Götter machen keine Fehler
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Es war ein wunderschöner Morgen Anfang März: Die Luft war frisch und klar wie nach einem langen
Regenschauer, und die Sonne spiegelte sich in den vielen Tautropfen auf dem Rasen wieder. Ein paar
vereinzelte Kirschblütenblätter, die so früh im Jahr schon zu sehen waren, wurden vom Wind durch den
kleinen Vorort von Amiens geweht und fanden schließlich ihren Weg zu einem kleinen hübschen Café in
der Stadtmitte. Vor diesem stellte eine junge Frau Mitte zwanzig gerade Stühle und Tische aus Holz auf,
denn trotz der Jahreszeit war es doch schon ungewöhnlich warm. Sie hob ihren Kopf gen Himmel, als
ein Windstoß durch ihr braunes schulterlanges Haar fuhr und sich ein einzelnes Blütenblatt in ihm
verhing, was sie gar nicht bemerkte. Die übrigen Blütenblätter führten ihren Weg fort, als hätten sie
noch eine lange Reise vor sich.
Die junge Frau wandte sich wieder ihrer Arbeit zu und begann unbewusst zu summen, eine ihr
vollkommen unbekannte Melodie, die ihr einfach gerade durch den Kopf ging. Seltsam, ein so schöner
Tag, und trotzdem hatte die Melodie etwas Trauriges. Traurig... Das war sie schon lange nicht mehr
gewesen. Es hatte mal eine Zeit gegeben, voller Traurigkeit und Einsamkeit, aber dann war Subaru
plötzlich in ihr Leben getreten. Er hatte sie bei ihrem ersten Treffen einfach angeschaut, ihr ganz tief in
die Augen, oder sogar in die Seele geblickt, und gesagt... "Warum bist du so traurig?" Von da an hatte
sie gewusst, dass er etwas anderes war, als die anderen. Nach außen hin hatte sie sich immer fröhlich
und zufrieden gegeben, aber niemand außer ihm und ihrer besten Freundin Miyako hatte jemals
bemerkt, wie es wirklich in ihr aussah. <Miyako... Ja, Miyako wusste es auch, aber sie hat nie etwas
gesagt, warum... Vielleicht hat sie gehofft, dass ich es ihr irgendwann von mir aus erzähle. Sie war die
einzige, die von meinen Eltern wusste, aber ich glaube, sie wollte, dass ich ihr all meine Sorgen erzähle,
dass ich ihr vertraue...> Seit Subaru da war, hatte sie immer jemanden mit dem sie über ihre Sorgen
reden konnte, sie fraß sie nicht mehr alle in sich hinein, und das tat ihr wirklich gut. Man konnte
förmlich sehen, wie glücklich er sie machte. Und so glitt sie von einem Gedanken in den nächsten,
während sie ihrer Arbeit nachging, bis...
"Maron!?" Sie schreckte hoch. "Hmm?" "Ich hab dich eben was gefragt! Warum guckst du so traurig?!"
"Ach, tut mir Leid, ich war in Gedanken." "Das habe ich bemerkt. Ist alles in Ordnung? ... Gut, dann
kannst du mich ja ordentlich begrüßen!" Maron lächelte, legte das Tischtuch beiseite und küsste ihren
Freund zärtlich. "Tut mir Leid, Subaru, Guten Morgen!", strahlte sie ihn an und ließ sich von ihm
umarmen. "Maron?" "Hmm?", nuschelte sie in seine Jacke. "Machst du mir einen Kaffee zum Mitnehmen?
Bitteeee!", bettelte Subaru wie ein kleiner Junge. " ’Also schön. Was würdest du nur ohne mich machen?
Ist dir eigentlich klar, dass du gerade die ganze Stimmung kaputt gemacht hast? Typisch!", schimpfte
sie noch, während sie in den Laden ging. Subaru grinste. Ja, das war seine Maron! Sie regte sich über
jede Kleinigkeit auf, und besonders über ihn. Aber sie war auch die netteste Person, die er kannte. "Hier
bitte, aber pass auf-" "Autsch!" "-es ist heiß!" "Na danke, das fällt dir ja früh ein. Hör auf zu lachen, das
hat weh getan!" Maron hatte sich bei seinem Anblick nicht mehr zurückhalten können, er sah einfach zu
komisch aus! "Na warte! Das zahle ich dir noch heim.", murmelte er, als er Anstalten machte, zu gehen.
"Och, nicht böse sein. Komm her!", sie gab ihm einen Kuss und er war wieder glücklich. "Ciao, mein
Engel. Ich hol' dich heute Abend ab. Ich liebe dich!" "Nun geh schon, sonst hast du bald keine Arbeit
mehr zu der du ständig zu spät kommen könntest!" "Aber..." "Geh!" "Maron!" "Was? ... Ja, ich liebe dich
auc h!", lächelte sie, und er lächelte glücklich zurück. Er drehte sich um und ging die Straße hinunter.
Maron schüttelte den Kopf. Das war Subaru wie er leibt und lebt. Eben der Mensch, der ihr am
Wichtigsten war.
Sie begann nun wieder zu summen. Kurzzeitig verschwand sie immer wieder im Café, um einen neuen
Blumenstrauß zu holen, den sie auf die Tische stellte. Für ihre Kunden tat sie fast alles. Sie hatte es
zwar nicht mehr nötig, da ihr Laden immer gut besucht war, aber sie tat es gern. Sie hatte sich auch
einiges einfallen lassen. Von morgens bis nachmittags um drei betrieb sie ein Café, aber ab fünf Uhr
nachmittags diente der Laden als italienisches Restaurant. Sie hatte sich schon immer darüber
aufgeregt, dass Cafés abends und Italiener vormittags nutzlos waren, und sich dann diese Lösung
einfallen lassen. Und sie hatt Recht behalten. Zur Belohnung war sie fast immer voll besetzt!
"Hey, Maron!", rief eine junge Frau von der anderen Stra Ãßenseite. "Hallo, Miyako! Was machst du denn
schon so früh hier?" "Ich bin hier, um dich zu fragen, ob du heute Abend mit Fin und mir ausgehen
willst. Wir beide sind ja noch immer auf Männersuche und, ja, auch wenn du schon jemanden hast,
kannst du ja deinen beiden besten Freundinnen ein wenig bei der Auswahl helfen! Moment...", sagte
sie, als ihr Handy klingelte. "Miyako?!... Ja! Hi, Fin... Nein, also ich bin grad bei ihr... ja... sie kommt
bestimmt mit, oder?", fügte sie mit einem fragenden Blick zu Maron hinzu, als diese nickte, wandte sich
Miyako wieder ihrem Handy zu. "Ja, sie kommt mit... Jep... Sekunde... Tschüss, Maron, wir holen dich
gegen acht ab, bye... Ja, Fin... Also, ich hatte mir da folgendes vorgestellt...", hörte Maron sie noch
sagen, als sie um die nächste Ecke bog. Dann musste sie Subaru eben absagen. Aber so oft unternahm
sie nun wirklich nichts mit ihren Freundinnen, er verstand das sicher.
Als die ersten Gäste kamen, verdrängte sie die ® Gedanken erstmal, um sich vollkommen ihren Kunden
widmen zu können.
"Miss Kusakabe? Telefon für sie! Es soll wichtig sein!" "Danke, Mizuno!" Sie ging hinein und nahm den
Hörer entgegen. "Ja, bitte?... Was?! Das kann nicht sein!... Ja, ich komme sofort!... Danke!" Sie schmiss
ihre Schürze in die Ecke, schnappte sich ihre Jacke und raste nach einer kurzen Erklärung an Mizuno
mit dem Auto davon.
Vor dem Nagoya-Krankenhaus angekommen, sprang sie aus dem Wagen, stürzte durch die Glastüren
und zum Empfang. "Entschuldigen Sie, bitte! Ich suche Subaru Kazuya, er wurde ungefähr vor einer
dreiviertel Stunde eingeliefert." "Einen Moment... Ja, im ersten Stock, er wird gerade operiert, sie
müssen sich also noch ein wenig gedulden." "Vielen Dank!" Und schon stürzte sie in Richtung Fahrstuhl
und drückte ungeduldig den Knopf nach oben. Nach schier endlosen Minuten kam er endlich und schon
Sekunden später kam sie in ein leeres Wartezimmer.
Unruhig lief sie auf und ab. Nach kurzer Zeit kam eine Krankenschwester aus dem Operationssaal.
"Entschuldigen Sie, bitte. Wird dort drin grad Subaru Kazuya operiert?" "Ja, keine Sorge, die Ärzte
müssten bald zumachen." "Oh, Gott sei Dank! Aber... Was ist überhaupt passiert?" "Oh, nichts
Außergewöhnliches! Er wurde von einem Auto angefahren. Es ist nicht viel passiert. Es gab eine
Kopfwunde, aber das ist bald geregelt.", lächelte die Schwester Maron aufmunternd zu. (Ich weiß, ist
irgendwie 'ne komische Antwort, nya^^'') "Vielen Dank!" "Schon gut!", sagte diese und verschwand im
nächsten Gang. Jetzt endlich setzte sich Maron auf einen der vielen Stühle. Sie war schon fast
eingenickt, als die Tür zum OP aufging, und ein äußerst erschöpfter Arzt herauskam. "Entschuldigung,
Doktor...?" "Nagoya." "Dr. Nagoya, wie geht es Subaru? Darf ich schon zu ihm? Geht es ihm gut?", fragte
sie in einem Atemzug. "Ähm, Miss...?" "Kusakabe." "Miss Ku sakabe. Sind sie seine Freundin?" "Ja, genau.
Und?" Dr. Nagoya schwieg eine Weile, schaute sie nur an und schien nach den richtigen Worten zu
suchen. "Es tut mir Leid! Aber sie können nicht zu ihm! Es...ich...ähm...er...ist tot!" Maron starrte nur die
ganze Zeit einen Fleck an der Wand an, ihr Lächeln sah nun nicht mehr so umwerfend wie sonst aus,
sondern seltsam steif und erstarrt. Die Worte hallten ihr immer wieder durch den Kopf. ER IST
TOT...TOT "Miss Kusakabe? Haben Sie mich verstanden? Miss! Hören Sie? Er ist tot! Es tut mir Leid!",
seine Stimme wurde zum Ende hin immer leiser. ER IST TOT! HÖREN SIE? ER IST TOT...TOT!
Ganz langsam wandte Maron ihr Gesicht wieder ihrem Gegenüber zu. Er war Mitte vierzig, hatte blaues
Haar, und Augen, die für gewöhnlich mit Sicherheit um die Wette strahlten, aber im Moment drückten
sie nur Trauer, Mitleid und Frust aus. Diesen Mann würde sie mit Sicherheit nicht mehr vergessen, auch
wenn sie es wollte. "Was?", war ganz leise ‚ von Maron zu vernehmen. "Aber... wie... ich meine, die
Schwester hat gesagt, es wäre nichts Schlimmes... Was ist...", brachte sie nach einer Weile heraus. "Es
hat unvorhergesehene Komplikationen gegeben, die dazu führten... Ach was! Es tut mir Leid! Durch ein
Versehen wurde eine Ader durchtrennt. Das wäre weiter nichts Schlimmes gewesen, aber ihr Freund
hatte die sogenannte Bluter-Krankheit (die gibt es wirklich!!!), wir konnten die Blutung nicht mehr
stoppen, er war nach kurzer Zeit tot. Es tut mir Leid!" Maron konnte es nicht fassen. Passierte das
gerade wirklich? Ganz langsam realisierte sie, was geschehen war und sie musste sich
zusammenreißen, um nicht die Beherrschung zu verlieren. "Ich verstehe. Aber...", sie nahm ihre ganze
Kraft zusammen. "Haben sie alles Mögliche getan? Wirklich alles?" Und jetzt sah sie ihm direkt in die
Augen, als wolle sie ihn nie mehr gehen lassen, würde er ihr nicht die Wahrheit sagen. "Ich... Nein!"
"Was?! Aber..." Nun war sie vollkommen fertig. Eine einsame Träne bahnte sich ihren Weg ihre Wange
hinunter. "Ich hätte noch mehr tun können, aber ich ließ abbrechen. Er hatte in seiner Akte vermerken
lassen, dass er, wenn es bei einer Operation zu Komplikationen kommen sollte, die Auswirkungen auf
seine Eigenständigkeit haben könnten, nicht an lebensverlängernden Maßnahmen interessiert sei.
Deshalb habe ich-" "Das war nicht ihre Entscheidung!", presste Maron zwischen unterdrückten
Schluchzern hervor. "Sie haben ihn sterben lassen, obwohl er hätte weiterleben können!" "Hören Sie, es
tut mir Leid! Aber er wollte es-" "Es war nicht ihre Entscheidung!", schrie sie, und sank auf einem Stuhl
zusammen. "Es tut mir Leid!", flüsterte Dr. Nagoya noch einmal und verschwand aus ihrem Blickfeld.
Maron saß auf diesem Stuhl und hätte sie nicht zwischendurch immer wieder von Schluchzern
geschüttelt gezuckt, und wären nicht die ganzen Tränen auf den Boden zwischen ihren Füßen getropft,
hätte man gar nicht bemerkt, dass sie weinte.
Nach endlosen Minuten stand sie auf, nahm ihre Sachen und ging aus dem Krankenhaus heraus auf die
Straße, zu ihrem Auto und fuhr eine ganze Weile in nord-westliche Richtung, bis sie ans Meer kam.
Unglaublich, dass sie keinen Unfall gebaut hatte, obwohl sie die ganze Zeit Tränen in den Augen hatte
und kaum etwas sehen konnte.
Sie stieg aus und stand kurz darauf auf einer hohen Klippe, die weit aufs Meer hinausragte. Eine Zeit
lang war alles still um sie herum. Es war inzwischen dunkel und ein leichter Wind wehte. Fin und Miyako
hatte sie bereits vergessen. Irgendwann war ein Flüstern zu vernehmen. "Warum?" Ein Windhauch fuhr
Maron durchs Haar, sie hob den Kopf und blickte gen Himmel. Man konnte die vielen Tränen, die im
Mondlicht wie Perlen glänzten auf ihrem Gesicht sehen. "WARUM!", schrie sie. "Wieso nimmst du mir
alles? Was hab e ich dir getan?", sie sank auf ihre Knie. "Und was hat ER dir getan? Er war ein guter
Mensch!" Der Wind frischte auf und wurde nur von lauten Schluchzern unterbrochen. Als sie sich
einigermaßen beruhigt hatte, stand sie wieder auf und sagte: "Ich weiß nicht, wie ich darauf komme. Ich
erinnere mich selten an meine Eltern, aber an dieses Gespräch mit meiner Mutter schon. Ich hatte sie
gefragt, was ein Gott sei. Und sie sagte: »Ein Gott, Maron, tröstet dich, wenn du traurig bist. Er ist da
für dich, wenn du einsam bist. Und er hilft dir, wenn du seiner Hilfe bedarfst.« Das habe ich damals
nicht verstanden, heute tue ich es. »Aber am Wichtigsten ist: Ein Gott macht keine Fehler! Was er auch
tut, was er auch denkt, das ist immer richtig!« Das verstehe ich heute weniger als damals!" Inzwischen
hatte sich der Himmel zugezogen und die Wolken verdeckten Mond und Sterne; der Wind wurde
stärker. Verzweifelt fuhr sie mit verbitterter, brüchiger Stimme fort:"Du hast mir meine Eltern
genommen - das war falsch! Du hast mich allein gelassen - das war falsch! Du hast mir Subaru
genommen - das war ein Fehler, ein schrecklicher Fehler! Ich frage dich: Wie kann ein Gott dann ein
Gott sein? Wir wissen doch, dass Götter keine Fehler machen! GÖTTER MACHEN KEINE FEHLER!", brüllte
sie in die Nacht hinaus. Wie als Antwort zwang ein kräftiger Windstoß sie wieder auf die Knie. Die
Wellen schlugen wild gegen die Felsen in der Tiefe. "Sie dürfen keine machen!" Vollkommen
zusammengesunken saß sie da und fühlte den ganzen Schmerz in sich. "Götter machen keine Fehler!",
flüsterte sie.
Der Regen spült die letzten Tränen fort,
und mit ihnen die Erinnerungen an all das, was gewesen ist.
Könnte er doch auch den Schmerz, der bleibt und Narben hinterlässt, mit sich nehmen.
Doch die Wolken verziehen sich und lassen die Sonne durch,
die ihr Licht auf meinen endlich vergrabenen Schmerz wirft und ihn wieder zurückholt.
Ich würde so gerne weinen, um zu vergessen,
aber es sind keine Tränen mehr übrig, die ich vergießen könnte;
so lange habe ich damals geweint, so viele habe ich verloren.
Ich würde so gerne schreien, um zu vergessen,
aber ich habe keine Kraft mehr, die ich herauslassen könnte;
so lange habe ich damals geschrieen, so viel habe ich verloren.
Ich würde so gerne beten, um zu vergessen,
aber ich habe den Glauben daran verloren, dass es hilft;
so lange habe ich damals gebetet, so viel habe ich gehofft...
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