschrie und seine Hände an den Kopf presste. Aber die Stim-men, die jetzt miteinander sprachen, hörten nicht auf.

Was willst du hier?, fauchte die erste Stimme wütend. Er gehört mir!

Nein!, wiederholte die zweite Stimme ernst. Ich lasse nicht zu, dass du ihn manipulierst.

Weißt du überhaupt, wer ich bin?, rief die erste Stimme, sodass Shinji auf die Knie fiel und die Hände noch fester an seinen Kopf presste. Ein lächerlicher Engel wie du kann mir nichts anhaben!

Ich kann dich nicht bannen, das stimmt, gab die zweite Stimme zu, noch immer in diesem ernsten und ruhigen Tonfall. Aber ich kann dich daran hindern, auf ihn einzuwirken. Shinji, willst du Toki wirklich töten? Weißt du nicht mehr, dass du, Fynn, Cersia und er Freunde gewesen seid?

Sei still!, rief die erste Stimme. Hör nicht auf ihn, Shinji! Er hat auch damals schon versucht, dir Fynn wegzunehmen, erinnerst du dich?

In Shinji kämpften nun zwei Seiten darum, aber er wusste nicht, welcher er nachgeben sollte. Warum konnte ihn diese Stimmen denn nicht in Ruhe lassen?

Shinji... oder Access, beschwor ihn die zweite Stimme eindringlich, hast du denn nicht ge-merkt, dass Natsuki Seijuro geküsst hat und nicht er sie? Er war ebenso überrascht wie du.

Ja, es hatte tatsächlich so ausgesehen...

Nein, Shinji, kreischte die erste Stimme. Glaub ihm nicht! Er hat Natsuki verführt! Hätte sie sich sonst von dir abgewendet?

Zorn regte sich in dem Jungen und er ballte die Fäuste.

Shinji! Die zweite Stimme klang sehr entschlossen. Weißt du noch, damals, als du Cersia und Toki aus dem Eisblock befreitest? Als ihr Fynn gerettet habt?

Schmerzhaft krümmte sich Shinji zusammen, als ihn die Erinnerung dieses Ereignisses, als sich Fynn und er ihre Liebe endlich gestanden hatte, überwältigte.

Damals hat dir Toki geholfen, fuhr die Stimme fort. Und das, obwohl er wusste, dass Fynn dich liebte. Er tat das, weil er wollte, dass sie glücklich wird... und zwar mit dir!

Als diese Erkenntnis Shinjis Kopf erreichte, knurrte er und begann gegen den Einfluss der ersten Stimme anzukämpfen. Sie hätte beinahe fertiggebracht, dass er seinen besten Freund nach Chiaki getötet hätte!

Nein!, schrie die erste Stimme, aber damit erreichte sie nichts mehr. Unbeugsam drängte Shinji sie zurück.

"Gib dir keine Mühe mehr!", schrie er. "Ich habe erkannt, was du bezweckst. Du wirst mich nie mehr dazu bringen, meinen Freund zu töten!"

Na schön, fauchte die Stimme. Aber besiegt habt ihr mich deshalb noch lange nicht. Im Ge-genteil! Schon bald werdet ihr alle vor mir erzittern!

Und damit verschwand der Druck aus Shinjis Kopf. Mit einem erleichterten Seufzen sank der Junge zu Boden. Dieses Streitgespräch hatte ihn mehr erschöpft, als er gedacht hatte. Er be-merkte nicht einmal, dass vor ihm ein Funkeln in der Luft erschien. Erst, als es zum Leuchten anschwoll und dann abrupt versiegte, registrierte er es und erhob sich mühsam auf alle viere. Dann ergriffen ihn zwei Hände und halfen ihm hoch.

"Keine Angst", sagte eine sanfte Stimme. Es war die zweite, aber jetzt klang sie nicht mehr so unbeugsam, deshalb hätte er sie fast nicht erkannt. "Der Geist kann dir jetzt nichts mehr anha-ben. Er wird es nicht noch einmal versuchen."

"Wer... wer bist du?", brachte Shinji hervor und öffnete die Augen. Vor ihm stand ein Junge mit hellen Haaren, der ihn lächelnd anblickte. Aber damit endete das normale Aussehen auch schon, denn aus dem Rücken des Jungen wuchs ein Paar mächtiger weißer Flügel. Außerdem trug er eine Art weiße Uniform, die ihn noch größer erscheinen ließ und ein Heiligenschein erhellte sein Haupt. Einen Moment lang erkannte ihn Shinji nicht. Aber dann riss er die Au-gen auf. "Zen?", krächzte er ungläubig.

"Schön, dass du mich noch erkennst", spöttelte der Engel. "Immerhin wolltet ihr, du und Sindbad, doch meinen Tod, oder?"

Shinji wurde etwas rot. "Aber das..."

Der Engel hob abwehrend die Hand. "Das macht nichts", versicherte er. "Ich weiß jetzt, dass ich zum Dämon geworden wäre, wenn ihr mich nicht getötet hättet. Ich trage euch nichts nach, denn dadurch konnte ich als Engel wiedergeboren werden."

"Du... bist ein Himmelsengel?", fragte Shinji vollkommen außer Fassung. "Ich habe Jahre gebraucht, um überhaupt zum Grundengel aufzusteigen!"

"Bist du etwa neidisch?" Das Lächeln von Zen war ehrlich. "Ich bin jetzt ja auch schon fast zwanzig Jahre tot. Rill-sama meint, wenn ich mich anstrenge, werde ich demnächst zum Erz-engel aufsteigen."

"Rill-sama ist dein Lehrer?"

"Ja, so wie deiner, ich weiß. Er hat mir mehrmals von dir erzählt. Und nicht unbedingt mit großem Stolz." Zen grinste, als Shinji rot wurde. "Aber er freut sich, dass du in deinem neuen Leben so zielstrebig hinter Fynn her bist. Er hat mal gesagt, er hätte es bestimmt nicht so lan-ge durchgehalten wie du, ständig geprügelt zu werden."

"Das hat er tatsächlich gesagt?"

"Na ja, in etwas schöneren Worten vielleicht", räumte Zen ein. Dann wurde er ernst. "Aber zum Thema: Weißt du, wer dich da gerade verführen wollte, Shinji?"

"Wenn ich nicht wüsste, dass er tot ist, würde ich sagen, Satan", vermutete der Junge. Dann weiteten sich seine Augen angstvoll. "Oder ist er etwa..."

"Nein, Satan ist tot", beruhigte ihn Zen. "Aber erinnerst du dich daran, was Gott euch erzählt hat? Nachdem er Adam und Eva aus dem Paradies verbannt hatte, verbannte er seine Einsam-keit und seinen Schmerz aus seinem Körper. Und diese Einsamkeit gebar schließlich Satan... und lebte trotzdem weiter, auch nach dessen Tod! Deshalb gibt es immer noch Dämonen, auch wenn seit langem keiner mehr aufgetaucht ist. Solange Gottes Einsamkeit existiert, wird es immer Böses auf der Erde geben."

"Gottes Schmerz?", vergewisserte sich Shinji. "Du meinst, ein Teil von Gott hat mir einzu-impfen versucht, Seijuro zu töten?"

"Ja. Und Gott hat Grund zur Annahme, dass dieser Teil von ihm nun versucht, das Werk des Teufels zu Ende zu führen... das heißt, die Menschen zu vernichten."

"Wieso erzählst du mir das?", fragte Shinji gequält. "Ich bin kein Engel mehr und habe auch so schon genug Probleme."

"Ich musste dir ohnehin helfen und da ich grade in der Nähe war..." Zen zuckte mit den Schultern, sodass seine Flügel raschelten. "Könntest du Marron und Chiaki etwas ausrichten? Sag ihnen bitte, dass Gott sie vielleicht wieder brauchen wird... und Marron, dass sie immer noch genauso hübsch ist wie damals." Er lächelte, als er Shinjis mürrische Miene bemerkte und fasste ihn an der Schulter. "Und mach dir nicht zu viele Sorgen wegen Fynn. Toki und Cersia haben ihr kräftig ins Gewissen geredet. Ich kann dir versprechen, dass sie in den nächs-ten Tagen sehr gründlich über dich nachdenken wird."

"Wirklich?" Shinjis Gesicht erhellte sich, aber Zen war bereits wieder verschwunden. "Ty-pisch Himmelsengel", schimpfte Shinji. "Haben nie Zeit für ein richtiges Gespräch." Trotz-dem war er Zen äußerst dankbar für seine Hilfe... und für seinen Trost wegen Fynn. Ja, des-wegen vor allem. Jetzt erst kam er auf die Idee, sich umzusehen, wo er überhaupt war. Er blickte auf das Straßenschild und stöhnte auf. Er war ganz schön weit weg von zuhause. Seine Eltern würden wahrscheinlich nicht sehr begeistert sein, wenn er mitten in der Nacht auf-tauchte. Seufzend fing er an zu laufen. Er hatte noch einen langen Weg vor sich.
 

Schlaflos wälzte sich Natsuki Nagoya in ihrem Bett. Komm nicht mehr zu uns, bis du diese Sache bereinigt hast! Die Worte von Yumemi hallten in ihrem Kopf wieder, genauso wie Sei-juros ebenso verletzter wie wütender Blick vor ihren Augen blieb, auch wenn sie sie schloss. Ihr Kissen war bereit nass von den unzähligen Tränen, die sie heute schon geweint hatte. So-fort als sie nach Hause gekommen war, hatte sie sich in ihrem Zimmer eingeschlossen und niemanden hereingelassen.

Ihre Mutter hatte mehrmals versucht, mit ihr zu reden, aber Natsuki war nicht zum Reden zumute gewesen. Du hast dem Jungen, dem du mehr als alles andere auf dieser Welt bedeutet hast, das Herz gebrochen! Shinji. Liebte er sie wirklich? Dumme Frage, wieso sollte er sonst so aufdringlich sein? Aber wussten es eigentlich alle? Hatte nur sie selbst es nicht wahrhaben wollen? Und vor allem, was würde er jetzt tun?

Natürlich war es unbeschreiblich blöd gewesen, was sie getan hatte, aber sie war einfach der-maßen wütend gewesen... ob er das jemals verstehen würde? Sie wusste nicht, ob sie ihn lieb-te. In ihr tobten momentan so viele Gefühle und das bei weitem mächtigste war Verwirrung. Sie hatte an einem einzigen Tag ihre drei besten Freunde verloren. Bei diesem Gedanken roll-ten ihr gleich neue Tränen über das Gesicht. Und war Shinji wirklich mehr gewesen als nur ein Freund? Hatte sie ihn nicht heute morgen vermisst, als sie ihn endlich abgeschüttelt hatte? Sie wusste es nicht. Sie wusste gar nichts. Nur, dass sie wollte, dass alles wieder so war wie früher.

Gedankenverloren fasste sie den schwarzen Ohrring an, den sie jeden Tag trug. Laut ihrer Mutter, die darauf einen heiligen Schwur abgelegt hatte, hatte sie diesen Ohrring bereits bei ihrer Geburt in der Hand gehalten, und Marron pflegte in Hinsicht auf Göttliches nie zu scherzen. Wenn sie traurig gewesen war, hatte sie ihn angefasst und sich vorgestellt, dass ei-nes Tages derjenige kommen würde, der ihr diesen Ohrring geschenkt hatte und ihr seine Lie-be gestehen würde. Dann hatte sie sich immer besser gefühlt. Aber heute nicht. Sie nahm den Ohrring ab und legte ihn auf die Handfläche. Lange betrachtete sie ihn. Ihr Ritter würde nie-mals kommen. Das war nur eine Kleinmädchenfantasie. Aber es war schön gewesen, daran zu glauben.

Jetzt war diese Fantasie getrübt durch das Bild ihrer Freunde. Wenn sie die Augen schloss, konnte sie sogar Shinji sehen, der sie verletzt ansah. Sie hatte ihn angeschrieen, geschlagen und hatte sich vor ihm versteckt... aber erst heute hatte sie ihm wehgetan. Und nicht einmal ihr Talisman konnte ihr jetzt noch Trost spenden. Natsuki seufzte tief und wischte ihre Tränen vom Gesicht. Sie würde mit ihrer Mutter reden. Sie wusste immer, was zu tun war. Obwohl Natsuki ihr Gottvertrauen fast ein wenig zu übertrieben fand, konnte Marron einem immer zuhören und wusste fast immer Rat. Ja, ihre Mutter würde ihr helfen können.

Rasch schlüpfte sie in ihre Hausschuhe und öffnete die Tür. Dann erst kam ihr in den Sinn, dass ihre Mutter ja längst schlief. Und ihren Vater wollte sie eigentlich nicht aufwecken. Eine sanfte Röte überzog ihr Gesicht. Chiaki war zwar der netteste und liebenswerteste Vater, den sie sich vorstellen konnte, aber dieses Problem war etwas zu... privat, um es mit jemand ande-rem als ihrer Mutter zu besprechen, fand sie. Einige Sekunden lang überlegte sie, sich morgen krank zu stellen, um mit ihrer Mutter reden zu können, wenn Chiaki bei der Arbeit war, dann hörte sie Stimmen aus dem Wohnzimmer.

Sie konnte nicht hören, was da geredet wurde, aber die weibliche Stimme war eindeutig Mar-ron. Schon wollte sie hinunterstürzen, um sich bei ihrer Mutter auszuweinen, wie sie es schon lang nicht mehr getan hatte, dann bremste sie ihr Temperament und mahnte sich zur Ruhe. Wenn sie mit ihrem Vater sprechen wollte, hätte sie das in ihrem Schlafzimmer tun können, also war da unten wahrscheinlich ein Fremder. Da konnte sie nicht einfach so reinplatzen. Ja, sie würde wieder in ihr Zimmer gehen und warten, bis Marron heraufkam.

Dieser gute Vorsatz hielt solange, bis sie die Stimme des "Fremden" hörte. Shinji! Aber wieso hatte er mitten in der Nacht etwas mit ihrer Mutter zu besprechen? Sie beugte sich vor und hielt den Atem an, um mehr von dem Gespräch zu hören.

"... und dann hat er gesagt, dass der große Meister da oben euch vielleicht wieder brauchen wird", sagte Shinji gerade. Welcher große Meister?

"Keine sehr verlockende Vorstellung", erklang die trockene Stimme ihres Vaters. Wieso hatte sie eigentlich nicht an die Möglichkeit gedacht, dass er auch bei diesem Gespräch anwesend sein könnte? "Und du bist dir sicher, dass das wirklich passiert ist?"

"Ich spinne nicht, Chiaki! Wenn es um Dämonen und Engel geht, solltest du mir schon ver-trauen!" Dämonen? Engel? Wovon redeten die da unten denn? Sie lehnte sich noch weiter vor, um noch besser hören zu können.

"Wir glauben dir ja, Shinji." Die beschwichtigende Stimme ihrer Mutter. "Aber das... kommt wirklich etwas plötzlich, nachdem wir so lange Frieden hatten. Immerhin hattest du heute einen ziemlich harten Tag und..."

"Nein!" Shinjis Stimme war sehr energisch. "Zen war da und diese flüsternde Stimme auch! Wenn du willst, rezitiere ich dir noch mal, was sie gesagt haben!"

"Na schön, sie waren also da." Chiaki klang immer noch nicht überzeugt. "Und was sollen wir jetzt tun? Kaito Jeanne und Sindbad gibt es schon lange nicht mehr, wie du weißt."

Kaito Jeanne? Kaito Sindbad? Diese beiden berühmten Diebe, die Shinjis Mutter und sein Großvater damals gejagt, aber niemals gefangen hatten? Angeblich hatten diese beiden Ver-brecher unzählige unbezahlbare Bilder gestohlen und nie war eins davon wieder aufgetaucht. Und dann waren sie auf einmal verschwunden, beide zur selben Zeit. Was hatten ihre Eltern mit diesen Leuten zu tun? Ihr Herz klopfte auf einmal schneller.

"Ich weiß auch nur, was Zen mir gesagt hat", antwortete Shinji. Vermutlich zuckte er gerade mit den Schultern. "Tja... das war im Grunde alles, jedenfalls, was diese Sache betrifft. Äh, Chiaki... ich würde gerne noch etwas mit Marron allein besprechen. Könntest du uns bitte einen Augenblick allein lassen?"

Natsukis Vater lachte kurz auf. "Und das sagt mir der, der mir früher den Kontakt mit Marron verboten hat!" Natsuki runzelte die Stirn. Shinji hatte Chiaki den Kontakt mit Marron verbo-ten? Wann denn das? Und wieso sollte ein so glücklich verheiratetes Paar sich nicht mehr sehen? Irgendetwas an diesem Gespräch war faul.

"Na schön", meinte Chiaki und man hörte, wie er einige Schritte zur Tür machte. Natsuki sprang das Herz ans Kinn. Jetzt würde er sie entdecken! Aber zum Glück drehte sich ihr Vater noch einmal um und sah ins Zimmer zurück. Leise schlich sie auf ihr Zimmer zurück, ließ aber die Tür offen, damit sie weiterhören konnte. Die Stimme war nun leise, aber noch zu hören. "Aber wehe, ich bekomme nachher Klagen zu hören, klar? Dann wecke ich Natsuki auf, damit sie dir ein paar auf den Kopf gibt." Er lachte noch einmal und stieg die Treppe her-auf.

Natsuki war ganz elend geworden, jetzt, wo ihr Vater sie daran erinnert hatte, weshalb sie eigentlich mit ihrer Mutter hatte reden wollen. Sie hatte es schon fast vergessen gehabt. Den-noch wartete sie, bis die Tür des Elternschlafzimmers zugefallen war, dann schlich sie sofort wieder ans Treppengeländer. Sie MUSSTE wissen, was Shinji mit ihrer Mutter besprechen wollte, und wenn sie sich dadurch lebenslangen Stubenarrest einhandelte.

"Er hat es nicht so gemeint, Shinji", versicherte ihre Mutter dem Jungen gerade sanft. "Chiaki würde deine Gefühle niemals verletzen, das weißt du."

"Ich weiß." Shinjis Stimme klang schwer, auch wenn das hier oben nicht so gut zu hören war. Fast gegen ihren Willen merkte Natsuki, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen. Das war ihre Schuld. "Aber als erstes soll ich dir noch etwas von Zen ausrichten: Er meint... dass du noch immer genau so schön bist wie früher."

Nanu? Dieser Zen schien ihre Mutter sehr gemocht zu haben. Aber warum hatten ihr ihre El-tern dann nie etwas von ihm erzählt? Natsuki presste sich an das Geländer und ihre Finger-knöchel traten weiß an der Stange hervor.

"Danke. Ich vermisse ihn auch noch manchmal, auch wenn ich weiß, dass er an keinem schö-neren Ort sein könnte." Marron machte eine Pause. "Ich hoffe, dass er als Engel glücklicher ist als hier."

Engel? Natsuki glaubte sich verhört zu haben. Dieser Zen sollte ein Engel sein? Entweder ihre Mutter war verrückt, was sie allerdings gleich wieder ausschloss. Oder sie wusste sehr viel weniger über ihre Eltern, als sie bisher gedacht hatte. War dieser große Meister von vorhin dann vielleicht...

"Das ist er, glaub mir", beruhigte Shinji sie. Seine Stimme klang, als würde es den Altersun-terschied zwischen Marron und ihm gar nicht geben, so wie jemand, der sie schon seit länge-rer Zeit als seinen 20 Jahren kannte. Und auch er schien diesen Zen gut gekannt zu haben, auch wenn Natsuki noch nie etwas von ihm gehört hatte. "Er hat einen unglaublichen inneren Frieden ausgestrahlt und gesagt, er würde vielleicht bald zum Erzengel befördert werden. Ich glaube, es gefällt ihm, anderen Menschen Gutes tun zu können."

"Ja, hier herunten hatte er dazu keine Gelegenheit", entgegnete Marron mit trauriger Stimme. "Erst seine Krankheit, dann der Dämon, der ihn besessen hatte... und dann musste Sindbad ihn töten. Aber wenn er glücklich ist, sollte ich mich wohl mit ihm freuen."

So war das. Dieser Verbrecher hatte den Freund ihrer Mutter also auf dem Gewissen. Ärger stieg in Natsuki auf, aber sie unterdrückte ihn und lauschte weiterhin gespannt.

"Ja, solltest du." Auf einmal wurde Shinjis Stimme unsicher. "Und es gibt... noch etwas, was ich mit dir bereden muss, Marron."

"Wegen Natsuki, nicht wahr?"

Das Herz des Mädchens begann so laut zu klopfen, dass sie befürchtete, es würde sie verraten.

"Ja." Shinji machte eine Pause. "Ich habe dir noch nicht erzählt, warum ich in diese verlasse-ne Straße gerannt bin. Das war, weil ich Natsuki gesehen habe, als sie Seijuro küsste."

"Was?" Ihre Mutter schien viel mehr schockiert zu sein, als Natsuki verstand. "Aber warum?"

"Was weiß ich. Er kam jedenfalls, um sie abzuholen, dann haben sie eine Zeitlang geredet und schließlich hat sie sich ihm an den Hals geworfen. Es sah sehr leidenschaftlich aus." Die Stimme, mit der er dies erzählte, war von solcher Bitterkeit erfüllt, dass Natsuki sich sofort schuldig fühlte. Wenn sie das doch nur ungeschehen machen könnte!

"Aber sie liebt Seijuro doch nicht, Shinji, und du weißt das auch."

"Weiß ich das? Ich weiß, was ich gesehen habe, Marron. Ich habe beschlossen, Natsuki auf-zugeben."

Eine Zeitlang schwiegen beide. Dann fragte Marron leise: "Liebst du sie denn nicht mehr?"

"Nein." Als dieses Wort an Natsukis Ohren gelangte, keuchte sie auf, als sich ihr das Herz in der Brust zusammenzog. Die Tränen, die schon fast versiegt waren, kamen nun wieder in wahren Sturzbächen hervor. Jetzt wusste sie es endlich. Shinji liebte sie nicht, zumindest nicht mehr. Aber nun, viel zu spät, wusste sie auch etwas anderes: Dass sie ihn geliebt hatte.

"Nein", wiederholte der Junge. "Ich liebe nicht Natsuki, Marron. Ich liebe Fynn."

So war das also. Natsuki sank langsam zu Boden, ihr zierlicher Körper wurde von stummen Schluchzern geschüttelt. Mühsam unterdrückte sie jeden Laut, auch wenn ihr danach war, so laut zu schreien, dass das ganze Haus einstürzte. Shinji liebte eine andere. Wahrscheinlich hatte sie ihn so sehr verletzt, dass er in die Arme dieser Fynn, wahrscheinlich irgendeine Schulfreundin, geflüchtet war. Aber geschah es ihr nicht recht? Hatte sie nicht jeden An-spruch auf ihn verloren, als sie Seijuro diesen Kuss gab?

"Du redest Unsinn, Shinji!"

"Nein, rede ich nicht!" Shinjis Stimme klang fest. "Ich habe die ganze Zeit nur Fynn geliebt. Es war falsch, hinter Natsuki herzulaufen, weil sie ein eigenes, neues Leben hat! Wenn sie sich in Seijuro verliebt hat, dann... dann darf ich ihr nicht im Weg sein. Meine Gefühle gelten Fynn... nicht Natsuki."

Natsuki unterdrückte ein Schluchzen, indem sie eine Hand vor den Mund hielt. Ja, jetzt hatte sie alles gehört, was sie wissen musste. Unsicher, weil sie vor lauter Tränen kaum etwas sah, griff sie nach dem Geländer und zog sich hoch. Die nächsten Worte der beiden hörte sie nicht mehr, weil sie weinend in ihr Zimmer zurücklief.

"Die beiden sind ein und dieselbe Person, Shinji! Wieso redest du, als wären sie zwei Leute?"

"Sie sind nicht dieselbe Person, Marron! Fynn hat mich geliebt, aber Natsuki erinnert sich nicht an diese Liebe. Und wenn sie hier auf der Erde jemand anderen findet... sag selbst, darf ich dann auf unserer alten Liebe beharren?"

"Aber dieser Kuss kann doch nicht ernst gemeint gewesen sein. Sie hat doch niemals einen verliebten Eindruck gemacht, wenn sie von ihm gesprochen hat."

"Hat sie vielleicht einen verliebten Eindruck gemacht, wenn sie von mir sprach?", fragte Shinji bitter. "Nein. Es scheint wohl mein Schicksal zu sein, dass mir ihre Liebe nur sehr kurz sicher ist. Wahrscheinlich wird sie sich erst wieder an uns beide erinnern, wenn wir wieder Engel sind. Sag Natsuki bitte nicht, dass wir dieses Gespräch geführt haben. Ich möchte näm-lich wenigstens ihr Freund bleiben, auch wenn es mir das Herz zerreißen wird, Toki und sie zusammen zu sehen."

"Unsinn!" Marron klang wütend. "Morgen werde ich mit Natsuki reden, und dann wird sich diese Schwarze Komödie aufklären! Und bis dahin erwarte ich, dass du nicht Selbstmord be-gehst oder dir eine andere Freundin suchst, verstanden? Ich bin mir sicher, dass dich Seijuro nicht verletzen würde, indem er mit Natsuki geht."

"Na schön." Shinji stand auf. "Aber dieses Gespräch wird mir nur Recht geben. Gute Nacht, Marron. Und sag Chiaki, dass ich wahrscheinlich so bald nicht mehr zu euch kommen werde. Er kann jetzt wieder ausschlafen."

"Chiaki würde mit Vergnügen nächtelang aufbleiben, wenn du dafür nicht so sehr in Selbst-mitleid versinken würdest! Wo ist nur der immer optimistische Access Time geblieben, der Fynn niemals aufgegeben hat?"

"Der ist in dem Moment gestorben, als er seinen Freund und seine Geliebte zusammen sah."

Mit diesen Worten ging der Junge zur Tür und schloss sie hinter sich. Zurück blieb eine Mar-ron, die nicht wusste, ob sie wütend auf ihn sein sollte oder ob sie ihn bemitleiden sollte. Um wenigstens dem einen nachgeben zu können, trat sie gegen einen Stuhl und ließ sich auf das Sofa fallen.

"Natsuki", murmelte sie. "Was hast du da nur angerichtet?"
 

Die Schwärze war wütend, und das war angesichts ihres jahrtausendelangen Hasses schon etwas Extremes. Dieser verfluchte Engel mit seiner unverdienten Reinheit! Beinahe hätte die Einsamkeit Gottes den ehemaligen Engel Access Time in ihre Gewalt bringen können! Dann wäre ein großes Hindernis auf dem Weg zum Weltuntergang beseitigt worden.

Aber nein! Dieser Zen musste ihn unbedingt wieder zu klarem Verstand bringen! Wenn die Kräfte der Einsamkeit Gottes außerhalb des Paradieses nur nicht so beschränkt wären! Die ihres Sohnes, Satans, waren es nicht gewesen. Er hatte überall seine Kräfte besessen, auch wenn er sie von Gott hatte stehlen müssen. Er war ihr Meisterwerk gewesen, war ihr Arm gewesen, um die verfluchten Menschen zu vernichten. Allein wegen seines Todes musste die Apokalypse stattfinden!

Einen normalen Engel hätte sie ja vielleicht noch zurückdrängen können, immerhin war ihr dieser Shinji schon beinahe erlegen. Aber Zen... er besaß ungewöhnlich starke Kräfte. Nun, das lag wahrscheinlich daran, dass er vor seinem Tod noch ehrliche Liebe gefühlt hatte. Wah-res Glück verstärkte die Kräfte eines späteren Engels immens. Er war ungefähr so stark, wie Fynn Fish gewesen war, dieses Miststück, das Satan verraten hatte! Gottes Einsamkeit hatte den Schmerz ihres Sohnes sogar hier gefühlt.

Wenn dieser Zen jemals zum Erzengel wurde, dann würde er sehr mächtig werden. Es gab nicht viele Menschen, die so viel Energie wie er ins Jenseits mitnahmen. Er könnte, wenn schon nicht ihr, zumindest ihren verbliebenen Dämonenrittern gefährlich werden. Vielleicht würde er sie sogar bannen können, ohne weitere Hilfe von Gott zu brauchen! Ein sehr beun-ruhigender Gedanke! Es hatte manchmal Menschen gegeben, die nach ihrem Tod viel Energie ins Engeldasein mitbrachten. Nur wenige davon waren Erzengel geworden, weil viele davon wiedergeboren werden wollten, aber diese wenigen hätten die Kraft besessen, Dämonen zu bannen, wenn sie nicht Gott bewachen würden.

Zen würde diese Stärke erreichen, wenn ihm genug Zeit blieb. Ja, WENN... Könnte die Ein-samkeit Gottes grinsen, jetzt hätte sie es getan. Wenn ihre Vorbereitungen erfolgreich waren, würde die Menschheit sterben, bevor Zen diese Stufe erreichte... und dann würde Gott sterben und mit ihm alle Engel.

Das war etwas, was die Schwärze bedauerte. Sie war früher ein Teil von Gott gewesen und wahrscheinlich würde auch sie sterben, wenn er sein Leben aushauchte. Aber sie bedauerte es nicht wegen sich selbst. Ihr Leben bestand aus ewigen Schmerz, seit Gott sich von ihr ge-trennt hatte und sie brannte darauf, ihr Leben mitsamt dem Schmerz zu beenden. Aber es wäre schön gewesen, vereint mit Gott leben zu können, wie es früher gewesen war. Gott hatte sich geirrt. Damals, bei der Erschaffung Adams und Evas, war er sehr viel mehr Mensch gewesen, als er selbst gewusst hatte, trotz seiner unglaublichen Kräfte. Erst als er sich von seinem Schmerz trennte, wurde er zu diesem unbegreiflichen Wesen, das die Menschen Gott nannten. Was hätten sie vereint nicht alles erreichen können! Aber das würde niemals geschehen.

Lautlos rief Gottes Schmerz den blonden Dämonenritter zu sich. Er verbeugte sich kurz und wartete auf seine Anweisungen.

"Hast du sie bereits entführt?", verlangte die Schwärze zu wissen.

"Noch nicht", gestand der Dämonenritter. "Ich will sie nicht direkt vor ihren Eltern oder den wiedergeborenen Engeln holen, sonst würde dieser Himmelsengel vielleicht auf mich auf-merksam werden und dann würde Gott zu früh von Eurem Ziel erfahren. Ich möchte warten, bis sie allein ist."

Eine Zeitlang schwieg die Schwärze. Der Dämonenritter wartete geduldig auf ein Zeichen von ihr. Er war schon sehr lange in den Diensten des Bösen. Er wusste, dass es oft und unnachgie-big strafte, wenn die Befehle nicht sofort erfüllt wurden, aber seine Argumente waren sinn-voll. Und es kam auch kein Schmerz.

"Du hast Recht", grollte die Stimme von Gottes Einsamkeit von überall her. "Gott darf erst erfahren, was ich will, wenn sie bereits hier bei mir ist. Aber bring sie so bald wie möglich hierher! Ich will nicht mehr länger warten!"

Der Dämonenritter verbeugte sich noch einmal und verschwand. Gottes Einsamkeit dachte über ihn nach. Er war ein fähiger Diener des Bösen. Es sollte ihm gelingen, den Menschen zu entführen, den sie zum Gefäß des Bösen erkoren hatte. Sie hoffte nur, dass dieser Mensch bald allein war. Sie wollte den äonenlangen Schmerz endlich beenden. Früher hatte sie sich auf Satan verlassen, aber jetzt musste sie dazu die Welt selbst vernichten... und dazu brauchte sie ein menschliches Gefäß. Und bald würde sie das richtige Gefäß haben, gegen das nicht einmal Jeanne und Sindbad kämpfen würden können!
 

"Tut mir Leid", sagte Chiaki und senkte den Kopf, als er die Treppe hinunterkam. "Ich kann nichts machen. Er hat mir nicht mal geantwortet."

"Aber was sollen wir dann machen?" Miyako war den Tränen nahe und das kam bei ihr wahr-lich selten vor. "Was ist, wenn Shinji überhaupt nicht mehr aus seinem Zimmer heraus-kommt? Wenn er da drin verhungert?"

"Sei doch nicht so pessimistisch, Miyako." Yamato legte ihr die Hand auf die Schulter und zog sie zu sich. "Wenn nötig, können wir immer noch die Tür einbrechen und ihn da rausho-len."

"Aber was bringt uns das? Wenn er schon bereit ist zu sterben, wie sollen wir ihn dann davon abbringen?" Sie vergrub ihr Gesicht in seinem Hemd. Dem braunhaarigen Mann war augen-scheinlich unwohl. So ließ sich Miyako sonst nie gehen. Sie war doch sonst immer so stark. "Ich will nicht, dass er stirbt, Yamato!"

"Beruhige dich, Miyako." Marron legte ihre Hand auf den Kopf ihrer Freundin und streichelte ihre Haare. Sie und Chiaki waren auf Bitte von Yamato herübergekommen. Miyako war an-geblich schon am Durchdrehen, weil Shinji nicht mehr aus seinem Zimmer herauskam. Er hatte nur einmal gesagt, wenn Marron ihre Antwort hatte, dann würde er vielleicht wieder herauskommen. Vielleicht auch nicht.

"Ich soll mich beruhigen?" Miyako sah sie fast wütend an. "Sag mir lieber, was er mit dieser Antwort meint!"

Marron wich ihrem Blick aus und sah hilfesuchend Chiaki an. Der zuckte mit den Schultern. Sie hatte ihm noch von ihrem Gespräch mit Shinji erzählt, als sie ins Bett gekommen war. Er hatte zwar versucht, sich seinen Unglauben nicht anmerken zu lassen, aber die leisen Flüche, die sie gehört hatte, als sie das Licht ausgemacht hatten, bezeugten, dass er die Sache ernst-nahm. Auch er glaubte, dass Shinji nicht wieder herauskommen würde, wenn Natsuki ihn nicht dazu bewegte.

"Natsuki hat Shinji... eine ziemliche Abfuhr erteilt", gab sie schließlich zu.

"Na und?", fragte Yamato. "Tut sie das nicht jeden Tag?"

"Diesmal ist es ein bisschen ernster, Yamato", entgegnete Chiaki ernst. Er hatte die Augen geschlossen. "Shinji hat gesehen, wie Natsuki einen anderen Jungen geküsst hat."

"Was?", rief Miyako und riss den Kopf von Yamatos Brust los. "Wen? Wen hat sie geküsst?"

"Seijuro." Marron war ziemlich unwohl zumute. Wenn Miyako diesen Blick hatte... "Du weißt schon, diesen Freund von... früher."

"Wie konnte sie das nur tun?", wollte Miyako wissen und ihre Augen blitzten kampflustig. "Ich dachte, du hättest gesagt, Natsuki würde Shinji lieben, sie wüsste es nur noch nicht!"

"Aber so ist es doch auch!", begehrte Marron auf. Als Chiaki sie unmerklich anstieß, änderte sie wegen Yamato schnell: "Ich meine, ich glaube immer noch, dass es so ist. Ich habe Shinji gestern gebeten, nichts Unüberlegtes zu tun, bis ich mit Natsuki geredet habe."

"Und warum hast du das noch nicht getan?", fragte Miyako laut und stand auf. Bevor sie al-lerdings etwas tun konnte, zog Yamato sie sehr bestimmt wieder hinunter und hielt sie an den Schultern fest.

"Miyako, hör auf!", befahl er bestimmt. "Marron trifft keine Schuld an Shinjis Zustand. Sei vernünftig und geh nicht auf sie los."

Einen Moment lang sah es fast so aus, als wollte sich die schwarzhaarige Frau trotz allem auf ihren Mann und Marron gleichzeitig stürzen, dann aber biss sie die Zähne zusammen und zwei Tränen rannen ihr über die Wangen.

"Miyako, ich will ja mit Natsuki reden", versuchte Marron sie zu beruhigen. Sie war sehr in Sorge. So sehr hatte sich Miyako schon lange nicht mehr aufgeregt. "Ich will genauso wenig wie du, dass Shinji sich so fertig macht. Aber Natsuki war noch nicht wach, als Yamato uns angerufen hat."

"Vielleicht ist es am besten, wenn ich sie jetzt hole", schaltete sich Chiaki wieder in das Ge-spräch ein und stand auf. "Ich finde, unsere Tochter hat uns einiges zu erklären. Ich bringe sie herüber und wenn es sich nur um ein Missverständnis handelt, dann kann sie es Shinji gleich selbst sagen."

Die Frage, was sein würde, wenn es kein Missverständnis war, wagte niemand zu stellen. Als ihr Mann gegangen war, setzte sich Marron zu Miyako und legte ihre Hand in die ihrer Freundin, während Yamato die andere hielt.

"Mach dir bitte nicht zu viele Sorgen", bat sie. "Du wirst sehen, das alles ist nur ein dummer Irrtum. Seijuro würde Shinji niemals mit Natsuki betrügen, das weißt du."

"Hoffentlich hast du Recht, Marron, um Shinji Willen", murmelte Yamato, weil Miyako noch immer gegen die Tränen ankämpfte. Immer hatte sie versucht, stark zu sein. Wieso musste sie dann ausgerechnet jetzt gegen scheinbar alle Tränen der Welt bestehen? Und auch um Miyako Willen, drückte sein besorgter Blick aus.

"Warum muss das Schicksal so grausam sein?", klagte Miyako auf einmal. "Wieso muss sich mein Junge in ein Mädchen verlieben, das ihn nicht beachtet?" Sie verdeckte ihr Gesicht mit den Händen. Wortlos nahm zog Yamato sie zu sich heran, aber sein hilfloser Blick suchte den von Marron. Diese entschied sich.

"Jetzt reiß dich mal zusammen, Miyako!", sagte sie laut und packte die andere Frau hart am Arm. "Verdammt, was ist eigentlich in dich gefahren? Warst du nicht immer die Stärkere von uns? Wer von uns hat denn Kaito Jeanne gejagt?"

Miyako sah sie seltsam an. "Jeanne ist mir aber immer entwischt", entgegnete sie. "Sie war immer die Stärkere."

"Aber Marron hat Recht, Miyako", wandte nun Yamato ein. Er blickte seine Frau ernst an. "Momentan bist du nicht mehr die Miyako, die ich geheiratet habe. Als ich mich in dich ver-liebt habe, war das, weil du immer versucht hast, mit deiner eigenen Stärke deinen Freunden zu helfen. Mit deinem Einsatz hast du immer die anderen ermutigt." Er lächelte. "Okay, manchmal hast du uns auch windelweich geprügelt, wenn etwas nicht nach deinem Kopf ging, das war weniger ermutigend. Aber soll ich dir was sagen? Es wäre mir viel lieber, wenn du jetzt auf mich losgehen würdest, als wenn du hier in Verzweiflung versinkst!"

Miyako starrte ihn einige Augenblicke entgeistert an, dann schluckte sie und senkte den Kopf. "Tut mir Leid", murmelte sie. "Ich... ich habe mich gehen lassen. Aber Marron... bist du si-cher, dass Natsuki etwas für Shinji empfindet?"

Marron nickte grinsend. Das hatte Yamato wirklich gut gemacht. "Ganz sicher", bestätigte sie. "Stell dir einfach vor, sie geht mit Shinji so um wie du früher mit Yamato." Sie grinste noch breiter, als die beiden rot wurden. Yamato hatte es wahrlich nicht leicht gehabt, nach-dem er sich für Miyako entschieden hatte. Sie hatte ihn einige Zeit lang zappeln lassen und er hatte viele Abfuhren einstecken müssen, bis sie endlich zugegeben hatte, dass sie ihn auch liebte.

"Der arme Junge", murmelte Yamato und rückte vorsichtshalber etwas beiseite, als Miyako mechanisch mit dem Ellbogen ausholte.

In diesem Moment klingelte das Telefon. Yamato ging ran, nachdem er sich vergewissert hat-te, dass Miyako momentan keine (mentale) Stütze mehr benötigte. Nachdem er sich vorge-stellt hatte, sah er Marron an und reichte ihr dann den Hörer.

"Chiaki", meinte er lediglich. "Er klingt ziemlich aufgebracht."

"Chiaki?", fragte Marron mit einer bösen Vorahnung. "Was ist los? Ist was mit Natsuki?"

"Das kann man wohl sagen", antwortete ihr Mann. "Marron, bitte halt dich irgendwo fest. Natsuki scheint weggelaufen zu sein."
 

Weg. Egal wohin. Nur weit, weit weg, irgendwohin, wo nichts sie an ihre gewohnte Umge-bung erinnerte. Und an den Fehler, den sie begangen hatte. Natsuki bog um eine Ecke und rannte weiter. Ihre Tränen waren schon längst versiegt, aber das bittere Gefühl im Magen war noch immer da. Und würde so bald auch nicht weggehen.

Warum nur? Warum hatte sie es nie bemerkt? Nicht, dass Shinji sie einmal geliebt hatte... sondern dass sie dasselbe für ihn empfand. Und jetzt hatte sie ihn verloren, an irgendein Mäd-chen, das ihm die Aufmerksamkeit schenken würde, die sie ihm versagt hatte. Sie konnte die-se Fynn nicht einmal hassen, weil sie genau wusste, dass sie selbst Shinji in ihre Arme getrie-ben hatte. Bei diesem Gedanken stiegen in ihre bereits trockenen Augen wieder bittere Trä-nen.

Im Laufen biss sich Natsuki Nagoya auf die Lippe und unterdrückte sie krampfhaft. Wenn sie jetzt zu heulen anfing, dann würde ihre Kraft sie verlassen und dann konnte sie nicht mehr weiterlaufen. Zu dem Ort auf der Welt, der am weitesten von Shinji weg war. Damit sie ihn nie mit Fynn sehen musste, denn dann würde sie sich umbringen, das wusste sie. Und das wollte sie ihren Eltern nicht antun.

Mama, dachte sie und Marrons gütige und verständnisvolle Miene tauchte vor ihrem geistigen Auge auf. Hastig fuhr sie sich über die rotverquollenen Augen und wich einem Laternenpfahl aus, der sich ebenso wie der Rest der Welt gegen sie verschworen hatte und ihr in den Weg gesprungen war. Ihr Herz war kurz vor dem Zerspringen, wenn sie daran dachte, was ihre Mutter wohl sagen würde, wenn sie herausfand, dass ihre Tochter weggelaufen war. Aber sie hoffte, dass Marron verstehen würde, warum sie es getan hatte.

Um Chiaki machte sie sich mehr Sorgen. Ihr Vater würde alles in seiner Macht Stehende tun, um sie wieder zurückzuholen, und er hatte viele einflussreiche Freunde. Und wenn sie tat-sächlich zu ihm zurückgebracht wurde, dann würde sie ihm in die Augen sehen und ihm er-klären müssen, warum sie ihnen das angetan hatte. Und diesem Blick würde sie nicht stand-halten können. Deshalb konnte sie jetzt auch nicht mehr zurück.

Hastig bog sie wieder um eine Ecke, die sie in eine düstere, nur spärlich vom Licht erhellte Gasse führte. Ja, sie hatte Angst. Angst davor, was sie hier erwartete. Aber sie hatte noch viel mehr Angst vor den vorwurfsvollen Augen Chiakis und, erst recht, die von Shinji. Oder, was noch schlimmer wäre, dachte sie, während ihr kalte Schauer über den Rücken liefen, wenn er sie einfach kalt ansehen würde, ohne Gefühle, seine Fynn umarmen und sich von ihr abwen-den würde.

Energisch schüttelte Natsuki den Kopf. Sie wollte diese Gedanken aus ihrem Kopf vertreiben, bevor sie es schafften, ihr pochendes Herz in Stücke zu reißen. Ihr Atem ging hastig und un-regelmäßig wegen der gelegentlichen Schluchzer, wenn Erinnerungsfetzen an Marron, Chiaki, Seijuro und Yumemi ihr Gehirn erreichten.

Seijuro. Auch er hatte sie geliebt. Und ihn hatte sie ebenfalls verloren, ebenso gründlich wie Shinji. Er hatte sich wenigstens schon damit abgefunden gehabt, auf ewig nur ein guter Freund zu bleiben, aber sie hatte ihm mit einer einzigen Tat Hoffnung auf mehr gemacht und dann wieder zerstört.

Hoffentlich tut er sich nichts an, betete sie inständig. Bitte, Gott, beschütze ihn! Lass ihn nicht für meinen Fehler büßen.

Und Yumemi. Ihre beste Freundin, der Mensch, bei dem sie sich hatte ausweinen können und dem sie bedingungslos hatte vertrauen können. Wenn sie an den kalten Blick zurückdachte, den ihr das sonst so fröhliche Mädchen in der Turnhalle zugeworfen hatte, dann musste sie die Augen zukneifen, um nicht gleich wieder in Tränen auszubrechen.

Warum? Welcher Teufel hat mich geritten, dass ich Seijuro diesen verfluchten Kuss gegeben habe? fragte sie sich. Die Frage hämmerte in ihrem Kopf, aber Antwort bekam sie keine.

Sie hörte die Schritte viel zu spät, als dass sie noch hätte ausweichen können. Als sie die Au-gen öffnete, war der Fußgänger schon viel zu nahe gewesen. Natsuki rannte ihm in vollem Lauf hinein und nur, weil der Mann ziemlich muskulös war, fielen die beiden nicht hin.

"He, he", meinte er und packte sie an den Schultern. "Pass ein bisschen besser auf! Wenn ich schlechter gebaut wäre, hätte das böse enden können."

"Entschuldigung", murmelte Natsuki und versuchte sich loszureißen, aber der Mann hielt sie fest.

"Was hast du? Du musst was ziemlich Schlimmes erlebt haben, so rot, wie deine Augen sind. Ärger mit den Eltern gehabt?"

"Nein", entgegnete Natsuki unfreundlich und zerrte immer heftiger. "Lassen Sie mich los! Das geht Sie nichts an!"

"Stimmt. Aber ich werde dich nicht einfach laufen lassen, bis dich irgendwann ein Auto über den Haufen fährt, weil du nicht aufpasst. Also beruhige dich erst mal, ich möchte dir nicht wehtun."

"Bitte lassen Sie mich", bat Natsuki nun, aber ihre Gegenwehr wurde bereits schwächer. "Ich möchte nichts erzählen, ich will nur irgendwohin, wo ich alles vergessen kann."

Sie sah dem Mann ins Gesicht. Irgendwie hatte sie den Eindruck, dass das Mitgefühl in seinen Worten nicht zu seiner Miene passte. Sie wirkte grobschlächtig, ja, fast brutal, auch wenn seine Augen von einer dunklen Brille verdeckt wurden. Wäre sie nicht so durcheinander ge-wesen, hätte sie sich gewundert, wieso jemand am frühen Morgen schon eine Sonnenbrille trug. Sein blondes Haar wurde durch ein schmales Stirnband gehalten.

"So, vergessen?" Irgendwie klang in seiner Stimme ein Unterton von Triumph, obwohl sie sich dessen nicht sicher war. "Was möchtest du vergessen?"

Sie versuchte, die Hände zu heben und nach dem Mann zu schlagen, aber sein Griff war zu fest. "Lassen Sie mich!", schrie sie nun. Was wollte dieser Typ überhaupt von ihr? "Ich will Ihnen nichts erzählen! Ich will nur weg!"

"Und wenn ich dich wegbringen könnte?"

Sie war so überrascht, dass sie tatsächlich jede Gegenwehr einstellte. "Wie bitte?"

"Du hast mich schon richtig verstanden." Der Mann zeigte ihr ein amüsiertes Grinsen, wel-ches sie an einen Wolf erinnerte. "Ich kann dich an einen Ort bringen, an dem du alles ver-gisst. Dort wirst du nicht einmal mehr wissen, dass dein Schmerz je existiert hat, glaub mir."

"Woher weiß ich, dass ich Ihnen trauen kann?", fragte Natsuki misstrauisch. Irgendwas an diesem Typen gefiel ihr nicht, auch wenn sie instinktiv spürte, dass er die Wahrheit sagte. "Ich würde nie mit jemandem mitgehen, den ich nicht kenne! Lassen Sie mich los oder ich schreie um Hilfe!"

"Und du riskierst auch, dass du zu deinen Eltern zurückgebracht wirst?"

"Woher wollen Sie wissen, dass ich überhaupt Probleme mit meinen Eltern habe?", wollte Natsuki wissen. Sie wusste selbst, wie dumm diese Frage klang, aber sie fühlte sich fast ver-pflichtet sie zu stellen.

"Du würdest dich wundern, was ich alles weiß", erwiderte der Fremde amüsiert grinsend. "Wie wäre es zum Beispiel mit der Tatsache, dass du heute deine drei besten Freunde vor den Kopf gestoßen hast?"

Natsuki wurde blass. "Haben Sie mich etwa beobachtet?", flüsterte sie entsetzt. War dieser Typ etwa ein Verrückter, der jungen Mädchen nachstellte?

"Ja", gab der Mann ungerührt zu. "Aber nicht aus dem Grund, der dir grade durch den Kopf schießt. Ich will dir lediglich noch einmal mein Angebot unterbreiten: Ich bringe dich zu ei-nem Ort, wo du all deinen Schmerz vergessen kannst, wo dir mein Herr helfen kann."

"Wer ist Ihr Herr? Ein Seelenklempner? Nein, danke! Ich will nicht auch noch als verrückt abgestempelt werden." Natsuki gelang es, einen Arm loszureißen, aber den zweiten hielt der Fremde immer noch fest umschlossen. Wenigstens machte er keine Anstalten, nach dem be-freiten Arm zu greifen. "Verschwinden Sie und lassen Sie mich in Ruhe!"

"Du scheinst nicht zu begreifen, um was es hier geht, meine Kleine", wiederholte der Mann geduldig. "Wo willst du eigentlich hin? Du bist von zuhause weggelaufen, hast kein Geld, keine Freunde, kein gar nichts. Und dein Schmerz hindert dich daran, nach Hause zurückzu-gehen. Mein Herr könnte dir diesen Schmerz nehmen."

Einen Moment fühlte sich Natsuki wirklich versucht, das Angebot anzunehmen, aber dieser Typ schien ihr nicht der Typ zu sein, der jemand anderem half. "Mir egal", rief sie hitzig. "Ich bin nicht so leichtgläubig, wie Sie denken! Suchen Sie sich ein anderes Mädchen, aber ich gehe nicht mit Ihnen! Hauen Sie ab und kommen Sie mir nicht mehr unter die Augen!"

Damit drehte sie sich um, das hieß, sie versuchte es, aber der eine Arm wurde noch immer von dem Typen festgehalten. Sie hörte, wie dieser hinter ihr seufzte.

"Na schön", verkündete er. "Es wäre leichter gewesen, wenn du vernünftig gewesen wärst, aber du willst es ja nicht anders."

Natsuki drehte sich mit böser Vorahnung um und hob die freie Hand zur Abwehr. Aber der Mann wollte sie gar nicht schlagen. Statt dessen streifte er fast bedächtig sein Stirnband ab. Und im selben Augenblick verwandelte er sich. Natsuki keuchte erschrocken auf, als sein Trainingsanzug einer weiten, schwarzen Hose wich. Um seine Taille spannte sich ein grauer Gürtel, der durch eine Spange in Form einer Dämonenfratze zusammengehalten wurde. Sein Oberkörper wurde durch eine schwarze, ärmellose Weste bedeckt. Seine muskulösen Arme lagen frei und wurden nur von dem innen weinroten, außen nachtschwarzen Umhang ver-deckt, der leicht flatterte, obwohl überhaupt kein Wind wehte. Langsam nahm er die Sonnen-brille ab. Natsuki erschrak noch mehr, auch wenn das kaum mehr möglich war. Die Augen des Mannes waren weiß. Vollkommen weiß, ohne Pupille. Das Lächeln war aus seinem Ge-sicht verschwunden und er sah sie grimmig an.

"Wer zum Teufel sind Sie?", flüsterte Natsuki, starr vor Entsetzen. "Was wollen Sie von mir?"

"Ich nichts", entgegnete der Typ kalt. "Aber mein Herr möchte gerne ein bisschen mit dir plaudern und deshalb kommst du mit mir mit. Und zwar schnell, sonst kreuzt dieser lästige Zen noch hier auf."

Mit diesen Worten riss er sie an sich, zwang ihren anderen Arm auf den Rücken und sprang. Natsuki wusste nicht, was als nächstes geschah, jedenfalls griff ein starker Sog nach ihr und Dunkelheit umschlang sie. Gnädigerweise fiel sie in Ohnmacht.
 

Lustlos starrte Seijuro an die Decke. Wieso soll ich überhaupt noch mal aufstehen?, dachte er missmutig. Andererseits konnte es auch nicht mehr schlimmer kommen, als es bereits war. Für ihn jedenfalls.

Seufzend setzte er sich in seinem Bett auf und rieb sich die Augen. Er hatte nicht sehr gut geschlafen, aber das war wohl verständlich. Er hatte nur deshalb darauf verzichtet, ziellos durch die Gegend zu laufen, weil Yumemi ihn warnend angesehen hatte, aber gut getan hatte ihm dieses Herumliegen auch nicht. Einen Moment lang empfand er Wut auf seine Schwester und frühere Freundin, weil sie ihn so selbstherrisch davon abhielt zu verzweifeln, aber sie legte sich rasch wieder. Auch Yumemi hatte ihre liebste Freundin verloren und zweifellos fühlte auch sie sich so schlecht wie er. Schade nur, dass ihn dieser Gedanke auch nicht trösten konnte.

Was Fynn wohl grade macht?, fragte er sich und benutzte zum ersten Mal seit langer Zeit den früheren Namen Natsukis. Obwohl ein egoistischer Teil in ihm hoffte, dass sie ebenso sehr leiden musste wie er selbst, wollte der größere Teil seines Selbst, dass sie sich mit Shinji ver-söhnte und glücklich wurde. Dann könnten wir alle wieder Freunde sein, dachte er schmerz-lich, auch wenn es nie mehr so sein wird wie früher.

"Herein!", rief er, als es an seiner Tür klopfte. Er erwartete fast, dass Yumemi hereinkommen würde, aber zu seiner Überraschung war es sein Vater Kagura. Der hochgewachsene Mann wusste offensichtlich nicht so recht, was er sagen sollte.

"Darf ich mich setzen?", fragte er schließlich. Vater-Sohn-Gespräche begannen meist nervös, doch diesmal schien es um etwas besonders Wichtiges zu gehen. Stumm deutete Seijuro auf den Platz neben sich. Kagura setzte sich hin und räusperte sich kurz.

"Wir... deine Mutter und ich... sind besorgt um dich und deine Schwester", begann er. Seiju-ros Augenbrauen zuckten nach oben. "Yashiro hat mir erzählt, dass ihr beide heute sehr selt-sam wart, als ihr nach Hause gekommen seid." Er suchte offensichtlich nach passenden Wor-ten. "Sie meinte, ihr beide hättet... geweint."

Seijuro war unentschlossen. Er mochte seinen Vater, das war ja auch nur natürlich, aber die-ses heikle Thema mit ihm zu besprechen... "Warum fragst du nicht Yumemi?", schlug er vor und drehte den Kopf zur Wand. "Sie kann das glaub ich besser erklären als ich."

"Das hat deine Mutter bereits versucht." Die Stimme seines Vaters wurde etwas schärfer, als würde ihn Seijuros Teilnahmslosigkeit ärgern. "Yumemi hat gesagt, wir sollten dich lieber in Ruhe lassen. Hör mal, wenn meine Kinder nach Hause kommen und etwas erlebt haben, das sie heulen lässt, obwohl sie schon 17 sind, dann muss ich kein Genie sein. Ich weiß, dass ihr uns etwas verheimlicht. Willst du mir nicht sagen, worum es geht? Vielleicht kann ich dir helfen."

Seijuro öffnete die Augen wieder und sah seinen Vater an. An dem grimmigen Ausdruck er-kannte er, dass er wohl auf einer Antwort beharren würde. Der Junge seufzte. Manchmal wa-ren Eltern eine echte Plage. Aber vielleicht tat es ganz gut, wenn er die Geschichte erzählte. Zumindest die aus DIESEM Leben.

"Na schön", murmelte er. "Es geht um Natsuki." Die Augenbrauen seines Vater zuckten hoch. Er hatte natürlich bemerkt, dass sein Sohn die Tochter seines Freundes oft sehnsüchtig ansah, wenn sie es nicht mitbekam. "Heute, als wir sie abholen wollten, hat sie mich... geküsst."

"Und das ist ein Grund, um zu heulen?"

"Aber sie liebt mich nicht, Vater!", schrie Seijuro plötzlich, als die Verzweiflung und die Wut wieder hochkamen. "Sie hat es nur getan, weil sie Shinji verletzen wollte, damit er ihr nicht mehr nachstellt!"

"Nun ja." Kagura wirkte etwas überfordert, aber er versuchte immerhin, einen kühlen Kopf zu bewahren. "Vielleicht hast du dann doch eine Chance bei ihr, wenn er sie nicht mehr sehen will. Es ist kein Geheimnis, dass du sie magst..."

Seijuro schüttelte den Kopf. "Du verstehst nicht", sagte er und die Wut wich wieder schmer-zender Kälte. "Ich WEISS, dass die beiden füreinander geschaffen sind. Deshalb habe ich nie versucht, etwas mit ihr anzufangen. Jedenfalls hat Yumemi Natsuki angeschrieen und ihr ge-sagt, dass sie nicht wieder zu uns kommen soll, bis sie das geklärt hat."

"Und jetzt leidest du, weil du sie einerseits gern wiedersehen möchtest, aber dein Stolz lässt nicht zu, dass sie zu dir kommt, bevor sie und Shinji ein Paar sind?"

Verwundert sah Seijuro seinen Vater an. "Genau. Wieso weißt du das?"

Ein schmerzlich-amüsiertes Lächeln zeigte sich auf Kaguras Zügen. "Weil das bei mir nicht viel anders war", gab der Sekretär zu. "Denkst du etwa, ich und deine Mutter wären sofort zusammengekommen?"

Eine verlegene Röte stahl sich auf Seijuros Gesicht. Kinder dachten offenbar immer, bei ihren Eltern wäre es Liebe auf den ersten Blick gewesen, während nur sie selbst Probleme mit dem anderen Geschlecht hatten.

"Nein, mein Junge, sie war schon mit jemand anderem verlobt, als ich sie das erste Mal sah. Ich habe mich sofort in sie verliebt, aber sie hat mich nie beachtet. Das tut weh, nicht wahr?"

Seijuro nickte lediglich. Als sich diese Szenen abgespielt hatten, war er mit Cersia im Eis ge-fangen gewesen, also hatte er das nicht mitbekommen.

"Jedenfalls", fuhr Kagura fort, "zerriss mich dieser Konflikt innerlich. Wie du wollte ich mit ihr zusammensein, aber mein Pflichtgefühl gegenüber Chiaki-sama ließ nicht zu, dass ich mich ihr näherte. Und als ich ihr endlich meine Liebe gestanden hatte, musste ich noch viel ertragen, bis sie endlich bereit war, sich einzugestehen, dass sie mich auch liebte." Er grinste kurz und dieses Grinsen ließ ihn viel jünger erscheinen. "Yashiro war damals ziemlich... e-nergisch und etwas stur."

Wider Willen musste auch Seijuro grinsen. Ja, seine Mutter hatte Temperament, dem war nichts hinzuzufügen. Es wäre ihm aber nie in den Sinn gekommen, dass sie seinen Vater hatte zappeln lassen.

"Soll das heißen, ich soll Natsuki sagen, dass ich sie liebe? Das habe ich bereits getan, Vater!"

"Du hast es ihr entgegengeschrieen, mein Sohn. Frauen anzuschreien ist niemals eine gute Wahl, wenn man an ihre Gefühle appellieren will. Sag ihr, was du für sie empfindest und wei-se sie ruhig darauf hin, dass du glaubst, Shinji wäre der Richtige für sie." Kagura verzog die Lippen. "Ehrlich, ich weiß nicht, ob ich so viel Edelmut aufbringen würde wie du, Seijuro. Aber ich bin mir sicher, dass es dir und ihr besser gehen wird, wenn wenigstens ihr euch ver-söhnt... was dann aus ihr und Shinji wird, wird sich zeigen."

Freudige Erwartung ersetzte nach und nach den Schmerz in Seijuro, als er seinem Vater zu-hörte. Er lächelte und drückte dankbar die Hand Kaguras. "Danke, Vater", sagte er mit beina-he heiterer Stimme, die jene Freunde verleiht, die gerade über tiefen Schmerz gesiegt hat. "Ich glaube, du hast Recht, ich sollte zu ihr gehen. Aber Yumemi sollte mitkommen."

Abwehrend hob Kagura die Hände. "Oh nein!", sagte er bestimmt. "Dieses Gespräch war schon intim genug für mich. Rede du mit ihr, wenn sie mit dir gehen soll, aber ein ausgeschüt-tetes Kinderherz am Tag reicht mir."

"Okay", meinte Seijuro grinsend. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie seltsam es einem Er-wachsenen vorkommen musste, wenn ein Teenager ihm sein Innerstes anvertraute. "Ich gehe zu ihr rüber. Sag Mutter bitte, dass du mir hast helfen können. Vielleicht erkennt sie dann noch mehr, welch bemerkenswerten Mann sie beinahe hätte sausen lassen."

Sein Vater lächelte spitzbübisch, als er aufstand. "Stimmt, man sollte nie einen Vorteil aus der Hand geben, nicht?", pflichtete er seinem Sohn bei. "Rede jetzt mit Yumemi. Je eher ihr diese Sache aus der Welt schafft, desto besser."

In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen. Beide Männer erblickten eine aufgelöst wir-kende Yumemi, die offenbar um ihre Fassung rang.

"Seijuro!", rief sie. "Wir müssen sofort zu den Nagoyas!"

"Wollte ich auch grade vorschlagen", bemerkte Seijuro, der sich wunderte, wieso seine Schwester sich so aufregte. "Wir sollten gleich mit Natsuki reden. Wahrscheinlich braucht sie uns jetzt..."

"Das geht nicht, Seijuro." Yumemi atmete tief durch und beruhigte sich so weit, dass sie nicht mehr zitterte. Aber ihr Blick verhieß noch immer nichts Gutes. "Ihr Vater hat gerade bei uns angerufen. Natsuki ist von zuhause weggelaufen!"



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Ryon
2003-03-05T20:44:11+00:00 05.03.2003 21:44
Tja, weil ich etwas langsam beim lesen bin, kann ich den nächsten Teil deiner FF heute nicht mehr lesen. Aber bis jetzt finde ich sie echt gelungen und kann mich Koraja nur anschließen!!!
Lg
Ryon ^_-
Von:  Koraja
2002-06-29T17:07:32+00:00 29.06.2002 19:07
Genial!
Endlich mal eine Geschichte die sich um Shinji und Natsuki dreht, bei der aber aber alle anderen auch drin vorkommen! Und das du Miyako, Yamato, Kagura, Yashiro und Tokis und Cersias Wiedergeburten (Kann die Namen nicht!^-^)mit untergebracht hast ist super! Endlich bekommen mal alle sonstigen Nebenfiguren ihren großen Auftritt!
Und dein Schreibstil! Hut ab! Nicht von schlechten Eltern!
Ich bin total begeistert! (Merkt man's?)
Beeil dich schnell mit dem nächsten Teil!
Die FF ist zwar noch nicht zu Ende aber ich kann schon mal sagen, dass es meine Lieblingsgeschichte im Bezug auf Shinji und Natsuki ist! Sie fällt nämlich irgendwie aus der Rolle! (positiv) Man kann sie nicht so leicht mit den üblichen ff's in einen Topf werfen!
Genug geschrieben! Sonst dauert das Lesen zu lange! ^-^
Bye Koraja! ^-^


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