Zum Inhalt der Seite

Die sieben Schicksale

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Die Tiere verschwinden

Die Sonne stand in ihrem höchsten Zenit und warf warme Strahlen auf die Erde. Dünne, biegsame Äste und Grashalme bogen sich sanft in einer leichten Brise. In den Bäumen zwitscherten fröhlich buntgemischte Vögel ihre Lieder und drehten, zusammen mit den nur wenigen Wolken, ihre Runden am Himmelszelt. Auf der Straße, die sich auf geradem Wege durch die Landschaft zog, lief ein ungleiches Paar entlang.

Die größere Gestalt der beiden hatte langes schwarzes Haar, das leicht gelockt am Rücken hinunter fiel. Ein Lederband, dessen Enden schon ziemlich ausgefranst waren, hielt das Haar im Nacken zusammen. Kleine Strähnen hatten sich jedoch aus ihrer Fesselung befreit und umschmeichelten die klassisch ausgeprägten Wangenknochen und hoben die ausdrucksstarken Augen hervor. Ein graziler, langer Hals betonte noch zusätzlich das schmale, anmutige Gesicht. Der braungebrannte Oberkörper wurde nur von einer leichten rotbraunen Weste bedeckt, die die Schultern und Arme frei ließ und den Blick auf einen heulenden grauen Wolf auf dem rechten Oberarm gewährte. Die Weste sowie auch die von Schmutz und Staub bedeckte Hose umschmiegten die schlanken Konturen und Wölbungen des äußerst weiblichen Körpers.

Die junge Frau trug über der linken Schulter einen Langbogen aus kräftigem Eichenholz. Anhand der grobgeschnitzten Kanten, die die Waffe aufwies, und der fehlenden Verzierungen konnte man erkennen, dass der Bogen von keinen Schmiedehänden angefertigt wurde. Genauso verhielt es sich auch mit dem auf dem Rücken geschulterten Köcher, der nur von wenigen Nähten zusammengehalten wurde, so dass an einigen Stellen die Ränder des hellen Rindleders auseinander klafften und Löcher hinterließen. Des Weiteren trug die Frau um den Hüften herum einen Gürtel, an dessen einen Seite sich ein Dolch befand. Wie auch der Köcher bestand die Scheide aus demselben Leder, doch hatte man bei der Anfertigung mit mehr Sorgfalt gearbeitet. Die Ränder waren fein säuberlich und mit kleinen Stichen zusammengenäht. Der schmucklose Griff des Dolches war aus einem elfenbeinfarbenen Horn und so weich geformt, dass die Hand nicht abrutschen konnte. Bruchlos ging das Heft dann über zur Klinge, die sich nach oben hin leicht bog. Die untere Seite war geschliffen und nur wenige kleine Kratzer waren auf dem Blatt zu sehen.

Neben der Frau ging ein ausgewachsener Karach´nak her. Die Bauern und Jäger dieser Welt nannten sie auch Höllenwölfe, aufgrund der hohen Intelligenz, die sie besaßen, der dunklen Fellfarbe und des starken Gebisses, das einem Stier mühelos das Genick durchbeißen konnte. Vorzugsweise lebten diese Raubtiere in einem Rudel mit einer Größe von bis zu sechs Tieren. Ihre Jagdgebiete waren anfangs Wälder, in denen sie sich von allerlei Waldbewohnern ernährten, angefangen vom Eichhörnchen bis hin zu Bären. Als sich jedoch immer mehr Bauern in der näheren Umgebung von Wäldern niederließen und sich immer öfters Rinder und Schafe im dichten Blattwerk verirrten, weitete sich das Revier der Höllenwölfe aus. Da ihnen stets Nahrung zur Verfügung stand, nahm folge dessen die Anzahl der Karach´nak zu. Daraufhin standen die Bauern eine zeitlang vor dem Ruin, da ihnen das nötige Vieh fehlte, das sie auf den Märkten hätten verkaufen können. Ein weiteres Problem war auch die hohe Lebenserwartung dieser Tiere, da sie genauso alt werden konnten wie die Menschen. Deshalb wurden speziell Jäger ausgebildet, die die Aufgabe hatten die Population dieser Wölfe stark zu reduzieren und dafür zu sorgen, dass sie in ihren Wäldern blieben und nur noch selten Vieh rissen. Es hatte eine Zeit gedauert bis dann endlich die Anzahl der Karach´nak zurückging und der Lebensunterhalt der Bauern wieder gesichert war.

Dieser Höllenwolf, der munter und mit heraushängender Zunge neben seiner Gefährtin hertrabte, unterschied sich jedoch sehr von seinen Artgenossen. Anders als die anderen Karach´nak war er den Menschen und anderen Völkern zugetan. Und sein Fell war von so einem strahlenden Weiß, dass man fast glauben konnte, dass das Tier durchscheinend sei, wenn der schwarze Streifen, vom Schwanz bis zur Schnauze, nicht wäre. Das Aussehen des Tieres brachte ihm deshalb auch den Namen 'Ghost' ein. Auch unterschied er sich von der Größe her von den anderen Karach´nak. Wo die meisten von ihnen nicht größer wurden als etwa zwei Fuß, hatte Ghost eine stattliche Größe von drei Fuß erreicht, wodurch sein schmaler Kopf mit den Pinselohren bis zur Brust der jungen Frau reichte. Dementsprechend gewaltig waren auch seine Pranken, mit denen der Wolf einen ausgewachsenen Mann hätte erschlagen können.

"Taró wird mit uns zufrieden sein", sagte Syreene lächelnd zu ihrem vierbeinigen Freund und wog in ihrer rechten Hand einen kleinen zugeschnürten Beutel, bevor sie ihn an ihrem Gürtel befestigte. "Ich finde, Jahrmärkte sollten öfters stattfinden. Mit dem Gold können wir erstmal wieder ein Mondalter lang leben. Aber ab jetzt müssen wir vorsichtiger sein! Ich habe unter den Leuten einige Jäger gesehen. Es könnte vielleicht Zufall gewesen sein, dass sie dort waren. Es ist aber auch gut möglich, dass man Verdacht geschöpft hat. Und wenn dies der Fall ist, dann wird es nicht lange dauern bis man uns beide in Verbindung bringt. Deshalb wirst du die nächsten Male auch im Lager bleiben."

Plötzlich blieb Ghost stehen und schaute mit gespitzten Ohren nach vorn. Syreene wendete ihren Kopf, um zu erfahren, wer oder was die Aufmerksamkeit des Tieres geweckt hatte, und sah in weiter Ferne einen Reiter langsam näher kommen, der vornüber am Hals des Pferdes lag und langsam aus dem Sattel rutschte. Noch bevor die Gestalt auf der Erde hart aufschlug, war Syreene, dicht gefolgt von Ghost, auch schon losgelaufen. Beim Näher kommen erkannte sie zwei Dinge. Zum einen, dass es sich bei der Person um einen Mann handelte und zum anderen, dass in seinem Rücken ein Pfeil steckte.

Als die junge Frau bei dem Verwundeten ankam, kniete sich Syreene neben ihn und betrachtete für ein paar Sekunden die Wunde, bis sie dann den Mann an der Schulter ergriff, um ihn etwas auf die Seite zu drehen. Ein lang gezogenes Stöhnen entrang sich aus der Brust des Verletzten und nur mühsam schaffte dieser es die Augen zu öffnen, die Zeugnis darüber gaben, welche Schmerzen er hatte. Kleine Schweißperlen liefen über sein Gesicht, und mit seiner rauen Zunge versuchte er seine Lippen anzufeuchten.

"Ihr müsst mir helfen", sprach der Mann mit leiser Stimme. Man sah ihm an, dass ihn das Sprechen anstrengte.

"Natürlich", nickte Syreene und blickte besorgt auf ihn hinab. "Das nächste Dorf ist nicht weit von hier. Ich bringe Euch dorthin."

"Nein!", meinte der Verletzte bestimmt und umfasste mit erstaunlicher Kraft das Handgelenk an seiner Schulter. Syreene sah ihn überrascht, aber auch fragend an.

"Ihr müsst ... in Castle Shelter etwas ... abgeben. Es ist wichtig!"

Er stützte sich auf seinen Unterarm und zog mühsam mit der anderen Hand einen zerknitterten Brief aus seinem blutverschmierten Wams, wobei sein Atem vor Anstrengung besorgniserregend röchelte. Der Mann drückte das Schreiben so lange gegen Syreenes Brust, bis sie diesen umfasste.

"Verfolger sind ... nah!", murmelte er, während er mit letzter Kraft einen silbernen Ring von seiner rechten Hand abstreifte und ihn der sorgenvollen Frau entgegen hielt. Doch mitten in der Bewegung fiel seine Hand kraftlos zu Boden, wobei der Ring über die Erde kullerte, und der Kopf des Mannes sackte zur Seite. Noch einmal hob sich sein Brustkorb, und in einem leisen Seufzer entwich ihm der letzte Lebenshauch. Behutsam bettete Syreene den Kopf des Mannes auf die Erde und nahm den Ring in die Hand. Erst jetzt erkannte sie, dass das Schmuckstück einen Falken darstellte und ihr wurde bewusst, dass sie den Siegelring von Silver Hawk, König von Demetris, in ihren Fingern hielt. Verwirrt darüber, dass der Mann das Siegel des Königs bei sich hatte, warf sie einen Blick auf den Brief und entdeckte dort das Siegel, in Form eines Fuchs- und Bärenkopfes, von Brianna der Besonnenen. Sie war de Herrscherin über das im Norden angrenzende Land Forest Green.

Das heftige Schnauben des Pferdes, das abseits der Straße unruhig mit den Hufen scharrte, riss Syreene aus ihren Gedanken und erinnerte sie daran, wo sie sich befand. Langsam stand sie auf und blickte sich dabei nach ihrem haarigen Freund um, der etwas entfernt auf der Straße saß und seine Gefährtin erwartungsvoll ansah. Dann blickte Syreene den Weg entlang in die Richtung, aus der der Mann gekommen war.

"Verfolger sind nah", murmelte Syreene die Worte des Verstorbenen, wobei sich ihre Stirn in Falten legte. Entschlossen steckte sie sich den Ring an ihren Finger und verstaute den Brief in ihrer Weste. Anschließend ging sie behutsam auf das nervöse Pferd zu, das sie wachsam beobachtete, als sich die junge Frau näherte. Ein seltsamer Geruch haftete an ihr, den der Hengst nicht richtig einordnen konnte.

Verwundert betrachtete Syreene den Rappen, während sie sanft den Hals des Tieres streichelte. Es handelte sich dabei um ein kräftig gebautes Kaltblut, das normalerweise in der Landwirtschaft oder bei sonstigen schweren Arbeiten eingesetzt wurde. Der Mann musste es ziemlich eilig gehabt haben, wenn er ein solches Pferd genommen hat, dachte Syreene.

Sie betastete vorsichtig die starken Beine des Tieres, die von getrockneten Schweiß und Staub bedeckt waren, auf Verletzungen, und war froh, als sie keine fand. Auch die Hufen mussten von keinen Steinen befreit werden. Schließlich strich Syreene noch einmal über das schwarze Fell, bevor sie die Zügel ergriff. Mit einem letzten Blick auf den Mann, und mit Bedauern im Herzen ihn nicht begraben zu können, führte die junge Frau das Pferd hinter sich her.

Der merkwürdige Geruch verstärkte sich zunehmend, je näher der Hengst dem Höllenwolf kam. Mit tänzelnden Schritten und einem nervösen Schnauben versuchte das Pferd von dem Geruch, und damit auch der vermeintlichen Gefahr, zu entkommen. Doch Syreene packte die Zügel fester, streichelte zärtlich die Nüstern und murmelte dem Tier beruhigende Worte zu. Langsam wurde der Hengst ruhiger und schon bald hatte er sich an die Anwesenheit des Wolfes gewöhnt. Mit aufgerichteten Ohren ging das Pferd schließlich hinter seiner neuen Herrin her.

"Wir müssen einen Umweg machen", sprach Syreene mit grimmiger Stimme zu ihrem treuen Gefährten. "Wenn da wirklich irgendwelche Verfolger sind, möchte ich ihnen nicht begegnen. Deshalb gehen wir jetzt zurück zum Fluss Crystal und folgen seinem Verlauf bis zum Fuchsien. Von da an werden wir querfeldein weitergehen."

Daraufhin zog sie sich in den Sattel und trieb das Pferd mit einem sanften Hieb in den Seiten an. Nach etwa einen halben Sonnenwegsalter gelangten sie zum Fluss und stillten erst einmal ihren Durst, bis die kleine Gruppe das kalte Wasser flussaufwärts durchwateten. Die Sonne flammte schon leicht rot auf, als sie den Fuchsien endlich erreicht hatten. Obwohl noch immer helles Tageslicht verbreitet wurde, konnten die Strahlen der Sonne das dichte Blattwerk des Waldes nicht durchdringen, trotz der immer rotgefärbten Blätter, denen der Wald seinen Namen verdankte.

Syreene stieg am Eingang des Fuchsien vom Pferd, da die Bäume und Sträucher sehr eng beieinander standen und überall tiefhängende Äste hingen, weswegen das Durchkommen erheblich erschwert wurde. Immer wieder verhakten sich dünne Zweige und Dornen an Syreenes Kleidung sowie auch am Zaumzeug des Pferdes. So war es kaum verwunderlich, dass die Dunkelheit schon längst ihren zweiten Weg beschritten hatte, bis die kleine Gruppe den Wald verlassen konnte. Jetzt lag nur noch eine weite Ebene vor ihnen, bestehend aus Wiesen und Feldern. Und ohne weitere Hindernisse setzte Syreene ihren Weg fort, bis sie auf eine kleine Felsengruppe traf, hinter der die Felsen von einem roten Schein erhellt wurden.

Zwischen zwei riesigen Felsen kam eine in Schatten eingehüllte Gestalt hervor und hielt einen Bogen mit einem angelegten Pfeil auf Syreene gerichtet. Diese zügelte den Hengst, so dass er in Schritt verfiel. Ghost, der die hochgewachsene Gestalt an ihrem Geruch erkannte, lief schwanzwedelnd auf sie zu, woraufhin die Waffe heruntergenommen wurde. Mit der freien Hand tätschelte die Person den Kopf des Tieres und sah Syreene entgegen, die vom Pferd abstieg, nachdem sie bei der Gestalt ankam.

"Beim ersten Licht des Morgens bringst du den Gaul wieder zurück!", befahl der Mann mit grimmiger Stimme. Ohne die Frau weiter zu beachten, drehte er sich um und ging auf das offene Feuer zu, an dem bereits ein Zwerg, mit einer grauen Decke um die Schultern geschlungen, saß. Der Mann lehnte seine Bogen an einen Felsen und ließ sich unweit davon nieder.
 

Der Name des Mannes war Taró, der einst als Waldläufer und Kundschafter im Dienste des längst verstorbenen König Red Hawks gestanden hatte. Dies änderte sich jedoch schlagartig, als auf einmal eine kleine Rebellengruppe Tarós Dorf niedergebrannt hatten. Der damals 27jährige war zu dem Zeitpunkt nach Hadesian, der Hauptstadt in Forest Green, gesandt worden, um dort eine Botschaft dem Vater von Brianna der Besonnenen zu überbringen. Nachdem er wieder zurückgekehrt war, erzählte man Taró von dem Unglück, das seinem Dorf widerfahren war, und auch, dass seine Eltern und seine jüngere Schwester dem Feuer zum Opfer gefallen waren. Daraufhin hatte der damals junge Mann geschworen, Rache an denen zu nehmen, die am Tode seiner Familie Schuld trugen. Er war daraufhin aus dem Dienste des Königs getreten und hatte sich auf die Suche nach den Rebellen gemacht. Nachdem er den Aufenthaltsort der Schuldigen herausgefunden hatte, hatte er nacheinander jeden einzelnen von ihnen auf grausamste Weise getötet, ohne Gnade walten zu lassen. Doch als dann die Trauer über den erlittenen Verlust die Wut in seinem Herzen überlagerte und Taró sah, was er getan hatte, wurde ihm bewusst, dass er nie wieder in sein früheres Leben zurückkehren konnte. Seitdem verdiente er seinen Lebensunterhalt mit dem Stehlen von Goldbeuteln.

Nach drei Sommern hatte sich ihm der Zwerg Môrien Axtschlag angeschlossen, der von seinem Klan in die Verbannung geschickt wurde. Sein Klan der Eisengräber stand damals im Streit mit dem Klan der Goldräuber. Damit diese Fehde ein Ende fand, sollte ein Wettkampf mit jeweils einem Krieger stattfinden, wobei Môrien als Vertreter seines Klans auserwählt wurde. Zum Dank für diese Ehre hatte der Zwerg seine Kampffähigkeiten unter Beweis gestellt und den Gegner schon bald in die Knie gezwungen. Doch anstatt ihn zu töten, wie es die Regeln des Kampfes besagten, hatte Môrien den Krieger am Leben gelassen. Durch diese Wohltat hatte er seinem König und seinem Klan Schande bereitet, wodurch er gezwungen war sein Zuhause zu verlassen.

Taró hatte er dann in einem Gasthaus kennen gelernt, an das Môrien auf seiner Wanderschaft durch die Lande vorbeikam. Da damals im benachbarten Ort ein Fest stattgefunden hatte, war der Schankraum voll von allen möglichen Leuten gewesen. Môrien hatte sich auf den noch einzigen freien Platz im Raum gesetzt, genau neben Taró, der wachsam seine Umgebung beobachtet hatte. Eine ganze Zeit hatte der Zwerg still vor seinem Krug mit Met gesessen, als der junge Mann ihn dann angesprochen hatte. Schnell freundeten sich die beiden an, und schon bald hatten sie sich gegenseitig ihre Geschichten erzählt. Da Môrien keinen Ort hatte, an dem er hätte zurückkehren können, hatte er dem Waldläufer gebeten ihn begleiten zu dürfen. Daraufhin zogen die beiden von Dorf zu Dorf und von Stadt zu Stadt, bis sie dann nach zwei Frühlingsaltern durch die Straßen von Aphros liefen. Sie waren auf der Suche nach einem reichen Kaufmann oder ähnliches, als sie in einer Gasse ein kleines halbverhungertes Mädchen erblickten, das sich verängstigt in einer dunklen Ecke voll mit Unrat verkrochen hatte. Das Kind war von oben bis unten mit Schlamm und Dreck beschmiert und die verfilzten schulterlangen Haare waren braun von Staub.

Taró hatte es einen Stich im Herzen gegeben, als er in die ängstlichen, katzengrünen Augen des Mädchens geblickt hatte. Er wusste nicht warum, aber die Kleine hatte ihn an seine Schwester erinnert, obwohl sie beide sich nicht ähnlich sahen. So war er langsam auf das verschmutzte Kind zugegangen, das sich noch weiter in die Ecke gedrängt hatte, als wenn es mit der Wand hätte verschmelzen wollen, hatte sich vor sie hingekniet und ihr eine kräftige Hand entgegen gehalten. Es hatte eine Weile gedauert bis die Kleine merkte, dass sie vor dem großen Mann nichts zu befürchten hatte, der geduldig und mit warmen, blauen Augen auf sie herabsah. Und schließlich hatte das Mädchen eine kleine, zierliche Hand in die Tarós gelegt, der sanft ihre Finger umschlossen hatte.

Es waren mehrere Tage vergangen, an denen die Kleine kein einziges Wort gesprochen hatte, und Taró und Môrien hatten schon angenommen, dass das Mädchen stumm sei. Doch als sie eines Abends ihr Lager aufgeschlagen hatten, fragte die Kleine mit leiser, zaghafter Stimme, ob sie wüssten, wer ihr Vater sei. Schnell war den beiden Freunden klar geworden, dass das Mädchen keinerlei Erinnerungen besaß, weder darüber, wer sie war noch wer ihre Eltern seien. Auch konnte sie nicht sagen, wie sie nach Aphros gekommen war. Daraufhin hatte Taró ihr den Namen 'Syreene' gegeben, der soviel bedeutete wie 'Neuanfang'.

Es hatte eine lange Zeit gedauert, bis Syreene ihre Angst davor verloren hatte alleingelassen zu werden, so dass sie weder Taró noch Môrien von der Seite gewichen war. Als sie aber dann gemerkt hatte, dass keiner von beiden sie verlassen würde, begann sie sich für ihre ständig wechselnde Umgebung zu interessieren. Jedes Mal, wenn sie ihr Lager aufgestellt hatten, war die Kleine auf Erkundung gegangen.

Die beiden Männer waren zutiefst erschrocken, als sie eines Morgens unter der Decke des schlafenden Kindes einen erst paar Monde alten Höllenwolf vorgefunden hatten, der sich an der Brust des Mädchens zusammengerollt hatte. Syreene hatte gebettelt und gefleht den Wolf behalten zu dürfen, während Taró versucht hatte dem Kind zu erklären, wie gefährlich so ein Tier sei und dass sie es unmöglich mitnehmen könnten. Die ganze Zeit über, in der die Männer das Lager abbrachen, hatte Syreene geschrieen und geweint und dabei den Wolf fest in ihren Armen gehalten. Und als sie sich auf den Weg begeben hatten, war der Welpe unermüdlich hinter ihnen hergelaufen, trotz der vergeblichen Mühe der beiden Männer das Tier zu verscheuchen. Diese Tatsache, und der flehentliche tränennasse Blick des Mädchens, hatte schließlich dazu geführt, dass sich die beiden in ihr Schicksal ergaben und den Karach´nak in ihre Gruppe aufnahmen. Schon nach kurzer Zeit hatte der Wolf eine beträchtliche Größe erreicht, die es Syreene erlaubte auf dem Rücken des Tieres zu reiten.

Die Jahre vergingen, in denen Syreene zu einer jungen hübschen Frau herangewachsen war, und auch zu einer meisterhaften Diebin wurde. Es war für sie auch eine lehrreiche Zeit. Taró hatte seinem Schützling den Umgang mit Pfeil und Bogen beigebracht, das Anwenden von Heilkräutern, das Aufstellen von Fallen und hatte sie auch lesen und schreiben gelehrt. Môrien indessen hatte ihr Unterricht mit dem Dolch gegeben und ihr gezeigt, wie sie ihre Kleidung flicken konnte, wie das Fell eines Tieres in einem Stück abgezogen wurde und wie man daraus Schuhe und Essensbeutel anfertigte.
 

Nach der unfreundlichen Begrüßung Tarós führte Syreene den Hengst zu einem dürren Baum, an dem nur wenige Blätter hingen, und schnappte sich unterwegs ein Seil, in das sie eine Schlaufe knüpfte. Die Schlinge legte sie dem Tier um den Hals und band das andere Ende an den Baum. Nachdem Syreene das Tier von seinem Zaumzeug befreit hatte, holte sie eine Wasserflasche und einen Essensbeutel, aus dem sie zwei Äpfel herausnahm und sie dem Hengst entgegenhielt. In ihre Handfläche goss die junge Frau dann das Wasser, das das Tier gierig trank

Anschließend ließ sich Syreene mit angezogenen Beinen am Feuer nieder, holte nochmals zwei Äpfel aus dem Beutel und biss in einen davon kräftig hinein, während sie den anderen Ghost überließ. Nachdem er den Apfel verputzt hatte, legte er sich neben seiner Gefährtin und bettete nach einem herzhaften Gähnen seinen Kopf auf die Vorderpfoten. Mit der freien Hand streichelte Syreene das weiche Fell im Nacken des Tieres und aß genüsslich das saftige Obst.

"Seid ihr gejagt worden?", wollte Môrien besorgt wissen, der mit der Frage auf ihre Verspätung anspielte.

"Das weiß ich nicht."

Syreene zuckte mit den Schultern und steckte sich den halb aufgegessenen Apfel in den Mund, um mit beiden Händen den Geldbeutel vom Gürtel zu lösen, den sie dann dem Zwerg zuwarf. Dieser fing ihn geschickt auf, wobei die Decke von seinen Schultern rutschte. Môrien kümmerte sich nicht darum, sondern ließ nur ein zufriedenes Grunzen über das stattliche Gewicht des Beutels von sich hören.

"Ich halte es für das Beste", sprach Syreene weiter, "wenn Ghost die nächsten Male im Lager bleibt. Für meinen Geschmack befanden sich unter den Besuchern des Jahrmarktes zu viele Jäger. Wir sollten kein Risiko eingehen."

"Und der Diebstahl des Gaules war kein Risiko?", wollte Taró mit angespannter Stimme wissen und schaute die Frau mit zu Schlitzen verengten Augen an. Er war eindeutig wütend auf sie, denn er wusste, würde man sie mit einem gestohlenen Pferd erwischen, wäre die Strafe die, dass jeder von ihnen eine Hand verlöre.

"Es ist nicht gestohlen", meinte Syreene indigniert. "Auf dem Rückweg kam uns ein Reiter entgegen, der tödlich verwundet war. In seinem Rücken steckte noch ein Pfeil. Als ich bei ihm ankam, überreichte er mir dies hier."

Mit diesen Worten holte sie aus ihrer Weste den Brief und reichte ihn an Môrien, der wiederum, nach einem kurzen Blick auf den Gegenstand in seiner Hand, diesen dem Waldläufer gab. Mit gerunzelter Stirn betrachtete Taró das Siegel und sah die junge Frau anschließend fragend an.

"Außerdem gab er mir auch diesen Ring." Syreene hob ihre Hand, damit ihre Begleiter ihn sehen konnten. "Es ist der Siegelring des Hawks."

"Was ist passiert?"

Taró war nach den letzten Worten Syreenes aufmerksam geworden. Ein getöteter Bote, der eine Nachricht von einem Königshaus zum anderen bringen sollte, war in den meisten Fällen kein gutes Zeichen, sondern eher ein Hinweis darauf, das etwas geschah.

"Der Mann sagte, dass ich den Brief nach Castle Shelter bringen muss." Syreene erzählte weiter und riss damit Taró aus seinen Gedanken. "Außerdem sprach er davon, dass Verfolger nah seien. Er wollte mir den Ring geben, doch er starb dann. Ich hätte ihn gerne angemessen begraben, aber seine Worte hatten mich beunruhigt. Also nahm ich sein Pferd und ging zurück zum Crystal, um unsere Spuren zu verwischen. Anschließend schlugen wir uns durch den Fuchsien durch."

"Der Gaul und das Zaumzeug werden uns reichlich Gold einbringen", meinte Môrien praktisch und rieb sich zufrieden die Hände bei dem Gedanken an den prallgefüllten Beutel, den sie für den Verkauf bekommen würden. Derweil sah Taró nachdenklich auf das Schreiben in seinen Händen und überlegte, was zu tun sei, während Syreene ihren Freund abwartend beobachtete. In der Stille, die jetzt unter den Gefährten eintrat, waren nur das leise Schnarchen des Wolfes und das knisternde Züngeln des Feuers zu hören. Nach einer scheinbar endlosen Zeit stand Taró auf. Er schaute seine beiden Freunde an, die erwartungsvoll zu ihm aufschauten.

"Wir sollten jetzt versuchen noch etwas Schlaf zu bekommen", meinte der Waldläufer schließlich. "Und wenn wir ausgeruht sind, werden wir weiterziehen."

Mit diesen Worten ging er zu seinem Schlafplatz und legte den Brief unter seiner Decke, bevor er sich auf ihr niederließ. Verwundert über die Worte schaute Syreene dem Mann hinterher. Môrien aber streckte unbekümmert seine Glieder, strich noch einmal über seinen roten Bart, um es anschließend seinem Freund gleich zu tun und sich auf seiner Decke ausstreckte.

Eine ganze Weile noch blieb Syreene vor dem Feuer sitzen und starrte gedankenverloren in die Flammen. Als sie sich dann von ihrem Platz erhob, blickte sie nochmals zu Taró und sah ein Stück des Briefes unter der Decke hervorragen. Ohne darüber nachzudenken, was sie tat, schlich sie sich leise zu ihrem Freund, der mit angespanntem Gesicht auf der Seite lag und schlief. Die junge Frau ging neben seinem Kopf auf die Knie, zog das Schreiben hervor und hockte sich dann wieder vor das Feuer. Lange blickte Syreene auf den Brief hinunter, bis sie schließlich nach einem tiefen Atemzug das Siegel mit ihrem Dolch zerbrach.

In dieser Nacht fand Syreene keinen Schlaf.
 

Das Feuer war längst ausgegangen und nur noch die Asche glühte leicht vor sich hin. Einzelne Vögel kreisten am grauen Himmelszelt, während die Sonne von den dunklen Wolken verdeckt wurde. Ein frischer Wind fegte durch die wenigen Bäume.

Syreene lag mit offenen Augen auf ihrem Nachtlager. Die Arme hatte sie um den warmen Körper neben sich geschlungen und kuschelte sich näher an das weiche Fell, als ein kalter Windhauch sie streifte. Mit einem stockenden Schnarchen erwachte Môrien aus seinem Schlaf. Mühsam setzte er sich auf seinem Lager auf und reckte beide Arme in die Luft. Dabei stieß der Zwerg ein langes und lautes Gähnen hervor, das Taró erwachen ließ. Langsam öffnete er seine Augen und blickte direkt in die von Syreene.

"Es wird bald zu regnen anfangen", brummte Môrien und betrachtete die Wolken über sich. Er fachte dann das Feuer wieder an und nahm sich anschließend einen Kanten Brot aus dem Beutel. Syreene setzte sich langsam auf und schlang sich ihre Decke um die Schultern. Mit angezogenen Beinen, die sie fest umschlossen hielt, starrte sie blicklos vor sich hin. Ghost, der bisher vor sich hingedöst hatte, hob bei der Bewegung seiner Freundin den Kopf und schmiegte sich enger an ihre Seite. Derweil hatte sich auch Taró von seinem Platz erhoben und sich zu Môrien ans Feuer gesellt.

"Nun", sprach Môrien, "wohin gehen wir als nächstes?"

"Wir müssen nach Castle Shelter", antwortete Syreene ausdruckslos und zog dabei die Aufmerksamkeit auf sich.

"Nein!", widersprach Taró bestimmt. "Jemand anderer wird das Schreiben überbringen."

"Das geht nicht!"

Syreene erhob sich kopfschüttelnd von ihrem Platz und trat auf den Freund zu. An dessen Seite kniete sie sich auf die taufrische Erde und legte eine schmale Hand auf sein Bein, wobei sie mit der anderen Hand den Brief aus ihrer Weste zog. Taró sah das zerbrochene Siegel sofort und verengte erbost die Augen. Môrien, der gerade einen Schluck Wasser aus einer Flasche genommen hatte, verschluckte sich prompt bei dem Anblick des Briefes.

"Du hast es geöffnet?", keuchte er fassungslos, bestrebt wieder zu Atem zu kommen.

"Ich musste es tun", wehrte sich Syreene mit fester Stimme. "Dieser Bote hatte mich so eindringlich angesehen, während gleichzeitig ein ängstlicher Ausdruck in seinen Augen gelegen hatte, so, als wenn er befürchtete, ich würde seiner Bitte nicht nachkommen. Ich musste den Grund dafür erfahren. Und außerdem dürfte es euch doch auch gewundert haben, warum der Mann ein Kalbblut geritten hatte."

Die Hand, die das Schreiben hielt, zeigte auf den Hengst, der ruhig neben dem Baum stand.

"Und du glaubst", sprach Taró mit vor Wut unterdrückter Stimme, "das gibt dir die Erlaubnis eine königliche Nachricht zu lesen?"

"Aber was steht denn in dem Brief?", fragte Môrien neugierig, unbekümmert ob der Spannung zwischen seinen beiden Freunden, und beugte sich stattdessen eifrig auf seinem Platz vor, damit ihm auch kein Wort entging.

"Etwas geschieht im Norden", sprach Syreene mit düsterer Stimme weiter. "Königin Brianna bittet den Hawk um Beistand."

In Gedanken schüttelte Taró resigniert den Kopf, während sich die Muskeln unter Syreenes Hand anspannten. Er war wütend auf ihr eigenmächtiges Handeln, das sie dazu getrieben hatte, nicht nur ein königliches Siegel zu öffnen, sondern auch noch eine Botschaft zu lesen, die nicht für ihre Augen bestimmt war. Dies konnte sie und Môrien in Gefahr bringen. Aber was sollte er tun?

"Erzähl weiter", forderte er grimmig die junge Frau auf.

"Brianna schreibt, dass der Kontakt zu den Hara´kaas seit mehreren Monden abgebrochen sei. Und auch der zu Mombriar Eisenhammer."

"Und deswegen der ganze Aufwand?", murrte Môrien enttäuscht. "Deshalb muss die gute Frau doch nicht um Beistand bitten."

"Sei still, mein Freund", unterbrach ihn Taró. "Es ist sicher mehr an der Sache dran, als wir bis jetzt wissen."

Syreene nickte ihm bestätigend zu, als er seine Augen wieder auf ihr Gesicht richtete.

"Sie schreibt weiter, dass sie mehrere Kundschafter ausgesandt hatte, die aber bis jetzt nicht wieder zurückgekehrt sind. Des Weiteren hat sie Nachrichten erhalten, in denen berichtet wird, dass die Tiere verschwinden."

"Das musst du mir näher erklären", mischte sich Môrien wieder ein und machte ein verwirrtes Gesicht. "Wie meinst du das, dass die Tiere verschwinden?"

"Sie verlassen Forest Green. Die Adler sind weg. Bären und Hirsche haben bereits zu einem großen Teil das Land auch schon verlassen. Pferde, Schafe und Rinder sind so nervös, dass sie versuchen aus ihren Ställen auszubrechen. Die Bauern können die Tiere nicht mehr auf die Weiden lassen, weil sie befürchten, dass sonst ihr Vieh abhaut."

Ratlos schaute der Zwerg jetzt Taró an.

"Das ist wirklich beunruhigend", meinte Môrien schließlich, nachdem sein Freund weiter schweigend ins Feuer starrte. "Syreene hat Recht. Wir müssen den Brief nach Castle Shelter bringen. Die Gefahr, dass der Brief verloren geht, ist zu groß."

"Hat der Bote etwas über die Verfolger gesagt?"

Ohne auf die Worte des Zwerges einzugehen, ging Taró in Gedanken die Möglichkeiten durch, die ihnen zur Verfügung standen. Irgendwie musste er es schaffen SIE zu benachrichtigen und gleichzeitig einen Weg finden seine Freunde vor Schaden zu bewahren. Aber wie sollte er das bewerkstelligen? Sie wussten jetzt schon zuviel.

"Nichts", antwortete Syreene auf Tarós Frage hin. "Er sagte nur, dass sie nah seien."

"Entweder will jemand verhindern, dass der Hawk von der Sache in Forest Green unterrichtet wird", sagte Môrien und zupfte nachdenklich an seinem Bart. "Oder aber der Bote wurde nur von Straßenräubern überfallen, woraufhin er in dem vermeintlichen Glauben lag, er würde verfolgt."

"Wenn ersteres zutrifft", griff Syreene den Gedankengang des Freundes auf, "würde das bedeuten, dass jemand genau weiß, was vor sich geht."

"Und gleichzeitig bedeutet dies auch, dass wir in Gefahr sind."

Mit grimmigem Gesicht erhob sich Taró von seinem Platz, wobei die Hand, die die ganze Zeit über auf seinem Bein gelegen hatte, herunterrutschte. Er schaute nach oben in den dunkel verhangenen Himmel, als ob dort oben seine Fragen beantwortet werden würden. In der Ferne ertönte das leise Grummeln eines Donners und wie zur Antwort fielen auch schon die ersten Regentropfen.

Syreene sprang auf und lief eilig zu ihrem Schlafplatz. Neben ihrer Decke lag ein zusammengerolltes Bündel, das ihre wenigen Habseligkeiten enthielt. Den beiden Männern den Rücken zugewandt, die mit diskreten Blicken wegschauten, entledigte sich die junge Frau ihrer Weste und zog aus dem Bündel ein verblichenes Leinenhemd sowie ein dunkelbraunes Lederwams. Nachdem Syreene sich die beiden Sachen übergestreift hatte, flochtete sie sich schnell einen Zopf und legte sich einen grauen Umhang aus Schafswolle um, der sie vor dem stärker werdenden Regen schützte. Anschließend packte sie ihre Sachen zusammen und verschnürte sie in ihr Bündel. Derweil hatte Môrien den Essensbeutel und die Wasserflaschen eingesammelt und rollte jetzt die verbliebenen Decken zusammen. Währenddessen hatte Taró den Hengst gesattelt, der, durch die Anspannung der Gefährten, aufgeregt mit den Vorderhufen in der Erde scharrte. Nachdem der Waldläufer das durch den Regen kleiner werdende Feuer gelöscht hatte, schulterte er seinen Langbogen. Gemeinsam gingen die Freunde dann schweigend den Weg entlang, auf dem Syreene in der letzten Nacht zum Lager gekommen war, und die jetzt den Rappen an den Zügeln führte.

Nach etwa einem Sonnenwegsalter, in dem die Gefährten im strömenden Regen gelaufen waren, gab Taró ihnen ein Zeichen stehen zu bleiben. Er senkte den Kopf und atmete einmal kurz tief ein, so, als wenn er für die nächsten Worte Kraft schöpfen müsste. Lange schaute er dann Syreene an, die mit fragenden Augen in sein regennasses Gesicht blickte. Schließlich wendete der Waldläufer seinen Blick von ihr ab und sah in die weite Ferne, die sich vor ihnen erhob. Mit leerer Stimme, bar jeglicher Gefühle, begann er seinen beiden Freunden seinen Plan zu erklären.

"Da wir nicht wissen, ob der Bote wegen des Briefes getötet wurde, halte ich es für das Beste, wenn sich unsere Wege ab hier trennen und sich jeder auf einer anderen Strecke nach Castle Shelter begibt."

"Verstehe", meinte Môrien und nickte anerkennend mit dem Kopf. "Dadurch wird die Nachricht auf jeden Fall beim Hawk ankommen. Du wirst dir sicherlich auch schon überlegt haben, wer auf welchem Wege in die Stadt kommen soll."

"Das habe ich", sagte Taró und sah seinen Freund an. "Wir beide gehen zurück zur Straße. Ich möchte sehen, ob der Bote dort noch liegt."

"Nein!" Syreene schüttelte den Kopf. "Du willst nach möglichen Hinweisen auf Verfolger suchen."

Taró konnte sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen. Er vergaß immer wieder, was für ein kluger Kopf auf den Schultern seines Schützlings saß, und dass er nur selten seine Gefühle vor ihr verbergen konnte.

"Ja, das will ich", stimmte der Waldläufer Syreene zu. "Aber ob ich da nun etwas finde oder nicht, Môrien wird jedenfalls der Straße zur Stadt folgen. Niemand wird vermuten, dass ein Zwerg wichtige Informationen bei sich hat. Ich werde mich währenddessen eine Weile nach Süden durchschlagen und dann über einen weiten Bogen nach Shelter gehen. Du musst mir jetzt gut zuhören, Syreene."

Zum Zeichen des Verstehens nickte sie ihrem Freund einmal kurz zu.

"Du nimmst den Hengst", sprach Taró dann weiter, doch jetzt mit eindringlicher Stimme, "und reitest solange nach Westen, bis du auf den Fluss 'Blue Stones' triffst. Wenn du seinem Verlauf flussaufwärts folgst, kommst du nach etwa ein, zwei Tagen zu einem Hof. Der Bauer dort kennt mich. Sage ihm, dass ich dich geschickt habe. Er soll dir den schnellsten Weg nach Castle Shelter erklären. Frage ihn auch nach etwaigen Personen, die auf der Suche nach jemandem oder etwas sind. Hast du alles verstanden?"

"Ja!", war alles, was die junge Frau sagte.

"Gut. In Castle Shelter gibt es ein Gasthaus mit dem Namen 'Die rote Krone'. Sobald einer von uns die Stadt erreicht hat, begibt sich derjenige sofort dorthin. Trifft er keinen von uns an, geht er sofort zum König und berichtet ihm von dem Schreiben. Sofern ihr keine anderen Befehle vom Hawk erhaltet, kehrt ihr zum Gasthaus zurück. Das Schreiben und den Ring werde ich an mich nehmen. Das ist sicherer für dich, Syreene. Ich möchte nicht, dass dir deswegen ein Leid geschieht, nur weil jemand die Sachen bei dir vorfinden könnte."

Während Syreene die beiden Gegenstände ihrem Freund gab, wollte Môrien wissen, wie lange sie sich in der Stadt aufhalten sollten.

"Zehn Tage nach eurer Ankunft. Solltet ihr jedoch eine Aufgabe vom König bekommen, hinterlasst eine Nachricht im Gasthaus. Wenn nicht und die zehn Tage verstreichen, ohne dass wir wieder vereint sind, dann rechnet mit dem Schlimmsten."

Syreene ließ bei diesen Worten die Zügel des Pferdes los und ging mit feuchtschimmernden Augen und schweren Herzens auf den Waldläufer zu. Dicht vor ihm stehen bleibend, legte sie ihre Arme um seinen Hals und bettete ihren Kopf an seiner Schulter. Taró umschlang den schmalen Körper mit beiden Armen und drückte ihn fest an sich. Er spürte, wie sie tief die Luft einsog, um seinen Geruch nach Wiesen und Felder und dem ihm eigenen herben Duft nach Freiheit einzuatmen. Er konnte nur erahnen, wie schwer es der jungen Frau fiel von ihm Abschied zu nehmen. Von dem Augenblick an, als sie damals ihre kleine Hand in die seine gelegt hatte, waren sie nicht ein einziges Mal länger als für ein paar Sonnenwegsalter getrennt gewesen. Und jetzt sollte dies für mehrere Tage, wenn nicht gar für immer, der Fall sein. All die Jahre über war er Vater, Bruder und Freund in einem für sie gewesen und doch hatte Taró sie nie auf diesen Tag vorbereitet, an dem Syreene allein in die Welt hinaustreten musste. Aber sie ist nicht allein, dachte er, dessen Blick auf Ghost fiel. Dieser saß mit hängenden Ohren neben Môrien und jaulte leise, ob der tiefen Traurigkeit, die seine Gefährtin erfüllte.

Nach einer Weile löste sich Syreene von ihrem Freund und blickte ihm ins Gesicht. Sie wollte sich noch ein letztes Mal seine Gesichtszüge einprägen. Und so ließ sie ihre Augen über die kleinen, grauen Härchen an seinem Stirnansatz wandern, an denen sie sicherlich mit Schuld trug, durch allerlei Unfug, den sie als kleines Mädchen getrieben hatte, hinüber zu den sanften blauen Augen mit den kleinen Fältchen in den Augenwinkeln. Nur zu gut wusste Syreene wie eisig die Augen werden konnten, wenn Taró wegen einer ihrer Dummheiten wütend wurde. Dann betrachtete sie die gerade Nase mit dem kleinen Höcker auf dem Rücken. Taró hatte ihr einmal erzählt, dass er mal in einer Schlägerei verwickelt war, als er noch für den damaligen König gedient hatte. Bei dem Kampf hatte man ihm die Nase gebrochen und der Knochen war seitdem nicht richtig zusammengewachsen. Dann fiel ihr Blick auf die schmalen, zusammengepressten Lippen, deren Mundwinkel meist nach unten verzogen waren, wenn er an seine Familie dachte, aber dennoch stets ein Lächeln für sie übrig hatten.

Eine Träne löste sich aus ihrem Augenwinkel und Taró fing diese mit seinem Daumen auf, bevor sie an der rosigen Wange herunter laufen konnte. Syreene schloss die Augen und schmiegte ihr Gesicht an die kräftige, von Schwielen überzogene Hand, die so oft schon zärtlich Wunden und Kratzer auf ihrer Haut versorgt hatte.

"Ich brauche dich!"

Taró war nicht sicher, ob er die gehauchten Worte richtig verstanden hatte. Doch bevor er noch etwas sagen konnte, hatte sich Syreene schon umgedreht und lief auf den Hengst zu, der noch an der gleichen Stelle stand, wo die junge Frau ihn zurückgelassen hatte. Mit einem Satz zog sie sich in den Sattel und hieb ihre Fersen in die Seite des Pferdes. Ohne sich noch einmal umzusehen, galoppierte Syreene davon.

Eine Begegnung im Walde

Das Wetter war nicht besser geworden. Regenschwere Wolken zogen am Himmelszelt vorbei und die Sonne ließ sich schon seit drei Tagen nicht mehr blicken. Dann und wann ertönte über den Reisenden das tiefe Dröhnen eines Donners. Die Erde war von dem ständig anfallenden Regen aufgeweicht und Syreene hatte Mühe nicht immer mit den Füßen im weichen, schlammigen Untergrund stecken zu bleiben. Schuhe und Hose waren klamm und durchnässt und auch der Umhang, der das dunkle Grau der Wolken angenommen hatte, konnte die Feuchtigkeit nicht mehr länger abhalten.

Vor zwei Nächten hatte die Gruppe den Blue Stones erreicht und seitdem liefen sie an seinem Flussbett entlang. Da der Hengst am Vortag ein Eisen an seinem rechten Hinterlauf verloren hatte, führte Syreene ihn seitdem an den Zügeln. Sie wollte dem müden Pferd, das mit gesenktem Kopf und tropfnasser Mähne neben ihr herstolperte, nicht noch mehr zumuten. Das schwarze Fell des Tieres war an den Beinen und am Bauch unter all dem Schlamm und Dreck nicht mehr zu erkennen. Ghost, der links neben seiner Gefährtin hertrottete, erging es mit seinem stark verschmutzten Haarkleid nicht anders, so dass er jetzt mehr Ähnlichkeit mit seinen Artgenossen hatte.

Als der Wind an Stärke zunahm und ein eisiger Hauch über Syreene hinweg stob, zog sie den Mantel enger um die Schultern und die Kapuze tiefer ins Gesicht. So liefen sie noch einige Meilen weiter, bis Syreene in der Ferne einen hellen Lichtschein ausmachte, das aus einem sich in der hereinbrechenden Nacht dunkel erhebenden Gebäude kam. Die junge Frau seufzte erleichtert auf. Dies musste der Bauernhof sein, von dem Taró gesprochen hatte, dachte sie.

Beim Näher kommen bemerkte Syreene, dass der Hof aus drei Gebäuden bestand. Im Mittelpunkt stand das aus Lehm und Stein angefertigte Hauptgebäude, in dem die Bauernfamilie mit ihrem Gesindel wohnte. Flankiert wurde das Haus von zwei großen, länglichen Ställen, in denen das Vieh, vorwiegend Rinder und Schweine, sowie Pflüge und Fuhrwerke untergebracht waren. Eine niedrige Steinmauer mit einem breiten Gatter zur Straße hin umschloss den ganzen Hof.

Syreene gab dem Wolf ein Zeichen sich zu verstecken und trat auf das Gatter zu. Unter einem der Fenster, in der Nähe der hölzernen Tür, stand eine kleine Hundehütte, vor der ein mittelgroßer Mischlingsrüde schlief. Von dem dumpfen Klappern der Hufen geweckt, sprang der Hund von seinem Platz auf. Als er Syreene entdeckte, fing er an zu bellen und versuchte sich gleichzeitig von seiner Leine loszureißen. Glücklicherweise konnte der Mischling den Höllenwolf nicht riechen, so dass die junge Frau beruhigt war. Sie wusste, wie die Leute auf einen Karach´nak reagierten.

Nachdem Ghost ausgewachsen war und man in ihm den Höllenwolf erkannte, konnte Syreene ihn in kein Dorf und in keine Stadt mehr mitnehmen. Anfangs hatte die junge Frau es versucht, aber jedes Mal bekamen sie die gleiche Reaktion der Leute zu spüren. Frauen und Kinder sind schreiend weggelaufen, während die Männer zu allen möglichen Waffen wie Heugabeln, Beile und Ähnliches gegriffen hatten und sie damit wegjagten. Seitdem achtete Syreene darauf, dass man sie nicht mit dem Wolf zusammen sah.

Die Tür des Bauernhauses öffnete sich und ein kleiner untersetzter Mann mit einem grauen Schnauzer und schütterem Haar stand unter dem Türbogen. Neugierig geworden durch das Gebell des Hundes, der auf ein Zeichen des Bauern mit dem Gekläff aufhörte, wollte der Mann dem Grund für den Lärm nachgehen. Als sein Blick auf die völlig durchnässte Gestalt fiel, die vor dem Gatter stand, und er nur eine dunkle Silhouette ausmachen konnte, verengten sich seine Augen vor Misstrauen.

"Taró, der Waldläufer, schickt mich", kam es, das Prasseln des Regens übertönend, klar aus der Tiefe der Kapuze hervor. Durch den vertrauten Namen beruhigt, entspannte sich der Körper des Mannes und ein freudiges Lächeln erhellte sein Gesicht.

"Tretet näher", rief er laut und winkte die Gestalt näher. Während Syreene das Gatter öffnete und den Hengst hindurch führte, drehte sich der Bauer in das Innere des Hauses um und sagte etwas. Nach nur wenigen Augenblicken stand ein kleiner Junge mit Blondschopf von vielleicht elf Sommern neben dem Mann.

"Dies ist mein Sohn Tom", sagte der Bauer, der eine Hand auf der zerbrechlich wirkenden Schulter des Jungen gelegt hatte, nachdem die junge Frau zu ihm getreten war. "Er wird sich gut um Euer Ross kümmern."

Syreene reichte Tom, der jetzt näher gekommen war, die Zügel und er führte das Pferd in einen der Ställe.

"Es hat ein Eisen am Hinterlauf verloren", sagte sie, als der Bauer ihr mit einer Geste bedeutete ins Haus einzutreten. Mit einem Nicken gab er ihr zu verstehen, dass er ihre Worte vernommen hatte. Syreene trat mit ein paar Schritten in den Raum hinein, der sich als Küche und Aufenthaltsraum erwies. Auf der rechten Seite sah sie an der Wand einige niedrige Schränke, eine Spüle mit einer verrosteten Pumpe sowie eine Kochstelle. Davor war ein kleiner Holztisch, auf dem sich dreckiges Geschirr stapelte und Überreste eines Abendmahles lagen. Hinter dem Tisch stand eine Frau mittleren Alters, die gerade dabei war Wasser in die Spüle einzulassen. Sie trug ein verblichenes blaues Leinenkleid, darüber eine fleckige Schürze, an der sie sich die Hände abwischte, als sie den Besuch eintreten sah. An der gegenüberliegenden Wand befand sich ein massiver Kamin, in dem munter ein Feuer vor sich hin loderte und eine angenehme Wärme verbreitete. Syreene stellte sich davor, streifte sich die Kapuze vom Kopf und streckte dann beide Arme zum Feuer hin aus, während sie sich weiter im Raum umsah. Dabei bemerkte sie an der Nordwand drei weitere Personen, die an einem großen Tisch saßen und sie beobachteten: eine junge Magd, ein kleines Mädchen von etwa sechs Sommern und einen Mann, der im selben Alter wie Syreene sein mochte. Dieser war damit beschäftigt einige Messer von verschiedener Größe zu schleifen. Die Magd hatte neben sich auf dem Tisch einige Kleidungsstücke liegen, um sie zu flicken und auszubessern. Das Mädchen jedoch, das neben dem Mann saß, schaute die Fremde aus großen Augen an. Sie hielt in ihren Armen eine leicht zerrissene Stoffpuppe ohne Gesicht, während sie an einen ihrer Daumen lutschte.

Die Bäuerin stellte einen kleinen Schemel vor dem Kamin.

"Legen Sie Ihren Umhang darauf ab", sagte diese mit freundlicher Stimme. "Und setzen Sie sich ruhig an den Tisch. Ich werde Ihnen einen heißen Becher mit Schokolade machen und Ihnen von den Resten unseres Essens geben."

"Edward", rief der Bauer, während Syreene ihren Umhang löste und ihn auf dem Schemel ausbreitete. Der junge Mann am Tisch schaute von seiner Arbeit auf.

"Das Pferd unseres Gastes hat ein Eisen verloren. Geh, und kümmere dich darum."

Nickend erhob sich Edward von seinem Platz und ging mit langen Schritten hinaus. Derweil hatte die Magd ihre Arbeit zur Seite gelegt und half der Bäuerin einen Teller mit Kartoffeln, zarten Schweinefleisch, etwas Brot und viel Soße vorzubereiten. Syreene stellte ihre restlichen Sachen in der Nähe der Tür auf den Boden und lehnte den Bogen daneben an die Wand. Danach ging sie zum Tisch und setzte sich gegenüber dem kleinen Mädchen hin, während der Bauer sich am Kopfende niederließ.

"Wie heißt dein Pferd?", nuschelte das Mädchen mit heller Stimme, ohne von ihrem Daumen abzulassen. Syreene musste bei diesem Anblick lächeln.

"Ich weiß nicht", antwortete sie freundlich. "Ich habe ihm keinen Namen gegeben."

Die Bäuerin stellte den Teller mit Essen und einen dampfenden Becher vor den Gast. Nickend bedankte sich Syreene bei der Frau und legte ihre noch etwas kalten Finger um den warmen Becher. Zusammen mit der Magd begann die Bäuerin daraufhin das Geschirr abzuwaschen.

"Mein Name ist Boris Vanderhof", stellte sich der Mann vor.

"Ich bin Syreene."

"Ich habe Taró schon lange nicht mehr gesehen", sagte Boris. "Wie geht es ihm?"

Als Taró noch in den Diensten des Königs gestanden hatte, hatte er auf seinen Reisen immer an dem Hof halt gemacht. Er war ein gern gesehener Gast gewesen. Doch nach seinem Racheakt hatte er die Bauernfamilie nie wieder besucht. Hin und wieder hatte Boris von Leuten gehört, die den Waldläufer gesehen hatten, wenn dieser an einem Dorf vorbei kam.

"Als ich ihn verlassen hatte, ging es ihm gut."

Syreene nahm sich ein Stück Brot, das sie in die Soße tunkte.

"Es ist bedauerlich", meinte der Bauer unvermutet. Sein Gast sah ihn fragend an.

"Ich weiß nicht, wie gut Ihr Taró kennt, und ob Ihr von seiner Vergangenheit wisst", sprach er weiter. "Aber es ist schade, was aus ihm geworden ist. Ein einsamer, umherstreifender Mann ohne Heim und Familie."

"Ihr habt nur zu einem Teil recht", sagte Syreene. "Gefühlsmäßig ist Taró einsam, aber immer nur dann, wenn er an seine Eltern und seine Schwester denkt. Doch ist er nie allein unterwegs. Ein Freund und ich begleiten ihn auf seiner Wanderschaft. Und ich denke, in uns sieht Taró seine Familie. Jedenfalls sind die beiden dies für mich."

"Red Hawk machte ihm keine Vorwürfe, was damals geschah", meinte Boris. "Taró hätte in die Dienste des Königs zurückkehren können. Und vielleicht kann er dies immer noch."

"Doch dazu müsste Taró es wollen", gab Syreene zu bedenken. "Aber in seinen Augen ist die Tat, die vollzogene Rache, viel zu groß, als dass er zum König zurückkehren könnte. Es muss etwas Schlimmes gewesen sein, das er getan hat. Taró hatte mir zwar erzählt, was seiner Familie zugestoßen war, und auch, dass er die Schuldigen ausgemacht und getötet hatte. Aber er sagte mir nie auf welche Weise."

"Man hatte die Rebellen in ihrem Lager gefunden", sagte der Mann leise. "Taró hatte sich wahrscheinlich an jeden einzelnen von ihnen herangeschlichen und sie bewusstlos geschlagen. Dann hatte er sie gefesselt und sie in der Mitte des Lagers aufgestellt. Ich kann mir nicht mal annähernd vorstellen, was in ihm vorgegangen sein muss. Aber es muss gewaltig gewesen sein. Es waren dreizehn Männer und alle wiesen Brandspuren auf. Diejenigen von ihnen, die nicht durch die Verbrennungen starben, die verloren Körperteile ... und verbluteten."

Daraufhin saßen sie eine ganze Weile schweigend am Tisch. Die Bäuerin hatte sich während des Gespräches mit dazu gesellt und nähte mit schnellen Fingern die Kleidungsstücke weiter. Die Magd war derweil in die hinteren Räume verschwunden, zu denen man durch eine Tür neben dem Kamin gelangte.

Nein, dachte sich Syreene. Es war nicht das Gefühl von Scham eine solche Tat vollbracht zu haben, das Taró von seinem Dienst abhielt. Sondern Furcht vor dem, zu was er werden konnte, und Angst, dass dies noch einmal geschieht.

"Shadow", murmelte das kleine Mädchen und riss die junge Frau aus ihren Gedanken.

"Was sagtest du?", fragte Syreene neugierig.

"Dein Pferd", meinte die Kleine, nachdem sie ihren Daumen aus dem Mund genommen hatte. "Es sollte Shadow heißen."

"Meinst du?" Syreene machte ein ernstes Gesicht und tat so, als wenn sie nachdächte. "Mein Pferd ist wirklich so schwarz wie ein Schatten. Der Name würde also passen. ... Warum nicht? Gut, ab sofort nenne ich mein Pferd 'Shadow'."

Das Kind lachte begeistert laut auf und klatschte in die Hände. Dabei bemerkte Syreene ein kurzes Aufblitzen an einen der Finger des Mädchens.

"Du hast da aber einen schönen Ring", bemerkte die junge Frau. Boris runzelte verstimmt die Stirn, während seine Frau resigniert den Kopf schüttelte.

"Habe ich dir nicht gesagt, du sollst den Ring in der Kiste lassen?", fragte der Bauer böse.

"Aber er glitzert doch so schön", meinte das Mädchen kleinlaut.

"Darf ich ihn mir mal etwas näher ansehen?", fragte Syreene. Froh darüber weitere Schimpftiraden ihres Vaters zu entgehen, zog die Kleine den goldenen Reif von ihrem Finger und legte ihn der Fremden in die offene Hand. Syreene betrachtete den Ring. Ein seltsames Auge, das von einem Kreis umgeben war und merkwürdige Zeichen darin eingraviert waren.

"Woher habt Ihr ihn?", fragte Syreene neugierig den Bauern.

"Von dem Mann", antwortete das Mädchen wichtigtuerisch.

"Du meinst Edward?"

"Nein", sagte die Kleine und schüttelte ihre kurzen blonden Locken. "Der, ohne Gesicht."

Syreene blickte ratlos den Vater des Kindes an. Sie wusste nicht, was sie von den Worten der Kleinen halten sollte. Ein Mann ohne Gesicht?

"Vor zwei Tagen kamen zwei merkwürdige Gestalten auf meinen Hof", erklärte Boris sichtlich widerstrebend. "Einer von ihnen hat vermutlich den Ring verloren."

"Was meint Ihr mit merkwürdig?"

Aufmerksam geworden durch die Worte des Mannes hakte Syreene nach. Eine dunkle Vorahnung stieg in ihr auf und ein leiser Schauer, den sie nur mit Mühe unterdrücken konnte, kroch an ihrem Rücken hinauf. Die junge Frau erinnerte sich an die Worte Tarós sich nach möglichen Verfolgern zu erkundigen.

"Ich weiß nicht, was das für Leute waren", sprach der Mann weiter. "Sie trugen seltsame Kleidung: rotschwarz, lang und weit ausfallend. Ich dachte erst, sie wären Magier, aber dann sah ich bei einem von ihnen unter dem Mantel etwas Metallisches aufblitzen, das für mich nach einem Kettenhemd aussah. Und dann bemerkte ich auch Schwerter an ihrer Seite. Ich habe noch nie von einem Magier gehört, der ein Schwert zu führen weiß."

"Wollten sie etwas Bestimmtes?", fragte Syreene.

"Sie waren auf der Suche nach einer Person", antwortete der Bauer, der aufmerksam die Reaktionen seines Gastes beobachtete. "Angeblich hat sie etwas in ihrem Besitz, das nicht ihr gehört."

"Was meinte Eure Tochter mit 'Der, ohne Gesicht'?"

"Die beiden Männer hatten ihre Gesichter verhüllt. Nur die Augen waren zu sehen. Dadurch erkannte ich auch, dass die Augenpartie der größeren Gestalt vollkommen behaart war. Entweder gehört sie dem Klan der Katzen oder dem Klan der Bären an. Bei der anderen Person bin ich mir nicht sicher."

"Haben sie Ihnen auch gesagt, was die gesuchte Person in ihrem Besitz hat?", wollte Syreene wissen.

"Nein, das haben sie nicht. Aber ich denke, dass Ihr es wisst."

"Ja, vermutlich", sagte sein Gast vage. Syreene war kaum überrascht von den Worten des Mannes. Die Tatsache, dass der Bauer in so kurzen Abständen fremden Besuch bekommen hatte, ließ nur wenig Platz für Spekulationen. Lange Zeit schaute Syreene das kleine Mädchen nachdenklich an, dass ihre Arme auf den Tisch gelegt hatte und, mit ihrem Kopf darauf, eingeschlafen war. Die Puppe hatte sie neben sich gelegt. Die Kerze auf dem Tisch flackerte leicht, als die Tür des Hauses geöffnet wurde und Edward und Tom eintraten. In ihren Haaren hingen kleine Regentropfen, die im Schein des Feuers wie Perlen glitzerten.

"Ihr solltet jetzt schlafen gehen", meinte die Bäuerin schließlich. "Ihr habt wahrscheinlich einen langen Weg hinter Euch. Karsi wird sicher schon ein Lager für Euch vorbereitet haben."

"Ich danke Euch für Eure Gastfreundschaft", sagte Syreene, "aber ich muss Euer Angebot leider ablehnen. Wenn diese Männer wirklich nach mir suchen, dann bringt meine Anwesenheit in Eurem Haus Euch und Eure Familie in Gefahr."

"Ist es wahr, was die Männer gesagt haben?", fragte der Boris besorgt. "Habt Ihr etwas, dass nicht Euch gehört?"

"Ich kann Euch nicht sagen, um was es dabei geht", antwortete sie bedauernd. "Aber ich bin auf dem Weg nach Castle Shelter zum König, um ihn davon zu unterrichten. Taró meinte, ich solle Euch nach dem kürzesten Weg zur Stadt fragen. Könnt Ihr ihn mir bitte erklären, damit ich mich unverzüglich wieder auf meinen Weg machen kann?"

"Es gibt einen alten Jägerpfad, der nur noch selten genutzt wird."

Boris war erleichtert. Die Worte der jungen Frau bewiesen, dass sie nichts Unrechtes tat. Daher hätte er sie gerne überredet die Nacht in seinem Haus zu verbringen, da die dunklen Ringe unter ihren Augen ihm sagten, dass Syreene die Ruhe hätte gut gebrauchen können. Aber instinktiv wusste der Mann, dass er sie nicht umstimmen konnte. Und so erklärte er ihr, wie sie nach Castle Shelter gelangen konnte.

"Reitet die Straße vor meinem Hof einige Meilen hinauf, bis ihr einen alten Weidenbaum seht. Ihr könnt ihn gar nicht verfehlen, da er hier in der Gegend der einzige seiner Sorte ist. Hinter diesem Baum beginnt der Pfad, doch müsst ihr genau hinsehen. Er ist zu einem Großteil von den Wildpflanzen überwuchert. Wenn Ihr dem Pfad folgt, gelangt Ihr direkt zur Stadt."

"Ich danke Euch", nickte Syreene. "Kann ich Euch noch um einen weiteren Gefallen bitten?"

"Aber sicher", bekräftigte der Mann.

"Sollten diese Männer wieder kommen und Euch erneut befragen, dann erzählt ihnen alles über mich."

"Das kann ich nicht tun!", rief Boris erschrocken aus, während die anderen am Tisch vor Überraschung aufkeuchten.

"Ihr müsst!", sagte Syreene mit kräftiger Stimme. "Jemand aus Eurer Familie oder Ihr selbst könntet unabsichtlich etwas verraten. Ich befürchte, dass diese Männer sehr gefährlich sind. Wer weiß, was sie Euch antun würden, wenn sie glauben, dass Ihr etwas vor ihnen verheimlicht. Und ich möchte nicht, dass Eure Kinder ohne Vater aufwachsen müssen."

"Soll ich ihnen dann auch verraten, wohin Ihr unterwegs seid?", wollte der Mann wissen. Es rührte ihn, dass sein Gast um das Wohl seiner Familie besorgt war und versprach sich selbst, den Männern, sofern sie zurückkehren sollten, nichts von der jungen Frau zu verraten.

"Sagt ihnen nur, dass ich nach Süden weiter gezogen bin, aber Euch kein Ziel genannt habe. Doch jetzt werde ich mich wieder auf den Weg machen."

"Edward wird Euer Pferd satteln", sprach der Bauer. Noch bevor er seinen Satz beendet hatte, war der junge Mann auch schon zur Tür gegangen. Syreene stand von ihrem Platz auf und löste einen kleinen Beutel von ihrem Gürtel. Bevor sie ihn auf den Tisch legte, wog sie ihn in ihrer Hand. Ein leises, dumpfes Klimpern war aus dem Inneren zu hören.

"Dies ist alles, was ich habe", sprach sie zu Boris, der sich ebenfalls von seinem Platz erhoben hatte. "Es ist nicht viel, aber dennoch möchte ich mich für Eure Gastfreundschaft bedanken."

Während Syreene auf den Kamin zuging und sich den mittlerweile trockenen Umhang umlegte, griff der Bauer nach dem Geldbeutel und den Ring, den sein Gast auf den Tisch gelegt hatte. An der Wand neben der Eingangstür schulterte sich die junge Frau ihr Bündel und den Bogen auf den Rücken. Bevor sie jedoch die Tür öffnen konnte, hielt der Bauer sie zurück.

"Nehmt den Beutel wieder zurück", bat er. Syreene schaute ihn überrascht an.

"Obwohl Ihr einen langen Weg hinter und auch vor Euch habt, Ihr und Euer Pferd müde und erschöpft seid und in meinem Haus ein Lager für Euch bereit steht, wollt Ihr dennoch weiterziehen, nur um meine Familie zu beschützen. Dies alleine ist für mich Dank genug. Nehmt also das Gold wieder zurück und auch diesen Ring. Vielleicht kann König Hawk mehr mit ihm anfangen als ich."

Mit diesen Worten drückte der Bauer die beiden Sachen in die Hand der jungen Frau. Jetzt kam auch die Bäuerin auf Syreene zu, die zwischen ihren Händen ein kleines gefülltes Tuch hielt.

"Ich habe Euch etwas zu Essen darin eingewickelt", sprach die Frau lächelnd. Bevor Syreene das Geschenk an sich nehmen konnte, streifte sie sich den Ring auf einen Finger und befestigte den Geldbeutel wieder an ihrem Gürtel. Danach nickte sie der Bäuerin zum Dank, und auch zum Abschied, zu und trat in die Nacht hinaus. Ein leichter Regen hatte wieder eingesetzt, als Edward den Hengst gerade aus dem Stall führte und Syreene die Zügel überreichte. Am Sattelknauf befestigte sie das Bündel mit dem Essen und drehte sich anschließend noch mal zum Haus um. Boris stand zusammen mit Edward an der Tür.

"Ich danke Euch nochmals für Eure Gastfreundschaft", sagte Syreene und verbeugte sich leicht vor dem Mann.

"Ihr seid hier stets herzlich willkommen", sprach dieser freundlich. "Möge das Glück von Felicitas Euch auf Eurer Reise begleiten."

Nach diesen Worten drehte sich Syreene um. Während sie sich die Kapuze überstreifte, führte sie den Hengst zur Straße. Dort stieß die junge Frau einen kleinen, hohen Pfiff aus und wandte sich dann nach links, wie es ihr der Bauer gesagt hatte. Sie war nur wenige Schritte gegangen, als auch schon Ghost an ihrer Seite war. Der Bauer und Edward waren zur Straße gelaufen, nachdem sie einen weißen Lichtblitz vorbeirennen sahen.

"Unglaublich", murmelte Boris und konnte seinen Augen nicht trauen.

"Das ist doch ein Hund, oder?", fragte Edward fassungslos.

"Wir wissen beide, was dies für ein Tier ist", antwortete sein Herr. "Auch wenn wir es nicht glauben wollen."

Er sah Syreene hinterher, die langsam ihren Weg folgte, bis er sie in der Dunkelheit nicht mehr erkennen konnte. Dann ging er wieder zurück ins Haus und erzählte seiner Frau, was er gesehen hatte und noch nicht so recht fassen konnte.
 

Der Regen hatte nachgelassen und die Sonne schob sich jetzt immer öfters vor die Wolken. Syreene merkte, dass der Sommer sich seinem Ende neigte und schon bald würden die Bäume ihre grünen Blätter abwerfen. Der Wind war schwächer geworden und blies jetzt eine milde Brise. Der Weidenbaum, von dem der Bauer gesprochen hatte, hatten Syreene und ihre beiden tierischen Freunde schnell gefunden. Jedoch hatte es lange gedauert den zugewucherten Jägerpfad zu finden. Seit mehr als zwei Tagen folgten sie jetzt schon dem Weg, der abwechselnd durch kleine Wälder und über weite grüne Felder führte.

Am Mittag des zweiten Tages durchquerten sie wieder einen Wald, dessen Namen Syreene nicht kannte. Die junge Frau war auf der Suche nach einem geeigneten Rastplatz, als sie das Rauschen von Wasser hörte. Schon vor einer Weile hatte sie den Höllenwolf auf die Jagd geschickt, da von dem Proviant, den sie von der Bäuerin bekommen hatte, nichts mehr übrig war. Und auch ihre Wasserflasche musste dringend wieder aufgefüllt werden. Und so ging sie jetzt dem Geräusch nach, während sie den Hengst mit sich führte.

Als sie dem Fluss beträchtlich näher gekommen war, hörte Syreene plötzlich neben dem Rauschen des Wassers noch zwei sehr angespannt klingende Stimmen heraus. Daraufhin band sie die Zügel des Pferdes an einen Ast und schlich sich langsam näher an die Stimmen heran. Hinter einem Busch versteckt, spähte die junge Frau durch die Blätter auf den etwa knöcheltiefen Fluss, dessen kristallklare Oberfläche den Himmel über sich widerspiegelte, und sah dabei auf der anderen Seite zwei Männer.

Beide waren hochgewachsen und gut aussehend und strahlten zusätzlich eine anziehende Gefährlichkeit aus, die Syreene frösteln ließ. Ob nun aus Faszination oder Furcht, konnte sie nicht sagen. Der Kleinere der beiden hatte kurzes, braunes Haar, das sich in seinem Nacken in der frischen Brise leicht bewegte. Die Augen waren etwas zusammengekniffen und konzentrierten sich auf einen Punkt vor sich. Das vorgereckte Kinn, das einen kleinen Stoppelbart zeigte, war angespannt und seine kräftigen Hände umfassten ein langes Breitschwert, das er angriffsbereit vor sich hielt. Seine langen, geschmeidigen Beine, die von einer braunen Wildlederhose eng umschmiegt wurden, standen breitbeinig und fest auf dem steinigen Untergrund. Sein Begleiter war nicht weniger kampfbereit. Er stand mit nacktem Oberkörper im Wasser, an dem die Muskeln deutlich hervor traten. Die helle Lederhose wies bis zu den strammen Oberschenkeln feuchte Wasserflecke auf. Die Hände mit den langen, schmalen Fingern hielten einen schussbereiten Kurzbogen und die von feuchten, dunklen Haarsträhnen verdeckten Augen waren fest auf etwas gerichtet, das sich vor ihm befand.

Syreene folgte seinem Blick und keuchte erschrocken auf. Die Vorderbeine weit von sich gestreckt, stand Ghost mit gesträubtem Fell im Wasser. Die Ohren hatte er dicht am Kopf angelegt und die gefährlich scharfen Zähne blitzten in der Sonne auf. Ein tiefes, drohendes Knurren ertönte aus seiner Kehle. Syreene wusste, sie musste jetzt schnell handeln. Mit einem Zucken der linken Schulter rutschte der Langbogen ihren Arm herunter in die offene Hand, während sie gleichzeitig in einer fließenden Bewegung einen der drei Pfeile aus ihrem Köcher herauszog. Anschließend begab sich die junge Frau mit schnellen aber doch leisen Schritten auf gleicher Höhe mit dem Wolf. Syreene legte den Pfeil an und trat langsam aus dem Dickicht heraus.

"Legt eure Waffen nieder!", befahl sie mit lauter und kalter Stimme, während sie auf den Mann mit dem Bogen zielte. Der andere starrte die junge Frau überrascht und mit offenem Munde an. Sein Begleiter jedoch warf nur einen kurzen Blick auf sie und richtete dann seine Aufmerksamkeit wieder auf das Tier.

"Mein Freund wird Eurem Pfeil ausweichen", sagte Syreene überzeugt, die die Entschlossenheit in den Augen des Mannes sah, das Tier töten zu wollen. "Doch frage ich mich, ob Ihr das Gleiche auch von Euch behaupten könnt, wenn ich meinen Pfeil abschieße?"

"Dieses Tier gehört zu Euch?", fragte der Mann mit klarer Stimme.

"So ist es""

"Wird er mich angreifen, wenn ich meine Waffe ablege?"

"Nein, das wird er nicht", antwortete Syreene.

"Also gut", sagte der Mann mit einem tiefen Seufzer und senkte seinen Bogen. Er gab seinem Begleiter ein Zeichen sein Schwert einzustecken. Ghost, der noch den angelegten Bogen seiner Gefährtin bemerkte, entspannte sich sichtlich und gab seine drohende Haltung auf, blieb aber dennoch wachsam.

"Und jetzt verratet mir, wer Ihr seid", verlangte Syreene.

"Es gibt doch tatsächlich noch eine Frau, die dich nicht erkennt", grinste der jüngere Mann. Der Angesprochene schüttelte nur indigniert sein schwarzes Haupt. Ein Zeichen, dass er die Bemerkung seines Begleiters nicht komisch fand. Bei dieser Bewegung fiel Syreene auf, dass es sich bei den grauen Streifen in seinem Haar nicht um Schmutz handelte, wie sie angenommen hatte, sondern um Strähnen. Silberfarbene Strähnen! Erschrocken holte sie tief Luft, ließ ihren Bogen fallen und kniete sich hin.

"Verzeiht mir, mein König", sprach Syreene mit hochrotem Kopf. "Ich habe Euch nicht erkannt."

"Ihr habt einen Freund vor einem Feind verteidigt", sagte Silver Hawk mit samtener Stimme, ging auf der vor ihm knienden Frau zu und hielt ihr eine Hand entgegen. "Da muss ich nichts verzeihen. Und jetzt erhebt Euch bitte. Eure Hose ist schon ganz nass."

Syreene, die mit einer Strafe gerechnet hatte, schaute überrascht in das sanft blickende Gesicht vor sich und ergriff die ihr dargebotene Hand.

"Ihr seid zu gütig, mein König", sagte die junge Frau demütig.

"Bitte", sagte Silver abwehrend. "Seid nicht so förmlich. Mir ist die Person lieber, die sich mir vorhin so mutig entgegen gestellt hatte."

"Euch mag es gefallen haben", meinte Syreene bekümmert, während sich bei seinen Worten erneut eine leichte Röte auf ihre Wangen gelegt hatte. "Aber mein Freund Taró wird mir den Kopf abreißen, wenn er erfährt, dass ich mit dem Bogen auf Euch gezielt habe."

"Taró?", fragte jetzt der jüngere Mann. "Meint Ihr Taró, den Waldläufer?"

"Ja", antwortete die junge Frau eifrig und ihr Herz begann vor Hoffnung schneller zu schlagen. "War er bei Euch? Hat er Euch alles gesagt? Und Euch auch das Schreiben gezeigt?"

"Nein, er war nicht bei mir", sagte Silver und schüttelte seinen Kopf.

"Oh", war alles, was Syreene sagen konnte. Tiefe Traurigkeit erfüllte ihr Herz, und sie ließ niedergeschlagen die Schultern sinken.

"Unser Vater hatte uns von Taró erzählt", sprach der junge Mann hilflos. Er bereute seine Worte von vorhin, da sie wohl in der jungen Frau eine unerfüllte Hoffnung geweckt hatten.

"Dieser junge Heißsporn ist mein Bruder Kid", sprach Silver, während er auf den jungen Mann an seiner Seite zeigte.

Die Suche beginnt

"Was macht Ihr hier im Wald?" fragte Syreene Silver.

Nachdem sie sich gegenseitig vorgestellt hatten, hatte Syreene den Hengst geholt und ging jetzt neben den beiden Männern einen Weg durch den Wald entlang. Sie dankte Casus, dem Gott des Schicksals, für die Fügung den König von Demetris getroffen zu haben. Die junge Frau hatte sich schon besorgt gefragt, ob man sie überhaupt in die Burg hinein gelassen hätte.

"In drei Tagen muss mein Bruder sich auf den Weg nach Aphros machen, um seinen Dienst wieder anzutreten", erklärte Silver. "Meine Zeit wurde in den Tagen seines Urlaubs viel in Anspruch genommen, so dass wir keine Gelegenheit hatten etwas gemeinsam zu unternehmen. Deshalb habe ich mir für heute als König frei genommen. Und hier im Wald werde ich normalerweise nicht gestört."

"Aber du musst zugeben, Bruderherz", mischte sich Kid in die Unterhaltung mit ein, "dass es eine angenehme Störung ist."

Der junge Mann blinzelte Syreene verschmitzt zu und lächelte sie strahlend an. Syreene spürte, dass ihre Wangen warm wurden. Silver lachte leise.

"Nun", begann Silver. "Ihr erwähntet ein Schreiben. Wollt Ihr davon erzählen?"

Syreene nickte und begann daraufhin ihm von dem Tag zu berichten, an dem sie den Boten begegnet war. Sie ließ nichts aus, weder die Worte des Mannes über die Verfolger noch das Gespräch mit ihren Freunden. Leicht beschämt erzählte sie Silver auch von ihrem dreisten Handeln das Schreiben zu öffnen und den Inhalt zu lesen. Kid lachte darüber laut auf, und sein Bruder konnte sich ein belustigtes Lächeln nicht verkneifen. Dieses Verhalten hatte er bei der jungen Frau schon erwartet. Er fand es erfrischend, da sie sich so von den anderen Frauen unterschied. Bei Syreene hatte er das Gefühl, er selbst sein zu können, fernab von dem höfischen Getue, dass ihm sein wahres Ich verweigerte.

"Jedenfalls", erzählte Syreene weiter, "hat der Inhalt des Schreibens mich dazu gebracht Euch persönlich davon zu berichten. Ich würde ihn Euch gerne zeigen, aber Taró hat ihn und Euren Siegelring an sich genommen, da er es aus Gründen meiner Sicherheit für besser befand. Nun, Königin Brianna hatte geschrieben, dass sie seit mehreren Zeiten keinen Kontakt mehr zu den Hara´kaas und zu Mombriar Eisenhammer hat, woraufhin sie Kundschafter ausgesendet hatte. Diese jedoch kamen bisher nicht wieder zurück. Beunruhigend ist auch, dass die Tiere, laut Berichten, Forest Green verlassen."

"Etwas Ähnliches habe ich mir schon gedacht", meinte Silver ernst. Syreene sah ihn fragend an.

"Die Hara´kaas und ich haben einen Handel abgeschlossen", erklärte er. "Viermal im Jahr kommt eine große Handelskarawane in die Stadt und verkauft mir ihre Waren. Bisher waren sie immer sehr pünktlich, doch die letzte Karawane ist nicht gekommen."

"Ich habe davon gehört", sagte Kid leise. Sein Bruder wandte sich ihm zu.

"Was meinst du?"

"Die Tiere", meinte sein Bruder erklärend. "Bevor ich Aphros verlassen hatte, hörte ich mehrere Leute darüber klagen, dass ihr Vieh abgehauen sei. Ich vermutete, dass wilde Tiere dahinter stecken würden."

"Euren Worten, unten am Fluss", wandte sich Silver Syreene wieder zu, "entnehme ich, dass Euer Freund Taró auch auf dem Weg zu mir ist?"

"Ja, das ist richtig", antwortete die junge Frau. "Wir hatten beschlossen getrennt nach Castle Shelter zu kommen. Unser Treffpunkt ist das Gasthaus ,Die rote Krone'."

"Sobald wir in der Stadt sind, werden wir dorthin gehen", versprach der König. "Was ist mit diesen so genannten Verfolgern? Gibt es irgendwelche Hinweise darauf, wer sie sind?"

"Taró wollte bei dem Boten nach möglichen Spuren suchen", sprach Syreene, während Silver nickte. "Aber ich hatte nah beim Blue Stones eine kurze Rast auf einem Bauernhof gemacht."

"Bei dem alten Boris", meinte Kid.

"Richtig. Jedenfalls erzählte er mir von zwei Männern, die kürzlich bei ihm aufgetaucht waren. Sie sind auf der Suche nach einer Person, die etwas besitzt, dass nicht ihr gehört."

"Was waren das für Männer?", fragte Silver angespannt.

"Viel konnte mir der Bauer nicht über sie sagen", bedauerte Syreene. "Nur, dass sie so seltsame Kleidung, in den Farben rot und schwarz, getragen hatten. Sie waren mit Schwertern bewaffnet und hatten ihre Gesichter verhüllt. Aber der Bauer meinte erkannt zu haben, dass einer der Männer zu den Tiermenschen gehört. Oh, und einer von ihnen hat dies hier verloren."

Syreene nahm den Ring von ihrem Finger und hielt ihn dem König hin. Er sah sich das Schmuckstück eine lange Zeit an.

"Diese Zeichen darauf sind mir fremd", sagte er schließlich gedankenvoll. "Auch dieses merkwürdige Auge."

"Vielleicht kann dir Baringol mehr zu dem Ring sagen", schlug sein Bruder vor, der über dessen Schulter auf den Gegenstand sah.

"Baringol?", fragte Syreene.

"Ein Schmied", erklärte ihr Kid. "Der Beste seines Handwerks. Aber ich sollte Euch vor ihm warnen. Er ist ein sehr streitlustiger Zwerg."

"Aber dafür kennt er die Techniken eines jeden Schmieds in Eredian", erwiderte Silver. "Er wird mir sagen können, wer den Ring geschmiedet hat."

Der König steckte den Ring in einen Beutel an seinem ledernen Gürtel.
 

Es dauerte nicht lange bis die kleine Gruppe den Wald verlassen hatte und sich vor Syreene eine 33 Fuß hohe Mauer aus weißem Marmor in den Himmel erstreckte. Auf der Brustwehr sah sie etwa ein Dutzend Männer mit Armbrüsten patrouillieren. Die silber-schwarzen Rüstungen der Soldaten von Demetris waren alle einheitlich. Die Männer trugen ein schwarzes wollenes Unterkleid, deren Ärmel sowie auch die Hosenbeine vom Knie abwärts, gepanzert waren. Über der Tunika wurde noch ein ärmelloses schwarzes Wams gezogen, damit das Unterkleid durch das Reiben der Rüstung nicht abgenutzt wurde. Der Küraß, aus feinstem Erz in den Schmieden der Zwerge hergestellt, bestand aus zwei Teilen: einem Brust- und einem Rückenpanzer. Beide Teile waren an den Schultern mit Lederriemen befestigt, so dass man den Küraß mühelos über den Kopf streifen konnte. Der Brustpanzer zeigte einen in Gold eingefassten Falken, das Emblem des Königshauses Hawks. Die Schultern waren durch vierschuppige Platten geschützt, und die Oberschenkel von sechsschuppigen Bauchreifen, die unter dem Küraß befestigt wurden. Bein- und Unterarmschienen komplettierten das Bild.

Zusammen mit ihren Begleitern ging Syreene unter einem gewaltigen massiven Eisengitter hindurch, das nächtens heruntergelassen wurde. Die Wachen am Tor sowie auch die Leute, die ein- und ausgingen, verbeugten sich leicht vor dem König, als sie ihn sahen. Doch nachdem ihr Blick auf den Höllenwolf fiel, schnappten sie gleich daraufhin erschrocken nach Luft. Syreene rechnete schon fast damit, dass die Leute nach irgendwelchen Waffen greifen würden, um sie aus der Stadt zu verjagen, doch nichts dergleichen geschah. Das sorglose Verhalten des Königs, so vermutete die junge Frau, hielt die Leute wohl davon ab.

Betrachtete man die Stadt mit ihren 1200 Einwohnern aus der Luft, dann sah man überall Häuser in verschiedenen Größen und Farben, die eng beieinander standen. Nur das Zentrum, in dessen Mitte ein riesiger Brunnen aus Granit stand, war weitflächig frei. Jedes zweite Mondalter fand dort ein Markt statt und Händler aus den angrenzenden Ländern kamen her, um ihre Waren anzupreisen. Im nordwestlichen Teil der Stadt, das die Bewohner liebevoll und mit stolzgeschwellter Brust auch das Wissensviertel nannten, befanden sich eine zweistöckige Bibliothek, mehrere Laboratorien, eine kleine Universität und ein Museum. Dazwischen stand ein großer Tempel, der dem Geschwisterpaar Secreta, Göttin der Geheimnisse, und Cognitio, Gott des Wissens, geweiht war. Jeden Tag beteten dort Akademiker und Gelehrte um Wissen und Erleuchtung. Die Straße, die Syreene mit ihren Begleitern entlang lief, führte direkt in das Zentrum und war so breit, dass problemlos zwei Fuhrwerke nebeneinander herfahren konnten und sogar noch Platz für das Fußvolk ließ. Jemand, der sich nicht in der Stadt auskannte, musste gewaltig aufpassen sich nicht zu verlaufen, da die Gassen und Straßen hier so verwinkelt waren, dass man schnell die Orientierung verlor.

Am Marktplatz angekommen führte Silver die junge Frau direkt zu dem Gasthaus ,Die Rote Krone', wo sie den Wirt, ein stämmig gebauter Mann mit Augenklappe, nach ihren Freunden befragte. Mit volltönender Stimme jedoch teilte er ihr mit, dass keiner der beiden ein Zimmer bei ihm gemietet hätte. Daraufhin verließ sie mit hängenden Schultern das Gasthaus, und zusammen mit Silver und seinem Bruder wandte sie sich nach Osten. Der König führte sie durch mehrere Straßen und Gassen bis sie zu einem kleinen Haus mit Stall kamen. Syreene las auf dem Schild über der Tür ,Baringol's Künste'. Sie band den Hengst an einen Pfosten vor dem Hause an, bevor sie gemeinsam das Heim des Schmieds betraten.
 

Beim Öffnen der Tür ertönte das Bimmeln einer Glocke über dem Türbogen, und Syreene stand in einem weitläufigen Raum. Auf der rechten Seite bemerkte sie einen massiven offenen Kamin mit einem Abzug. Daneben standen ein großer Schleifstein, den man anhand eines Fußpedals betreiben konnte, sowie ein Amboss, auf dem ein kleiner handlicher Hammer lag. An der Wand daneben hingen an Haken Schmiedewerkzeuge wie Zangen, Feile, Hämmer und seltsame Stifte, die unterschiedlich spitz zu liefen. Überall verteilt im Raum sah Syreene Fässer mit Schwertern und Regale mit Schmuck und verschiedene Waffen und anderes Werkzeug. Vermutlich schmiedet dieser Baringol nicht nur Sachen, sondern verkauft sie auch, dachte sich die junge Frau. Plötzlich öffnete sich die Tür in der gegenüberliegenden Wand, die in die Wohnräume führte und ein kleiner stämmiger Zwerg mit leicht ergrautem Haar und Bart kam herein. Er hatte den Kopf seinen Besuchern abgewandt und sprach mit jemandem in den hinteren Räumen.

"Und das soll ich dir glauben?", rief er mit tiefer, leicht rauer Stimme. "Jedes Kind weiß doch, dass Höllenwölfe braunes oder schwarzes Fell haben. Du hast schon mal bessere Geschichten erzählt. Und jetzt habe ich Kundschaft! Und trinke nicht meinen ganzen Met aus!"

Der Zwerg war in die Mitte des Raumes getreten und wollte sich zu seinen Kunden umwenden, als er direkt in die Augen von Ghost blickte. Einige Sekunden verstrichen bis dann der kleine Kerl erschrocken aufschrie und zurück stolperte.

"Bei den zwölf Bärten des Thoros!", rief er fassungslos und schaute das Tier mit großen erstaunten Augen an.

"Bitte", versuchte Syreene schnell den Zwerg zu beruhigen. "Ghost tut keinem etwas. Ihr braucht keine Angst vor ihm zu haben."

Der Zwerg schaute Syreene bei ihren letzten Worten mit vor Wut blitzenden Augen an, während Kid das Gesicht verzog und laut aufstöhnte. Silver schüttelte nur ergeben den Kopf.

"Wie kommt Ihr darauf, dass ich Angst habe?", fragte der Zwerg mit gefährlich sanfter Stimme. Syreene erkannte, dass sie etwas Falsches gesagt hatte und erinnerte sich, dass Kid den Zwerg als streitsüchtig beschrieben hatte. Wohl eher empfindlich, dachte sie sich. Aber bevor die junge Frau noch etwas sagen konnte, kam ihr jemand zuvor.

"Weil du Angst hattest", kam es nüchtern von der Tür her. "Ich habe deinen Schrei sogar im Keller gehört."

"Môrien!", rief Syreene überrascht und ein strahlendes Lächeln legte sich auf ihr Gesicht. "Seit wann bist du schon in der Stadt?"

"Ich bin heute morgen hier angekommen", antwortete der Freund. "Und wer sind deine beiden Begleiter?"

"Du ungehobelter Klotz eines Zwerges!", fauchte Baringol erbost. "Dies ist unser hochgeschätzter König mit seinem ehrenwerten Bruder. Verbeug dich also, wie es sich gehört!"

"Wen nennst du einen ungehobelten Klotz?", brauste Môrien auf und baute sich dicht vor dem anderen Zwerge auf.

"Meine Herren, bitte", mischte sich Silver mit beschwichtigender Geste ein. "Es gibt keinen Grund zu Streiten. Außerdem brauche ich jetzt dringend Eure fachmännischen Kenntnisse, Baringol. Ich möchte gerne, dass Ihr Euch etwas ansieht."

"Ich werde dir nachher noch Benehmen beibringen", warnte Baringol Môrien, der nur mit einem verächtlichen Schnauben antwortete. Baringol nahm den Ring, den der König ihm entgegen hielt, an sich und drehte und wendete das Schmuckstück zwischen seinen Fingern, während er lange die feinen Gravuren darauf betrachtete. Dann ging er zum Amboss und legte den kleinen Gegenstand darauf ab. Und bevor seine Gäste auch nur erahnen konnten, was er vorhatte, griff der Zwerg nach dem kleinen Hammer und schlug damit leicht auf den Ring. Sofort danach nahm Baringol das Schmuckstück wieder an sich und betrachtete die Stelle, auf der er zuvor mit dem Werkzeug eingeschlagen hatte.

"Nun", begann Baringol mit gerunzelter Stirn. "Ich kann Euch nicht viel zu diesem Ring sagen, da die Technik, mit der er angefertigt wurde, verfälscht ist. Aber es muss ein guter Schmied gewesen sein, der etwas von seinem Handwerk versteht. Der Ring weist keinerlei Unebenheiten auf, und auch die Breiten der Ränder sind einheitlich."

"Was meint Ihr mit ,verfälscht'?" Silver war enttäuscht. Er hatte sich mehr von dem Zwerg erhofft.

"Nun", antwortete der Zwerg. "Es ist üblich bei den Schmieden, dass man mit einem Hammer die Beschaffenheit einer Waffe oder eines Schmuckstückes überprüft. Dadurch erfährt man, wie sorgfältig ein Schmied gearbeitet hat und welche Materialen dieser für das geschmiedete Stück verwendete. Ihr müsst wissen, dass jeder Schmied seine eigene Technik besitzt, so dass man seine Stücke an der Arbeitsweise erkennen kann. So gibt es zum Beispiel Schmiede, die nur mit hochwertigem Erz arbeiten, dann wiederum auch welche, die das Erz mit einem anderen Material kombinieren. Es gibt natürlich auch Schmiede, die es an Sorgfalt walten lassen, wodurch ihre Arbeiten nach einiger Zeit brüchig werden, weil sie minderwertiges Material benutzt haben, um Gold zu sparen oder weil sie das Feuer nicht genug erhitzt haben. Jedenfalls konnte ich feststellen, dass mein Hammer keinerlei Spuren auf dem Ring hinterlassen hat. Und das bringt mich zu der Überzeugung, dass ein Zauber darauf liegen muss, der das Gold verhärtet."

"Und was ist mit den Symbolen?", wollte Syreene wissen. "Könnte es sich nicht dabei um die Signatur des Schmiedes handeln?"

"Man merkt sofort, dass Ihr nicht die geringste Ahnung über die Schmiedekunst habt", sagte Baringol geringschätzig. "Ich habe noch nie von einem Schmied gehört, der seine Arbeiten signiert. Und sollte es doch so einen geben, dann wären die Symbole im inneren Reif. Nein, der Besitzer des Ringes wollte die Gravur. Vielleicht hat er sie sogar selber gemacht. Und das bringt mich auf eine Idee. Môrien, fache bitte das Feuer an."

Während Môrien zum Kamin ging und mit einem Blasebalg das Feuer schürte, ging Baringol zu einem Tisch an der rückwärtigen Wand. Dort holte er aus einem Schubfach einen leeren weißen Zettel heraus und schrieb darauf etwas nieder, den er daraufhin seinem König übergab. Silver sah, dass der Zwerg die Zeichen auf dem Ring übertragen hatte.

"Was habt Ihr vor?", fragte Silver neugierig.

"Ich will sehen, ob das Feuer das schaffen kann, was mein Hammer nicht konnte. Das reicht jetzt, Môrien. Das Feuer ist heiß genug."

Mit einer Drehung des Handgelenkes warf der Zwerg den Ring ins Feuer. Während er darauf wartete, dass das Schmuckstück genug erhitzt wurde, zog sich Baringol lederne Handschuhe an und nahm von der Wand eine kurze Zange. Mit dem Werkzeug holte er schließlich den kleinen Gegenstand aus der Glut wieder heraus. Danach griff er nach einem Messer an seinem Gürtel und kratzte damit etwas an dem jetzt rotglühenden Ring. Baringol runzelte die Stirn, während er das Schmuckstück mit Hilfe der Zange kurz in einen Eimer mit Wasser tauchte, der neben dem Amboss stand. Daraufhin stieg laut zischend warmer Dampf aus dem Eimer auf. Nachdem der kleine Gegenstand jetzt abgekühlt war, nahm Baringol ihn in die Hand und betrachtete seine Oberfläche erneut. Dann legte er ihn auf den Amboss, schlug abermals leicht mit dem Hammer darauf und nahm ihn wieder in die Hand.

"Ich muss zugeben, dass ich wahrlich eine gute Idee hatte", meinte der Zwerg zufrieden zu seinem König. "Denn jetzt kann ich Euch sagen, wer der Schmied war: Korogar Goldzahn."

"Wie habt Ihr das herausgefunden?", fragte Silver beeindruckt.

"Nun, wie ich vorhin feststellen konnte", meinte Baringol mit stolzgeschwellter Brust, "ist der Zauber auf dem Ring nutzlos, wenn das Schmuckstück stark erhitzt wird. Im abgekühlten Zustand jedoch ist das Gold wieder so verhärtet, dass man keinen Schaden daran anrichten kann. Mit meinem Messer konnte ich einen Teil der Gravur entfernen, weil ich dachte, dass diese Zeichen den Zauber bewirken würden, aber das ist nicht der Fall. Deshalb habe ich Euch auch die Symbole auf den Zettel in Eurer Hand aufgeschrieben. Aber unter der Gravur jedoch fand ich die Identität des Schmiedes. Denn der Ring besteht zum größten Teil aus Eisen. Nur die äußere Schicht ist aus Gold."

"Sehr raffiniert", sagte Kid anerkennend.

"Aber auch nur für das ungeübte Auge", betonte Baringol hochmütig, der sich nicht in seiner Ehre als Schmied beleidigen lassen wollte. "Für Korogar Goldzahn ist dies seine typische Arbeitsweise. Bei Waffen und Rüstungen ist er stets sorgfältig und benutzt nur das beste und hochwertigste Material, das es gibt. Bei Schmuck und anderen Handwerkszeug ist er aber geradezu nachlässig. Da benutzt er minderwertiges Material. Hier hat er einen Ring aus Eisen angefertigt, und ihn dann mit ein bisschen Gold überzogen, damit der Kunde keinen Verdacht schöpfen kann. Und ich bin fast sicher, dass Korogar die Gravur selbst gemacht hat. Denn so konnte er abschätzen, wie viel Gold er für den Überzug brauchte."

"Wo können wir diesen Korogar Goldzahn finden?", wollte Silver wissen. Er war froh darüber, doch noch den Ursprung des Ringes erfahren zu haben. Jetzt konnten sie weiter nachforschen

"Er hat seine Werkstatt in Hadesian", antwortete Baringol. "Er steht nämlich in den Diensten Königin Brianna´s. Allerdings beliefert er sie nur mit Rüstungen und Waffen."

"Ich danke Euch, Baringol", sagte Silver und reichte dem Zwerg einen Geldbeutel. "Ich möchte mich für Eure Hilfe erkenntlich zeigen, denn Ihr habt mir einen großen Dienst erwiesen."

"Ich stehe Euch jederzeit zur Verfügung, mein König", antwortete Baringol ehrerbietig, und verneigte sich vor dem jungen Mann. Danach verabschiedeten sich die Freunde von dem Zwerg und Môrien versprach ihm, ihn öfters zu besuchen. Wie er Syreene zu einem späteren Zeitpunkt erzählte, war Baringol sein Vetter, der von seiner der Verbannung aus dem Klan bisher nichts wusste, da er sich zu der Zeit schon in Castle Shelter niedergelassen hatte.
 

Das eigentliche Castle Shelter war die Burg, die im 24. Jahr des Drachen von Silver´s Urgroßvater Big Hawk erbaut wurde. Der Innenhof wurde geschützt durch eine etwa 44 Fuß hohe Mauer, die eine Breite von fünfeinhalb Ellen hatte. Nach einer gescheiterten Belagerung im 25. Jahr des Feuers auf die Burg, bei der an die hundert Soldaten auf der Mauer fielen, ließ Big Hawk die Zinnen auf der Brustwehr abreißen und setzte neue darauf, die so nah beieinander standen, dass man gerade eben noch Pfeile und Bolzen zwischen ihnen hindurch schießen konnte. Dies ermöglichte den Soldaten ungehindert gegnerische Streitmächte unter Beschuss zu nehmen, ohne befürchten zu müssen selbst von einem Pfeil getroffen zu werden. Allerdings sah sich Big Hawk dadurch vor einem neuen Problem. Da die Zinnen so eng nebeneinander gebaut waren, konnten feindliche Belagerungskräfte nun problemlos an den Mauern hochklettern, ohne dass die Soldaten deren Leitern umstoßen konnten. Also ließ der König rund um die Burg einen Wassergraben ausheben, den man nur über eine Zugbrücke überqueren konnte.

Der weitläufige Innenhof wurde im Laufe der Generationen von Hawks oft umgebaut, da mit der Zeit die Macht und der Einfluss der Familie gewachsen waren. Mittlerweile befanden sich auf der rechten Seite des Hofes drei Ställe mit jeweils 24 erstklassigen Streitpferden. Daneben war die Unterkunft des Stallmeisters, die Silver neu erbauen ließ, und jetzt reich an Bequemlichkeit war. Fünf Strohpuppen, die alle farblich die schwächsten Stellen eines geschützten Körpers markierten, ließen auf der linken Seite einen Übungsplatz für die Soldaten erkennen. Ein ganzes Stück entfernt daneben waren zwei Soldatenunterkünfte, eine Waffenkammer sowie ein kleines Haus für die zwei unverheirateten Kommandanten. Ein dritter Kommandant wohnte mit seiner Familie in der Stadt.

Eine breite Marmortreppe führte im Norden zu der zweiflügeligen Eichentür der Burg, auf deren beiden Flügeln jeweils ein fliegender Falke abgebildet war, und die sich bei geschlossener Tür gegenseitig ansahen. Hinter dem Eingang lag eine riesige Halle mit einem erhöhten Podest am rückwärtigen Ende, auf der Silver stets Gericht hielt. Er saß dann immer auf dem imposanten Stuhl, den sein Großvater extra aus diesem Anlass hatte anfertigen ließ, da die Rückenlehne einen genau detaillierten Falken zeigte, dessen Flügeln zu beiden Seiten des Stuhles hin ausgebreitet waren. Der Effekt dieses Thrones war sehr beeindruckend und zugleich auch einschüchternd, wenn ein Angeklagter zu dem Podest aufschaute und seinen König mit scheinbar ausgebreiteten Flügeln auf dem Stuhl sitzen sah. Dieser Anblick reichte schon oft aus, dass die Leute auf die Knie fielen und ihre Taten gestanden. Aus diesem Grunde hatte Silver auch den unbequemen Stuhl, dessen Sitzfläche und die zu Klauen geformten Armlehnen nur mit weißem Samt abgepolstert waren, behalten.

Zu beiden Seiten am hinteren Ende führten Treppen über einen Balkon zu den Schlaf- und Gästeräumen, und in der Mitte des Raumes stand ein großer Holztisch mit zwölf Stühlen, an dem sich zu den Abendmahlzeiten die Familie und die engsten Vertrauten einfanden. Rechts in der Mitte an der Wand befand sich ein großer offener Kamin, vor dem drei Sessel mit samtroten Bezügen standen. An den hellen kargen Steinwänden hingen lange Gobelins, auf denen verschiedene Jagdszenen mit überwiegend Falken zu sehen waren. Am meisten Stolz jedoch war Silver auf die großen breiten Glasfenster mit Fensterläden, die viel Tageslicht in die Halle einließen. Als sein Vater noch König war, waren in den Wänden nur sehr kleine Fenster eingelassen, wodurch sehr wenig Licht in die Halle kam und den ganzen Tag über Kerzen brennen mussten.

Auf der linken Seite in der Wand befanden sich zwei Türen. Die erste, die dem Eingang näher gelegen war, führte zu Silver´s Arbeitszimmer, wo er über Handelsverträge grübelte, Berichte seiner Kundschafter anhörte und sich mit seinen Kommandanten Trainingspläne überlegte. Durch die andere Tür gelangte man in die Küche, in der jeden Tag ein reges Treiben herrschte. Mägde und Küchenjungen putzten, schälten und schnitten Obst und Gemüse, wuschen das Geschirr oder rupften die Federn von Hühnern und Enten. Ältere Frauen saßen an Tischen und nähten und flickten die Kleidung ihrer Herren oder wuschen die Wäsche. Und wenn der Koch mal nicht seine Untergebenen anschrie oder ihnen eine Ohrfeige verpasste, übertraf er sich stets mit fantasievollen und sehr schmackhaften Kreationen. Durch eine weitere Tür auf der rechten Seite gelangte man nach draußen, wo sich ein großes Vogelgehege und die Unterkunft des Falkners befand.
 

Syreene war in einen der oberen Gästeräume einquartiert, wo ihr einige Mägde heißes Wasser in einen Holzzuber gossen. Der helleingerichtete Raum trug eindeutig feminine Züge, wie die junge Frau schon beim Eintreten bemerkt hatte. Eisblaue Brokatvorhänge hingen an den großen Fenstern, die mit weißen Kordeln zu beiden Seiten festgemacht waren. Zwischen den beiden Fenstern war ein kleiner Kamin, vor dem zwei zierliche und doch bequeme Stühle standen, und sich Ghost niedergelassen hatte. Er hatte die Angst der jungen Frauen gespürt und war darauf bedacht, diese nicht noch weiter zu schüren. An der Ostwand befand sich ein mit weißem Baldachin versehenes Bett aus sehr hellem und kunstvoll geschnitztem Holz. Die Matratze war mit Entenfedern gefüllt und so weich, dass man darin versinken konnte. Mehrere fliederfarbene Decken lagen über dem Bett ausgebreitet. Daneben an der Wand stand ein großer Kleiderschrank, in dessen Holz verschiedene Tiere eingeschnitzt waren. Wie auch schon in der Halle, hingen auch hier an den Wänden mehrere Gobelins, doch zeigten diese unterschiedlichen Landschaftsbilder. Der steinerne Fußboden war mit reich von Blütenornamenten bestickten Teppichen bedeckt.

Während die Frauen Syreene dabei halfen den tagelangen Dreck von ihrem Körper zu waschen, betrat ein junges Mädchen von 18 Sommern das Zimmer. In ihren Armen hielt sie ein dunkelgrünes Gewand.

"Lady Gwaine, die Mutter unseres geschätzten Königs", sprach das Mädchen, "lässt Euch dieses Kleid schicken."

Syreene trat aus dem Badezuber heraus, woraufhin die anderen Frauen sofort damit begannen den schlanken Körper mit Leinentüchern abzutrocknen und der jungen Frau in das Gewand halfen. Danach wurde ihr das Haar kunstvoll hochgesteckt, wobei sich nur einige widerspenstige Strähnen nicht bändigen ließen und effektvoll das Gesicht umrahmte. Als die Frauen ihr Werk begutachteten, stießen sie begeisterte Laute aus und schoben Syreene vor einen Wandspiegel. Der jungen Frau stockte der Atem, als sie die Fremde in dem Spiegel betrachtete, und strich verwundert über ihr Haar.

Das samtene Kleid schmiegte sich durch die breite Brustschnürung mit einem jadefarbenen Band eng an ihren Oberkörper und betonte dadurch die schlanken Konturen. Die Hände verschwanden in den Ärmeln, die sich an den Ellenbogen glockenförmig weiteten und spitz zuliefen. Der bodenlange Rock fiel in leichten Wellen an ihren Beinen hinab und an der Taille saß ein mit goldenen Ringen gegliederter Y-Gürtel, dessen Zunge bis knapp zu den Knien reichte. An den schmalen Schultern war mit Hilfe von federförmigen Broschen ein leicht rot-braunes Spitzentuch befestigt, der den tiefen eckigen Ausschnitt bedeckte. Die Enden des Tuches fielen kunstvoll am Rücken hinab. Halbhohe Lederstiefel, in demselben dunklen Grün wie auch das Gewand, saßen bequem an den Füßen.

Nachdem sich Syreene wieder gefasst und sich bei den Frauen für die Hilfe bedankt hatte, ging sie zusammen mit Ghost zurück in die Halle. Dort hielten sich bereits Silver, Kid und Môrien auf, die an dem großen Tisch saßen. Sie hatten ebenfalls die Zeit genutzt und sich frisch gemacht. Silver trug jetzt eine schwarze wollene Hose und darüber eine weiße Tunika mit einer goldenen Zierborte. Um die Hüften hatte er einen einfachen braunen Gürtel mit einer Silberschnalle gebunden. Anders als sein Bruder hatte sich Kid zu seiner braunfarbigen Lederhose ein weißes Leinenhemd angezogen und darüber eine hellbraune Weste. Môrien jedoch trug wieder seine eigene Kleidung, ein rotbraunes Wollhemd und eine lose fallende Hose.

Als Syreene auf den Balkon trat war es Kid, der sie als erster bemerkte. Er war nicht in der Lage seinen Blick von der atemberaubenden Erscheinung abzuwenden und folgte ihren Bewegungen mit den Augen. Syreene war bereits die Hälfte der Stufen herabgestiegen, als er aufstand und ihr entgegen ging. Von der abrupten Bewegung aufmerksam geworden, schauten Silver und Môrien dem jungen Mann hinterher. Vor Überraschung und Fassungslosigkeit über das völlig veränderte Aussehen der jungen Frau blieb Môrien der Mund offen stehen. Silver jedoch zeigte keine Reaktion. Als Kid bei Syreene ankam, bot er ihr seinen Arm und geleitete sie zum Tisch. Bei ihrem Näher kommen erhob sich Silver von seinem Platz.

"Meine Mutter lässt sich entschuldigen", sprach der König zu Syreene, während sie sich neben dem Zwerg setzte. "Sie ist sehr müde und hat sich deshalb schon zur Ruhe begeben. Doch sie lässt fragen, ob Euch das Kleid gefällt?"

"Ja, danke", antwortete Syreene und strich über den Rock. "Es ist wirklich sehr schön."

"Auf unserem nächsten Beutezug wirst du ein Kleid tragen", meinte Môrien und betrachtete noch immer ungläubig die junge Frau neben sich. Doch dann wurde ihm klar, was er gesagt hatte und vor wem, und wurde unter seinem buschigen roten Bart leichenblass.

"Die ... die Hirsche, die ... werden von deinem Anblick abgelenkt sein", stotterte der Zwerg hilflos.

"Bemüht Euch nicht, Môrien", meinte Silver, der belustigt die Ausflüchte des Zwerges beobachtete. "Mir ist schon lange bewusst, wie Ihr Euer Lebensunterhalt verdient."

"Und wie verdienen wir Eurer Meinung nach unseren Lebensunterhalt?", fragte Syreene wachsam und legte die Unterarme auf den Tisch.

"Mit Stehlen." Silver stützte beide Ellenbogen auf die Tischplatte und legte seine Fingerspitzen aneinander, während er ungerührt in die aufmerksamen Augen Syreene´s blickte. "Ich habe hin und wieder Berichte erhalten, nach denen ein weißer Höllenwolf in Dörfern Vieh jagte, aber keines von ihnen gerissen hat. Und seltsamer Weise verschwanden zusammen mit dem Wolf auch einige Geldbeutel. So, wie auch in Clio, wie mir gestern ein Jäger erzählte, der in dem Dorf auf dem Jahrmarkt war."

"Dies ist eine recht voreilige Beurteilung meiner Person, findet Ihr nicht?", erwiderte die junge Frau, die sich noch nicht zu ihrer Schuld bekennen wollte. "Ghost hat nun mal leider die Angewohnheit seinem Jagdtrieb in unmittelbarer Nähe von Dörfern nachzugehen. Und nur, weil zur selben Zeit Geldbeutel verschwinden, heißt das noch lange nicht, dass wir etwas damit zu tun haben."

"Aber die Worte Eures Freundes beweisen doch die Tatsache." Silver war beeindruckt von der Frau, die mit geschickten Worten die Anschuldigung widerlegt hatte.

"Tun sie das wirklich?", gab sie zu bedenken und lächelte insgeheim.

"Ich habe deutlich das Wort ,Beutezug' vernommen", antwortete der König, während er den Zwerg dabei beobachtete, wie dieser nervös auf seinem Platz hin und her rutschte.

"Das ist richtig", gestand sie mit einem Nicken des Kopfes. "Aber das Wort bezieht sich dabei auf die Beute von Wild. Ich weiß, dass man in einigen Eurer Wälder kein Wild erlegen darf, aber Ghost hat sich nicht an Euer Gesetz gehalten. Er ist eben nun mal ein Tier. Deshalb ist Môrien auch so besorgt, weil er meint, dass Ihr uns deswegen bestrafen könntet."

Eine ganze Weile herrschte am Tisch eine gespannte Stille, in der sich Silver und Syreene gegenseitig ansahen. Dann zeigte sich ein anerkennendes Lächeln auf Silver´s Gesicht, und er schüttelte ergeben den Kopf. Er wusste, er war besiegt. Tatsächlich hatte er keinen Beweis dafür, dass die junge Frau und der Zwerg auch nur irgendetwas gestohlen hätten.

"Verzeiht mir", sagte er schließlich. "Wie Ihr bereits schon sagtet, war ich mit meiner Anschuldigung viel zu voreilig. Ich hoffe, Ihr könnt mir meinen Fehler verzeihen."

Syreene neigte anmutig den Kopf zum Zeichen, dass sie die Entschuldigung akzeptierte. Aber jeder am Tisch wusste, dass die Worte des Königs nicht ernst gemeint waren. Er hatte auch nicht die Absicht die Sache weiter zu verfolgen, da er seinen Gästen dankbar dafür war, dass sie ihm eine wichtige Botschaft überbracht hatten. Ihm war bewusst, dass sie sich nicht die Mühe hätten machen müssen.

"Nachdem diese Sache wohl nun geklärt wäre", mischte sich Kid in die Unterhaltung ein, "verrate mir doch bitte, was du wegen des Briefes unternehmen willst."

"Ich habe eine Nachricht für Brianna aufgesetzt", erklärte der König, "und Morrigân damit nach Hadesian geschickt. Sie sollte in zwei Tagen dort ankommen."

"Wer ist Morrigân", fragte Môrien neugierig. Er war erleichtert, dass die Sache so glimpflich ausgegangen war. Der König von Demetris war dafür bekannt Gesetzesbrecher hart zu bestrafen.

"Morrigân ist mein bester und schnellster Falke", antwortete Silver stolz. "Jedenfalls habe ich Brianna von den Schwierigkeiten mitgeteilt, die es beim Zustellen ihrer Botschaft gegeben hat. Auch habe ich noch eine Abschrift der Symbole von dem Ring mit beigefügt. Sie soll diesen Korogar Goldzahn danach befragen. Außerdem bist du, mein lieber Bruder, weiterhin von deinem Dienst in Aphros beurlaubt. Es kann sein, dass ich dich hier noch brauchen werde."

"Da fällt mir", fing Kid plötzlich an. "Meister Môrien, Syreene erzählte uns, dass Ihr und Taró bei dem Boten nach Spuren suchen wolltet."

"Ja, das ist richtig", bestätigte der Zwerg. "Aber wir haben den Mann nicht gefunden. Als wir zur Straße kamen, sind wir den Weg zum Dorf runter gelaufen. Das einzige, was wir unterwegs fanden, waren Spuren einer Reitergruppe von schätzungsweise sechs bis zehn Leuten."

"Meint Ihr, dass es diese seltsamen Männer waren, denen der Ring gehört hatte?", fragte Silver gespannt.

"Das ist schwer zu sagen. Diese Reiter hätten auch auf den Weg zum Jahrmarkt sein können."

"Das ist eher unwahrscheinlich", warf Syreene mit fester Stimme ein. "Clio ist nur ein kleines Dorf, und an dem Jahrmarkt war auch nichts Besonderes. Warum sollte so eine große Gruppe also dorthin reiten? Nein, ich denke, es handelte sich bei ihnen um die Leute, die den Boten verfolgt hatten."

Plötzlich öffnete sich der rechte Flügel der Eingangstür und ein blonder hochgewachsener Mann mittleren Alters trat ein. Er trug die gewöhnliche Rüstung der demetrischen Soldaten, doch ein silberfarbener Umhang, der an den Schultern unter den Platten befestigt war, wies auf seinen Status als Kommandanten hin. Es war Gorwin, ein erfahrener Krieger und Stratege, der schon zu der Zeit Red Hawks erster Kommandant wurde. Mit energischen Schritten trat der Mann an das Fußende des Tisches und verbeugte sich leicht vor den Anwesenden.

"Man berichtete mir, dass Ihr schon recht früh von Eurem Ausflug zurückgekehrt seid", begann er mit tiefer Stimme. "Ich hoffe, es ist nichts passiert?"

Silver stellte seinen Gästen den Kommandanten vor und erzählte ihm anschließend in kurzen Sätzen, was geschehen war.

"So eine seltsam verhüllte Person habe ich heute in der Stadt gesehen", sagte Gorwin, nachdem Silver von dem Ring und dessen Träger berichtet hatte. "Diese stand vor ,Jack´s Piratenhöhle' mit zwei Pferden."

"Wahrscheinlich vermuten sie schon, dass die Nachricht angekommen ist", meinte Kid nachdenklich.

"Gorwin, versuch diese Person ausfindig zu machen", ordnete Silver an. "Geh davon aus, dass sie zu zweit sind. Und frag Jack, was sie wollten."

"Ist das klug?", lenkte Syreene seine Aufmerksamkeit auf sich. Fragend schaute der König sie an.

"Natürlich, Syreene", antwortete Kid enthusiastisch. "Wenn wir sie haben, können wir herausfinden, was sie wollen und für wen sie arbeiten."

"Aber wir liegen ihnen gegenüber im Vorteil", gab die junge Frau zu bedenken. "Bis jetzt können sie nur Vermutungen darüber anstellen, ob die Nachricht angekommen ist oder nicht. Und außerdem wissen wir von ihnen. Aber wenn jetzt die Soldaten in der Stadt ausschwärmen und nach ihnen suchen, wären sie gewarnt."

"Wir müssen aber herausfinden, wer sie sind", meinte Gorwin bestimmt.

"Habt Ihr eine Idee, wie wir stattdessen vorgehen sollen?" Silver war von der Voraussicht der jungen Frau beeindruckt. Wieder einmal sah er sich in seiner Meinung bestätigt, dass Syreene sich von den anderen Frauen unterschied.

"Verhaltet Euch ruhig und benehmt Euch so wie immer", riet sie ihm. "Verratet niemanden von den Problemen in Forest Green. Lasst diese geheimnisvollen Männer ruhig in dem Glauben Ihr hättet das Schreiben von Königin Brianna nie erhalten. Währenddessen werden Môrien und ich uns unauffällig in der Stadt umhören."

"Das dürfte schwer werden", grinste Kid Syreene an. "Ein Höllenwolf in einer Stadt sorgt schon für Aufmerksamkeit. Aber ein zahmer Weißer in Begleitung einer schönen Frau ist schon eine Sensation. Unauffällig werdet Ihr Euch nicht in der Stadt bewegen können, Syreene. Aber ich hätte da auch schon eine Idee."

"Dann erkläre sie uns", sagte Silver ungeduldig, während sein Bruder sich Zeit ließ und die Spannung erhöhte.

"Wir geben der lieben Syreene eine Tarnung", erklärte er dann schließlich. "Wir sagen einfach, dass sie die Tochter einer Freundin von unserer Mutter sei."

"Aber das erhöht die Aufmerksamkeit meiner Person nur noch mehr", bedachte Syreene.

"Das ist richtig", meinte der junge Mann ungerührt. "Aber niemand würde Verdacht schöpfen, wenn ich Euch die Stadt zeige."

"Für mich hört sich die Idee ganz gut an", brummte Môrien und nickte bekräftigend.

Silver indessen sah seinen Bruder mit scharfen Augen an und ließ seinen Blick dann zu Syreene wandern, um ihre Reaktion auf den Vorschlag zu sehen. Doch die junge Frau schaute nur mit leicht schräggelegtem Kopf nachdenklich vor sich hin.

"Und Ihr meint, es würde funktionieren?", fragte sie Kid nach einer Weile.

"Aber sicher. Die Bewohner werden nur eine junge, hübsche Frau an meiner Seite sehen, die ich durch Castle Shelter führe. Und wenn wir bei bestimmten Leuten die richtigen Worte fallen lassen, werden wir sicher auch etwas über die Fremden erfahren, ohne dass jemand misstrauisch wird und sich Fragen stellt."

"Diese Aufgabe könnten auch meine Soldaten durchführen", bedachte Gorwin leicht beleidigt. Er fühlte sich in seiner Ehre verletzt, denn schließlich war er kein Frischling mehr und wusste, wie man solche Operationen durchführte.

"Nein, Gorwin", widersprach Silver ernst. "Mein Bruder hat Recht. Die Leute reden gerne. Und wenn deine Männer anfangen Fragen zu stellen - bestimmte Fragen -, dann weiß es nach einem Tag die ganze Stadt. So lange ich nicht weiß, was diese Leute hier wollen, will ich nicht, dass sie wegen irgendeiner Unvorsichtigkeit unsererseits gewarnt werden."

Nach diesen Worten wünschte Gorwin den Anwesenden eine gute Nacht, wobei er es vermied seine Missbilligung nicht zu zeigen, und machte sich auf den Weg zu seiner Familie. Auch die Freunde begaben sich dann nach kurzer Zeit zu ihrer wohlverdienten Nachtruhe.

Wirklich ein Erfolg?

Am nächsten Morgen war eine junge Magd damit beschäftigt Syreene die Haare zu flechten. Auch diesmal hatte die Mutter des Königs, Lady Gwaine, ihr ein Gewand schicken lassen. Doch anders, als das gestrige Kleid, war dieses für einen Ausflug gedacht. Das fliederfarbene Gewand mit Kapuze war aus einem wollenen Stoff angefertigt. Eine weiße Borte zierte den Saum der Kapuze sowie auch die der trompetenförmigen Ärmel. Und mit einem weißen Seidengarn war eine spiralförmige Ranke auf den lang fließenden Rock eingenäht.

Gerade als die Magd mit ihrer Arbeit fertig war, klopfte es an der Tür und eine Frau von 47 Sommern trat herein. Sie hatte kurzes, braunes Haar mit grau-weißen Strähnen und in ihrem gütigen Gesicht zeigte sich bereits das Alter. Sie trug ein schmuckloses, sandfarbenes Gewand, an dessen Schultern mit einer Brosche ein heller Umhang befestigt war. Lächelnd ging die Frau auf Syreene zu. Mit einer Handbewegung schickte sie die Magd aus dem Zimmer.

"Ich muss mich entschuldigen", begann sie, nachdem sie nun allein im Raum waren. "Ich hätte Euch schon gestern begrüßen sollen. Ich bin Lady Gwaine."

"Es freut mich Euch kennen zu lernen, Lady Gwaine", sagte Syreene und machte dabei einen Knicks.

"Wie ich mit Neid erkennen muss, steht Euch das Kleid viel besser als mir", bemerkte Lady Gwaine lächelnd.

"Ich danke Euch. Dieses Kleid ist wundervoll."

"Leider habe ich nicht viel Zeit, was ich zutiefst bedaure, aber ich wollte es mir nicht nehmen lassen die junge Frau kennen zu lernen, die meinen Sohn mit einer Waffe bedroht hatte."

"Ich habe Euren Sohn, König Hawk, zuerst nicht erkannt", erklärte Syreene mit hochroten Wangen.

"Oh, das ist kein Grund sich zu schämen", lachte Lady Gwaine freundlich. "Ich begrüße sogar so ein Verhalten. Normalerweise fallen Silver die Frauen zu Füßen, versuchen ihn zu betören, kokettieren mit ihm. Aber mit ihm ein ernstes Gespräch zu führen, dazu sind diese Frauen nicht in der Lage."

"Warum nicht?", fragte Syreene neugierig. Ihre Befangenheit Lady Gwaine gegenüber hatte sich gelegt durch diese offenen Worte. Sie mochte die ältere Frau sofort.

"Weil diese Frauen nichts anderes interessiert als gutes Aussehen und Macht."

"Das ist aber eine sehr oberflächliche Einstellung", meinte die junge Frau herablassend. "Aussehen und Macht ist vergänglich."

"Aber das macht die Erziehung", seufzte Lady Gwaine. "Sie leben in einer Welt, in der nur diese beiden Eigenschaften regieren. Ihr, Syreene, habt eine andere Welt kennen gelernt, in der das Miteinander herrscht. Ihr könnt Euch glücklich darüber schätzen."

"Nachdem, was Ihr mir über die Frauen Eurer Welt gesagt habt, bin ich das", lachte Syreene.

"Man sagte mir Ihr hättet einen Höllenwolf bei Euch", meinte Lady Gwaine und sah sich dabei im Zimmer um. "Aber ich sehe hier nirgends einen."

"Er liegt neben dem Bett", sprach die junge Frau und zeigte in die angegebene Richtung. "Eure Dienerschaft fürchtet sich vor Ghost. Deshalb legt er sich dort nieder, wenn eine der Mägde das Zimmer betritt."

"Und er ist wirklich zahm?"

Die ältere Frau betrachtete das Tier wachsam. Ghost schien davon unbeeindruckt zu sein und döste weiter vor sich hin.

"Zahm und verschmust", kam grinsend die Antwort. Lady Gwaine wandte sich belustigt über die Worte wieder Syreene zu.

"Aber kommen wir nun zu dem Grund meines Besuches." Die ältere Frau wurde jetzt ernst. "Mein Sohn hatte mir vorhin alles erzählt, was vorgefallen war, und mir auch Eure Rolle in dieser Sache erklärt. Damit es kein allzu großes Gerede unter der Dienerschaft gibt, weil Ihr ohne Gepäck und Gefolgschaft angekommen seid, habe ich - verzeiht - verlauten lassen, dass Ihr, sozusagen, erleben wolltet, wie das Volk lebt. Ich habe Kid deshalb auch den Auftrag gegeben mit Euch zu einem Schneider zu gehen, um einige Kleider für Euch anfertigen zu lassen."

"Oh, das geht nicht, Lady Gwaine", widersprach Syreene beschämt. "Ich habe kein Gold, womit ich die Gewänder bezahlen könnte."

"Das braucht Ihr auch nicht. Die Kleider werden alle von mir bezahlt. Aber dies wird niemand außer uns wissen."

"Ich kann Euer großzügiges Angebot nicht annehmen, Lady Gwaine."

"Ein 'Nein' werde ich nicht akzeptieren", sagte Lady Gwaine bestimmt.

"Ihr solltet besser darauf eingehen", ertönte es auf einmal. Am Türrahmen angelehnt stand Kid, der die beiden Frauen mit einem belustigten Funkeln in den blauen Augen ansah. Er trug über der braunen Wildlederhose ein weißes, wollenes Hemd, das einen kleinen Blick auf seine Brust gewährte, und weite, bauschige Ärmel hatte. Ein breiter zierloser Gürtel war um die Hüften herum angelegt.

"Meine liebe Mutter ist ziemlich hartnäckig, wenn sie sich etwas vorgenommen hat", sagte Kid, der sich vom Türrahmen abstieß und auf die Frauen zukam. "Sie ist dann wie ein Hund mit einem Knochen."

"Also, wirklich", entrüstete sich Lady Gwaine gespielt. "So schlimm bin ich nun auch wieder nicht."

"Oh, doch!", meinte Kid und gab seiner Mutter zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange. "Denk doch mal daran, was du dem armen Silver alles zugemutet hast. Da wäre zum Beispiel das Abendessen mit der netten, aber nervtötenden Lady Greenstead, als du sie nach Castle Shelter eingeladen hast. Du warst nämlich der Meinung, dass sie auf ihrer Burg einsam wäre. Und anstatt ihr Gesellschaft zu leisten, hast du diese Aufgabe Silver übertragen, mit der Begründung, dass es dir nicht gut ginge Er musste sich den ganzen Abend über abenteuerliche Geschichten aus ihrer Vergangenheit anhören, die sicherlich nie stattgefunden haben."

"Nun, mich hatten wirklich Kopfschmerzen an dem Abend geplagt", verteidigte sich Lady Gwaine, die sich sichtlich unwohl in ihrer Haut fühlte.

"Wo wir gerade dabei sind", sprach der junge Mann genüsslich, der es liebte seine Mutter aufzuziehen, "solltest du nicht schon längst auf den Weg zu Lady Greenstead sein?"

"Ich gebe Ihnen einen guten Rat, Syreene", sagte Lady Gwaine, die ihren Sohn mit einem bösen Blick bedachte. Syreene hatte derweil lächelnd und mit einem wehmütigen Ausdruck in den Augen der Unterhaltung von Mutter und Sohn verfolgt. In diesem Augenblick wünschte sie sich inbrünstig auch so eine Mutter zu haben, die mit einem festen Band mit ihrer Tochter verbunden wäre.

"Lassen Sie sich von diesem Burschen ja nichts gefallen", sprach Lady Gwaine weiter. Doch als sie die junge Frau wieder ansah, bemerkte sie das gezwungene Lächeln in dem Gesicht vor sich sowie einen feuchtschimmernder Glanz in den Augen. Fragend blickte Lady Gwaine ihren Sohn an, der jedoch ratlos den Kopf leicht schüttelte.

"Nun, wie Kid schon sagte, sollte ich schon auf dem Weg sein", meinte die ältere Frau langsam, womit sie Syreene aus ihren Gedanken riss. "Wir werden aber sicher heute Abend mehr Zeit haben miteinander zu reden."

Damit verabschiedete sich Lady Gwaine, und auch Kid und Syreene machten sich auf den Weg in die Stadt. Auf dem großen Platz im Zentrum fand heute ein Markt statt, so dass die Straßen übersät waren mit Leuten, die auf dem Weg dorthin waren. Syreene war froh darüber, dass sie Ghost in der Burg gelassen hatte. Bei dem Gedränge, das in der Stadt herrschte, hätte er leicht verletzt werden können. Kid, der einen Arm um Syreenes Taille gelegt hatte, achtete sorgsam darauf, dass sie nicht von den Leuten angerempelt wurde.

"Habt Ihr schon etwas gefrühstückt?", fragte er nach einer Weile.

"Nein, bisher noch nicht", antwortete Syreene.

"Dann lasst uns zu Jack gehen. Er wird Euch ein fabelhaftes Frühstück zubereiten. Ihr werdet begeistert sein."

"Ist Jack der Besitzer von 'Jacks Piratenhöhle'?"

"Genau der", kam gedehnt die Antwort. "Mit ihm können wir ganz offen sprechen, ohne befürchten zu müssen, dass die Worte weiter getragen werden."

"Erzählt mir etwas von ihm", bat Syreene den jungen Mann.

"Nun, Jack gehörte mal zu einer Piratenbande, keine allzu bekannte. Er ist mit ihnen eine zeitlang auf hoher See gewesen und hatte auf dem Schiff als Smutje gearbeitet. Aber es gab unter ihnen einige Spannungen. Keiner vertraute dem anderen. Und wenn mal etwas verloren ging, dann wurde jeder beschuldigt es geklaut zu haben. Deshalb hat Jack auch die Bande verlassen. Mit dem Geld, das er von den Beutezügen gespart hatte, kaufte er sich hier in der Stadt ein kleines Haus und machte daraus 'Jacks Piratenhöhle'. Aber lasst Euch von dem Namen nicht täuschen. Jack ist in ganz Shelter der einzige Pirat."

"Wie kommt es, dass er nicht verurteilt wurde?", fragte Syreene. "Auch wenn dieser Jack es nicht mehr ist, war er doch immerhin ein Pirat."

"Er kam in die Stadt, als mein Vater noch König war", erklärte Kid. "Glück für ihn, sage ich nur. Anders als Silver war mein Vater bei niederen Vergehen wie Diebstahl sehr großzügig. Solche Leute verurteilte er stets mit einigen Tagen zu Zwangsarbeit. Und Jack hatte meinem Vater hoch und eilig versprochen bei den Beutezügen niemanden verletzt zu haben."

"Aber wurde durch die milde Strafe denn nicht das Stehlen noch gefördert?"

"Nein", antwortete der junge Mann. "Wurde einer bei demselben Vergehen noch einmal erwischt, dann bekam dieser die Höchststrafe."

"Verstehe", meinte Syreene nachdenklich. "Aber warum hält Euer Bruder das nicht genauso?"

"Silver ist der Meinung, dass zum Beispiel ein Dieb schnell zu einem Mörder werden kann, aber das Verhängen einer Höchststrafe diesen Drang unterdrückt."

"Das klingt für mich ziemlich unlogisch", sinnierte Syreene mit gerunzelter Stirn.

"Warum das?", fragte Kid.

"Weil ein Dieb zur Strafe eine Hand verliert", erklärte Syreene dem jungen Mann neben sich. "Das hat zur Folge, dass er für keine Arbeit mehr zu gebrauchen ist. Und die einzige Möglichkeit, die ihm dann noch bleibt, um an Gold zu kommen, wäre zu stehlen."

"So habe ich das noch nie betrachtet." Nachdenklich runzelte Kid die Stirn. "Verratet mir Euer Alter!"

"Wie bitte?", lachte Syreene laut auf.

"Ich möchte Euer Alter erfahren", forderte Kid die junge Frau spitzbübisch auf. "So, wie Ihr sprecht, müsstet Ihr eigentlich schon sehr alt sein."

"Mein Alter wüsste ich selber gerne", antwortete Syreene rätselhaft und versteckte ihre Trauer über die vergessene Vergangenheit hinter einem aufgesetzten Lächeln. Kid sah sie nur fragend an.

"Da sind wir", antwortete er schließlich und zeigte auf ein weißes, einstöckiges Fachwerkhaus. Syreene blinzelte überrascht. Wenn das große Schild über der Tür nicht hängen würde, hätte sie es nie für ein Wirtshaus gehalten. Mit hochgezogener Braue sah sie ihren Begleiter an.

"Jacks Piratenhöhle?", fragte die junge Frau ungläubig.

Kid aber grinste nur. Er öffnete der jungen Frau die Tür und ließ sie als erste in das Haus eintreten und folgte ihr. Sie standen in einem großen, weitläufigen Raum. Überall standen ordentlich verteilt Tische und Bänke und der Holzfußboden war frisch gewischt. Die Fenster waren alle weit geöffnet, um den Geruch von Bier, Schweiß und noch etwas anderem, das stark säuerlich roch und über das Syreene nicht weiter nachdenken wollte, herauszulassen.

"Seid Ihr sicher, dass Jack geöffnet hat?", flüsterte Syreene, die bemerkt hatte, dass sie die einzigen in der Schenke waren.

"Für mich immer", grinste Kid, und rief dann Jacks Namen. Dieser kam auch prompt aus der Küche heraus, die hinter der Theke lag. Syreene schaute Jack mit großen Augen an. Noch nie hatte sie einen so großen Mann gesehen. Sie schätzte ihn auf etwa viereinhalb Fuß, womit er die junge Frau um mindestens eine Kopflänge überragte. Er hatte ein kantiges, mit Narben übersätes Gesicht, in dem die sanft dreinblickenden Augen eng beieinander lagen. Die Oberlippen wurden von einem schwarzen langen Schnauzer verdeckt. Am meisten jedoch überraschtes es Syreene, dass Jack über dem breiten muskulösen Oberkörper eine Schürze trug, die so gar nicht zu dem Bild dieses Furcht flößenden Mannes passte.

"Wieso wundert es mich nicht dich hier zu sehen?", dröhnte es tief aus der Kehle von Jack. Er bedachte Kid mit einem grimmigen Blick, lächelte aber die junge Frau warmherzig an, als sein Blick auf ihr fiel.

"Beim Haken des großen Einäugigen! Hast du etwa endlich deine Lady gefunden?"

Syreene errötete bei diesen Worten und sah unbehaglich zu Kid auf.

"Sie ziert sich noch ein wenig", grinste der junge Mann, woraufhin Syreene ihren Ellenbogen in seine Seite stieß. Zufrieden bemerkte sie, wie Kid schmerzhaft sein Gesicht verzog und sich die Stelle rieb, wo sie ihn getroffen hatte. Jack, der den Schlagabtausch beobachtet hatte, lachte aus vollem Halse.

"Da siehst du, was ich durchmachen muss", sagte der junge Mann mit bekümmertem Gesichtsausdruck. Doch sofort danach entfernte er sich einen Schritt von seiner Begleiterin, da er mit einem weiteren Angriff ihrerseits rechnete. Aber Syreene sah ihn nur vernichtend an.

"Jetzt weiß ich, wem Eure Mutter die grauen Haare zu verdanken hat", erwiderte die junge Frau.

"Sie hat dich durchschaut", sagte Jack lachend und wischte sich ein paar Tränen aus den Augenwinkeln. "Also, da ich dich kenne, bin ich sicher, dass du gekommen bist, um nach einem Frühstück zu betteln. Setzt euch an einen der Tische. Ich werde derweil ein Essen zubereiten, dass Euch, meine Lady, nur so auf der Zunge zergehen wird."

Genüsslich die Hände reibend, ging der Pirat in seine Küche, in der schon bald das Klappern von Töpfen zu hören war. Darauf bedacht sich nicht an eines der offenen Fenster niederzulassen, begaben sich Kid und Syreene zu einem in der Mitte stehenden Tisch. Gerade als sich die junge Frau auf die Bank setzen wollte, erklang grölend die Stimme von Jack, der in falschen Tönen ein Lied sang.

"Er meint, dass wäre das Geheimnis seines guten Essens", versuchte Kid seiner Begleiterin zu erklären, nachdem sie ihm einen fragenden Blick zugeworfen hatte. Plötzlich fingen Syreenes Schultern an zu zucken und dann lachte sie laut heraus.

"Ich weiß gar nicht, wann ich das letzte Mal so herzhaft gelacht habe", meinte sie, nachdem sie sich wieder beruhigt hatte.

"Ihr solltet das öfters tun", sagte Kid mit ernster Stimme. "Eure Augen verlieren dann diesen traurigen Glanz."

Überrascht über die einfühlsamen Worte blickte Syreene den jungen Mann an.

"Wollt Ihr mir erklären, was Ihr damit meintet, Ihr würdet Euer Alter selber gerne wissen?", fragte Kid.

"Meine Freunde, Taró und Môrien", begann die junge Frau an leise zu erzählen, "haben mich als kleines Kind in Aphros gefunden. Ich habe keine Erinnerungen daran, wer ich bin oder wie ich in diese Stadt kam. Auch nicht, wer meine Eltern sind."

"Das muss schlimm gewesen sein", meinte Kid mitfühlend und legte eine Hand auf die seiner Begleiterin. "Wenn ich mir vorstelle als Kind ohne Erinnerung in einer großen, fremden Stadt zu sein. Schrecklich!"

"Ich beneide Euch", sagte Syreene plötzlich. "Es muss schön sein eine so tiefe Bindung zu der eigenen Mutter zu haben."

"Es ist zwar nicht immer leicht mit ihr", witzelte Kid lächelnd, "aber sie ist schon etwas Besonderes. Sie ist nicht nur eine Mutter für mich sondern auch eine gute Freundin. Wenn mich etwas bedrückt, dann rede ich mit ihr darüber."

"Ihr seid ganz anders als Euer Bruder, nicht wahr?", bemerkte die junge Frau.

"Er wurde im Alter von 24 Sommern zum König gekrönt. Ganz unerwartet und viel zu früh. Silver wusste zwar, dass er eines Tages den Platz unseres Vaters einnehmen würde und hatte deswegen auch Unterricht bekommen, aber er war noch nicht so weit. Er beherrschte noch nicht die Regeln eines Königs, wodurch er mit seinen plötzlichen Pflichten überfordert war. Auf einmal war der lebenslustige, junge Mann, den ich kannte und der mein Bruder war, verschwunden. Stattdessen stand ein verschlossener und ehrgeiziger Mann vor mir."

"Es ist erstaunlich", meinte Syreene nachdenklich, "wie schnell man sich verändern kann, wenn sich die Lebensumstände ändern."

"Da bin ich wieder!", rief Jack dröhnend, der mit beladenen Händen in dem Raum trat und die Unterhaltung seiner beiden Gäste unterbrach. "Hier habe ich für euch frische gebratene Eier und feinsten Schinken, zartes Entenfleisch, weiches warmes Brot mit Haselnussstückchen, süße Marmelade aus Äpfeln und leckere Erdbeeren aus meinem Garten."

Stolz servierte er seinen Gästen das gemachte Frühstück.

"Was darf ich Euch zu trinken geben, verehrte Dame?", fragte Jack Syreene zuvorkommend. "Eine heiße Schokolade mit einem Löffelchen Sahne darauf? Oder vielleicht ein Glas von dem besten Wein, den ich im Hause habe?"

"Seit wann schenkst du Wein aus?", fragte Kid überrascht.

"Gar nicht", antwortete Jack kurz und knapp, schon fast unfreundlich. "Diesen habe ich nur für edle Gäste."

"Wenn das so ist, nehme ich gerne ein Glas Wein", sagte der junge Mann.

"Ich habe aber die junge Dame gefragt", kam es hochmütig zurück. Sprachlos über diese Unverfrorenheit schaute Kid den Mann verdutzt an. Syreene versteckte ihr lautloses Lachen hinter einer Hand. Nur das Beben ihrer Schultern verriet sie.

"Meister Jack", räusperte sich die junge Frau, "bringt uns doch bitte eine Flasche Eures besten Weines. Ich würde ihn nur ungern alleine probieren."

"Aber natürlich, meine Dame", antwortete Jack geradezu verzückt. Der Mann ging hinter die Theke und holte darunter eine Flasche hervor, die er sofort öffnete. Dann nahm Jack noch zwei langstielige Gläser und brachte die Sachen zum Tisch. Er schenkte Syreene die rote Flüssigkeit in eines der Gläser ein und wartete, mit der Flasche in der Hand, ab. Die junge Frau roch leicht an dem süßen Geruch des Weines und nahm dann einen kleinen Schluck aus ihrem Glas.

"Vorzüglich", meinte Syreene schließlich. "Schmecke ich da Kirschen heraus?"

"Beeindruckend", antwortete Jack mit einem strahlenden Gesicht. "Ihr seid die erste Person, die das herausgefunden hat. Eure Geschmacksnerven müssen außerordentlich sein."

"Würdest du mir bitte auch einschenken?", bat Kid missmutig, der sich übergangen fühlte.

"Hier", kam nur die Antwort und Jack reichte seinem Gast die Flasche.

"Sehr nett von dir", sagte der junge Mann sarkastisch und goss den Wein selber in sein Glas ein. "Und wenn du jetzt deine ungewohnte und zuvorkommende Aufmerksamkeit auf mich lenken würdest, wäre ich dir sehr dankbar. Syreene und ich sind nämlich noch aus einem anderen Grund hier."

"Und der wäre?", fragte Jack, der das angespannte Gesicht des jungen Mannes betrachtete. Ihm wurde sofort klar, dass es etwas ernstes sein musste, denn er kannte Kid nur als einen ausgelassenen Mann, der stets zu Scherzen aufgelegt war. Noch nie hatte er so einen harten Blick bei seinem Gast gesehen.

"Gorwin sagte uns, dass gestern zwei Männer in seltsamer Kleidung bei dir waren", begann Kid. "Ich würde gerne erfahren, was sie wollten."

"Du meinst wahrscheinlich diese vermummten Gestalten?", sagte Jack. Nachdem sein Gast einmal kurz bestätigend nickte, sprach er weiter: "Du müsstest sie eigentlich kennen."

"Wieso?", fragte der junge Mann überrascht und beugte sich vor.

"Weil sie für Königin Brianna arbeiten", erklärte der Pirat. "Jedenfalls haben sie mir das gesagt."

"Haben sie Euch auch gesagt, was sie wollten?", fragte Syreene gespannt.

"Ja", nickte Jack bekräftigend. Er war verwirrt über das Interesse, das seine beiden Gäste an diesen seltsamen Gestalten zeigten.

"Sie waren auf der Suche nach einer Person, die einen Brief bei sich hat, der das Siegel der Königin trägt. Allerdings soll das Siegel gefälscht sein."

"Gefälscht?"

Verwirrt schaute Syreene Kid an.

"Jetzt verstehe ich gar nichts mehr", meinte dieser leise. "Soll das heißen, der Brief ist eine Fälschung?"

"So hat mir der Mann das gesagt", antwortete Jack achselzuckend.

"Ich habe es doch gesehen", versuchte Syreene sich zu versichern. "Und Taró auch. Er kennt das Siegel. Er hätte es sofort bemerkt, wenn es gefälscht wäre."

"Es könnte eine List von ihnen sein, um sich nicht verdächtig zu machen", vermutete Kid nachdenklich, der angestrengt auf die Tischplatte schaute, als wenn er dort Antworten auf all seine Fragen finden würde.

"Was ist denn eigentlich los?", wollte Jack wissen, dessen Ratlosigkeit im Gesicht stand.

"Scheinbar hat Brianna Probleme in ihrem Land", erklärte der junge Mann mit grimmiger Stimme. "Und jemand will wohl versuchen zu verhindern, dass Silver davon erfährt."

"Aber er weiß es doch, oder?", fragte der Mann alarmiert.

"Ja, dank Syreene."

"Und wenn es sich bei dem Brief nun doch um eine Fälschung handelt?", gab Syreene zu bedenken. Sie hatte das Siegel zwar gesehen und für echt befunden und dennoch gab es eine winzige Möglichkeit, dass es doch gefälscht sein könnte.

"Nein!", antwortete Kid selbstsicher. "Wenn diese Männer wirklich in den Diensten Briannas stehen würden, wüsste ich davon. Seit mehreren Jahren mache ich in ihrer Garde meine Kampfausbildung. Früher oder später hätte ich von diesen Männern erfahren. Außerdem wären sie zu Silver gegangen und hätten ihn vor diesem Brief gewarnt. Und du hast selbst gesagt, dass dein Freund das Siegel als Fälschung erkannt hätte, wenn dies der Fall wäre."

Syreene blinzelte erstaunt über die plötzlich vertrauliche Anrede, während Jack nur eine Augenbraue hochzog und über das ganze Gesicht grinste. Kid hatte jedoch nichts davon bemerkt, auch nichts von seinem Versprecher. Dazu war er zu sehr in seinen Gedanken vertieft.

"Und was nun?", seufzte die junge Frau ratlos.

"Wir sollten versuchen herauszufinden, wie viele von ihnen in der Stadt sind", antwortete Kid entschlossen. "Ansonsten können wir nur noch auf Briannas Antwort warten."

"Vielleicht gibt es doch eine Möglichkeit, dies schon früher zu erfahren", meinte Syreene nachdenklich. "Wenn Leute wegen einer Prügelei festgenommen werden, welche Strafe erwartet sie dann?"

"Sechs Tage Kerker", antwortete Kid grinsend, der wusste, worauf Syreene hinaus wollte. "Wir müssen also nur eine Möglichkeit finden, wie wir diese Fremden in eine Schlägerei verwickeln. Und wenn wir sie erst einmal im Kerker sitzen haben, kann Silver sie verhören."

"Das dürfte kein Problem sein", meinte Jack, der stillschweigend zugehört hatte. "Ich kenne da ein paar Jungs, die das für euch erledigen könnten. Sie werden auch keine Fragen stellen."

"Gut", sagte Kid zufrieden. "Ich werde das mit Silver regeln, damit deine Leute keinen Ärger bekommen."

"Dann müssen wir jetzt nur noch herausfinden, wo sich die Männer aufhalten", meinte Syreene.

"Richtig", sprach der junge Mann und grinste breit. "Und deshalb werden wir jetzt auch ein paar Kleider für dich einkaufen gehen."

Syreene erwiderte nichts darauf, sonder seufzte nur ergeben.

"Sobald wir wissen, wo diese Fremden sind, werde ich dir Bescheid geben", erklärte er Jack und erhob sich von seinem Platz.

"Und ich werde meinen Leuten sagen, dass sie sich bereit halten sollen", nickte der Mann. Dann schaute er betrübt auf den Tisch, auf dem das unberührte Essen stand.

"Eure Mühe soll nicht umsonst gewesen sein", versuchte Syreene mit schlechtem Gewissen den Mann aufzumuntern. "Wie wäre es, wenn Ihr einiges von dem Essen für uns einpacken würdet?"

"Das werde ich machen", willigte Jack strahlend ein und brachte die Teller in die Küche. Missmutig schaute Kid ihm nach.

"Unglaublich", brummte er fassungslos und warf dabei die Hände in die Luft. "Jedes Mal, wenn ich ihn gebeten habe, mir etwas von seinem Essen einzupacken, musste ich immer aufpassen, dass er mir nicht an die Kehle ging. Und Ihr braucht nur einmal mit dem Finger zu schnipsen und schon frisst er Euch aus der Hand."

Das Kinn in einer Hand gestützt, schaute Syreene zu ihrem Begleiter mit belustigt funkelnden Augen auf.

"Eine Frau muss man sein", lächelte sie vergnügt.

"Das befürchte ich auch", erwiderte Kid bekümmert. Syreene musste über das kläglich verzogene Gesicht des jungen Mannes lachen.
 

Nachdem Jack ihnen das in einem Tuch gehüllte Essen gegeben hatte, geleitete Kid seine Begleiterin ins Zentrum, wo der Schneider Roskin Speedfingers sein Geschäft hatte. Als Syreene ihn das erste Mal sah, hatte sie die Befürchtung, dass der kleine Mann schon beim kleinsten Windhauch fortgeweht werden würde, so dünn war der Mann. Und als er mit seiner hohen Stimme, die an eine Frau erinnerte, anfing zu sprechen, musste sich die junge Frau zusammenreißen, um nicht loszulachen.

"Ah, mein werter Herr Kid", begrüßte Roskin den jungen Mann und machte eine tiefe Verbeugung. "Willkommen in meinem bescheidenen Geschäft. Wie kann Euch helfen?"

"Meine Begleiterin, Lady Syreene, wünscht Eure Gewänder zu sehen", erklärte Kid sein Anliegen.

"Aber natürlich", sagte der Mann zuvorkommend. "Darf ich fragen für welchen Anlass? Oder sollen es nur Kleider für den Alltag sein?"

"Beides, bitte", antwortete Kid.

"Ihr habt es gehört, Mädchen", rief Roskin laut und klatschte ein paar Mal in die Hände. Die drei Frauen, die um den Schneider herumstanden, liefen daraufhin in ein Nachbarzimmer, von wo sie aus mehrere Kleider in allen Formen und Farben brachten.

"Hier haben wir ein Gewand aus Samt", begann der Mann zu erklären, nahm einer der Frauen ein rotschwarzes Kleid aus den Armen und hielt es ausgebreitet vor seinen Kunden. "Es eignet sich sowohl für den Alltag als auch für besondere Anlässe. Wie Sie sehen besteht nur der mittlere, vordere Teil aus rotem Samt. Und der Rock fällt in langen und weiten Wellen aus."

"Ich finde, es wirkt ziemlich düster", bemerkte Kid, während er das Kleid eingehend betrachtete.

"Selbstverständlich kann ich das Gewand auch in einer anderen Farbe anfertigen", meinte Roskin einschmeichelnd.

"Mir schwebt da ein etwas dunkles Waldgrün vor", sinnierte der junge Mann. "Und der mittlere Teil in schwarz."

"Eine hervorragende Wahl", sprach der Schneider höflich und legte das Kleid über einen Tisch. Dann griff er nach einem anderen Modell.

"Die gesamte Korsage ist aus Samt angefertigt und verläuft dann mittig den Rock herunter. Der Rest des Rockes sowie auch die Ärmel bis zu den Ellenbogen sind aus feinstem Satin. Die Seide hier an den Ärmeln ist mit derselben Spitzenborte angenäht, wie auch diese hier oben am Saum der Korsage."

Zu Syreenes Leidwesen gab der Schneider zu jedem Gewand einige Erklärungen ab, während Kid jedes Mal danach seine Meinung kundtat und Verbesserungsvorschläge abgab. Und so verging eine ganze Zeit, bis dann Roskin die junge Frau bat sich auf ein niedriges Podest zu stellen, um an ihr Maß zu nehmen.

"Ich habe gestern einen Mann in seltsamer Kleidung gesehen", sagte Kid gelangweilt, während er scheinbar interessiert dem Schneider zusah. "Ich hoffe doch, dass nicht Ihr diese Kleider geschneidert habt?"

"Oh, ich weiß von wem Ihr redet, mein Herr. Und ich kann Euch versichern, dass solch eine Kleidung nie meinen Laden verlassen würde. Zu meinem tiefsten Bedauern muss ich leider sagen, dass der Mann, den Ihr gesehen habt, nicht der einzige in solch einem Gewand ist."

"Dann gibt es also noch jemand?", fragte Kid mit mildem Interesse.

"Um genau zu sein sind es vier", meinte der Mann geringschätzig. "Ich weiß von einer Kundin, dass sie in der 'Roten Krone' eingekehrt sind. Bei Venustas! Stellt Euch nur vor, ich werde gezwungen sein, diese ... diese Kleidung noch oft zu sehen! So etwas ist eine Beleidigung für mein Auge. Ich bin nun fertig. Ihr dürft also wieder heruntergekommen, Lady Syreene."

"Lasst die Sachen dann in die Burg bringen", orderte Kid an, während er Syreene von dem Podest half. "Dieses Gold sollte für Eure Kosten ausreichen."

"Ich danke Euch, mein Herr", sagte Roskin höflich und verneigte sich tief. Mit Syreene am Arm verließ Kid das Geschäft. Überrascht stellte die junge Frau fest, dass es schon Mittagszeit war.

"Waren wir wirklich solange da drin?", fragte sie ihren Begleiter ungläubig.

"Ich fürchte, ja", meinte Kid lächelnd. "Aber ich weiß ein schönes Plätzchen, wo wir hingehen und Jacks Essen verspeisen können."
 

Nachdem Kid an einem Stand auf dem Markt eine Flasche Beerensaft gekauft hatte, führte er Syreene nach Westen zur Ringmauer, in der sich an einer Stelle ein Loch befand. Der junge Mann kletterte zuerst hindurch und half dann seiner Begleiterin. Sie waren nun außerhalb der Stadt auf einer Wiese. Ein kleines Stück entfernt verlief ein schmaler Bachlauf, an dessen Ufern sich die beiden ins weiche Gras setzten und sich das Essen schmecken ließen.

"Das Essen ist wirklich vorzüglich", schwärmte Syreene und steckte sich eine Erdbeere in den Mund.

"Ich habe Euch also nicht zuviel versprochen."

"Ihr tut es schon wieder", seufzte die junge Frau und verdrehte die Augen.

"Was denn?", fragte Kid ratlos.

"Ihr benutzt schon wieder diese förmliche Anrede", kam prompt die genervte Antwort. "Bei Jack tatet Ihr dies nicht."

"Und das scheint Euch gewaltig zu stören", erkannte der junge Mann mit einem diebischen Grinsen.

"Ja, das tut es."

"Dann lassen wir doch die Förmlichkeiten weg", schlug Kid vor.

"Mit diesem Vorschlag bin ich einverstanden." Syreene lächelte kurz, um dann sofort wieder ernst zu werden. "Meinst du, wir werden etwas aus diesen Männern herausbekommen?"

"Das ist schwer zu sagen. Wir wissen ja nichts über diese Fremden. Es kann auch sein, dass sie uns irgendwelche Lügen auftischen werden, genauso, wie sie es mit dem Brief gemacht haben. Fest steht jedenfalls, dass Silver nicht eher etwas unternehmen wird, bevor er nicht eine Antwort von Brianna erhalten hat."

"Es könnte sein, dass Castle Shelter ihr Treffpunkt ist", meinte Syreene unvermittelt.

"Wie kommst du darauf?"

"Môrien sagte uns, dass er und Taró Spuren einer Reitergruppe gefunden haben", erklärte die junge Frau langsam. "Schätzungsweise waren es sechs bis zehn Pferde. Wenn wir davon ausgehen, dass diese Reiter diese fremden Männer sind, dann haben sie sich unterwegs getrennt. Zwei von ihnen waren bei dem Bauern, bei dem ich eine Rast eingelegt hatte. Und jetzt sind vier von ihnen in der Stadt."

"Wenn deine Vermutung stimmt, dann werden noch weitere von ihnen hier eintreffen", bedachte Kid nachdenklich. "Das könnte ein Problem werden."

"Ich glaube nicht, dass sie versuchen würden ihre Freunde aus dem Kerker zu befreien." Syreene tauchte eine Hand in das kühle Wasser des Baches und betrachtete nachdenklich die Ringe, die sich gebildet haben und immer größer wurden.

"Nein, das nicht", gab der junge Mann ihr Recht. "Aber sie werden sich bedeckt halten. Wenn sie erfahren, dass ihre Freunde im Verlies sitzen, werden sie damit rechnen, dass einer von ihnen redet. Und um Gewissheit zu haben, werden sie dann einfach abwarten, ob Silver reagiert. Aber darüber sollten wir uns erst später Gedanken machen. Jetzt ist es erst einmal wichtig, dass wir diese Männer bekommen."

"Sollten wir dann nicht jetzt deinem Bruder Bescheid sagen?", fragte Syreene, die ihren Begleiter dabei beobachtete, wie er sich mit dem Rücken ins Gras legte und seine Arme hinter dem Kopf verschränkte, während er ein Bein anzog.

"Keine Sorge", sagte Kid unbekümmert und schloss die Augen. "Wir haben Zeit."

Syreene seufzte leise und hob ihren Blick in den strahlendblauen Himmel. Sie dachte darüber nach, was ihr in den letzten Tagen alles passiert war. In einem Augenblick ist alles ruhig und friedlich gewesen, dachte die junge Frau, und jetzt stecke ich in einem Abenteuer, dessen Ausgang ungewiss ist. Sie stellte sich vor, wo sie sich mit ihren Freunden heute aufhalten würde, wenn die Sache mit dem Boten nicht passiert wäre. Wahrscheinlich wären wir in der Nähe von Corpus, vermutete Syreene. Und dann gingen ihre Gedanken weiter zu Taró. Syreene machte sich Sorgen um ihn. Sie fragte sich, ob es ihm gut ginge oder ihm doch etwas zugestoßen war. Warum war er noch nicht in Castle Shelter?

Syreene hatte nicht bemerkt, dass Kid sie beobachtete. Und auch nicht, dass er mit den Augen der Spur einer einzelnen Träne folgte, die an ihrer Wange hinab lief. Er betrachtete ihr Profil in dem warmen Sonnenlicht, wie sie mit wehmütigem Blick in die Ferne blickte, während sie mit ihrer Hand im Wasser Kreise zog. Kid mochte die junge Frau. Sie war eine Seltenheit unter all den anderen Frauen, die er kannte, bis auf seine Mutter und Königin Brianna. Syreene war mutig, entschlossen und loyal, wie sie es ihm und seinem Bruder bei ihrem Zusammentreffen im Wald bewiesen hatte. Mit ihrer Freundlichkeit und Warmherzigkeit eroberte sie die Herzen in ihrer Umgebung im Sturm. Wie sich das bei Jack gezeigt hatte, schmunzelte Kid in sich hinein, als er an das Verhalten des Freundes zurückdachte. Und neben ihrer anmutigen Schönheit besaß die junge Frau zudem auch noch eine besondere Klugheit.

"Sag mir, wie ich deine düsteren Gedanken verscheuchen kann", sagte Kid plötzlich. Als dem jungen Mann bewusst wurde, was er da gesagt hatte, wurde ihm heiß und eine verlegende Röte zog sich über sein Gesicht. Auch Syreene war nicht minder überrascht über die Worte, die sie aus ihren Gedanken gerissen hatten. Sprachlos und mit großen Augen schaute sie Kid an.

"Ich kann nicht glauben, dass ich das gesagt habe", stöhnte Kid gedämpft, da er mit seinen Händen über das Gesicht fuhr. Syreene konnte nicht mehr anders und fing an zu lachen.

"Ich weiß gar nicht, was daran so witzig ist", meinte der junge Mann missmutig. Doch bei dem unbeschwerten Lachen seiner Begleiterin musste er grinsen.

"Waren meine Worte so komisch?", fragte Kid schließlich, nachdem Syreene sich beruhigt hatte und versuchte wieder zu Atem zu kommen.

"Nein", versicherte ihm die junge Frau lächelnd. "Es ist der ganze bisherige Tag. Erst Jack, wie er dich wie einen gewöhnlichen Mann behandelt hat, dann dieser affektierte Schneider mit der Stimme einer Frau und dann du, wie du deine Mutter in Verlegenheit bringst, dich über Jack ärgerst und schließlich noch errötest."

"Und dabei ist der Tag gerade mal zur Hälfte vorbei", warnte Kid Syreene und blinzelte ihr verschmitzt zu.

"Oh, mehr werde ich nicht vertragen können", lachte die junge Frau, wobei sie ihre Hände abwehrend vor sich hielt. "Wie lange bist du schon in der Kampfausbildung?"

"Schon an die sieben Jahre." Kid setzte sich auf und legte einen Arm auf das angewinkelte Bein. "Ich muss noch ein Jahr machen, dann werde ich den Kriegerschlag bekommen."

"Und was machst du dann?", fragte Syreene. "Reihst du dich bei den Soldaten deines Bruders ein?

"Ich werde einer seiner Verbündeten. Etwas weiter östlich von hier, so an die drei Tagesritte entfernt, liegt die Burg 'Eternal Faith', die mein Vater für mich vorgesehen hat. Momentan wird sie noch von einem Verwalter meines Bruders geführt. Und sobald ich mein Erbe antrete, werde ich meine eigenen Soldaten um mich scharen und so die Macht von Silver noch vergrößern."

"Und hast du auch schon eine Frau gefunden, die du auf deine Burg mitnehmen wirst?"

"Ich weiß noch nicht", sagte Kid unbekümmert. "Es wird sich noch zeigen müssen. Und was wirst du machen?"

"Ich werde erst einmal abwarten, dass Taró zurückkehrt", antwortete sie. "Er wird dann entscheiden, wo wir als nächstes hingehen."

"Und was ist mit dir?", wollte Kid, plötzlich verärgert, wissen. "Hast du keine Wünsche oder Träume, die du dir erfüllen möchtest? Musst du dein Leben danach richten, wie Taró es will?"

"Nein, das muss ich nicht", verteidigte sich Syreene mit kalter Stimme, die das Wasser des Baches zu Eis hätte erstarren lassen können. "Und Taró verlangt es auch nicht von mir."

Eine ganze Zeit lang herrschte unter ihnen Stille und Kid bedauerte seinen Ausbruch. Ihm war bewusst, dass er die junge Frau mit seinen Worten verletzt hatte. Doch er wusste nicht, wie er den Schaden wieder gut machen konnte.

"Natürlich habe ich Träume", sagte sie auf einmal mit leiser Stimme und ein trauriger Ausdruck trat in ihren Augen, während sie auf das klare Wasser blickte. "Aber ich weiß, dass sie sich nie erfüllen werden. Und ich geh nur mit Taró mit, weil ich nicht weiß, wo ich sonst hin sollte. Er, Môrien und Ghost sind die einzigen, die ich habe. Sie sind meine Familie."

"Es tut mir Leid, Syreene", entschuldigte er sich aus tiefstem Herzen. "Das habe ich nicht bedacht. Ich weiß nicht, was ich sagen oder tun kann, damit du mir meine Worte verzeihst."

"Nein, das ist schon in Ordnung", lächelte Syreene schwach. "Es muss wirklich für jeden so aussehen, dass ich mein Leben nach jemand anderen richte."

"Erzählst du mir von deinen Träumen?"

"Mein größter Wunsch ist es zu erfahren, wer ich bin", antwortete Syreene wehmütig und mit abwesendem Blick. "Zu wissen, zu wem ich gehöre und wer meine Eltern sind."

"Vielleicht kann ich dir diesen Wunsch erfüllen", sagte er fest, der entschlossen war, die tiefe Traurigkeit in ihrem Herzen zu vertreiben.

"Wie?" Syreene blickte ihn hoffnungsvoll und mit wild klopfenden Herzen an.

"Taró fand dich in Aphros, nicht wahr?" Und als Syreene daraufhin nickte, sprach Kid weiter.

"Dann muss dort die Antwort auf deine Fragen liegen. Es kommt nicht oft vor, dass ein Kind plötzlich verschwindet. Es wird also für Aufregung gesorgt haben. Und so ein Ereignis bleibt lange im Gedächtnis der Leute zurück. Deine Familie muss in der Stadt oder in der näheren Umgebung leben, da bin ich mir sicher. Und ich verspreche dir, wenn diese Angelegenheit mit Brianna erledigt ist, reisen wir beide nach Aphros und suchen deine Eltern."

Syreene schloss nach diesen Worten vor lauter Rührung die Augen und stieß einen zittrigen Seufzer aus. Sie konnte jedoch nicht verhindern, dass unter den geschlossenen Lidern ein paar Tränen herauskullerten und an ihrem Gesicht herunter liefen. Die junge Frau biss sich auf die Lippen, um das Zittern ihres Mundes zu unterdrücken, während ihre verkrampften Hände den Stoff des Rockes zerknitterten. Plötzlich legten sich zwei starke Arme um ihren Körper und ihr Kopf wurde an eine warme, feste Schulter gedrückt. Nah an ihrem Ohr murmelte Kid Syreene tröstende Worte zu, während er sanft ihren Rücken streichelte. Und auf einmal lösten sich die angestauten Gefühle der letzten Tage in ihr auf und ein heftiges Schluchzen erschütterte die schlanken Schultern. Syreene ließ ihren Tränen freien Lauf und suchte Halt an dem starken Körper des jungen Mannes, der sie fest umschlungen hielt. Auch nachdem die Tränen versiegt waren, blieb Syreene noch eine Weile mit geschlossenen Augen in Kids Armen liegen. Sie fühlte sich geschützt und geborgen, und sog die Kraft, die von ihm ausging, tief in sich ein. Nur langsam löste sie sich aus der Umarmung und strich sich die Wangen trocken.

"Ich sehe sicher schrecklich aus", versuchte Syreene mit einem kleinen Lächeln zu scherzen.

"Du solltest dir wirklich lieber die Kapuze ins Gesicht ziehen", antwortete Kid grinsend, "wenn wir in die Stadt zurückgehen."

"Sollte ein Mann nicht einer Frau stets Komplimente über ihr Aussehen machen?"

"Ich denke nur an meinen guten Ruf", verteidigte sich Kid. "Wenn die Leute dich nämlich so sehen, denken sie noch, ich hätte dir was angetan."

"Und wir wollen ja nicht, dass dies geschieht", kam trocken die Antwort.

Kid reichte Syreene lachend eine Hand und half ihr vom Boden auf. Dann sammelten sie gemeinsam die verstreut liegenden Sachen ihres Mittagsmahles ein und begaben sich auf denselben Weg, den sie zuvor genommen hatten, wieder zurück in die Stadt. Es wurde Zeit Silver in ihren Plan einzuweihen und nötige Schritte vorzubereiten.

In der Burg angekommen, machten die beiden sich sofort auf die Suche nach dem König und fanden ihn in seinem Arbeitszimmer. Kid erzählte seinem Bruder von ihrem Vorhaben, der sich auch schnell dazu bereit erklärte, den Männern, die Jack für die Aufgabe ausgewählt hatte, reich zu belohnen. Da der König aber vermutete, dass die seltsamen Männer das Treiben auf der Burg scharf beobachteten, überlegten sie, wie sie unbemerkt eine Nachricht an Jack schicken konnten. Kid schlug dann vor, dass Syreene ihm einen Brief mit versteckten Hinweisen schreiben solle, wobei der junge Mann es auch nicht ausließ den Besuch bei dem Piraten in allen Einzelheiten zu schildern. Daraufhin machte sich die junge Frau ans Werk und setzte eine Nachricht mit folgendem Inhalt auf:
 

"Meister Jack,
 

ich wollte es mir nicht nehmen lassen Ihnen für das vorzügliche Essen zu danken. Nicht einmal der Koch in der 'Roten Krone' könnte es mit Ihrem Geschick aufnehmen. Aber bitte erzählen Sie es niemanden weiter, sonst könnte noch ein Streit darüber entbrennen, der womöglich noch in einer Prügelei ausartet. Ich möchte nicht dafür verantwortlich sein, dass gute Männer von König Silver bestraft werden und in den Kerker kommen.
 

Hochachtungsvoll,

Lady Syreene"
 

Silver und sein Bruder waren mit dem Inhalt sehr zufrieden. Niemand, der nicht eingeweiht war, würde vermuten, dass das Dankesschreiben Hinweise für Jacks Leute lieferte. Und so ließ der König einem Jungen den Brief zu dem Piraten bringen. Als dieser die Nachricht las, lachte er laut auf. Die kleine Lady ist ganz schön gerissen, dachte Jack bei sich. Danach schickte er den Boten wieder zurück, aber nicht ohne den Auftrag Lady Syreene auszurichten, dass er, Jack, sich wegen ihres Lobes geehrt fühle und ihre Bitte verstehen kann und ihr Herz nicht damit belasten wird. Jetzt mussten die Freunde nur noch darauf warten, dass das Schauspiel anfing.
 

Kid hatte sich in seinem Zimmer zurückgezogen, um sich für das Abendessen fertig zu machen. Seine kurzen braunen Haare waren noch feucht von dem Bad, das er zuvor genommen hatte, und einige vorwitzige Locken hingen ihm in der Stirn. Er stand vor einem Wandspiegel und zupfte an den bauschigen Ärmeln seines weißen Hemdes, als es an seiner Tür klopfte. Kurz darauf betrat Lady Gwaine in einem mitternachtsblauen Spitzenkleid den Raum und ging lächelnd auf ihren Sohn zu, der ihr wie immer zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange gab.

"War euer Ausflug von Erfolg gekrönt?", fragte Lady Gwaine, während sie den Kragen an dem Hemd ihres Sohnes gerade rückte und ihm ein paar Strähnen aus dem Gesicht streifte.

"Nun, Speedfingers hat sich über das viele Gold sehr gefreut", antwortete Kid ungerührt. Nur ein kleines Funkeln in seinen Augen verriet Lady Gwaine, dass ihr Sohn genau wusste, was sie stattdessen hören wollte.

"Du hast aber doch die Wahl der Kleider Syreene überlassen, oder?" Lady Gwaine ging unbekümmert auf das Spiel ein. Sie wusste, sie würde schon noch erfahren, wie es in der Stadt gelaufen war.

"So könnte man es sagen", sagte der junge Mann gedehnt, woraufhin er einen strafenden Blick erhielt. "Sie hat sich jedenfalls nicht beschwert."

"Das ist der Grund, warum ich dich nicht mehr zum Schneider mitnehme", erwiderte seine Mutter seufzend und schüttelte ergeben ihren Kopf. "Man kann seine Kleider nicht in Ruhe selbst aussuchen, ohne dass du dich einmischst. Und am Ende hat man dann Sachen gekauft, die man ursprünglich nicht haben wollte."

"Und trotzdem trägst du die von mir ausgesuchten Gewänder", hielt Kid ihr lächelnd vor und zeigte demonstrativ auf ihr Kleid.

"Habt ihr etwas über diese seltsamen Männer herausgefunden?", wechselte Lady Gwaine das Thema. Kid grinste über das ganze Gesicht, wurde aber sofort wieder ernst.

"Nun, Môrien ist bisher noch nicht zurückgekehrt. Er wollte sich zusammen mit Baringol auf die Suche machen. Aber Syreene und ich fanden heraus, dass diese Männer zu viert sind und sich in der 'Roten Krone' befinden. Jack hat ein paar seiner Leute damit beauftragt, sie in eine Schlägerei zu verwickeln, damit Silver einen Grund hat sie festzunehmen und zu verhören."

"Ich hoffe, dass wir dann mehr darüber erfahren, was vor sich geht."

"Das wollen wir ja damit erreichen", antwortete Kid und führte seine Mutter zum Kamin, wo sie sich beide in die dort stehenden Sessel setzten. "Aber ich befürchte, dass sie uns nicht die Wahrheit sagen werden."

"Vielleicht aber doch", meinte seine Mutter.

"Nein, das ist nicht zu erwarten", erklärte Kid und lehnte sich im Sessel zurück, während er die Beine übereinander schlug. "Immerhin haben sie Jack erzählt, dass sie im Dienste Briannas stehen."

"Aber dadurch erwecken sie doch erst recht die Aufmerksamkeit auf sich", wunderte sich Lady Gwaine. "Oder stimmt es vielleicht, was sie sagen?"

"Das bezweifle ich. Außerdem haben sie erzählt, dass der Brief nicht von Brianna sei, also eine Fälschung. Wenn dies wirklich der Wahrheit entspräche, dann würden sie sich gar nicht erst die Mühe machen nach dem Schreiben zu suchen, sondern hätten Silver schon längst davon berichtet."

"Das ist wahr", stimmte Kids Mutter ihm zu. "Und wann wollen Jacks Männer zuschlagen?"

"Wir rechnen mit dem heutigen Abend."

"Gut", sagte Lady Gwaine und spitzte dann die Lippen. Es war eine Geste, die Kid stets nervös werden ließ, da sie in den meisten Fällen bedeutete, dass seine Mutter etwas mit ihm geplant hatte.

"Da in dieser Hinsicht meine Neugier jetzt gestillt ist, erzähle mir nun, wie dein Tag mit Syreene war."

"Ich denke, wir hatten viel Spaß zusammen", meinte er ausweichend, nicht bereit noch mehr zu sagen.

"Es war doch dein Einfall Syreene die Stadt zu zeigen", lächelte Lady Gwaine und beobachtete aufmerksam ihren Sohn. "Laut den Worten Silvers warst du sogar mehr als bereitwillig dazu. Fast schon eifrig, möchte ich sagen."

"Hat es ihn gestört?", fragte Kid nach einer Weile ernüchtert, der durch die Worte seiner Mutter nachdenklich geworden war. Lady Gwaine seufzte leise und senkte den Blick. Sie hatte eigentlich versucht dieses Thema zu vermeiden. Obwohl sie und ihr Mann ihre beiden Söhne stets gleich behandelt hatten, um keinen Neid zwischen ihnen aufkommen zu lassen, hatte Kid schon oft tatenlos zusehen müssen, wie sich das Interesse einer Frau, das vorher ihm gegolten hatte, sich seinem Bruder zuwandte. Den Schmerz über die ständigen Zurückweisungen, nur weil er nicht der König war, hatte Kid immer in sich eingeschlossen.

"Dein Bruder kann seine wahren Gefühle sehr gut verbergen, das weißt du", sagte sie schließlich langsam. Sie bedauerte ihre nächsten Worte, aber sie wollte, dass ihr jüngster Sohn Bescheid wusste.

"Aber es hat dennoch für mich den Anschein, als wenn er von der jungen Frau fasziniert sei."

"Silver hatte ja schon immer mehr Glück bei den Frauen gehabt", bemerkte Kid verbittert und schaute blicklos in den Kamin.

"Kannst du das aber auch in diesem Fall behaupten?", fragte Lady Gwaine. Anders als ihr Sohn wollte sie die Hoffnung für ihn noch nicht aufgeben.

"Was hätte ich ihr schon zu bieten?", rief der junge Mann heftig, sprang aus dem Sessel auf und lief unruhig im Zimmer herum. "Ich bin doch nur ein einfacher Krieger. Ich besitze keine Burg, keine Stadt und noch nicht mal ein Land. Silver ist der König. Er hat die Macht und den Reichtum."

"Glaubst du wirklich, dass Syreene an diesen materiellen Werten interessiert sei? Du hast doch fast den ganzen Tag mit ihr verbracht. Hat sie so einen Eindruck bei dir hinterlassen?"

"Ich weiß, dass sie anders ist", sagte Kid schon ruhiger, der sich mit den Händen durchs das fast schon trockene Haar fuhr. "Dass sie nicht so ist, wie die anderen Frauen. Und das mag ich an ihr. Sie ist so ... menschlich. Ich bin sicher, ich könnte sie sogar in die finsterste Spelunke mitnehmen und sie würde nur mit den Schultern zucken."

"Und das ist dein Vorteil gegenüber Silver", meinte Lady Gwaine. "Du hast Spaß an dem Leben. Und wie auch immer deine Position jetzt und in Zukunft aussehen mag, du würdest es nie zulassen, dass die Pflicht dir diesen Spaß nehmen wird. Du würdest nicht so werden wie dein Bruder, der seine Gefühle versteckt und nichts riskiert. Und deshalb glaube ich auch, dass so ein Mensch Syreenes Herz niemals erobern wird."

Kid, der sich derweil seiner Mutter wieder gegenüber gesetzt hatte, schaute nachdenklich in den Kamin. Lady Gwaine lehnte sich abwartend in ihrem Sessel zurück. Sie wusste, sie hat ihrem Sohn die Hoffnung wiedergegeben.

"Ihre Freunde haben sie in Aphros gefunden, als sie noch ein Kind war", begann er schließlich zu erzählen. "Ihre Erinnerungen fangen genau bei diesem Tag an. Was davor war, weiß sie nicht."

"Was ist mit ihren Eltern?"

"Sie weiß nicht, wer sie sind", antwortete Kid. "Sie weiß noch nicht einmal ihren richtigen Namen."

"Das arme Kind." Lady Gwaine war voller Mitleid mit dem kleinen Mädchen, dass Syreene einst war. "Wer weiß, was sie erlebt hat. Wenn du nach Aphros zurückkehrst, könntest du dann nicht vielleicht versuchen etwas herauszufinden?"

"Ich werde Syreene dann mitnehmen", lächelte Kid schwach. "Das habe ich ihr bereits versprochen."

"Ich hoffe, dass ihr Glück haben werdet", antwortete sie und schaute in die sanften Augen ihres Sohnes, die sie immer an ihren verstorbenen Mann erinnerten. Aus den Augenwinkeln nahm Lady Gwaine eine Bewegung wahr und blickte zur Tür, von wo aus Syreene das Gespräch zwischen Mutter und Sohn beobachtet hatte. Die junge Frau stand ganz still da und ließ durch nichts erkennen, dass ihre Anwesenheit bemerkt wurde.

"Wie war es bei dir und Vater?", fragte Kid und seine Mutter richtete ihren Blick wieder auf ihn. "Woran hast du gemerkt, dass er die andere Hälfte deiner Seele ist?"

"An den Tag erinnere ich mich noch sehr gut", lachte sie. "Es war ein paar Tage nach unserer Vermählung. Ich war damals noch sehr jung und ziemlich hochmütig. Wir hatten einen Spaziergang im Wald gemacht. Ich weiß gar nicht mehr, worüber wir geredet haben, nur daran, dass ich unbedingt Recht haben wollte. Es kam zu einem lauten Streit zwischen uns, der damit geendet hatte, dass dein Vater mich in den Fluss warf. Oh, was habe ich geflucht, gezetert und geschimpft, während er im Trockenen stand und lachte. Und seine Augen haben so hell gestrahlt wie die Sterne. In dem Augenblick hat mich ein so warmes Gefühl durchströmt, dass ich wusste, ich gehöre zu ihm."

"Vater hat dich wirklich in den Fluss geworfen?", schmunzelte Kid, der versuchte sich die Szene bildlich vorzustellen. Lady Gwaine lachte nur.

"Du vermisst ihn, nicht?" Der junge Mann sah seine Mutter ernst an.

"Jeden Tag mit ganzem Herzen. Aber ich bin froh, dass ich die Zeit mit ihm hatte. Und außerdem habe ich dich und Silver. Ihr beide erinnert mich sehr an euren Vater, weil jeder von euch ein Stück von ihm bei sich trägt."

"Meinst du, dass Syreene das Gegenstück meiner Seele ist?"

"Diese Frage solltest du deinem Herzen stellen", antwortete Lady Gwaine lächelnd. "Ich kann dir nur sagen, dass Syreene es wert ist, um sie zu kämpfen."

Gedankenvoll wandte sich Syreene nach diesen Worten um und verließ lautlos das Zimmer. Lady Gwaine hatte dies beobachtet und bekam augenblicklich ein schlechtes Gewissen. War es vielleicht doch ein Fehler ihren Sohn zu bestärken? Hat sie vielleicht unbewusst die junge Frau verletzt? Sie seufzte schwer und riss damit Kid aus seinen Gedanken.

"Stimmt etwas nicht, Mutter?"

"Wahrscheinlich habe ich gerade einen großen Fehler gemacht", antwortete sie bekümmert, während sie noch immer zur Tür blickte. Kid wandte sich in seinem Sessel um, um dem Blick seiner Mutter zu folgen. Fragend blickte er sie dann wieder an.

"Syreene hatte uns die ganze Zeit über zugehört", gestand Lady Gwaine, als sie ihren Sohn wieder ansah.

"Ich weiß", erwiderte Kid, woraufhin seine Mutter überrascht die Augenbrauen hob. "Sie hat so einen süßlichen Duft nach Wald. Wie hat sie denn reagiert?"

"Schwer zu sagen. Ich weiß nicht, ob es Bedauern war, das ich in ihrem Blick gesehen habe."

"Ich werde trotzdem nicht aufgeben", versprach er und lächelte dann Lady Gwaine mit einem strahlenden Lächeln an. "Aber jetzt sollten wir gehen. Es ist schon spät und die anderen haben sicher schon mit dem Essen angefangen."

Kid erhob sich von seinem Platz und reichte seiner Mutter einen Arm. Gemeinsam begaben sie sich in die Halle und waren überrascht von der Szene, die sich dort abspielte.
 

Silver saß abwartend und mit grimmigem Gesicht auf dem Podest in seinem Stuhl. Links neben ihm stand sein Kommandant Gorwin in voller Tracht. Unter seinem rechten Arm hielt er eine eindrucksvolle, silbergeschmiedete Kesselhaube, die das künstlerische Handwerk des Schmiedes deutlich aufzeigte, denn der Helm wies das Muster eines Falkenkörpers auf. Doch erst der Helmbusch mit den grau-weißen Federn perfektionierte das Bild eines fliegenden Falken.

Vor dem Podest hielten zwei Soldaten in ihrer Mitte eine rot-schwarz gekleidete Person, die ihren Kopf gesenkt hatte. Als Kid mit seiner Mutter die Treppe hinab stieg, schaute die Gestalt auf und er erkannte überrascht in ihr einen Angehörigen des Klans der Katzen. Von oben bis unten war der Mann mit einem rot-braunen Fell behaart und anstatt Fingernägel besaß er gefährlich spitze Krallen. Das Gesicht glich der einer normalen Katze, nur war dieses größer und hatte auch keine Schnurrbarthaare. Und anders als bei Menschen, Elben oder Zwergen lagen die Ohren nicht eng an der Seite des Kopfes sondern oben auf.

Etwas abseits des Podestes löste sich Kid von seiner Mutter, die sich auf die andere Seite zu Syreene gesellte, stieg die paar Stufen hinauf zu seinem Bruder und stellte sich nach einem kurzen Nicken auf die rechte, freie Seite des Königs.

"Nennt mir Euren Namen!", befahl Silver nach einer Weile mit eisiger Stimme, die in der großen Halle widerhallte.

"Man nennt mich Thunder Claw, mein König", sprach der Katzenmann mit tiefer, knurrender Stimme, die für den Klan der Katzenmenschen typisch war.

"Meine Leute berichteten mir, dass Ihr und Eure Freunde im Dienste Königin Briannas stehen würdet."

"Bitte", bat Thunder laut. "Gebt mir die Gelegenheit mit Euch allein sprechen zu dürfen."

"Geht nicht darauf ein", flüsterte Gorwin warnend, der sich zu seinem König gebeugt hatte. "Das ist sicher eine Falle."

"Vielleicht wäre es doch besser sich mit ihm allein zu unterhalten", schlug Kid leise vor. "Hier kann uns jeder zuhören."

"Bringt ihn in mein Arbeitszimmer!", sagte Silver nach einer kurzen Überlegung zu den beiden Wachen. Dankbar nickte Thunder ihm zu. Zusammen mit Gorwin und Kid ging der König hinter den Soldaten her, gefolgt von Syreene, die die verdutzt dreinblickende Lady Gwaine beim Podest zurückließ. Im Arbeitszimmer angekommen, wo Silver gerade seine Männer hinausschickte, blieb die junge Frau neben der Tür stehen. Überall an den Wänden standen raumgroße Regale, die voll waren mit Büchern, Schriftrollen und Landkarten. Erhellt wurde der Raum nur von einem einzigen Fenster auf der Westseite und von Dutzenden von Kerzen. Auf dem steinigen Untergrund lag ein riesiger weinroter Teppich, der fast das ganze Zimmer einnahm und in dessen Mitte sich ein massiver Schreibtisch befand.

Thunder Claw stand mit erhobenem Kopf und mit gefesselten Händen ein Stück vom Tisch entfernt, hinter dem sich der König, flankiert von seinem Bruder und seinem Kommandanten, gesetzt hatte. Gorwin warf Syreene einen missbilligenden Blick zu, während Silver sie überrascht ansah. Kid jedoch grinste nur über die Dreistigkeit, mit der die junge Frau sich in die private Unterhaltung eingeschlichen hatte. Ungerührt schaute sie die Männer an und hob fragend eine Augenbraue.

"Nun gut", begann Silver schließlich und sah den Katzenmann dabei an. "Alles, was in diesem Raum gesagt wird, wird nicht hinausgetragen. Ihr könnt also offen sprechen."

"Ich danke Euch, mein König", sagte Thunder und verbeugte sich leicht. "Ich bin ein loyaler Krieger meines Gebieters Grey der Einarmige."

"Und was hat Grey der Einarmige mit Euren seltsamen Freunden zu schaffen?"

"Gar nichts", erklärte der Krieger fest. "Mein Gebieter hatte mir den Auftrag gegeben mich dieser Gruppe anzuschließen, um herauszufinden, was sie vorhaben. Allerdings sind diese Männer mir gegenüber misstrauisch und verschlossen, so dass sie mich nie allein ließen. Deshalb fand ich auch keine Möglichkeit mit Euch in Kontakt zu treten."

"Was sind das für Leute?", wollte Silver wissen. Er war sich noch unsicher, ob er dem glauben sollte, was ihm der Katzenmann erzählte.

"Sie nennen sich selber 'Anhänger des schwarzen Auges'. Ein paar von ihnen kamen vor etwa fünf Monden in unseren Wald Artemias, um nach weiteren Gefolgsleuten zu suchen. Sie haben aber nur sehr wenig über sich und ihren Orden erzählt, was meinen Gebieter misstrauisch machte und er ihnen befahl den Wald zu verlassen. Doch dann erreichte uns die Nachricht, dass im Wüstengebiet etwas vor sich gehe. Späher meines Klans berichteten, dass sie am Eingang des Wüstenpasses eine große Gruppe dieser Anhänger gesehen hatten. Daraufhin schickte mich mein Gebieter zu diesen Leuten und ich bin in ihren Orden eingetreten."

"Und was wollen diese Ordensanhänger in Castle Shelter?", fragte Gorwin streng. Er war noch immer der Meinung, dass der Gefangene eine Falle für den König geplant hatte und dass seine Geschichte dazu beitragen würde.

"Wir bekamen den Auftrag einen Boten Königin Briannas abzufangen", antwortete Thunder. "Dieser hatte einen Brief der Königin und Euren Siegelring bei sich. Doch er konnte uns entkommen. Jedoch war der Mann tödlich verwundet, wodurch wir ihn einige Zeit später finden konnten. Aber der Brief und der Ring waren weg, auch so sein Pferd. Wir nahmen an, dass jemand die Sachen an sich genommen hat und auf den Weg zu Euch war, woraufhin wir uns trennten und die Straßen nach dieser Person absuchten, bis wir hierher in die Stadt kamen."

"Ihr hättet abseits der Straßen suchen sollen", erwiderte Syreene trocken. Thunder drehte sich nach der Stimme um und bemerkte erst jetzt die junge Frau, die mit verschränkten Armen bei der Tür stand und ihm ungerührt in die Augen sah.

"Ihr seid doch die Frau, die heute Morgen mit dem jungen Prinzen bei diesem Piraten war, nicht wahr?"

Der Katzenmann war verwirrt darüber, dass sie bei dieser Unterhaltung anwesend sein durfte. Sie muss eine wichtige Position beziehen, dachte er sich. Einen anderen Grund konnte er sich nicht erklären.

"Sie ist auch die Person, die Ihr gesucht habt", erklärte Silver.

"Eine Frau", lachte er resigniert. "Und wir haben die ganze Zeit über nach einer männlichen Person gesucht."

"Was könnt Ihr mir über den Orden selber sagen?", fragte der König und beugte sich auf seinem Stuhl nach vorn, um die Arme auf dem Schreibtisch zu stützen.

"Wie ich Euch bereits mitteilte, war man bisher mir gegenüber sehr verschlossen. Um mehr zu erfahren, muss ich mich erst noch als würdig erweisen, so sagte man mir. Aber ich weiß, dass das 'Schwarze Auge' eine mächtige Person ist, die es zu stärken gilt."

"Und was bedeutet das?"

"Ich kann nur so viel sagen", antwortete der Katzenmann bedauernd, "dass diese Leute auf der Suche nach etwas sind."

"Wie groß ist dieser Orden?", fragte jetzt Kid besorgt. Was er bis jetzt gehört hatte, ließ in ihm eine eiskalte Furcht erwachen. Sie hatten zwar ihr Ziel erreicht einen dieser Männer zu verhören, aber das Gesagte warf nur noch weitere unbeantwortete Fragen auf.

"Das ist schwer zu sagen", antwortete Thunder achselzuckend. "Ich habe nur eine Gruppe von etwa dreißig Männern kennen gelernt, die ein Lager in der Nähe von Hadesian haben. Es gibt noch weitere dieser Lager, die überall in Eredian verteilt sein sollen. Und dann ist da noch ein Stützpunkt irgendwo in den Flammenbergen. Aber mehr kann ich dazu auch nicht sagen."

"Was ist mit den Königshäusern?", fragte Silver. "Gehören von denen einige dem Orden an?"

"Soweit mir bekannt ist, will der Orden gegen die Königshäuser ankämpfen. Demnach hätten sie keinen Grund einen von ihnen als Mitglied aufnehmen zu wollen."

"Sie kamen aber doch in Euren Wald", warf Gorwin siegessicher ein. Jetzt hatte er den Beweis, dass der Krieger nicht die Wahrheit sprach. So dachte er jedenfalls, bis ihn die folgenden Worte ernüchterten.

"Wir gehören aber keinem Königshaus an", antwortete Thunder. "Wir sind bloß ein kleiner Klan, der sich niemals gegen eine Armee von Soldaten behaupten könnte."

"Könnt Ihr uns dann wenigstens Namen von Mitgliedern nennen?", wollte Silver wissen. Er war darüber verzweifelt, dass sie scheinbar keinen Schritt weiterkamen.

"Die Mitglieder haben mir ihre Namen nicht genannt", erklärte der Katzenmann und rang sichtlich mit den nächsten Worten. "Aber unterwegs hierher zur Stadt trafen wir ein weiters Mitglied, das ich früher schon ein paar Mal begegnet bin. Dieser Mann hatte Eurem Vater einst gedient. Und zwar ist es Taró, der Waldläufer."

Nach diesen Worten folgte eine angespannte Stille. Silver ließ sich langsam in seinem Stuhl zurücksinken, während er über das eben Gehörte nachdachte. Kid sah währenddessen besorgt zu Syreene, die ergeben die Augen geschlossen hatte und den Kopf senkte.

"Seid Ihr Euch da ganz sicher, dass es Taró war?", hakte Silver nach.

"Das bin ich", beteuerte er mit fester Stimme. Er konnte die Zweifel, die mit der Frage herauszuhören waren, gut verstehen. Er konnte es selber nicht glauben, dass der Waldläufer sich dem Orden angeschlossen hatte.

"Verzeiht, aber ich muss Euch das jetzt fragen. Habt Ihr davon gewusst, Syreene?"

"Ich wusste nur, dass er sich anders verhalten hat als sonst", antwortete sie mit einer Stimme, die ihr fremd in den Ohren klang, und schaute dabei Silver an. Er war erschrocken über den Schmerz, den er in den Tiefen ihrer Augen erblickte.

"Ich hatte angenommen", sprach die junge Frau weiter, "dass er sich mit seiner Vergangenheit auseinander gesetzt hätte, und sie akzeptiert hat. Er war ... glücklicher ... als sonst. Er hing nicht mehr so oft seinen Gedanken nach, die seine Familie betrafen. Ich war immer in dem Glauben, er sei trotz allem Eurer Familie ein treuer Gefolgsmann. Bis gerade eben hatte er mir nie Anlass gegeben etwas anderes anzunehmen."

"Was meinst ...", begann Kid nach einer Weile, als ein Gebrüll und schwere Stiefelschritte aus der Halle ihn unterbrachen. Ein junger Soldat stürmte aufgeregt in das Arbeitszimmer.

"Mein König, verzeiht", sprach er schnaufend. "Aber wir fanden in einer Straße Baringol, den Schmied. Er ist schwer verletzt."

"Wo ist er jetzt?", fragte Silver ruhig. Nur die geballten Fäuste auf dem Tisch verrieten, dass er über diese Nachricht erschrocken war.

"Wir haben ihn hierher gebracht", antwortete der Soldat und fügte noch hinzu: "Auf seine Bitte hin."

Silver eilte mit langen Schritten in die Halle, wo weitere Soldaten den Zwerg bereits auf den Tisch gelegt hatten. Lady Gwaine stand dabei und befahl einigen Mägden ihr Wasser und Tücher zu bringen, während sie sich über Baringol beugte und sich seine tiefe Wunde an der Hüfte besah.

"Wir werden Euch schnell wieder auf die Beine bringen", sprach Lady Gwaine mit fester Stimme und drückte kurz Baringols Hand.

"Meister Baringol!", sagte Silver, nachdem er an die Seite des Schmiedes getreten war. "Erzählt mir, was Euch geschehen ist."

"Wir waren auf ... den Weg zur Burg", sprach Baringol mühsam mit leiser Stimme. "Auf dem Marktplatz ... sahen wir, wie drei Männer nach denen ihr sucht in ... einer Gasse ... verschwanden. ... Wir sind ihnen ge...folgt. Plötzlich aber standen sie hinter uns ... und griffen uns an."

"Wer war sonst noch bei Euch?", fragte der König sanft. Er sah, dass der Zwerg starke Schmerzen hatte und hoffte, dass er durchkommen würde.

"Môrien", hauchte der Schmied noch, bevor er in tiefer Bewusstlosigkeit versank.

Kid schaute nach dieser Enthüllung erschrocken zu Syreene, die bei der Tür des Arbeitszimmers stehen geblieben war. Ihr Gesicht war unnatürlich blass, die Augen weit aufgerissen und ihr Atem ging stockend. Silver drehte sich zu seinen Soldaten um.

"Habt ihr den anderen Zwerg auch gefunden?", fragte er.

"Er lag tot neben Meister Baringol", antwortete einer der Männer bedauernd.

Bei diesen Worten sackten die Knie unter Syreene weg. Sie rang mit geschlossenen Augen qualvoll nach Luft, während sie ihre Arme um den zitternden Körper schlang. Ein schauriges, lang gezogenes Heulen ertönte vom oberen Treppenabsatz, wo der Höllenwolf stand und die peinigende Trauer seiner Gefährtin spürte, die die junge Frau zu zerreißen drohte. Er hatte das Zimmer seiner Gefährtin verlassen, da er, von dem Lärm aufmerksam geworden, den Grund herausfinden wollte.

"Sperrt ihn wieder ein", befahl Silver seinen Soldaten kalt und zeigte dabei auf Thunder. "Ich werde mich später noch mal mit ihm befassen. Gorwin, nimm dir ein paar Männer und such diese Mörder. Sie dürfen die Stadt nicht verlassen!"

Der Kommandant nickte, setzte sich den Helm auf und ging eiligst zur Eingangstür, um den Befehl auszuführen. Derweil war Kid auf die schmerzerfüllte junge Frau zugegangen, die mit gesenktem Kopf bewegungslos auf dem Boden kniete, und hatte ihr einen Arm um die Schultern gelegt.

"Denk an den Durchlass in der Westmauer", ermahnte Kid seinen Bruder. "Es ist noch immer nicht zugemauert."

"Stevan", sagte Silver zu einem der Soldaten, die nach wie vor um den Tisch herum standen. "Sorg dafür, dass dieser Teil der Mauer abgesperrt wird. Kerry und Aaron, ihr bringt Baringol hinauf in eins der Gästezimmer. Danach holst du, Kerry, einen Wundenheiler her."

Mit schnellen Schritten kamen die Männer seinem Befehl nach. Lady Gwaine folgte mit einigen Mägden den beiden Soldaten, die den bewusstlosen Zwerg nach oben trugen, während Ghost, mit eingezogenem Schwanz, zu seiner Gefährtin schlich. Auch Silver ging auf Syreene zu und hockte sich vor sie hin.

"Es tut mir Leid, dass das passiert ist", sagte der König traurig und griff nach einer Hand der jungen Frau, die kalt und kraftlos in seiner lag.

"Entschuldigt mich bitte", sagte Syreene leise. "Ich werde auf mein Zimmer gehen."

Langsam stand Syreene vom Boden auf, wobei sie die Hand, die Kid stützend um ihren Ellenbogen gelegt hatte, abschüttelte. Und als er ihr folgen wollte, hob die junge Frau abwehrend die Hand und stieg mit erhobenem Kopf die Treppe hinauf, während Ghost mit hängenden Ohren neben ihr herging. Hilflos schaute Kid ihr nach.

"Lass Ihr jetzt etwas Zeit", meinte Silver, der eine Hand auf die Schulter seines Bruders legte und aufmunternd drückte.

"Was gedenkst du jetzt zu tun?", fragte Kid und schaute den König aus müden Augen an.

"Ich werde morgen noch mal mit diesem Thunder Claw reden. Vielleicht haben wir bis dahin auch die anderen Männer."

"Die werden nichts sagen", behauptete der junge Mann grimmig.

Die Jagd beginnt

Während die beiden Männer noch miteinander redeten, saß Syreene niedergeschlagen auf ihrem Bett und starrte blicklos auf den Boden. Ghost hatte seinen Kopf auf ihre Knie gelegt und jaulte leise, während sie abwesend das weiche Fell im Nacken streichelte.

"Taró hat uns verraten", sprach sie mit brüchiger Stimme. "Er ist ein Freund dieser Männer. Derselben Männer, die Môrien getötet haben. Er wusste genau, dass er uns direkt in die Gefahr geschickt hat."

Syreene blickte auf den Wolf nieder, der sie aus treuherzigen, braunen Augen ansah. Mit einem kleinen Lächeln kniete sie sich vor ihm hin und schlang ihre Arme um den weichen Pelz im Nacken.

"Ich hab dich lieb, mein Freund. Und ich bin froh, dass ich dich damals aus dem Wald mitgenommen habe."

Mit einem entschlossenen Ausdruck in ihren katzengrünen Augen stand Syreene auf. Ghost sah sie erwartungsvoll und mit hoch aufgerichteten Ohren an.

"Heute Nacht werden wir auf die Jagd gehen, mein Freund. Wir müssen aber vorsichtig sein, dass uns niemand sieht."

Mit neuer Energie ging sie auf den Kleiderschrank zu, in dem sich jetzt Röcke, Oberteile und Kleider befanden, die Syreene zusammen mit Kid am Morgen gekauft hatten. Zielstrebig nahm sie ihre eigenen Sachen heraus und befreite sich mit schnellen Handgriffen aus dem Kleid. Nachdem Syreene sich die Hose und das wollene Leinenhemd angezogen hatte, schnallte sie sich ihren Gürtel um, an dem noch immer ihr Dolch befestigt war. Anschließend befreite sie ihr Haar von den Nadeln und flechtete es sich zu einem Zopf, den sie unter ihrem grauen Umhang versteckte. Zum Schluss schulterte sie sich den Köcher und den Bogen auf den Rücken und trat dann auf das Fenster zu.

"Versuch irgendwie aus der Burg herauszukommen", sagte Syreene zu Ghost. "Wir treffen uns dann im Garten."

Syreene stieß das Fenster weit auf und stieg auf den breiten Sims. Ein kurzer Blick nach draußen zeigte ihr, dass nirgends eine Wache zu sehen war. Mit den Füßen voran kletterte die junge Frau aus dem Fenster und versuchte Halt in den Lücken der Steine zu finden. Langsam und vorsichtig stieg sie immer weiter an der Wand hinab. Nachdem Ghost seine Gefährtin nicht mehr sehen konnte, sprang er an der Tür hoch und drückte die Klinke hinunter, die ein kleines Stück aufsprang. Mit der Schnauze stieß er sie weiter auf und rannte zur Halle. Am Treppenabsatz angekommen sah er Silver und Kid, die am Tisch saßen und sich unterhielten. Nah an der Wand entlang schleichend, stieg Ghost die Stufen hinab, ohne die beiden Männer aus den Augen zu lassen. Glücklicherweise war die Tür zur Küche geöffnet, so dass der Wolf einfach hindurchschlüpfen konnte. Die Dienerschaft, die scheinbar wild umher ging, war mittlerweile an die Anwesenheit des Tieres gewohnt. Dennoch beobachteten sie ihn wachsam dabei, wie Ghost durch die offene Tür in den Garten hinaus lief.

Syreene hatte schon die Hälfte ihrer Wegstrecke geschafft, als Ghost unter ihr ankam. Nach ein paar weiteren Zügen sprang sie das letzte Stück hinab und federte den Aufprall mit den Knien ab. Lächelnd begrüßte sie ihren Freund mit einem Kraulen der Ohren. Dann zog sich die junge Frau die Kapuze tief ins Gesicht und ging lautlos um die Ecke der Burg bis zur offenen Küchentür. Dort spähte sie vorsichtig in den Raum hinein. Als sie sicher sein konnte nicht bemerkt zu werden, schlich sie sich vorbei, duckte sich unter dem Fenster zum Arbeitszimmer und lief dann weiter zu einem Gatter, das den Garten von dem Hof trennte. Eng an der Burgmauer angelehnt, blieb Syreene erst einmal am Zaun stehen und dachte nach. Sich über den Hof zu schleichen, stellte kein Problem für sie dar. Aber wie könnte sie unbemerkt an den Wachen am Tor vorbei kommen? Dann hörte die junge Frau das Wiehern eines Pferdes und hatte eine Idee.

"Du wartest hier", flüsterte Syreene ihrem tierischen Gefährten zu und kletterte dann vorsichtig über den Zaun. Die Leute im Hof im Auge behaltend, schlich sie sich im tiefen Schatten an der Wand der Burg entlang zur Treppe. Vorne an, neben den Stufen, standen ein paar Fässer, hinter denen sich Syreene verbarg, und überblickte zwischen den Tonnen hindurch die Lage des Innenhofes.

Eine Gruppe von zwanzig Männern stand vor einem der Soldatenunterkünfte. Ihre Aufmerksamkeit jedoch war auf den Kommandanten vor ihnen gerichtet, der ihnen ihre Befehle erteilte. Eine weitere Gruppe war gerade auf dem Weg durch das Tor in die Stadt. Die beiden Wachsoldaten am Eingang standen sich gegenüber und hatten keinen Blick für das Geschehen um sich herum übrig. Genauso verhielt es sich auch mit den beiden Soldaten auf der Brustwehr, die ihre Blicke in Richtung der Stadt gerichtet hatten. Drei weitere Soldaten hielten sich vor dem mittleren Pferdestall auf, hatten aber der Burg den Rücken zugewandt.

Ein plötzliches Husten neben sich ließ Syreene das Herz schneller klopfen. Auf der anderen Seite der Treppe stand ein Soldat, dessen Blick auf die Gruppe mit dem Kommandanten gerichtet war. Der Kerker, schoss es Syreene durch den Kopf. Der Mann bewacht den Eingang zum Kerker.

Sie wusste, sie musste sich jetzt schnell etwas einfallen lassen, denn es war nur eine Frage der Zeit bis der Soldat sie bemerkte. Kurz entschlossen griff sie nach einem kleinen Stein neben sich und warf ihn über den Kopf des Kriegers. Durch das Geräusch des aufprallenden Steines auf dem festen Erdboden aufmerksam geworden, wandte der Mann der jungen Frau den Rücken zu und schaute sich um. Syreene ergriff die Gelegenheit, schlich sich hinter den Soldaten und schlug ihm den Griff ihres Dolches in den Nacken. Der Soldat sackte bewusstlos in die Knie. Aber bevor er auf den Boden aufschlagen konnte, hatte die junge Frau ihn unter den Armen gepackt und schleifte ihn in den tiefsten Schatten der Treppe.

Syreene atmete erleichtert auf, da niemand von dem Geschehen etwas bemerkt hatte, und schlich sich weiter an der Wand entlang bis zum Ende. Nur noch ein kurzes Stück, betete die junge Frau und rannte mit großen, aber leisen Schritten hinter das abgedunkelte Häuschen des Stallmeisters und weiter zum ersten Stall. An der Rückwand angelehnt, blieb sie eine Weile stehen und versuchte ihr wildklopfendes Herz zu beruhigen. Schweiß lief ihr an den Schläfen und am Rücken hinunter. Dann ging sie vorsichtig weiter zum anderen Ende der Rückwand und spähte um die Ecke. Dort sah sie das Profil von einen der drei Männer, die sich leise murmelnd unterhielten. Den Mann beobachtend, ging Syreene geräuschlos weiter, bis die junge Frau hinter der Rückwand des dritten Stalles stand. In diesem Augenblick gab der Kommandant seiner Truppe den Befehl zum Abmarsch und das Poltern der Schritte und das Scheppern der Rüstungen hallte über den ganzen Hof wider.

Syreene wartete ab, bis auch der letzte Mann das Tor passiert hatte und schlich sich dann hinter einen vollbeladenen Heuwagen, der sich neben dem Stall befand. An der Seite des Wagens stehend und den Blicken der Wache am Tor verborgen, schaute sie zum Eingang des Gartens, wo sie Ghost hinter dem Zaun erblicken konnte. Die junge Frau legte einen Finger auf die Lippen, ein bekanntes Zeichen für den Wolf, das ihm bedeutete, ein Ablenkungsmanöver durchzuführen. Er sprang über den Zaun und rannte mit riesigen Sätzen unbemerkt über den Hof in den hinteren Stall hinein, während sich Syreene schnell hinter den Heuwagen versteckte.

Das schrille Wiehern der Pferde und das aufgeregte Stampfen der Hufen weckten die Aufmerksamkeit der drei Männer sowie auch die der Wachen. Aus dem Haus des Stallmeisters drang jetzt Licht und die Tür wurde weit aufgestoßen. Ein stämmiggebauter Mann in langer Leinenunterwäsche und einem übergeworfenen Mantel kam heraus gerannt, der laut polternd den Grund für den Aufruhr wissen wollte, jedoch nur ein Achselzucken der Soldaten als Antwort erhielt. Auf ein Zeichen hin folgten sie dem Mann in den Stall und blieben bei dem Anblick des Wolfes, der an der hintersten Ecke mit heraushängender Zunge stand, überrascht stehen. Nachdem sie sich aber von ihrem Schrecken erholt hatten, halfen sie dem Stallmeister bei dem Versuch das Tier hinauszujagen. Ghost tat ihnen den Gefallen, lief aber sofort in das nächste Gebäude hinein, gefolgt von den Männern. So ging es eine ganze Weile hin und her, in der er von einem Stall in den anderen wechselte, während die Soldaten beim Tor über die vergebliche Mühe ihrer Freunde lachten. Die helle Aufregung sorgte dafür, dass weitere Männer aus ihren Unterkünften traten und sich vor den Ställen versammelten, um das dortige Schauspiel amüsiert zu betrachten, während der Stallmeister ihre Untätigkeit verfluchte. Jetzt traten auch die beiden Wachen am Tor näher an das Geschehen heran, da einige ihrer Kameraden ihnen die Sicht versperrten.

Für Syreene war dies die Gelegenheit unbemerkt hinter dem Heuwagen hervorzukommen, da die gesamte Aufmerksamkeit der Männer auf Ghost gerichtet war. Dicht gedrängt an der Mauer lief die junge Frau mit langen Sätzen zum Tor. Doch in dem Augenblick, als sie gerade einen Fuß auf die Brücke gesetzt hatte, ertönte lautstark Silvers Stimme über den Hof, der vor dem Eingang seiner Burg stand. Das Kerzenlicht, das aus der Halle drang, umschmeichelte seine imposante Gestalt, woraufhin sofort das erheiternde Gebrüll der Soldaten erstarb. Ohne sich umzusehen oder auch nur nachzudenken, sprang Syreene in den Wassergraben und tauchte ein ganzes Stück von der Brücke entfernt wieder auf. Sich das Wasser aus dem Gesicht wischend, musste sie jedoch feststellen, dass sie ihre Pfeile verloren hatte, die nun auf der Wasseroberfläche um sie herum schwammen. Gerade als Syreene sich einen Pfeil geschnappt hatte, trat plötzlich ein Soldat auf die Brücke. Mit einem tiefen Atemzug tauchte die junge Frau wieder unter die Wasseroberfläche und schwamm mit kräftigen Zügen noch weiter weg, während Ghost an dem Soldaten vorbei und den Weg zur Stadt entlanglief. Unterwegs jedoch versteckte er sich hinter einem Gebüsch, darauf wartend, dass seine Gefährtin kam. Syreene trat derweil vorsichtig aus dem Wasser und schlich vorsichtig durch die Büsche, da die Soldaten auf der Brustwehr wieder ihre Posten eingenommen hatten.

Zur selben Zeit betrat Silver wieder die Halle und erfuhr von seiner Mutter, die gerade die Treppe hinab stieg, dass sie Syreene nirgends finden konnte. Kid lief daraufhin in das Zimmer der jungen Frau, wo er das weit geöffnete Fenster und das achtlos hingeworfene Kleid auf dem Bett vorfand. Ein Blick in den Kleiderschrank bestätigte seinen Verdacht und unterrichtete umgehend seinen Bruder davon. Gemeinsam traten sie in den Innenhof hinaus und Silver befragte die Soldaten am Tor, ob sie etwas bemerkt hätten, während sich Kid überall umsah. Dabei fand er den von Syreene bewusstlos geschlagenen Mann und konnte nur resigniert mit dem Kopf schütteln. Danach machte er sich zusammen mit seinem Bruder auf den Weg in die Stadt.
 

Die tiefe dunkle Nacht hatte Castle Shelter fest in der Hand. In den nächtlichen Stunden wirkte die Stadt fast wie ausgestorben. Kein Rufen von Kaufleuten war zu hören, die ihre Waren anpriesen. Kein Rattern von Fuhrwerken, die durch die Straßen zogen. Nur dann und wann unterbrach das Gestammel eines Betrunkenen, der auf dem Weg zu seinem Haus war, oder die Schritte einer Patrouille, die nach den seltsamen Ordensmitglieder suchten, die Stille. Vereinzelte Fackeln an den Häuserwänden und der helle Lichtschein, der aus den Gasthäusern drang, erhellten ein wenig die Dunkelheit.

Syreene versuchte durch die verwinkelten Gassen einen Weg zum Stadttor zu finden, ohne dabei den Soldaten zu begegnen. Die Hauptstraße mied sie tunlichst, da diese von den Männern gut bewacht war. Jedes Mal, wenn die junge Frau Schritte herannahen hörte, versteckte sie sich zusammen mit Ghost hinter einer Hauswand. Erst nach einer scheinbar endlosen Zeit, in der die beiden ein paar Mal in einigen Sackgassen gelandet waren, kamen sie endlich an ihrem Ziel an. Von einem großen Holzstapel verdeckt, spähte Syreene zum Treiben am Tor hin. Das massive Eisengitter war heruntergelassen, so dass niemand hinausgehen konnte. Die Wache davor und auch die Soldaten auf der Brustwehr waren verdoppelt worden, wie sie bemerkte. Wachsam beobachteten diese die Straße und gingen jedem Geräusch, das noch so harmlos erschien, sofort nach.

Plötzlich hörte Syreene schwere Stiefelschritte einer kleinen Gruppe und drückte sich enger an die Hauswand. Kommandant Gorwin ging mit vier Soldaten an dem Haus vorbei, ohne die junge Frau oder den Höllenwolf, der sich an den Beinen seiner Gefährtin presste, zu bemerken. Entschlossen trat der Mann zu den Wachen, die bei seinem Näher kommen stramm Haltung annahmen.

"Ist etwas vorgefallen?", fragte Gorwin die Männer mit strenger Stimme.

"Nein, Herr Kommandant", sprach einer der Soldaten und trat einen Schritt vor. "Es ist alles ruhig. Niemand hat sich dem Tor genähert."

"Gut. Ich möchte über jeden noch so kleinen Vorfall unterrichtet werden, und sei er noch so unbedeutend. Verstanden?"

"Ja, Herr Kommandant", kam die sofortige Antwort. "Darf ich fragen, wo wir Euch finden können?"

"In der oberen Westhälfte", sagte der Krieger. "Dort, wo der Durchbruch in der Mauer ist."

Der Soldat nickte zum Verständnis, während der Kommandant seinen Männern den Befehl gab wieder abzumarschieren. Nachdem das Geräusch der Schritte in der Dunkelheit verschwand, hockte sich Syreene hinter den Stapel und dachte nach. Wie könnte sie herausfinden, ob sich die Männer noch immer in der Stadt aufhalten, und vor allem wo? Die Antwort darauf könnten mir die Bewohner geben, dachte sie sich.

Syreene stand auf und ging mit leisen Schritten den Weg, den sie gekommen war, wieder zurück. Sie musste jetzt eine günstige Stelle finden, an der sie die Hauptstraße überqueren konnte. Doch das war nicht so einfach. Vereinzelte Soldaten waren an den Straßenecken positioniert und eine Patrouille schritt ständig den Weg entlang. Aber dann sah die junge Frau eine alte Eiche vor einer Metzgerei stehen. Der etwa sieben Fuß hohe Baum war dicht belaubt und ein dicker, kräftiger Ast ragte weit über der Straße hinein. Sie schlich sich zur Ecke des Hauses und sah in beiden Richtungen der Straße jeweils einen Soldaten stehen. Der Mann links von ihr wechselte gerade auf die gegenüberliegende Seite und bezog Stellung neben einer Gasse. Der andere starrte nur stur vor sich.

Mir bleibt nicht viel Zeit bis die Patrouille kommt, dachte die junge Frau bei sich. Sie griff nach einem kurzen Ast vor sich und zog sich hoch. Sie musste sich beeilen und auf die oberen Äste gelangen, da sie momentan für alle Blicke sichtbar war. Flink und geschickt kletterte sie von einem Ast zum nächsten, bis sie im dichten Blattwerk verschwand. In einer Astgabel hockend, wartete die junge Frau auf die Patrouille, die bald kommen müsste.

Eine kleine Weile verging bis sie im Norden das Aufblitzen von Metall sah. Syreene machte sich hoch oben in ihrem Versteck ganz klein und wartete bis die Truppe unter ihr vorbei in die andere Richtung verschwunden war. Danach kletterte sie auf die andere Seite des Baumes und legte sich bäuchlings auf den langen Ast. Vorsichtig robbte sie zum leicht nach oben gebogenen Ende hin. Die raue Rinde schürfte dabei die Haut an den Armen auf, während kleine, spitze Zweige ihr in die Kleidung stachen. Doch Syreene achtete nicht darauf, da ihre Aufmerksamkeit auf die beiden Wachen gerichtet war, die sie jederzeit bemerken konnten. Als der Ast dann unter ihrem Gewicht anfing zu erzittern und zu ächzen, hielt sie in ihrer Bewegung inne. Weiter durfte sie nicht, ohne Gefahr zu laufen, dass der Ast unter ihr brach. Die junge Frau schätzte die Entfernung zum gegenüberliegenden Haus auf etwa vier Fuß und ohne einen kleinen Anlauf würde sie den Abgrund nicht überwinden können. Sie rutschte ein kleines Stück zurück und ging vorsichtig, mit beiden Händen am Ast festhaltend, in die Hocke. Nachdem sie sich sicher sein konnte das Gleichgewicht halten zu können, stand Syreene langsam auf. Sie warf noch mal einen kurzen Blick auf die beiden Wachen, als sie dann auch schon mit federnden Sätzen loslief. Kurz bevor sie das Ende ihres Weges erreicht hatte, stieß sie sich mit einem Bein ab und sprang. Das reicht nicht, schoss es Syreene während des Fluges entsetzt durch den Kopf. Verzweifelt streckte sie die Arme vor sich aus und schaffte es gerade eben noch die Kante des Daches zu ergreifen.

Durch den dumpfen Aufprall gegen die Hauswand aufmerksam geworden, schauten sich die beiden Wachen um. In dem Augenblick kam Ghost aus der Seitengasse herausgetrottet, der bisher ruhig abgewartet hatte, und blickte zu einem der Soldaten hin, bevor er weiter die Straße überquerte.

"Alles klar!", rief dieser seinem Kameraden zu. "Das ist nur der Karach´nak von dieser Lady Syreene."

"In Ordnung", antwortete sein Kamerad und ging wieder auf seinen Platz.

Währenddessen hatte sich Syreene mühsam auf das Dach gezogen, wo sie erst einmal liegen blieb und nach Atem schöpfte. Kalter Schweiß haftete an ihrer Haut und ihre Hände zitterten nicht nur von der Kraftanstrengung, mit der sie sich an dem Haus hochgezogen hatte. Dann vernahm sie wieder die Schritte der zurückkommenden Patrouille und blieb regungslos liegen. Als sich ihr Herz wieder beruhigt hatte, rutschte sie auf das andere Ende des Daches zu und blickte hinunter. An der Rückwand stand ein Wagen, der mit langen Holzbalken beladen war, so dass ihr nichts anderes übrig blieb, als hinunter zu springen. Langsam ließ sie sich am Haus hinab, so dass sie mit dem Gesicht zur Wand in der Luft hing. Syreene ließ die Dachkante los, stieß sich jedoch schmerzhaft die rechte Schulter am Wagen, als sie auf den Boden ankam. Ghost, der abwartend beim Wagen gesessen hatte, begrüßte seine Gefährtin, indem er seinen Kopf an ihrer Seite rieb.

"Jetzt wüsste ich nur zu gerne, wo wir lang laufen müssen", flüsterte Syreene ihrem Freund nachdenklich zu und rieb sich die schmerzende Stelle. "Ich glaube, wir sind noch eine Wegstrecke vom Zentrum entfernt."

In allen Richtungen schauend, ging sie in Gedanken den Weg zurück, den sie im Verlaufe des Tages mit Kid gegangen war. Die junge Frau versuchte ihren derzeitigen Standpunkt einzuschätzen und in welcher Richtung sich ihr Ziel befand. Dann fiel ihr Blick auf den Höllenwolf und kniete sich vor ihm hin.

"Irgendwo hier in der Nähe befindet sich ein Wirtshaus", erklärte sie dem Tier mit gesenkter Stimme. "Meinst du, du kannst es für mich finden?"

Ghost erhob sich auf alle viere und hielt die empfindsame Nase in die Luft, wobei sich die Nasenflügel weiteten. Langsam lief er in nördlicher Richtung die Gasse entlang und blieb dann an einer Weggabelung eine ganze Zeit lang stehen und versuchte zu erschnüffeln, aus welcher Richtung der Geruch von Alkohol herkam, bis der Wolf sich nach links wandte. Eine ganze Weile streiften sie in den Straßen umher, wobei sie hin und wieder im Kreis gingen, da der Geruch sich in den Gassen verteilt hatte, bis sie endlich am gesuchten Wirtshaus ankamen. Trotz der geschlossenen Fenster drangen aus dem Haus laute, frohgemutete Stimmen und erheiterndes Lachen. Syreene gab dem Wolf ein Zeichen sich zu verstecken, und, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, betrat die junge Frau ,Jacks Piratenhöhle'.
 

Der Raum war nicht so voll, wie Syreene angenommen hatte, und bot auch nicht mehr denselben Anblick wie am Morgen zuvor, als sie mit Kid zusammen hier war. Überall auf dem Boden waren kleine Pfützen von Bier und anderen alkoholischen Getränken, durch die etliche Füße bereits gelaufen waren und ihre Spuren hinterlassen hatten. Die Luft in der Schänke war geschwängert mit dem Geruch von Essen, Schweiß, Alkohol und dem Rauch von Zigarren und Pfeifen. Nur ein paar Männer, die dem hereinkommenden Gast keine Beachtung schenkten, hatten einen der vorderen Tische besetzt. Syreene setzte sich nahe der Tür an die Theke, an dessen anderem Ende ein alter Mann saß und sich den Männern zugewandt hatte, um sich an dem Gespräch zu beteiligen. Jack füllte derweil einige Krüge voll mit Bier und warf nur einen kurzen Blick auf die verhüllte Gestalt.

"Hier habt ihr Nachschub, Freunde", rief er und knallte die Krüge auf die Theke, wobei er einen fraglos vor Syreene stellte.

"Hey, Jack", rief einer der Männer. "Haste scho gehört? Der gute, alte Silver hat deine Kumpels eingelocht."

"Was haben sie denn angestellt?"

Jack verzog keine Miene und wischte mit einem Tuch unberührt die Theke trocken.

"Na, sie ham sich mit den seltsamen Kerlen geprügelt", erwiderte ein anderer grinsend, der nach seiner Kleidung zu urteilen ein Feldarbeiter war. "Du weißt scho, die mit diesen komischen Klamotten."

"Weiß eigentlich jemand den Grund dafür?", fragte der alte Mann in die Runde und zeigte dabei einige fehlende Zähne.

"Nee, keine Ahnung", erwiderte der Feldarbeiter achselzuckend. "Weiß bloß, dass se inne ,Krone' gegangen sind und ne Schlägerei anfingen. Allerdings konnten paar dieser Typen den Wachen entkommen."

"Sind etwa deshalb so viele Soldaten unterwegs?", wollte Jack beunruhigt wissen. Angesichts der vielen Patrouillen machte er sich Sorgen, und er fragte sich, ob bei dem Vorhaben, den Kid und die schöne, junge Dame geplant hatten, etwas schief gelaufen war.

"Deswegen würde der Hawk nich so ein Theater machen", antwortete der Alte mit einer wegwerfenden Handbewegung. "Nee, die ham nen getötet."

Nach diesen Worten folgte eine erschrockene Stille, in der die Männer den Alten mit weit aufgerissenen Augen anstarrten.

"Was sagst du da?", fragte Jack fassungslos.

"Hab´s selbst gehört", bekräftigte der Alte mit einem heftigen Kopfnicken. "Von zwei Soldaten. Die ham davon geredet, dass ein Zwerg getötet wurde. Ja, und dann fiel Baringols Name!"

"Baringol der Schmied soll tot sein?", fragte einer der Männer ungläubig.

"Nicht Baringol", antwortete Syreene leise und zog damit die Aufmerksamkeit auf sich, während sie weiterhin vor sich hinsah.

"Beim Haken des großen Einäugigen!", entfuhr es Jack laut, als ihm dämmerte, wer die fremde Gestalt war. "Was macht Ihr hier?"

"Hey, du kennst ihn?", fragte ihn der Alte. "Stell ihn uns vor."

Aber bevor Jack eine scharfe Antwort erwidern konnte, sah er entsetzt zu, wie Syreene ihre Kapuze abstreifte. Die Männer hielten überrascht den Atem an, während der alte Mann die junge Frau mit offenem Mund ansah.

"Ihr dürftet doch gar nicht hier sein!", meinte Jack verzweifelt und strich sich fahrig durchs Haar.

"Das weiß ich", antwortete Syreene. "Und ich bin auch nicht alleine hier. Ein Freund wartet draußen auf mich."

"Bitte sagt mir, dass es Kid ist", betete der Wirt fast schon mit weinerlicher Stimme. Syreene schüttelte jedoch nur mit dem Kopf und öffnete die Tür. Ghost, der das Wirtshaus nicht aus den Augen gelassen hatte, lief aus seinem Versteck an einer Hauswand auf seine Gefährtin zu. Nachdem er neben der jungen Frau stehen blieb, schloss Syreene wieder die Tür. Ein Raunen ging durch die Schenke.

"Ich hätte es mir gleich denken können", sagte Jack ergeben und warf die Hände in die Luft. "Ihr seid die Frau mit dem Höllenwolf. Aber warum seid Ihr hier?"

"Ich will herausfinden, wo sich die Männer verstecken", antwortete Syreene mit harter Stimme.

"Na, Mädchen ...", sagte der Alte, als er von Jack mit einer heftigen Handbewegung unterbrochen wurde.

"Erstens, heißt es Lady Syreene", grollte der Pirat und zog dabei die Augenbrauen grimmig zusammen. "Und zweitens, hältst du die Klappe! Nun, die Soldaten suchen doch bereits nach den Männern. Warum also wollt Ihr Euch daran beteiligen?"

"Weil sie meinen Freund getötet haben", kam es eiskalt als Antwort.

"Aber Ihr sagtet doch, dass Baringol lebt", sagte der Feldarbeiter verwirrt.

"Baringol lebt auch. Er wurde schwer verwundet und wird jetzt in der Burg versorgt. Aber es war noch ein weiterer Zwerg bei ihm, der nicht soviel Glück hatte."

Die letzten Worte kamen nur mühsam über Syreenes Lippen und die grünen Augen zeugten von dem Schmerz, der in dem schlanken Körper tobte.

"Und was wollt Ihr tun, wenn Ihr die Männer gefunden habt?"

Jack stand hoch aufgerichtet und mit verschränkten Armen hinter seiner Theke, während er die junge Frau mit ernstem Blick musterte.

"Ich werde sie ihrer gerechten Strafe zuführen", antwortete Syreene entschlossen und mit stolz erhobenem Kopf. "Obwohl der Strick noch zu gut für diese Männer ist."

"Ihr wollt die Gerechtigkeit nicht selbst ausführen?", hakte der Pirat nach.

"Das wird mir Môrien auch nicht wieder zurückbringen", kam es verbittert von der jungen Frau.

"Wie sieht es aus, Männer?", brüllte Jack nach einer Weile. "Seid ihr noch fähig auf eine Jagd zu gehen? Oder seid ihr dafür schon zu betrunken und zu verweichlicht?"

"Wir können immer noch mit dir mithalten, alter Pirat", antwortete der Feldarbeiter tatkräftig.

"Das will ich hören", antwortete Jack zufrieden. "Gut, du nimmst dir zwei Männer und suchst den südlichen Bereich der Stadt ab. Aber zusammen! Lasst keinen Winkel und kein leerstehendes Haus aus. Und spielt die Betrunkenen, wenn ihr den Soldaten begegnet."

Dann wendete sich der Pirat dem alten Mann zu.

"Du, Tucker, suchst mit dem Rest den nördlichen Bereich ab. Für euch gilt das Gleiche! Jeden Winkel, jedes noch so kleine Versteck. Ich will aber keine Heldentaten von euch! Verstanden? Wenn ihr die Männer gefunden habt, geht einer von euch dann die Soldaten holen. Ihr sollt sie nur beobachten, nicht stellen! Und Ihr, Lady Syreene, kommt mit mir. Wir gehen in das Armenviertel. Dort sind reichlich Plätze, wo sie sich verstecken können. Also, was sitzt ihr hier noch herum? Geht schon!"

Die Männer standen nacheinander von ihren Plätzen auf und verließen das Gasthaus, wo sie sich auf der Straße dann trennten. Jack blieb mit Syreene noch in seinem Wirtshaus und löschte die Lichter.

"Danke", sagte Syreene leise und mit einem kleinen Lächeln.

"Irgendjemand muss Euch doch begleiten", antwortete Jack achselzuckend und rieb sich verlegen den Nacken. "Kid würde mich mit seinem Schwert erschlagen, wenn ich Euch weiter allein nach den Männern suchen lasse. Ganz zu schweigen davon, was König Silver mit mir machen würde."

Nachdem sich Jack davon überzeugt hatte, dass alle Lichter gelöscht und alle Fenster fest verschlossen waren, ging er mit der jungen Frau an seiner Seite in die Nacht hinaus und schloss die Tür ab.

"Wo liegt das Armenviertel?", fragte Syreene, während sie die Straße hinaufliefen.

"Oben, im östlichen Bereich der Stadt. Aber der Name erweckt einen falschen Eindruck. Dort leben nur Bettler, Diebe und anderes Gesindel. Silver lässt diesen Bereich sehr oft von seinen Soldaten kontrollieren und nimmt dabei auch etliche Leute fest."

"Ich bin überrascht darüber, dass Ihr mit mir dorthin gehen wollt."

"Nun, ich kenne diese Gegend recht gut", erklärte der Mann sichtlich widerstrebend. "Eine ältere Frau lebt nämlich dort, der ich hin und wieder etwas zu Essen bringe und Gold zustecke. Aber das müsst Ihr für Euch behalten."

"Meine Lippen sind versiegelt", lächelte Syreene und tat so, als wenn sie ihren Mund abschließen würde. "Aber das ist doch noch nicht alles, oder?"

"Im Grunde genommen eigentlich schon", meinte Jack nickend. "Wisst Ihr, die Leute dort kennen mich und wissen auch, dass ich mit Kid befreundet bin. Deshalb würden sie es auch nie wagen mich auszurauben oder anzugreifen, weil sie Angst vor der Strafe haben, die sie erhalten würden. Anders sähe es aus, wenn ich meine Freunde dorthin geschickt hätte. Das hätte garantiert Ärger gegeben."

"Das erklärt zwar, warum Ihr in das Armenviertel wollt", gab die junge Frau zu Bedenken, "aber nicht, warum ich Euch dorthin begleiten soll. Ich hätte auch mit den anderen Männern mitgehen können."

"Nur so kann ich dafür sorgen, dass Ihr keine Dummheit begeht", kam es nüchtern zurück.

"Diesbezüglich habt Ihr nichts zu befürchten, Meister Jack", versicherte Syreene mit fester Stimme. "Ich werde die Männer nur dann töten, wenn ich dazu gezwungen sein sollte."

"Aber Ihr hegt doch einen Hass gegen sie, oder nicht?"

"Natürlich", kam es selbstverständlich als Antwort. "Aber ich weiß auch, was die Selbstjustiz bei einem Menschen anrichten kann."

"Weiß Kid eigentlich von Eurem nächtlichen Ausflug?", fragte Jack, obwohl er die Antwort bereits kannte, wie die folgenden Worte von Syreene ihm bewiesen.

"Nein", lachte Syreene freudlos. "Er hätte mich gar nicht gehen lassen."

"Und das zu Recht, wie ich hinzufügen muss", brummte Jack missmutig. "Wie habt Ihr es überhaupt geschafft aus der Burg zu entkommen?"

"Weil ich in Wahrheit nichts anderes bin als eine geschickte Diebin", begann Syreene mit schlechtem Gewissen zu erklären. "Ich bin nicht von hoher Geburt. Ich habe dieses vornehme Getue nur dazu benutzt, damit ich unbemerkt mehr über die Männer herausfinden konnte. Und mit Hilfe der Fähigkeiten eines Diebes konnte ich unbemerkt die Burg verlassen."

"Geschickt und gerissen", lachte der Pirat. "Ich nehme an, dass Silver nichts davon weiß."

"Dass ich mich als Lady ausgeben sollte, war die Idee von Kid. Und dass ich eine Diebin bin, das weiß Silver."

Syreene sah spitzbübisch zu dem Mann an ihrer Seite auf.

"Habt Ihr ihm etwa Euer Gewerbe verraten?", fragte Jack ungläubig.

"Nein, natürlich nicht. Aber er hat ein paar Geschichten gehört über verschwundene Geldbeutel und von einem weißen Höllenhund."

"Ah ja", meinte der Pirat und zwirbelte nachdenklich seinen Schnauzer. "Ich habe von diesen Geschichten gehört. Ein weißer Wolf jagte in Dörfern Vieh und danach, wie von Zauberhand, sind plötzlich Geldbeutel verschwunden. Ein sehr raffiniertes Ablenkungsmanöver. Wie hat Silver reagiert?"

"Nun, er wollte, dass ich ihm meine Taten gestehe", grinste die junge Frau. "Aber ich konnte mich wunderbar herausreden, zumal Silver mir auch nichts nachweisen konnte."

"Da habt Ihr aber noch mal Glück gehabt", meinte Jack brummend.
 

Das letzte Stück ihres Weges liefen sie im einvernehmlichen Schweigen weiter. Syreene bemerkte die Veränderung, die mit der Gegend und damit auch mit den Häusern vonstatten ging, je näher sie dem Armenviertel kamen. Die Straßen waren uneben und voller Löcher. Die Häuser hatten gewaltige Risse in den Wänden und die Dächer waren undicht. Überall in den Ecken und auf den Wegen lag Abfall, in denen sich einige Ratten und Mäuse tummelten. Nirgends schmückten farbenfrohe Blumen die Häuserwände und die wenigen Bäume, die hier standen, waren karg und morsch.

Eine niedrige Steinmauer trennte die Gegend von dem Armenviertel, das noch trostloser aussah. Hier standen baufällige und halbverfallene Hütten, in denen schon sehr lange keine Familien mehr gelebt hatten. Zerbrochene Stühle und Tische, verbeulte Eimer aus Eisen, Tonscherben und weitere unkenntliche Sachen lagen verstreut in und auf der schlammigen Erde. An einer der Hütten hing eine halbvermoderte Tür quietschend in einem Scharnier. Bei einem anderen Häuschen fehlte die komplette Rückwand und Syreene konnte in ein Zimmer hineinblicken, das vermutlich mal als Schlafraum gedient hatte. Dies kann man wirklich nicht als Armenviertel bezeichnen, dachte sich die junge Frau.

"Ihr könnt wirklich froh sein, dass Ihr mit mir hier seid", grummelte Jack seiner Begleiterin gedämpft zu.

"Was meint Ihr?", fragte Syreene.

"Euer Schoßhündchen hat sich verdrückt", erklärte der Pirat ungerührt.

Syreene drehte sich um, und tatsächlich war Ghost nirgends zu sehen. Sie legte ihre Hand auf den Dolch, während sie mit wachsamen Blicken ihre Umgebung betrachtete.

"Wir sind nicht alleine hier", flüsterte sie Jack warnend zu.

"Ihr habt nichts zu befürchten", meinte der Mann sorglos. "Die Leute, die hier leben, werden es nicht wagen uns zu Nahe zu kommen."

"Von denen spreche ich auch nicht."

Syreene versuchte mit den Augen die nächtliche Schwärze zu durchdringen, doch es war unmöglich. Überall, wohin sie sah, waren bedrohliche und unförmige Schatten zu erkennen. Wer auch immer sie verfolgte, hatte tausend Möglichkeiten sich zu verbergen.

"Wie meint Ihr das?"

Auch Jack sah sich jetzt wachsam um, durch die Worte alarmiert.

"Auf Ghost kann ich mich verlassen", murmelte sie abwesend. "Wenn er ohne Warnung einfach so verschwindet, dann nur, weil er eine Gefahr spürt. Er schleicht sich jetzt sicher hier irgendwo herum, auf der Suche nach unserem Verfolger."

"Dann können wir ja beruhigt abwarten, bis er sein Opfer unschädlich gemacht hat", flüsterte der Pirat, der trotz seiner Worte darauf achtete nah bei Syreene zu bleiben und ihr den Rücken zu decken.

"Es sind drei Männer, die entkommen sind", erinnerte sie ihn, ohne sich nach Jack umzudrehen, da sie seine Wärme an ihrem Rücken spüren konnte.

"Dann eben einen für jeden."

Bei dieser trockenen Antwort musste Syreene schmunzeln, wurde aber sofort wieder ernst, als sie das Geräusch von knirschenden Steinen hörte. Aus den Augenwinkeln heraus versuchte sie auf der rechten Seite etwas zu erkennen und wendete dabei langsam den Kopf. Und dann sah sie hinter einer verfallenen Hütte einen Schatten vorbeihuschen.

"Wir sollten uns aufteilen", schlug Syreene mit leiser Stimme vor. "Denn so werden wir sie nie kriegen."

"Ich möchte Euch aber nur ungern allein lassen", brummte Jack gedämpft.

"Ich bin eine erstklassige Diebin, schon vergessen?", sagte Syreene lächelnd. "Schleichen und verstecken sind zwei nötige Anforderungen in diesem Gewerbe."

"Und was ist mit der Selbstverteidigung?", gab der Pirat zu bedenken.

"Darin bin ich von den Besten unterrichtet worden", kam es zurück. "Davon abgesehen, dass ich beinahe Silver mit einem Pfeil erschossen hätte, habe ich heute bereits einen seiner Männer niedergeschlagen. Beruhigt Euch das?"

"Na gut", meinte Jack schließlich mit einem tiefen Seufzer. "Aber gebt mir Euer Wort, dass Ihr keine Rache nehmen werdet."

"Ich kann Eure Bitte verstehen und werde Euer Herz nicht damit belasten", wiederholte Syreene die Worte, mit denen Jack auf ihren Brief geantwortet hatte. Dieser musste sich sehr zusammenreißen, um nicht laut aufzulachen und gab sich mit der Antwort zufrieden. Daraufhin trennten sich die beiden und Syreene ging den Weg, den sie gekommen waren, wieder zurück, während Jack in die entgegengesetzte Richtung in die Nacht verschwand. Die junge Frau machte sich keine Sorgen darüber, dass ihr etwas geschehen könnte, da sie instinktiv wusste, dass Ghost in ihrer Nähe war.

Irgendwo in den Trümmern auf ihrer rechten Seite hörte Syreene in der Stille ein kaum wahrnehmbares Knirschen. Es wird Zeit, dass der Jäger zur Beute wird, dachte sie sich und rannte flink wie ein Wiesel los, wobei sie kleine, zerstörte Möbelstücke und andere Sachen auf ihrem Weg übersprang. Sie lief zwischen einigen Häuserruinen hindurch, bis sie die Überreste eines Steinkamins in der Dunkelheit ausmachen konnte und sich dahinter verbarg. Mit wildklopfendem Herzen stand sie regungslos an den Steinen gepresst und horchte auf verräterische Geräusche, während sie ihre Umgebung vor sich nach weiteren beweglichen Schatten absuchte. Dann hörte sie hinter sich das schmatzende Geräusch von Schritten, die über den schlammbedeckten Boden liefen. Vorsichtig spähte sie um den Kamin hervor und sah einen dunklen Schatten vorbeigehen. Langsam und darauf bedacht sich nicht durch ein Geräusch zu verraten, trat Syreene aus ihrem Versteck hervor, so dass sie sich jetzt hinter der Gestalt befand. Lautlos folgte sie der Person und nutzte dabei jeden Schatten und jeden Winkel aus, um sich dahinter zu verbergen. Während sie auf eine passende Gelegenheit wartete ihre Beute zu überwältigen, nahm sie den einzigen Pfeil, den sie noch besaß, aus ihrem Köcher. Mit der anderen Hand griff sie nach dem Dolch und hielt beide Waffen kampfbereit vor sich.

Hinter einer zerbröckelten Mauer geduckt, beobachtete Syreene die Gestalt, die sich suchend umsah. Entschlossen legte die junge Frau den Pfeil auf die Erde und griff nach einem Stein, den sie flach von sich wegwarf. Blitzschnell drehte sich der Schatten um und folgte dem Geräusch, ohne sich nach beiden Seiten umzusehen. Syreene nutzte die Chance und sprang hinter ihrem Versteck hervor. Ihr Verfolger blieb angesichts des schmerzhaften Druckes in seinem Rücken, hervorgerufen durch die Spitze des Pfeils, mit dem die junge Frau ihn bedrohte, stehen.

"Es wird Zeit schlafen zu gehen", flüsterte Syreene ihm sanft ins Ohr, bevor sie ihn hart mit dem Griff des Dolches niederschlug. Die Gestalt sackte in die Knie und fiel mit dem Gesicht nach vorn, und nicht gerade weich, auf die Erde. Syreene drehte den Mann auf den Rücken und durchsuchte seine Kleidung, wobei sie ihm das Schwert an seiner Seite abnahm. An einer Hand bemerkte sie einen ihr schon bekannten Ring, den sie dem Mann auch gleich sofort vom Finger zog. Anschließend riss die junge Frau von seinem schwarzen Umhang einige Streifen ab, band damit seine Hände auf den Rücken und fesselte noch zusätzlich seine Beine. Zum Schluss befestigte Syreene noch einen Knebel um den Kopf, bevor sie den Mann hinter dem Mauerstück versteckte.

Syreene wollte gerade nach dem Schwert greifen, als das unterdrückte Fluchen eines weiteren Mannes sie in der Bewegung innehalten ließ. Mit rasendem Herzen lugte sie vorsichtig um die Mauer und sah eine hochgewachsene Gestalt humpelnd auf sich zu kommen. Hinter dem Versteck hockend, überlegte die junge Frau fieberhaft, was sie jetzt machen sollte. Taró hatte ihr einst den Rat gegeben, einen Trick nie zweimal hintereinander anzuwenden, weil dies meistens schief ging. Aus diesem Grunde griff Syreene jetzt nach ihrem Bogen, und während sie sich hinter der Mauer erhob, legte sie in einer schnellen und fließenden Bewegung den Pfeil an.

"Stehen bleiben!", befahl Syreene dem Mann mit kalter Stimme und hielt den Bogen so, dass die Pfeilspitze auf das Herz zielte.

"Das wird allmählich zu einer Gewohnheit von dir", kam es seufzend als Antwort.

"Kid?"

Überrascht über die ihr bekannte Stimme, entspannte sie die Sehne des Bogens.

"Ja, ich bin es", antwortete Kid und trat näher, so dass die junge Frau ihn besser sehen konnte. "Wo sind Jack und Ghost?"

"Wir hatten uns aufgeteilt", sagte Syreene, steckte den Pfeil zurück in den Köcher und hängte sich den Bogen wieder um die Schulter. "Und Ghost habe ich schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen. Aber woher weißt du, dass ich mit Jack hier bin?"

"Silver und ich sind Tucker begegnet, während wir auf der Suche nach dir waren", erklärte der junge Mann, während er die Frau vor sich eingehend auf Verletzungen untersuchte. Syreene wurde angesichts des leicht vorwurfsvollen Tons rot.

"Tucker ist ein ziemlich übler Schauspieler", sprach Kid weiter, "so dass ein paar Drohungen seitens meines Bruders ihn schnell zum Reden gebracht haben. Und ich würde dir am liebsten deinen zierlichen Hals umdrehen, allein schon dafür, dass du dich aus der Burg geschlichen hast."

"Ich bin es Môrien schuldig die Männer zu schnappen", erwiderte Syreene hart.

"Und was hast du dann mit ihnen vor?", fragte der junge Mann wütend, wobei seine braunen Augen in der Dunkelheit aufblitzten. "Willst du sie einfach so umbringen?"

"Überzeug dich doch selber", forderte die junge Frau ihn auf und zeigte dabei auf den gefesselten Mann neben sich. "Er ist nur bewusstlos. Ich wollte ihn vorerst hier liegen lassen und nach seinen Freunden suchen. Hast du wirklich geglaubt, ich könnte einfach so ein Leben auslöschen?"

"Ich glaube, dass man aus einem scheinbar richtigen Grund zu allem fähig ist", antwortete Kid ernst und schaute von dem Bewusstlosen zu Syreene. "Wie viele von diesen Männern laufen noch hier herum?"

"Vermutlich zwei", schätzte Syreene und zuckte mit den Schultern. "Dieser Mann hatte Jack und mich verfolgt."

"Und die können hier natürlich überall sein."

Kid verfluchte insgeheim Jack für seine törichte Entscheidung Syreene ins Armenviertel mitgenommen zu haben. Am Tage war es schon schwer genug bei all den herumliegenden Trümmern jemanden zu finden. Wie also sollte dies bei Nacht möglich sein?

"Was ist mit Ghost? Warum ist er nicht mehr bei dir?"

"Ich weiß nicht ", antwortete Syreene besorgt. "Er muss irgendwas oder irgendwen gewittert haben. Anfangs dachte ich noch, er würde sich an einen der Männer heranschleichen. Aber dann wäre Ghost schon längst wieder zu mir zurückgekehrt. Ich hoffe nur, dass ihm nichts zugestoßen ist."

"Es braucht schon ein ganzes Maß an Geschick, um ein Höllenwolf zu erlegen", versuchte Kid die junge Frau zu beruhigen. "Und diese Männer sind meilenweit davon entfernt."

Plötzlich wurde die Stille um sie herum von einem markerschütternden Schrei durchbrochen, der an den wenigen noch stehenden Steinmauern widerhallte. Kid und Syreene versuchten in der Dunkelheit um sie herum auszumachen, woher der Schrei gekommen war. Doch alles war wieder ruhig.

"Konntest du die Stimme erkennen?", flüsterte Syreene mit wildklopfendem Herzen, während sie wachsam ihre Umgebung betrachtete.

"Nein", antwortete Kid langsam. "Dafür war sie zu schrill."

Er griff nach der Hand der jungen Frau und bewegte sich vorsichtig in die Richtung, aus der er vorher gekommen war. Stück für Stück liefen sie an zerbröckeltes Mauerwerk vorbei und umrundeten große Trümmer, dabei wachsam die dunklen Schatten im Auge behaltend. Nichts war zu hören, nichts bewegte sich. Dann standen sie vor den Überresten eines längst verfallenen Stalles. Von dem Dach war nichts mehr zu sehen bis auf ein paar morsche Querbalken, die so aussahen, als würden sie jeden Moment auseinanderbrechen. Von der vorderen Wand waren nur vereinzelte Reste übrig geblieben, bis auf den breiten Türbogen in der Mitte, in dessen Scharnieren kleine, zerbrochene Holzstücke einer ehemaligen Tür hingen. In dem rückwärtigen Teil konnte man noch die Boxen erkennen, in denen das Vieh untergebracht war. Überall verteilt lagen verschieden große Steine, zerbrochene Bretter und verbogene Eisenstücke herum.

Kid bedeutete Syreene stehen zu bleiben und ging langsam auf die Ruinen zu, während die junge Frau ihm nachblickte. In den Überbleibseln des Innenraumes näherte er sich einem Pferch, als auf einmal eine Gestalt aus dem Schatten des Türbogens hinter ihm trat, die etwas Langes hoch über ihren Kopf hielt, das nach einer Waffe aussah. Mit schreckgeweiteten Augen und Kids Namen schreiend, griff Syreene nach ihrem Dolch. Kaum, dass sie die Waffe aus der Scheide befreit hatte, hatte sie den Dolch auch schon geworfen. Im gleichen Augenblick, in dem sich Kid umdrehte, durchdrang die scharfe Klinge mit einem schmatzenden Geräusch die von weichem Stoff geschützte Haut des Halses. Die Gestalt griff mit beiden Händen an die Kehle, ließ dabei das Holzbrett los und ging schließlich röchelnd zu Boden.

Syreene atmete erleichtert auf, während Kid sie besorgt musterte und sich dann über den Toten beugte. Er zog den Dolch aus der tödlichen Wunde, wischte das daran haftende Blut an den Sachen des Mannes ab und drehte ihn schließlich auf den Rücken. Die totenbleichen Augen, die überrascht über das jähe Ende weit aufgerissen waren, blickten nach oben in den sternenübersäten Himmel. Kid schätzte ihn auf zwanzig Sommer und bedauerte den frühen Tod, der ihn aus dem Leben gerissen hatte. Dann durchsuchte er die Kleidung des Jünglings und fand lediglich einen spärlich gefüllten Geldbeutel. Nachdem Kid ihm die Augen geschlossen hatte, ging er zu Syreene und gab ihr den Dolch zurück, den sie wieder zurück in die Scheide steckte.

"Ich musste es tun", sagte Syreene leise und sah Kid aus verzweifelt blickenden Augen an.

"Ich weiß", versicherte er ihr und drückte ihren Kopf sanft an seine Brust. "Du hast richtig gehandelt. Wenn du nicht eingegriffen hättest, hätte er mich vielleicht getötet. Mach dir also keine Gedanken mehr darum."

Syreene nickte nur und versuchte Trost in den Worten zu finden.

"Dahinten läuft Ghost!", sagte Kid plötzlich. Syreene löste sich aus den Armen des Mannes und drehte sich um. In einiger Entfernung sah sie hinter Gerümpel und Steinhaufen immer wieder etwas Weißes aufblitzen.

"Er ist auf der Jagd", meinte Syreene wachsam und folgte dem Wolf mit den Augen.

"Das könnte der letzte Mann sein", schlussfolgerte Kid. "Gehen wir Ghost hinterher."

"Nein!", erwiderte sie bestimmt und hielt ihren Begleiter am Arm zurück, als dieser schon loslaufen wollte, während sie das Tier nicht aus den Augen ließ. "Wenn wir ihm jetzt hinterher gehen, könnte ihn das von der Spur ablenken. Wir sollten ihm besser über einen großen Bogen entgegenkommen. Dadurch können wir auch gleichzeitig denjenigen, den er verfolgt, einkreisen. Er läuft los!"

Syreene sah, wie sich der weiße Körper jetzt schnell bewegte und rannte, parallel zu dem Tier, gemeinsam mit Kid hinterher. Die beiden jedoch konnten Ghost nur mühsam folgen, da sie in der Dunkelheit gleichzeitig auf den Weg vor ihnen und auf den Wolf achten mussten. Sie waren fast bis zum östlichen Ende des Armenviertels gelaufen, als sie das Tier nirgends mehr sehen konnten.

"Wo ist er?"

Keuchend schaute sich Kid um, doch nirgends sah er das weiße Fell des Karach´nak.

"Er muss sich versteckt haben", schnaufte Syreene schwer. "Das heißt, dass seine Beute irgendwo dahinten sein muss."

"Also zwischen ihm und uns?", fragte er und wischte sich Schweißtropfen aus der Stirn.

"Wahrscheinlich."

"Nun, es dürfte ja nicht schwer sein, Ghost zu finden, bei dem weißen Fell", meinte Kid optimistisch.

"Oh, er weiß sich hervorragend zu verstecken", antwortete Syreene auflachend. "Du wirst ihn nur dann finden, wenn er es so will."

"Großartig", sagte Kid mit ironischem Unterton und richtete sich plötzlich auf. "Ich glaube, da hat sich gerade etwas bewegt. Lass uns näher herangehen."

Gemeinsam gingen sie auf die Stelle zu, an der Kid meinte, etwas gesehen zu haben. Als Syreene meinte ein Geräusch gehört zu haben, blieb sie hinter ihrem Begleiter zurück und schaute sich aufmerksam um. Dann sah die junge Frau auf einmal einen Mann auf sich zu rennen, der in einer erhobenen Hand ein aufblitzendes Messer hielt. Der linke Arm schwankte seltsam in der Luft, so als wäre er leblos.

"Wenn ich schon untergehe", schrie der Mann Syreene entgegen, "dann werde ich wenigstens einen von euch mitnehmen!"

Kid drehte sich bei diesen Worten erschrocken um und lief, sein Schwert aus der Scheide reißend, los, trotz dessen, dass er keine Möglichkeit sah den Mann noch aufhalten zu können, bevor dieser Syreene erreichen konnte. Doch das war auch gar nicht nötig, denn plötzlich wurde der Mann von Ghost zu Boden geworfen, der sich in den Arm des Angreifers verbissen hatte. Halb benommen lag das Ordensmitglied des schwarzen Auges auf der Erde, wobei er das Messer bei dem Aufprall verloren hatte. Syreene wollte auf den vor Schmerz stöhnenden Mann zugehen, wandte sich sogleich aber mit geschlossenen Augen wieder ab, als ihr Blick auf den übel zugerichteten Arm fiel, der nur noch von ein bisschen Fleisch und Haut gehalten wurde. Kid packte die junge Frau an den Schultern und sah sie fragend an. Zum Zeichen, dass es ihr gut ging, nickte sie mit dem Kopf. Daraufhin wandte er seine Aufmerksamkeit nun auf den Verletzten.

"Es hat den Anschein, dass Ihr vorher schon die Bekanntschaft mit Ghost gemacht hattet." Kid sah ungerührt dabei zu, wie der Wolf von seiner Beute abließ. Der lange Umhang des Mannes war an der linken Schulter mit Blut durchtränkt und zerrissen. Darunter kam eine zerfetzte Haut zum Vorschein, die mit Schmutz und Stoff verdreckt und verklebt war. Der Mann erwiderte nichts auf die Worte Kids. Er war viel zu sehr mit dem Schmerz, der in seinem Körper wütete, beschäftigt, als dass er noch etwas anderes wahrnehmen konnte.

In der Ferne machten Kid und Syreene ein Rufen aus und ein paar Augenblicke später standen Silver und Jack vor ihnen. Der Pirat machte den Eindruck einen harten Kampf hinter sich zu haben, da sein Gesicht voller Schmutzstreifen war und seine Haut einige oberflächliche Kratzer und Schürfwunden aufwies.

"Endlich haben wir euch gefunden", sprach Jack mit tiefer Stimme erleichtert.

"Ist mit euch alles in Ordnung?"

Silver musterte die beiden besorgt auf Verletzungen.

"Uns geht es gut", antwortete Kid beruhigend und zeigte dann auf den Mann neben sich. "Aber er hier ist mit Ghost aneinander geraten. Ich glaube kaum, dass er den Morgen überleben wird."

"Eine dieser Gestalten müsste hier noch herumlaufen", meinte Jack, während er die Umgebung betrachtete. "Sie ist mir leider entwischt."

"Wir müssten jetzt eigentlich alle haben", erklärte Kid. "Einer liegt nördlich tot in einem verfallenen Stall und der andere befindet sich gefesselt irgendwo im Zentrum hinter einer Mauer."

"Dann gehst du jetzt mit Syreene zur Burg zurück", sagte Silver zu seinem Bruder, der zufrieden mit dem Ausgang der Jagd war. "Suche vorher aber nach Gorwin. Er soll mit seinen Soldaten hierher kommen. Jack und ich werden ihn am Eingang erwarten."

Ein Geheimnis wird gelüftet

Durch das Gespräch, dass Syreene am Stadttor belauscht hatte, brauchten Kid und sie nicht lange um den Kommandanten zu finden. In kurzen Sätzen erzählten sie ihm, was sich im Armenviertel abgespielt hatte, und dass Silver ihn am Eingang des Viertels erwartete. Danach begaben sich die beiden Freunde zur Burg und warteten auf die Rückkehr des Königs. Die Dienerschaft ging schon längst ihrer verdienten Nachtruhe nach und auch Lady Gwaine, die es sich in einem Stuhl im Zimmer des verletzten Baringol bequem gemacht hatte, schlief. Kid und Syreene bedienten sich daher selbst in der Küche und machten sich über einige Reste des ausgebliebenen Abendmahles her. Zu ihrem eher trockenen Essen, das aus Käse, Brot und Fleisch bestand, tranken sie dazu den allerfeinsten Met, den der Keller der Burg zu bieten hatte. Trotz dass die Nacht schon sehr weit fortgeschritten war, hielten die Ereignisse des vergangenen Tages und der letzten Stunden die beiden Freunden wach.

Erst als die Sonne im Begriff war sich im Osten zu erheben und das Gesindel in ihren Betten erwachte, kehrte Silver zu seiner Burg zurück. In der Zeit, in der er mit Jack auf Gorwin gewartet hatte, hatte er den Piraten in die Geschehnisse der letzten Tage eingeweiht, der sofort bereitwillig seine Hilfe angeboten hatte. Gemeinsam mit Gorwin und dessen Soldaten hatten sie dann das Viertel nach den Ordensmitgliedern abgesucht und dabei festgestellt, dass der Mann, der von Ghost angegriffen wurde, mittlerweile an seinen schweren Verletzungen gestorben war. Trotz Fackeln erwies es sich für die Truppe als sehr schwierig den Mann zu finden, den Syreene niedergeschlagen hatte. So hatte es eine Zeitlang gedauert, bis sie ihn fanden, da er mittlerweile aus seiner Bewusstlosigkeit wieder erwacht war und aus Verzweiflung heraus versucht hatte auf dem Bauch kriechend zu fliehen.

Gemeinsam mit Jack, Gorwin und dem Gefangenen, der neben zwei Soldaten herging, betrat Silver seine Halle und steuerte sofort auf seinen Stuhl zu. Er wollte keine weitere Zeit mehr verschwenden und mit der Befragung des Mannes anfangen. Kid und Syreene waren sofort bei dem Eintreten der Männer vom Tisch aufgestanden und stellten sich jetzt zusammen mit Jack neben das Podest, während die beiden Soldaten mit dem Gefangenen davor stehen blieben. Gorwin unterdessen trat an die Seite seines Königs.

"Mir ist mittlerweile bekannt", fing Silver ohne Umschweife an, "dass Ihr einem Orden angehört, der den Namen ,Schwarzes Auge' trägt, und auch, dass Ihr einer Person untersteht, dessen Macht es zu wecken gilt. Was ich aber nicht weiß, ist, wer diese Person ist und wie diese Macht erweckt werden soll."

"Das war ja zu erwarten, dass dieses Katzenvieh plaudern würde", knurrte der Mann rau und spuckte vor sich auf den Boden, woraufhin er einen Schlag in den Nacken von einen der Soldaten erhielt.

"Es wäre nur eine Frage der Zeit gewesen, bis ich von diesem Orden erfahren hätte", meinte Silver schlicht. "Also, was ist das für eine Person, in deren Diensten Ihr steht?"

"Ihr könnt doch nicht so naiv sein und glauben, dass ich Euch darauf antworte?", sagte der Gefangene mit hämischer Stimme.

"Ihr würdet Euch dadurch einiges ersparen. Bedenkt folgendes! Ihr seid an einer Verschwörung gegen die Königreiche Green Forest und Demetris beteiligt, wenn nicht sogar von ganz Eredian. Ihr seid an der Tötung eines königlichen Boten sowie eines loyalen Untergebenen meiner Krone beteiligt. Und Ihr seid an der Verwundung eines treuen Bewohners meiner Stadt beteiligt. Eure Strafe für diese Vergehen ist der Tod."

"Und warum erzählt Ihr mir dies?", fragte der Mann genervt.

"Weil Ihr die Art Eures Todes selbst bestimmen könnt. Wenn Ihr mir verratet, was ich wissen will, wird Euer Tod kurz und schmerzlos sein. Wenn nicht, nun, mein Henker kennt Methoden den Tod sogar über mehrere Tage hinauszuzögern. Und wenn Ihr wollt, kann Euch bei Eurer Entscheidung vielleicht ein Gang durch die Werkstatt meines Vollstreckers weiterhelfen."

Abwartend schaute Silver seinen Gefangenen vor sich an. Seine Worte hatten Wirkung gezeigt. Schweißperlen standen dem Mann auf der Stirn, die ihm seitlich am Gesicht herunter liefen, und er verlagerte nervös sein Gewicht von einem Bein auf das andere. Die Hände in den Fesseln hatte er zu Fäusten geballt, während er krampfhaft versuchte zu schlucken.

"Es ist eigentlich egal, ob ich Euch etwas erzähle oder nicht", sagte er dann schließlich ergeben, "die Ordensmitglieder würden mich eh umbringen. Obwohl ich Euch nicht mal viel über sie berichten kann. Ich glaube, das können nur sehr wenige. Ich habe mir zwar das Vertrauen meiner Brüder und Schwestern errungen, bekam aber nur wage Andeutungen über das ,Schwarze Auge' und dessen Pläne."

"Wie hat man Euch angeworben?", fragte Silver, der mit kalter Miene den Mann beobachtete.

"Vor etwa sieben Monden kamen drei Ordensbrüder in mein Dorf. Sie erzählten uns, dass sie auf der Suche nach neuen Mitgliedern seien. Ihr Orden würde die Schwachen unterstützen und gegen die Machthungrigen kämpfen, um eine Gleichheit von Stand und Rasse zu erzielen. Was sie sagten, hatte mich beeindruckt. Und der Gedanke, dass jeder gleichgestellt wäre, gefiel mir. Aber erst nachdem ich ihnen beigetreten war, erfuhr ich, dass der Meister selber nach Macht strebt. Und zwar über ganz Eredian."

"Warum habt Ihr daraufhin nicht den Orden wieder verlassen?", wollte Silver irritiert wissen. Der Gefangene lachte freudlos auf.

"Ich habe gesehen, was meine Brüder und Schwestern mit den Leuten gemacht haben, die den Orden verlassen wollten. Die Methoden Eures Henkers sind dagegen harmlos."

"Wie ist der Orden aufgebaut?", mischte sich Kid in die Befragung ein. "Wer hat da alles die Befehlsgewalt? Wie viele Mitglieder sind es und wo sind ihre Lager?"

"Unsere Mitglieder sind in ganz Eredian verteilt", antwortete der Mann ausdruckslos und schaute dabei den jungen Mann an. "Und es kommen täglich neue hinzu. Unsere Anzahl schätze ich auf tausend Mann. Aber wahrscheinlich sind es viel mehr. Einige Lager sind dort aufgestellt, wo sich Könige und Herrscher aufhalten, damit wir über ihre Aktivitäten unterrichtet sind. Und wo sich der Rest aufhält ist mir unbekannt. Jedenfalls gibt es in jedem Lager einen Anführer, der seine Befehle von einem Kommandanten oder etwas ähnlichem erhält."

"Und dieser wiederum bekommt seine Befehle von eurem Meister", schlussfolgerte Gorwin grimmig.

"Entweder von ihm oder von seiner rechten Hand. Angeblich soll es sich dabei um eine mächtige Zauberin handeln. Mehr weiß ich aber auch nicht darüber."

"Was sind die Pläne vom ,schwarzen Auge'?"

Die Arme auf dem Stuhl aufgestützt, hatte Silver schweigend zugehört. Was er bisher gehört hatte, bereitete ihm Sorgen. Der Feind war nach wie vor unerkannt und sie mussten gegen eine Armee ankämpfen, die sie nicht sehen konnten.

"Wie will er an die Herrschaft über Eredian gelangen?"

"Indem er seine eigene Macht stärken will. Ich habe mitbekommen, wie einige Mitglieder auf die Suche nach ,sieben Schicksale' geschickt wurden. Ich weiß aber nicht, was damit gemeint ist."

Daraufhin lehnte sich Silver an die unbequeme Rückenlehne und schaute gedankenverloren seinen Gefangenen an. Währenddessen gingen in der Halle einige Diener herum, die die Vorhänge und Fensterläden öffneten oder anfingen den Boden zu wischen. Sie ließen sich bei ihren Arbeiten viel Zeit, um so der Befragung beizuwohnen. Es musste sich dabei um etwas Wichtiges handeln, so vermuteten sie, da es noch nie vorgekommen war, dass ihr König eine Verhandlung zu so früher Stunde abhielt.

"Gut", sagte Silver schließlich aufseufzend. "Das wäre alles. Ihr könnt ihn jetzt wegbringen."

"Wartet!", kam der energische Ausruf von Syreene, die einen Schritt auf den Gefangenen zuging. "Ich würde zuvor noch gerne wissen, was es mit dem Ring auf sich hat, den Ihr getragen hattet."

"Jeder, der das Vertrauen des Ordens errungen hat", antwortete der Mann langsam, "bekommt diesen Ring. Der Zauber, der darauf liegt, ist so etwas wie ein Erkennungszeichen. Dadurch will der Orden wahrscheinlich verhindern, dass der Ring nachgeschmiedet wird und sich so Spione bei uns einschleichen können."

"Und wie wissen sie, dass auch wirklich auf einem Ring der Zauber liegt?", fragte Silver gespannt.

"Man erklärte mir, dass dadurch eine bestimmte Aura ausgestrahlt würde."

"Ich verstehe", nickte der König bedächtig.

"Und die Zeichen darauf?", fragte Syreene neugierig. "Was bedeuten die?"

"Nur dies: "Das schwarze Auge sieht alles". Der Kreis mit dem Auge darin ist das Symbol des Ordens und soll genau dies bedeuten."

Mit einem Nicken gab Syreene den beiden Soldaten zu Verstehen, dass sie keine weiteren Fragen mehr hatte und sie brachten den Gefangenen hinaus.

"Gorwin", wandte sich Silver dem Kommandanten zu. "Sorge dafür, dass der Mann heute noch hingerichtet wird. Aber nicht in der Stadt! Die Sache hat schon genug Aufmerksamkeit erregt."

"Ich werde das regeln", antwortete Gorwin pflichtbewusst und verließ nach einer kurzen Verbeugung ebenfalls die Halle. Dann blickte der König zu seinem Bruder, der abwartend zu ihm aufsah, bevor er sich energisch aus seinem Stuhl erhob.

"Kommt mit!", sagte er zu seinen Freunden und begab sich in sein Arbeitszimmer. Kaum war die Tür geschlossen, als Kid auch schon seinen Bruder ansprach, der sich hinter seinen Schreibtisch setzte.

"Was denkst du darüber?", fragte ihn sein Bruder, der sich mit den Armen auf den Tisch abstützte.

"Der Orden ist gut organisiert. Dieses ,schwarze Auge' achtet genau darauf, dass seine Untergebenen nur wenig erfahren und so bei einer Gefangennahme nichts Wichtiges erzählen können. Wir stehen noch immer an dem Punkt, wo wir angefangen haben. Und jedes Mal, wenn wir glauben, wir seien einen Schritt weitergekommen, stellen sich uns nur noch mehr Fragen, aber keine Antworten."

"Und was ist mit diesen ,sieben Schicksalen'?"

"Da bin ich genauso ratlos wie du", antwortete Silver langsam und schaute Kid dabei in die Augen. "Dem Namen nach zu urteilen, muss es sich um etwas Bedeutendes handeln, wahrscheinlich sogar um etwas Magisches. Ich weiß aber nicht, was."

"Ich glaube, es gibt da jemanden, der darüber erzählen kann", sagte Jack nachdenklich, woraufhin alle Augenpaare fragend auf ihn gerichtet waren. "Ich bin mir aber nicht so sicher."

"Und wer?"

Hoffnungsvoll blitzten die Augen Silvers auf. Kamen sie in dieser Sache jetzt endlich weiter?

"Nun, es war noch zu der Zeit als ich Pirat war. Wir hatten in Tritos angelegt, weil wir Vorräte brauchten. Bei meinem Einkauf bin ich an einem Mann vorbeigegangen, der einigen Kindern eine Geschichte erzählte. Ich meine mich erinnern zu können, dass er etwas von ,sieben Schicksalen' gesagt hatte."

"Das hilft im Moment auch nicht weiter", antwortete Silver enttäuscht, der Syreene dabei beobachtete, wie sie in einem ledergebundenen Buch blätterte, das sie aus einem der Regale herausgenommen hatte.

"Was lest Ihr da?"

"Es trägt den Titel ,Der Norden Eredians'."

Syreene schaute nicht einmal auf, als sie dem König antwortete, sondern schlug stattdessen eine weitere Seite um.

"Aber hier steht nicht viel über die Flammenberge."

"Die Flammenberge?", wiederholte Kid. Es wunderte ihn, dass Syreene lieber in einem Buch las, als sich an dem ernsten Gespräch zu beteiligen.

"Irgendwo in dem Land soll doch der Hauptsitz des Ordens sein", antwortete sie und hob den Kopf. "Aber ich frage mich, warum? Es ist wild, vollkommen unfruchtbar und es gibt kein Wasser."

"Vielleicht ist der Orden auch gar nicht dort", gab Silver zu bedenken. In Gedanken ging er das Wissen, dass er über die Flammenberge hatte, durch. Aber wie Syreene bereits gesagt hatte, das Land war unfruchtbar. Er hatte noch nie davon gehört, dass irgendjemand dort überlebt hätte. Selbst die Gelehrten stellten nur Vermutungen über das Land an.

"Es kann aber auch sein, dass es dort irgendetwas gibt", meinte Kid nachdenklich. "Etwas, dass für das ,schwarze Auge' wichtig ist. Eine magische Quelle vielleicht? Oder etwas ist dort vergraben oder zerstört worden."

"Das hat keinen Sinn", sagte Silver mutlos. "Es nützt nichts, wenn wir weiterhin Vermutungen anstellen. Wir sollten erst einmal mit den Gelehrten sprechen."

"Das können Syreene und ich übernehmen", bot Jack bereitwillig an und sah die junge Frau fragend an. Syreene nickte und gab damit ihr Einverständnis.

"In Ordnung", antwortete der König und sah daraufhin seinen Bruder an. "Und wir beide sprechen noch einmal mit diesem Thunder."
 

Es ging schon auf die Mittagszeit zu, als Syreene und Jack zurückkehrten. Sie waren nach einem herzhaften Frühstück in der Burg in die Stadt gegangen, um sich mit einigen Gelehrten zu unterhalten. Silver und Kid hatten derweil noch einmal mit dem Katzenmann gesprochen, der ihnen jedoch nichts Neues berichten konnte. Bei der Gelegenheit hatte Silver auch Jacks Männer wieder freigelassen und sich für ihre Hilfe mit einem stattlichen Betrag an Gold bedankt. Jetzt saßen er und sein Bruder in der Halle, als ihre Freunde eintraten.

"Habt ihr etwas herausgefunden?", fragte Kid eifrig, nachdem sich Jack und Syreene mit zu ihnen an den Tisch gesetzt hatten.

"Nichts", schüttelte Syreene enttäuscht den Kopf. "Wir waren sowohl in der Bibliothek als auch in der Universität. Aber niemand konnte auch nur im Entferntesten etwas mit ,sieben Schicksalen' anfangen."

"Das Problem ist auch", erzählte Jack weiter, "dass es noch immer viel zu viele Bücher und Schriftrollen gibt, die aus der alten Sprache erst noch übersetzt werden müssen."

"Casus meint es nicht gut mit uns", meinte Silver niedergeschlagen. "Wir kommen und kommen nicht weiter."

"Jack und ich haben uns überlegt", begann Syreene, nicht bereit, jetzt schon aufzugeben, "dass wir morgen früh, beim ersten Licht der Sonne, nach Tritos reisen. Wir wollen dort diesen Mann suchen, von dem Jack erzählt hatte."

"Es ist aber ein weiter Weg bis dorthin", gab Silver zu bedenken. Er sah ein, dass dieser Mann bisher der einzige Hinweis war, den sie hatten. Sie mussten endlich herausfinden, wonach genau das ,schwarze Auge' suchte. Und wer weiß, wie viel Zeit ihnen noch blieb, bis der Orden zuschlug.

"Aber nicht, wenn wir auf gerader Strecke von hier aus reisen. Jack sagte mir zwar, dass hinter einem Waldgebiet ein großer Sumpf liegt, den man eigentlich umrunden müsste, aber ich weiß, wie man Sümpfe durchquert. Von daher würden wir noch zusätzlich Zeit sparen."

Das Kinn in den Händen gestützt, dachte Silver lange nach. Er wusste, Syreene kannte sich in der Natur aus und würde den Weg sicher nach Tritos schaffen. Aber konnte er auch soviel Zeit erübrigen auf ihre Rückkehr zu warten? Was war, wenn sie keinen Erfolg hatten?

"Ich weiß, woran du denkst", riss Kid seinen Bruder aus dessen Gedanken. Bisher hatte er schweigend dem Gespräch zugehört. Ihm war bewusst, dass sie endlich handeln mussten.

"Aber wir haben keine andere Wahl. Dieser Mann in Tritos ist im Moment unsere einzige Chance. Der Orden existiert schon viel zu lange. Wir dürfen ihnen nicht noch mehr Zeit geben, um stärker zu werden. Wir müssen herausfinden, wonach sie suchen."

"Diese Reise kann aber auch vergeblich sein", hielt Silver ihm vor. "Überleg mal, wie viele Jahre vergangen sind, als Jack diesen Mann gesehen hat. Es ist gut möglich, dass er gar nicht mehr in Tritos lebt. Vielleicht ist er sogar auch schon Tod. Du hast vorhin selbst gesagt, dass wir dem Orden nicht noch mehr Zeit geben dürfen. Aber wie viel Zeit würden ihnen denn geben, wenn wir auf die Rückkehr von Syreene und Jack warten?"

"Deshalb werde ich auch mitgehen", sagte sein Bruder entschlossen. "Und dabei nehme ich auch Proud Lady mit. Egal, ob wir in Tritos etwas erfahren oder nicht, ich werde Lady mit einer Nachricht dann zu dir schicken. Sie wird auf alle Fälle vor uns hier ankommen."

"Konnte dieser Mann von dem Katzenklan Euch nicht noch mehr sagen?", wollte Syreene wissen. Sie verstand Silvers Angespanntheit. Es galt jetzt Entscheidungen zu treffen und jeder Fehler, der dabei zustande käme, würde dem Orden zu Gute kommen.

"Er weiß auch nicht mehr als wir", antwortete Kid stattdessen.

"Was werdet Ihr mit ihm machen?"

"Ich habe einen Boten nach Artemias geschickt", sagte Silver erschöpft und rieb sich das Gesicht. "Ich hoffe für den Mann, dass mir Grey der Einarmige seine Geschichte bestätigt. Wenn nicht, wird er genauso wie sein Kamerad, hingerichtet."

"Was sagst du nun?", fragte Kid seinen Bruder. "Lässt du uns nach Tritos reisen?"

"Wie lange meint Ihr, Syreene, werdet ihr unterwegs sein?"

Silver sah ein, dass dies momentan die einzige Möglichkeit war, mehr über den Orden und seiner Suche herauszufinden, auch wenn der Erfolg der Reise sehr gering war.

"Ich schätze mal, acht oder neun Sonnentage. Ich weiß nicht, wie schnell wir mit den Pferden durch den Sumpf kommen. Einen Sonnentag, denke ich, werden wir auf jeden Fall dafür brauchen. Deshalb ist es auch wichtig, dass wir mit leichtem Gepäck reisen."

"Und was meinst du mit leichtem Gepäck?", fragte Jack, der sich in Gedanken schon eine Liste anfertigte, was er auf die Reise mitnehmen wollte.

"Nur das Nötigste", antwortete Syreene. "Zwei Schlafdecken, zwei Trinkflaschen, einen Essensbeutel, warme Kleidung, ein Messer oder einen Dolch. Die Pferde dürfen auch nicht allzu schwer aufgezäumt sein. Wir müssen bedenken, dass wir vielleicht die Sättel durch den Sumpf tragen müssen."

Die Freunde saßen noch eine Weile zusammen und besprachen bei einem ausgedienten Mittagsmahl, an dem auch Lady Gwaine teilnahm, die Reisevorbereitungen. Der Tag ging ohne weitere Vorkommnisse dem Ende zu, während Kid, Jack und Syreene ihre Sachen zusammenpackten. Am Abend überreichte Silver der jungen Frau einen ledergebundenen Köcher mit feinen silberbestickten Ornamenten darauf, der zwanzig handgearbeitete Pfeile enthielt. Syreene war über das Geschenk sehr erfreut, da ihr durch das unfreiwillige Bad im Wassergraben nur noch ein Pfeil übrig geblieben war und es nur noch eine Frage der Zeit war, bis ihr eigener Köcher auseinander fiel. Kid hatte das Geschehen mit wachsamen Augen und mit eifersüchtigen Herzen beobachtet. Sein Bruder begann also seinen Eroberungsfeldzug. Doch nicht er wird es sein, dachte sich Kid, der die nächsten Tage mit Syreene verbringen wird.
 

Die Sonne war noch nicht am Horizont erschienen als am nächsten Morgen Silver, Kid, Syreene und Ghost sich im Innenhof versammelt hatten. Da sie den Stallmeister nicht in seinem Schlaf stören wollten, sattelten sie ihre Pferde selber, dabei wurde Syreene mit einem freudigen Wiehern Shadows begrüßt. Sie hatte Silvers Angebot, ihr ein schnelleres Pferd zu geben, dankend abgelehnt, da ihr der Hengst mittlerweile ans Herz gewachsen war. Sie freute sich schon darauf, wieder auf dem kräftigen Rücken des Tieres zu sitzen. Bei Kids Pferd handelte es sich um eine braun gescheckte Stute, die er liebevoll Chitone nannte. Sie war ein Geschenk seines Vaters, als er mit seiner Kampfausbildung angefangen hatte, und der junge Mann hing deshalb sehr an dem Tier. Nicht einmal, seit dem Tod seines Vaters, hatte Kid auch nur ein anderes Pferd geritten. Für Jack, der im Reiten gerade mal die Grundbegriffe kannte, sattelten sie einen sanften, rotbraunen Fuchs, der den Namen Escaroth trug.

Nachdem Kid und Syreene fertig waren und sich in die Sattel geschwungen hatten, trat Silver auf seinen Bruder zu und hielt ihm seinen rechten Arm hin, auf dem die ganze Zeit über ein riesiger Adler saß und mit mildem Interesse seine Umgebung betrachtete. Sein braunes Gefieder glänzte hell in der aufgehenden Sonne und die graue Spitze des hakenförmig gebogenen Schnabels blitzte auf. Kid hatte den Raubvogel einst im Wald gefunden, wo er mit einer tiefen Verletzung an einen seiner Flügel auf dem Boden gelegen hatte. Zusammen mit dem Falkner hatte er es geschafft die Wunde zu behandeln und schon bald konnte das Tier auch wieder fliegen. Durch die gemeinsam verbrachte Zeit mit dem jungen Mann hatte sich das Weibchen an seine Anwesenheit gewöhnt, so dass sie, als Kid sie in ihre Freiheit entlassen wollte, bei ihm geblieben war. Aufgrund ihrer Eigenart beleidigt zu reagieren und wild mit den Flügeln zu schlagen, wenn dem Raubvogel etwas nicht gefiel, hatte Kid ihr den Namen "Proud Lady" gegeben.

Nur zu gerne sprang Proud Lady auf den linken Arm ihres Herrn, der mit einem dicken Lederpolster vor den gefährlich scharfen Krallen geschützt war. Mit einigen Abschiedsworten wendeten Kid und Syreene daraufhin ihre Pferde und ritten gemächlich aus dem Hof hinaus in die Stadt. Sie hatten mit Jack vereinbart sich am Stadttor zu treffen, der die Nacht in seinem eigenen Haus verbracht hatte. Die Straße war von einigen Nebelschwaden verhüllt und das Klappern der Hufen hallte laut von den Wänden der Häuser wider. Nur wenige Menschen begegneten ihnen auf ihrem Wege, die Milch und warme Brote der Bäcker auslieferten. Am Stadttor wurden sie bereits von Jack fröhlich erwartet, der tatkräftig sein Bündel auf dem Rücken seines Pferdes band. Während er dann in den Sattel stieg, befahl Kid den Wachen am Tor das kräftige Eisengitter hochzuziehen, das zu so früher Stunde noch immer geschlossen war. Sobald die Freunde das Tor passiert hatten, wurde das Gitter auch schon wieder hinuntergelassen. Nachdem sie nun offenes Land vor sich hatten, erhob sich Proud Lady hoch in die Lüfte und zog ihre Kreise, während sie Kid und seinen Begleitern folgte.

Schweigend wandten sie sich nach Süden und verfielen erst in Galopp, als man die Stadtmauern und die Straße nicht mehr sehen konnte. Stunde um Stunde verging, in dem die Freunde mit donnernden Hufen über saftige, grüne Wiesen und Felder ritten und ihnen nur Hasen, Füchse, Rebhühner und anderes Getier begegneten. Syreene genoss das Gefühl, wie der Wind ihr durch das Gesicht fegte und wie die Muskeln des Pferdes sich kraftvoll unter ihr anspannten. Kid hatte dabei Mühe seinen Blick von der wilden Amazone abzuwenden, in die sich die junge Frau scheinbar verwandelt hatte.

So verlief ihre Reise noch zwei weitere Tage, in denen sie tagsüber ohne Pause stur geradeaus ihrem Ziel entgegen ritten, als sie bei Anbruch der Nacht den Wald erreicht hatten, hinter dem das Sumpfgebiet lag. Das erste Mal, seit sie Castle Shelter verlassen hatten, führten die Freunde jetzt ihre Pferde hinter sich her an den Zügeln, während sie sich einen Weg durch das tiefe Grün der Büsche bahnten. Den Rest des Tages verbrachten sie am Rande des Sumpfes, da Syreene es für zu gefährlich befand sich im schwindenden Licht schon jetzt in das Gebiet hineinzuwagen. Sie hatten die Pferde abgesattelt und ließen sie jetzt frei auf der Wiese um sich herum laufen. Sie wussten, dass die Tiere in ihrer Nähe bleiben würden.

"Habt ihr eigentlich keine schmerzenden Knochen?", stöhnte Jack und rieb sich das Kreuz.

"Unsere Körper sind solche Anstrengungen gewohnt."

Syreene lächelte über das schmerzerfüllte Stöhnen des Piraten und suchte in ihrem Bündel nach einer kleinen, hölzernen Schachtel.

"Und außerdem sitzt du viel zu verkrampft im Sattel", belehrte Kid ihn, woraufhin er einen grimmigen Blick von Jack erhielt.

"Hier", sagte Syreene, die endlich die kleine Schachtel gefunden hatte und sie ihm hinhielt. "Darin ist eine Salbe, die deine Schmerzen lindern wird. Reib dir die Stellen gut damit ein."

Jack öffnete die Schatulle und wandte sofort verzogen das Gesicht ab.

"Und dieses stinkende Zeug soll ich mir auf die Haut schmieren?", fragte er fassungslos, während er angeekelt auf die grüngelbe Paste hinunter starrte.

"Zugegeben, es riecht nicht gerade angenehm, aber dafür vertreibt es die Schmerzen."

"In Ordnung", gab sich Jack geschlagen und begab sich hinter ein Gebüsch, wo er sich seiner Sachen entledigte und sich mit der Heilsalbe einschmierte.

"Wir sind gut vorangekommen in den letzten Tagen", bemerkte Kid und rutschte näher zu Syreene hin.

"Hoffentlich gilt das auch für die Durchquerung des Sumpfes", meinte sie, während sie zu dem dunklen Schilfgras hinüberblickte, das die weiche und schlammige Erde des vor ihnen liegende Gebiet verbarg. "Ich möchte nur ungern eine Nacht dort verbringen. Es wäre zu gefährlich."

"Du bist doch schon durch Sümpfe gelaufen."

"Ja, aber immer nur mit Ghost", antwortete Syreene. "Ich musste noch nie ein Pferd hindurchführen. Es wird zwar schwierig, aber nicht unmöglich."

Ihr Gespräch wurde unterbrochen von dem ankommenden Schrei von Proud Lady, die sich neben Kid auf der Erde niederließ. Zwischen ihren Klauen hielt sie den leblosen Körper eines Hasen.

"Mir scheint so", grinste der junge Mann stolz, "dass Lady schneller bei der Jagd war als dein Schosshündchen."

"Das würde ich nicht sagen", kam es von Jack, der hinter dem Busch hervortrat, und zeigte hinüber zum Wald, aus dem Ghost munter heraustrabte. Als der Wolf bei seiner Gefährtin angekommen war, ließ er neben ihr zwei tote Rebhühner fallen. Kid sah neidvoll auf dessen Beute und verzog missmutig das Gesicht, während Syreene sich ein Lachen verbiss.

"Und es sieht auch so aus", sprach Jack weiter, wobei er sich über das erbeutete Essen beugte, "als wenn Ghost seine Opfer nicht angenagt hätte, so wie dein Vogel."

"Und du solltest dich besser gegen den Wind stellen", erwiderte Kid und wedelte demonstrativ mit der Hand vor seinem Gesicht. "Die Salbe stinkt wirklich erbärmlich."

"Wenn es dir nicht passt, wie ich rieche, kannst du ja das Feuerholz sammeln gehen. Dann kann ich auch die leckeren Braten hier zubereiten."

Daraufhin kümmerte sich Kid um das nötige Holz, während Jack gemeinsam mit Syreene die erlegten Tiere häutete und ausnahm. Während die ausgehöhlten Leiber über dem warmen Feuer brutzelten, bestäubte der Pirat das knusprige Fleisch mit Gewürzen, die er für die Reise mitgenommen hatte. Herzhaft verspeisten die Freunde das saftige Essen zusammen mit ein paar Äpfeln, die der Koch aus Castle Shelter für sie eingepackt hatte. Währenddessen hatte sich eine tiefe Dunkelheit über das Land gelegt und als sie nach dem leckeren Mahl noch eine kleine Weile beisammen saßen, wünschte Jack seinen beiden Freunden eine angenehme Nachtruhe und begab sich zu seiner Schlafstätte. Proud Lady hatte sich indessen in einen Baum am Waldrand zurückgezogen und den Kopf unter einen ihrer Flügel gesteckt, während Ghost zufrieden schnarchend neben seiner Gefährtin lag. Nur das Prasseln des Feuers und das leise Schnauben der Pferde waren in der nächtlichen Stille zu hören. Syreene hatte sich zum Schutz vor der Kälte ihre Schlafdecke um die Schultern gelegt und starrte gedankenvoll in die Flammen, während sie ihre Knie fest umschlungen hielt.

"Gefällt dir das Geschenk meines Bruders?"

Kid, der die ganze Zeit über Syreene beobachtet hatte, hätte sich für diese Frage am liebsten selbst geohrfeigt.

"Ja", antwortete sie mit einem noch leicht abwesenden Ausdruck in den Augen. "Es war sehr großzügig von Silver."

"Mit Großzügigkeit hat das nichts zu tun", schnaubte Kid leise und schaute dabei ins Feuer.

"Und mit was dann?"

Fragend schaute Syreene ihn an.

"Er ist von dir fasziniert", meinte er achselzuckend, beobachtete aber aufmerksam ihre Reaktion auf diese Worte. Die junge Frau wandte jedoch nachdenklich die Augen ab.

"Er ist nicht wirklich von mir fasziniert", antwortete sie schließlich. "Von deiner Mutter weiß ich, dass er nur Frauen kennt, die das genaue Gegenteil von mir sind. Und das irritiert ihn wahrscheinlich."

"Stört dich das?"

"Nein", meinte Syreene lächelnd. Sie wusste genau, warum Kid ihr die Frage gestellt hatte. Das Gespräch, das er mit Lady Gwaine geführt hatte, ging ihr nicht mehr aus dem Kopf und sie dachte oft über das Gesagte nach. Bisher hatte sie nie die Aufmerksamkeit eines Mannes kennen gelernt und wusste daher auch nicht, wie sie darauf reagieren sollte.

"Du kannst dir also keine Zukunft mit Silver vorstellen?", hakte Kid hoffnungsvoll nach.

"Bisher habe ich mir nie Gedanken über meine Zukunft gemacht. Auch habe ich mir nie vorgestellt, wie sie aussehen könnte mit einem Mann an meiner Seite. Und außerdem wäre das Leben einer Königin nichts für mich. Diese ganze Maskerade, die aufgeführt werden muss, nur, um niemanden zu beleidigen. Für so etwas bin ich wahrlich nicht geschaffen. Ich müsste befürchten eines Morgens aufzuwachen und mich zu fragen, wer ich bin."

"Ich weiß, was du meinst", erwiderte Kid ernst. "Genau aus diesem Grunde achte ich darauf die Person zu bleiben, die ich auch bin. Wenn es nach den höfischen Regeln geht, dann dürfte ich gar nicht mit Jack oder mit dir befreundet sein. Es hat schon manches Gerede wegen mir gegeben, weil ich mich nicht an die Etikette gehalten habe."

"Wieso ist sie eigentlich so wichtig?", fragte Syreene neugierig.

"Um den Unterschied zwischen Herrn und Untergebenen zu verdeutlichen. Um zu zeigen, dass man höher gestellt und etwas Besseres ist. Aber weißt du, wenn diese Leute ihre Ahnenreihe mal zurückverfolgen würden, dann würden sie feststellen, dass ihre Familie einst Bauern oder Landarbeiter oder sonst etwas gewesen waren. Mein Urururgroßvater zum Beispiel war ein einfacher Kaufmann. Mit dem Gold, das er durch sein Handelsgeschick verdient hatte, konnte er die Kriegerausbildung seines Sohnes bezahlen. Und damit fing alles an. Sein Sohn hatte sich in einigen Schlachten so bewährt, dass er zum Ritter geschlagen wurde, und später dann wurde er Baron."

"Und irgendwann konnte sich die Familie Hawk zu den Königshäusern zählen", lächelte Syreene den jungen Mann neben sich an.

"Richtig", lachte Kid, wurde aber sofort wieder ernst. "Aber könntest du dir vorstellen das Leben einer unkonventionellen Lady zu führen? An der Seite eines regelbrechenden Kriegers?"

"Ich kann dir noch keine Antwort darauf geben." Mit einem traurigen Ausdruck in den Augen schaute die junge Frau ins Feuer. "Das Leben, das ich bisher geführt habe, ist nicht mehr. Môrien ist jetzt zu seinem Gott Thoros aufgestiegen, und Taró ... Taró ist ein Fremder für mich geworden."

"Erzähl mir von deinem Leben", bat Kid seine Begleiterin.

"Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich habe das Leben einer Diebin geführt, die Tag für Tag von einem Ort zum anderen zog. Mir ist es vorher nie aufgefallen wie ... leblos dieses Leben ist. Wegen Taró haben Môrien und ich uns stets mit unseren Späßen zurückgehalten. Ich kann mich nicht erinnern, schon mal so oft gelacht zu haben wie in den letzten Tagen. Und es hat mir gefallen. Ganz besonders dieser eine Tag, wo wir in der Stadt waren."

Syreenes Augen sahen in die Ferne, als sähe sie dort den Tag in allen seinen Einzelheiten. Ein glückliches Lächeln lag auf ihren vollen Lippen und es war, als strahlte ein helles Licht von innen aus ihr heraus. Kid war von diesem Anblick wie gebannt. In dem Augenblick wusste er, dass er Syreene nie wieder gehen lassen würde. Sie verkörperte all das, was er wollte.

"Wir sollten jetzt auch schlafen gehen."

Bevor ich noch etwas Dummes tue, fügte Kid in Gedanken hinzu.

"Ja, du hast recht", antwortete sie und schaute in den Nachthimmel. "Wir müssen sehr zeitig aufstehen."

Syreene legte noch einige Holzscheite ins Feuer, bevor sie sich von ihrem Platz erhob und zu ihrem Schlafplatz ging. Ghost, der durch die abrupte Bewegung wach geworden war, folgte ihr und legte sich dicht an ihre Seite. Die junge Frau kuschelte sich dankbar an das warme Fell und schlief mit einem leisen Lächeln sofort ein. Kid, der Syreene nicht aus den Augen gelassen hatte, schüttelte resigniert den Kopf. Ich bin eifersüchtig auf einen Wolf, schalt er sich innerlich. Mit einem letzten Blick auf die junge Frau legte auch er sich auf sein Lager. Kurz bevor der Schlaf ihn dann übermannte, hörte Kid noch, wie Jack anfing zu schnarchen.
 

Am nächsten Morgen brachen sie sehr frühzeitig auf. Die Sonne warf gerade erst ihre ersten Strahlen über das Land, als Syreene ihren Freunden noch einige Anweisungen erteilte, bevor sie den Sumpf betraten. Die Pferde hielten sie sehr kurz an den Zügeln fest und führten sie langsam durch den weichen, schlammigen Untergrund hinter sich her. Ihre Bündel und die Sättel trugen die Freunde über ihre Schultern. Mit Hilfe eines Seiles, das um Shadows Hals geschlungen war, hatte Syreene ihren Bogen und den Köcher an der Seite des Pferdes befestigt, damit sie ungehindert den Sattel tragen konnte.

Vorsichtig und mit kleinen Schritten testete die junge Frau die weiche Erde unter sich, während ihre Begleiter immer darauf bedacht waren ihrer Spur zu folgen. Hin und wieder waren sie gezwungen einen Teil ihres Weges zurückzugehen, da morastiges Wasser und schlüpfrige Erde ihnen das Vorankommen nicht ermöglichte. Einmal musste Syreene auch Ghost aus dem weichen Untergrund befreien, der mit seinen Hinterläufen bis zu den Kniegelenken versunken war und durch seine verzweifelten Befreiungsversuche noch zusätzlich mit den Vorderpfoten feststeckte. Die junge Frau hatte sich daraufhin bäuchlings auf den Boden gelegt und war zu dem Tier hingerobbt. Während Kid sie an den Füßen festgehalten hatte, hatte Syreene den Wolf aus seiner misslichen Lage hinausgezogen.

Erst sehr spät am Abend betraten die Freunde wieder festen grasigen Untergrund. Als das letzte Tageslicht verschwand, hatten sie lange Holzstücke, an deren Enden trockenes Gras gebunden war, angezündet, um ihren Weg in diesem gefährlichen Gebiet besser sehen zu können. Jetzt, nachdem sie den Sumpf endlich verlassen hatten, ließen sich die Freunde erschöpft und erleichtert auf den Boden sinken. Sie waren viel zu Müde, um ein Feuer anzuzünden oder etwas zu essen. Sie holten nur ihre Decken aus ihren Bündeln heraus und legten sich schlafen.

Da sie den schwierigsten Teil nun hinter sich hatten, ließen sich die Freunde am nächsten Tag mit dem Frühstück viel Zeit, bevor sie ihre letzte Wegstrecke antraten. Ohne weitere Zwischenfälle, und mit einer kurzen Rast an einem Bachlauf, wo sie ihre Trinkflaschen aufgefüllt und sich den gröbsten Schmutz abgewaschen hatten, erreichten sie nach weiteren vier Tagen ihr Ziel: die Stadt Tritos.

Tritos war der größte Seehafen in Demetris und zählte gleichzeitig auch als Piratenstadt. Die meisten Männer der 754 Einwohner gingen zur See und waren entweder als Matrosen auf Handelsschiffen tätig, arbeiteten als Fischer oder machten sich der Piraterie strafbar. Als sich die Piraterie in Tritos immer mehr ausweitete, hatte Silver angeordnet, dass jeder Kapitän ein Ausweisungspapier mit sich führen musste, das er dem Hafenmeister vorzulegen hatte. Dieses Schriftstück enthielt den Namen des jeweiligen Kapitäns, seines Schiffes und seines Auftraggebers sowie auch der Inhalt der mit sich geführten Ladung. Wie Silver jedoch später erbost feststellen musste, gab es einige Leute, die sich darauf verstanden diese Schriftstücke zu fälschen. So war es auch ein offenes Geheimnis, dass sich Piratenschiffe als Handelsschiffe tarnten, kurz bevor sie die Küste erreichten. Und zusätzlich mit Hilfe des Ausweisungspapieres gelang es den demetrischen Soldaten nur selten diese Männer zu überführen und festzunehmen.

Täglich herrschte ein reger Hochbetrieb im Hafen. Unzählige Schiffe in allen Größen und Formen legten am Kai an oder segelten auf das offene Meer hinaus. Männer bedienten riesige Holzkräne, um die schweren Kisten auf und von den Decks zu heben. Arbeiter liefen mit vollbeladenen Schubkarren die Planken hinauf und hinunter, während Pferdefuhrwerke beladen wurden, um dann die Waren bei den jeweiligen Händlern in der Stadt abzuliefern. Und in all diesem Trubel lief der Hafenmeister mit seinen Gehilfen von einem Schiff zum anderen und kontrollierte die Papiere der Kapitäne.

Die Freunde führten ihre Pferde durch die Stadt, wobei Jack die Führung übernommen hatte. Die Leute, die ihnen entgegenkamen, machten ihnen respektvoll Platz, wobei sie nicht nur den weißen Karach´nak fürchteten, der aufmerksam neben seiner Gefährtin hertrottete, sondern auch vor dem Anblick des stolzen Adlers, der sich auf Kids Arm seelenruhig umsah. Die Frauen standen mit ihren Körben in Gruppen zusammen und stellten flüsternd Vermutungen über die seltsamen Neuankömmlinge an, während die Männer die Freunde misstrauisch beobachteten und ihre Hände nah an ihren Messern und anderen Waffen hielten. Doch Jack kümmerte dies alles nicht. Er führte Kid und Syreene unbeirrt zum Hafen, wo sich das Wirtshaus "Zum geschliffenen Haken" befand. Jack hatte seinen Freunden erzählt, dass dies ein beliebter Treffpunkt der Piraten sei, und dass man ihnen dort sicher sagen konnte, wo der Mann, den sie suchen, sich befinden könnte.

Das Haus, vor dem sie schließlich stehen blieben, war im Stile eines Fachwerks gebaut worden. Jedoch war es ziemlich heruntergekommen. An den Wänden verliefen lange Risse, während an einigen Stellen die gelbe Farbe abblätterte und die kräftigen dunklen Holzbalken zersplittert und geborsten waren. Syreene bemerkte einige dunkle Flecken an den Hausecken und neben der Eichentür. Teilweise handelte es sich dabei um eingetrocknetes Blut. Der Rest war weniger appetitlich und die junge Frau verzog vor Ekel das Gesicht.

Gemeinsam mit Kid betrat Jack das Wirtshaus, während Syreene mit Ghost nur zu gerne draußen blieb und auf die Pferde aufpasste. Wachsam beobachtete sie die Leute, die an ihr vorbeigingen und sie misstrauisch ansahen, wobei sie eine Hand auf dem Dolch liegen hatte. Plötzlich ertönte aus dem Inneren des Hauses ein dumpfes Poltern, als auch schon Jack mit blutender Nase aus der Tür stolperte. Gleich nach ihm trat ein Bär von einem Mann auf die Straße, der seine kräftigen Hände zu Fäusten geballt hatte. Sein zottiges, verfilztes Haar bedeckte nur zu einem Teil die lange Narbe, die quer über sein rechtes Auge verlief, und unter seinem kurzärmeligen Wollhemd traten deutlich die angespannten Muskeln hervor. Jetzt kamen noch weitere Männer aus dem Haus, die nicht weniger brutal aussahen wie der Riese. Zwei der Männer hielten Kid zwischen sich fest, um ihn daran zu hindern, in den Kampf, der jetzt stattfinden würde, einzugreifen. Sein Schwert hatten sie ihm abgenommen.

"Na, sieh mal einer an", grölte der Riese hämisch und zeigte dabei einige gelbe, verfaulte Zähne. "Cooking Jack hat auf einmal nich mehr so ne große Schnauze."

Die Männer, die die beiden Kontrahenten umkreist hatten, lachten laut auf.

"Wundert mich, dass de dich noch hertraust", sprach er weiter. "Hab gehört, dass de jetzt des Königs Liebling bist."

"Ich will keinen Ärger haben, Gorick", sagte Jack und wischte sich das Blut aus dem Gesicht. "Ich bin nur hier, weil ich jemanden suche."

Der Riese mit dem Namen Gorick lachte.

"Haste geglaubt, du könntest einfach so wieder hier auftauchen und nix würde passieren? Du weißt doch, was mit Meuterern passiert, die unser Schiff verlassen."

Mit diesen Worten zog Gorick aus seinem Stiefel ein gefährlich aufblitzendes Messer mit zwei scharfen Schneiden und warf es von einer Hand in die andere. Doch ein Pfiff weckte seine Aufmerksamkeit, genauso wie auch die der umherstehenden Männer, die sich nach dem Geräusch umdrehten. Erst jetzt bemerkten sie die junge Frau, die mit einem Pfeil genau auf Gorick zielte, und ihren weißen Gefährten, der mit gesträubten Fell und gefletschten Zähnen neben ihr stand.

"Ich rate dir deinen Zahnstocher wegzuwerfen", sprach Syreene kalt und sah den Riesen dabei mit hochgezogener Augenbraue an. Die Männer, die zwischen ihr und Gorick standen, traten alle ein Stück zur Seite, um nicht länger im Schussfeld zu sein und womöglich noch von dem Pfeil getroffen zu werden. Jack stellte sich derweil an die Seite der jungen Frau und schaute grinsend dem Schauspiel zu.

"Hör mal, Mädchen", sagte Gorick begütigend, nachdem er sich von seiner Überraschung erholt hatte. "Was du da in den Händen hältst is kein Spielzeug."

"Richtig. Es ist eine tödliche Waffe, mit der ich mit äußerster Präzision umgehen kann. Also wirf dein Messer weg, bevor meine Finger anfangen zu zucken."

Atemlos vor Spannung sahen die Männer zwischen Syreene und Gorick hin und her. Wer würde als erster reagieren?

"Ha, du bluffst doch nur", schnaubte Gorick schließlich. Er war der Meinung, dass eine Frau gerade mal genug Können besaß, um mit einem winzigen Messer Fleisch zu schneiden, aber für den Umgang mit Waffen fehlte ihnen jedoch das nötige Geschick. Gerade als sich auf seinem Gesicht ein selbstbewusstes Grinsen ausbreitete, spürte Gorick einen Luftzug dicht an seinem Ohr und ein Aufschrei hinter ihm ließ ihn sich umdrehen. Einer seiner Männer hüpfte mit schmerzverzerrtem Gesicht auf einem Bein, während er sich den anderen Fuß hielt, aus dem ein Pfeil herausragte.

"Ups", meinte Syreene seelenruhig und legte ungerührt einen weiteren Pfeil an. "Da sind mir doch tatsächlich die Finger abgerutscht. Bist du jetzt endlich bereit dein Messer wegzulegen?"

Kaum hatte die junge Frau ihre Frage zu Ende gesprochen, als das Messer auch schon klirrend zu Boden fiel.

"Sehr schön. Und als nächstes werden deine Freunde meinen Begleiter loslassen."

Bereitwillig ließen die zwei Männer Kid frei und traten mit erhobenen Händen ein paar Schritte zurück, ohne, dass Syreene auch nur einen Blick in ihre Richtung warf. Während Kid an seiner Kleidung zupfte, ging er ins Wirtshaus und kam nur wenige Augenblicke, mitsamt seinem Schwert und Proud Lady auf seinem Arm sitzend, wieder hinaus.

"Da diese Sache nun geklärt ist", sprach Syreene währenddessen weiter, "kannst du uns jetzt bei der Suche nach einem Mann behilflich sein. Jack hatte ihn vor einigen Jahren hier in der Nähe dabei gesehen, wie er den Kindern Geschichten erzählt hat. Weißt du von wem die Rede ist?"

"Das kann nur der Einsiedler Margus sein", brummte Gorick unwillig.

"Und wo können wir diesen Margus finden?"

"Die Küste weiter rauf is sein Haus", grollte er. Purer Hass auf die junge Frau, die ihn vor seinen Männern gedemütigt hatte, loderte in seinem verbliebenen Auge auf und versprach gleichzeitig Vergeltung. Syreene nahm dies zur Kenntnis und beobachtete wachsam jede seiner Bewegungen. Ihre Freunde stiegen derweil auf ihre Pferde und Kid führte dann Shadow zu Syreene. Sie gab Ghost den Befehl, die Männer nicht aus den Augen zu lassen, während sie sich in den Sattel zog. Den Bogen noch in der Hand wendete sie den Hengst, und in einem schnellen Trab ritten die Freunde die Straße hinunter zum Hafen, wo sie dann rechts abbogen und den Weg aus der Stadt hinaus folgten.

Sie ritten ein ganzes Stück die Küste entlang auf ein Kliff zu, an dessen steilen Wand sich hoch aufschäumend das Wasser brach. Über dem Rauschen des Meeres waren das Kreischen der Möwen zu hören, die empört auseinander flogen, als sie Proud Lady näher kommen sahen. In den spitzen, kantigen Felsen des Kliffes sah man ihre aus Seetang und Zweigen hergestellten Nester, in denen einige Weibchen ihre Eier ausbrüteten.

Als die Freunde auf der windigen Anhöhe angelangt waren, sahen sie vor sich eine kleine Holzhütte, aus deren Schornstein grauer Rauch emporstieg. Neben der Behausung war ein Pferch aufgebaut, in dem sich drei Schafe und eine Ziege tummelten. Knarrend öffnete sich die Tür des Häuschens und ein Mann, der sicher schon fünfzig Winter erlebt hatte, stand im Eingang und blickte den Freunden entgegen. Er hatte ein schmales, verhärmtes Gesicht, dessen Blässe von den schneeweißen Haaren noch unterstrichen wurde, aber die faltigen blauen Augen zeugten von einem wachen Verstand. Das helle Wollhemd schlotterte im Wind um die schmalen Schultern und die Leinenhose saß so locker um die Taille, dass sie scheinbar jeden Moment hinunterrutschen konnte.

"Seid Ihr Margus?", fragte Kid den Mann, als sie bei ihm angekommen waren.

"Genau der bin ich", antwortete er mit rauer Stimme und neigte leicht seinen Kopf zur Begrüßung.

"Mein Name ist Kid Hawk. Ich bin der Bruder von Silver Hawk. Meine Begleiter sind Jack und Syreene."

"Ich weiß, wer Ihr seid, mein junger Prinz." Margus trat aus dem Eingang heraus und deutete mit seiner Hand in das Innere des Hauses, als er weiter sprach. "Aber lasst uns doch im Warmen darüber sprechen, warum Ihr zu mir gekommen seid. Das Wetter hier oben ist heute sehr rau."

Die Freunde stiegen von den Rücken ihrer Pferde und banden die Zügel am Zaun fest. Syreene gab Ghost die Anweisung aufzupassen, bevor sie gemeinsam mit ihren Freunden und Margus sein kleines Heim betraten, das nur aus einem einzigen Raum bestand und ihnen nicht viel Platz bot. Eine schmale Pritsche, auf der eine dünne zerrissene Decke lag, stand auf der linken Seite unter einem Fenster. Am Fußende des Bettes befanden sich eine Eichentruhe, deren Deckel jedoch fehlte, und eine hohe Kiste. Die gesamte rechte Wand nahm ein Steinofen ein, auf dessen Feuer ein schwarzer Eisentopf stand. In der Mitte stand ein kleiner Tisch mit drei zerbrechlich wirkenden Stühlen.

"Wenn ich gewusst hätte, dass ich Besuch bekomme", sprach der alte Mann und rührte dabei mit einem Holzlöffel in dem Topf herum, "dann hätte ich etwas mehr zu Essen gemacht."

"Das ist sehr freundlich von Ihnen", meinte Kid, der Syreene einen Stuhl anbot. "Aber wir möchten Ihnen nichts wegnehmen. Wir haben unser eigenes Essen dabei."

Margus ging zum Bett und schob die Kiste zum Tisch. Derweil setzten sich Kid und Jack vorsichtig auf die anderen beiden Stühle, die gefährlich laut unter ihrem Gewicht knackten.

"Ich habe schon vieles gesehen", sagte der Alte, während er drei braune Tonbecher mit Wasser vor seinen Gästen stellte. "Das meiste davon waren seltsame Sachen. Aber ein weißer Karach´nak war nicht darunter. Er scheint zahm wie ein Lamm zu sein."

"Aber nicht, wenn er glaubt, seine Freundin sei in Gefahr", antwortete Kid lächelnd und zeigte dabei auf Syreene.

"Natürlich nicht. Wisst Ihr, mein junger Prinz, die Karach´nak sind nicht nur wilde Bestien, sie sorgen auch füreinander. Sie halten wie eine Familie zusammen. Aber ich muss zugeben, das war nicht immer so. Anfangs hatte jeder dieser Wölfe nur an sich gedacht. Doch dann kamen die Jäger und schossen ein Tier nach dem anderen. Die Karach´nak merkten daraufhin, dass sie nur stark sind, wenn sie auch zusammenhalten. Aber ich glaube, Ihr seid nicht hierher gekommen, um mit mir über Höllenwölfe zu reden."

"Ihr erzählt doch den Kindern in der Stadt Geschichten, nicht wahr?"

Kid wollte sich erst versichern, dass sie mit der richtigen Person sprachen.

"Das ist richtig", erwiderte Margus bedächtig und nickte mit dem Kopf. "Es macht mir und den Kindern viel Spaß. Meine Erzählungen regen ihre Fantasie an. Jedes Mal, wenn ich eine Geschichte erzählt habe, rennen sie in den Straßen herum und spielen sie nach. Hat König Silver etwas dagegen? Seid Ihr deshalb zu mir gekommen?"

"Wisst Ihr etwas über ,sieben Schicksale'?"

Die Muskeln spannten sich an und mit wachem Blick schaute Margus Kid an, wobei sich seine Augen leicht verengten.

"Warum wollt Ihr das wissen, mein Prinz?", fragte der Alte wachsam.

"Seit längerer Zeit", begann er langsam zu erklären, "gibt es eine Gruppe, die sich der ,Orden des schwarzen Auges' nennt. Bisher wissen wir nicht viel über sie, aber sie sind zahlreich und über ganz Eredian verteilt. Ihr Meister, das ,schwarze Auge', ist auf der Suche nach den ,sieben Schicksalen', um damit an Macht zu gewinnen. Er strebt nach der Herrschaft über unsere Welt."

"Es ist bedauerlich, wie Geschichten und Legenden in Vergessenheit geraten", sprach Margus. "Ich weiß genau, dass es in den Tiefen der Bibliotheken noch so viel Wissen gibt, von denen die Gelehrten keine Ahnung haben. Sie wären schon längst mit der Übersetzung der alten Sprache fertig, wenn sie nicht noch zusätzlich dem nachgehen würden, was sie aus den Büchern und Schriftrollen erfahren."

Margus ging zum Ofen und stellte den Topf vom Feuer, das er anschließend löschte. Die Freunde beobachteten ihn abwartend. Sie nahmen an, dass er jetzt sein zubereitetes Essen verzehren würde, doch setzte er sich mit leeren Händen wieder an den Tisch.

"Es war noch früh am Anfang der Zeit", sprach er dann mit rauer Stimme und stützte sich auf seine Arme. "Es war das erste Jahr des Windes und ganz Eredian war eine einzige grüne Ebene. Zu der Zeit gab es nur wenige Menschen, Elben, Zwerge und andere Lebewesen auf der Welt, und sie alle lebten friedlich beisammen. Weder Streit noch Krieg, weder Gier noch Macht kannten sie. Dieser Frieden auf Eredian langweilte schon bald die Götter und sie sahen nicht mehr auf die Welt hinab. Stattdessen veranstalteten sie einen Wettstreit, wer den mächtigsten Gegenstand herstellen konnte. Sieben Götter traten an und ein jeder von ihnen war der Meinung, dass sein Gegenstand das Mächtigste war. Sie kamen zu keiner Einigung und ein großer Krieg spaltete die Götter in sieben Parteien. Jeden Tag führten sie untereinander Schlachten aus. Dies blieb für die Welt unter ihnen nicht ohne Folgen. Mehrere Blitze schlugen auf der Erde ein, die so heftig waren, dass sich einige Teile von Eredian lösten und auf das Meer hinaustrieben. Die Welt erzitterte unter den gewaltigen Kämpfen der Götter so stark, dass fußhohe Wellen an den Küsten niedergingen und alles unter sich begruben, und massives Gestein hob sich in die Lüfte empor."

"Ist Eredian durch den Krieg so entstanden, wie sie heute aussieht?", fragte Syreene gebannt, als Margus seine Geschichte für einen Moment unterbrach.

"So ist es. All das Land, das hinter den nördlichen Bergen liegt, war eine einzige Wasserlandschaft. Dann flog ein riesiger Feuerball auf die Erde nieder. An der Stelle, wo er aufkam, verdampfte das Wasser sofort und alles brannte lichterloh. Die Erde um ihn herum wurde zu Stein. In einem kurzen Moment, wo die Götter aufhörten zu kämpfen, schaute Verum, die Göttin der Wahrheit, auf Eredian hinab und sah, was sie durch den Krieg angerichtet haben. Daraufhin machte sie die anderen Götter darauf aufmerksam und der Krieg war sofort vergessen. Mit vereinten Kräften versuchten sie das Land wieder aufzubauen. Glacies, der Gott des Eises, und Pluvia, die Göttin des Regens, kümmerten sich um das brennende Feuer. Sie waren aber nicht stark genug, um es ganz zu löschen. Deshalb schloss Glacies das Feuer in Eis ein, das angeblich noch heute unter den Eisfeldern brennen soll. Pluvia indessen bat ihre Schwester Terra um Hilfe. Sie hob mit ihrer Macht die zu Stein gewordene Erde empor und bedeckte damit das flüssiggewordene Feuer. Aber Terra hatte nicht bedacht, dass die Lava Wege finden würde, um aus dem Gestein zu fliehen. Sie brodelt also unter der Erdoberfläche und wird immer heißer, bis sie dann aus dem Gestein herausschießt. Dieses Gebiet bekam daraufhin den Namen ,Flammenberge'. Währenddessen hatte Aqua, der Gott des Wassers, das überschwemmte Land von dem Meer befreit, und Calor, der Gott der Wärme, und Ignis, die Göttin des Feuers, trockneten den Boden. Jedoch waren die beiden mit ihrer Macht sehr großzügig, wodurch die weiche Erde immer härter und härter wurde, bis dann tausende von kleinen Sandkörnern entstanden sind. Pluvia hatte noch mit ihrem Regen versucht die Erde wieder zu festigen, doch hatte sie nur erreicht, dass sich zwei Oasen bildeten. Genauso großzügig war auch Satio, der Gott der Pflanzen, denn der gesamte östliche Landstrich Eredians war karg und leer, so dass er alle möglichen Bäume und Blumen dort wachsen ließ. Aber schon bald war dieser ganze Teil so zugewuchert, dass niemand mehr hindurch kam. Glücklicherweise mischte sich dann Constantia, die Göttin der Besonnenheit, ein, die die Bemühungen der anderen Götter beobachtet hatte. Anstatt den Schaden, den sie auf Eredian angerichtet hatten, wieder gutzumachen, hatten sie alles nur noch verschlimmert. Daraufhin gab Constantia jedem einzelnen Gott genaue Anweisungen, um aus Eredian wieder eine bewohnbare Welt zu machen."

"Bedeutet das nun", unterbrach Kid den Alten, "dass es sich bei den ,sieben Schicksalen' um die sieben Götter handelt, die mit dem Krieg angefangen haben?"

"Nein, mein Prinz", lachte Margus leise. "Es sind die Gegenstände. Die sieben Götter, die an dem Wettstreit teilgenommen hatten, schenkten diese Stücke den Völkern Eredians. Aber unter ihnen gab es jemanden, der nicht damit einverstanden war. Es war Furor, der Gott der Wut. Da er sich aber nicht zu seiner Meinung bekennen wollte, verfluchte er stattdessen jeden einzelnen Gegenstand. Daraufhin veränderten sich die Völker. Es kam zu Streit und Hass, zu Zorn und Gier. Sie wurden machthungrig, wollten jeden unterwerfen und alles besitzen. Sie schmiedeten Waffen und Rüstungen und kämpften gegen jeden, der sich ihnen in den Weg stellte. Sie benutzten sogar die Gegenstände, die man ihnen geschenkt hatte. Und dann griffen die Götter ein, die bisher mit Bestürzung der Zerstörung zugesehen hatten. Sie fanden heraus, was Furor getan hatte und dass sein Fluch auf die Völker übergegangen war. Amor, der Gott der Liebe, und Comitas, der Gott der Freundlichkeit, taten alles um den Fluch zu brechen. Doch sie schafften es nur ihn ein wenig zu schwächen. Die verfluchten Gegenstände jedoch wurden auf Eredian versteckt. Daher auch der Name ,sieben Schicksale'."

"Um was für Gegenstände handelt es sich genau?", fragte Syreene. Fast hätte sie den Grund für ihre Anwesenheit bei dem Mann vergessen, so fasziniert war die junge Frau von der Geschichte. Margus wusste, wie er die Leute zum Zuhören bewegen konnte. Er erzählte mit Händen und Füßen, dämpfte seine Stimme an spannenden Stellen und schilderte die Geschichten in den prächtigsten Farben.

"Eine Rüstung, ein Schwert, ein Amulett, ein Schild, ein Stab, ein Diadem und eine Statuette."

"Wisst Ihr auch, wo die Sachen versteckt sind?", wollte Kid wissen.

"Das weiß niemand so genau", antwortete der Alte. Er streckte seinen Rücken, wobei seine Knochen laut knackten und füllte die Becher seiner Gäste erneut auf. "Sie können praktisch überall sein."

"Das ,schwarze Auge' scheint aber Hinweise zu haben."

Die Lage schien für Kid hoffnungslos zu sein, doch war er noch nicht bereit aufzugeben. Zumindest waren sie einen Schritt weiter gekommen. Sie wussten jetzt wonach der Orden suchte. Mit langsamen Schritten schlurfte Margus zur Truhe. Vorsichtig ließ er sich davor nieder und begann mit langgliederigen Fingern darin herumzuwühlen. Dabei murmelte der Alte irgendetwas vor sich hin, das die Freunde jedoch nicht verstanden.

"Ah, hier ist sie ja", sagte Margus mit einem befriedigenden Lächeln. Seine Hände tauchten aus dem Inneren der Truhe wieder hervor, die eine vom Alter gezeichnete Schriftrolle hielten. Ein zerfledertes Leinenbändchen war darum gewickelt. Mühsam stand Margus wieder auf und legte die Rolle auf den Tisch, wo die Freunde sie sehen konnten.

"Auf dieser Schriftrolle ist ein Gedicht geschrieben", sprach er dann. "Es nennt sich ,Die Reise'. Angeblich soll es aber in Wirklichkeit ein Rätsel sein. Ein Rätsel, dass die Orte der ,sieben Schicksale' enthält."

Die Freunde sahen staunend auf das Schriftstück hinab. Hatten sie es endlich geschafft? Würden sie jetzt erfahren, wo sie die Gegenstände finden konnten? Margus sah seine Gäste abwartend an. Als sich seine Augen mit denen von Kid trafen, nickte er ihm leicht zu und der junge Mann öffnete mit zögernden Fingern das Bändchen und entrollte das Papier. Mit leiser und rauer Stimme las er vor:
 

"Weit der Weg dir erscheint,

Doch reich belohnt du wirst sein.

Deine Reise du kannst beginnen,

Im alten Furiosan wird die Zeit verrinnen.

Folge dem Glanze des Kristalles,

Bis hin zu des Lichterfalles.

Geh weiter den Pfade entlang,

Gestillt sein wird dann der Drang.

Gaimena"
 

Nachdem Kid geendet hatte, schaute er verwirrt zu Margus hin. Auf seiner Stirn hatten sich einige Falten gebildet und seine Augenbrauen waren zusammengezogen. Mit einer Hand zeigte er auf die Schriftrolle in seinen Fingern.

"Das hat nie und nimmer etwas mit den ,sieben Schicksalen' zu tun. Es ist noch nicht einmal ein Rätsel. Es ist genau das, was es sein soll, nämlich ein Gedicht."

"Ihr irrt Euch, mein Prinz." Margus lachte leise vor sich hin. "Der Name der Verfasserin, Gaimena, ist ein Synonym."

"Wohl eher ein Anagramm", lächelte Syreene, woraufhin sie einen erstaunten Blick des Alten erhielt. "In ,Gaimena' steckt noch ein weiterer Name und damit auch die wahre Person, die dahinter steht."

"Was seid Ihr?", fragte Margus die junge Frau. "Eine Piratin? Eine Diebin? Oder vielleicht sogar schlimmeres?"

"Eine Diebin", antwortete sie schlicht und zuckte mit den Schultern. "Zumindest war ich es einst."

"Wer ist diese Gaimena?", wollte Kid wissen, der die Unterhaltung zwischen Syreene und Margus aufmerksam beobachtet hatte. Nur Jack schien von dem Gespräch um sich herum unberührt zu sein. Mit grimmig gerunzelter Stirn starrte er blicklos auf den Tisch.

"Nun, es handelt sich bei ihr um Aenigma", antwortete Syreene langsam.

"Die Göttin der Rätsel?" Erstaunt blickte Kid die junge Frau neben sich an, die ihm zustimmend zunickte. "Und wieso trägt sie den Namen Gaimena?"

"Weil sie als Schutzgöttin der Schurken angesehen wird", sagte Margus stattdessen. "Allerdings ist es so, dass dies von den Leuten, insbesondere der Hohepriester, nicht gerne gesehen wird. Irgendjemand hat dann die Buchstaben in ihrem Namen umgestellt und heraus kam Gaimena."

"Ich verstehe. Demnach wäre das Gedicht also von Aenigma."

"Ganz genau", meinte Syreene und stützte ihren Kopf auf die zu Fäusten geballten Hände. Plötzlich ertönte von draußen das warnende Bellen des Höllenwolfes und weckte die Aufmerksamkeit der Freunde.

Die Zefrir

Während die Freunde sich mit Margus unterhielten, fand im Hafen von Tritos ein anderes Gespräch statt. Dort lag am Kai elf ein schnittiger aus Mahagoniholz gefertigter Drei-Master vor Anker. So oft die Seeleute den Segler auch schon gesehen hatten, jedes Mal bewunderten sie die hölzerne Figur am Galion aufs Neueste. In liebevoller Gestaltung und bis ins kleinste Detail erarbeitet, zeigte sie Zefrir, das Einhorn der Meere, das scheinbar wie lebendig das Schiff durch das Wasser zog. Der Kopf mit dem langen Horn auf der Stirn war lang gestreckt. Die Mähne wehte wild in der Luft. Die Beine waren wie in einem schnellen Lauf weit ausgestreckt. Bei stürmischer See hatte es immer den Anschein, als wenn Zefrir sich durch das raue Wasser, das sich an ihm brach, hervorkämpfen würde. Zu beiden Seiten des Bugs standen in großen, verschnörkelten Messinglettern sein Name, und damit auch der Name des Schiffes. Einige Männer der Besatzung, die aus Menschen und Elben bestand, luden Kisten und Truhen voll mit feinsten Stoffen, Teppichen und Gobelins und Fässer mit Proviant und Wasser auf das Schiff. Andere Mitglieder waren damit beschäftigt, die Ladungen in den Schotten zu verstauen, das Deck zu säubern und die Segel zu flicken.

Ein Mann von Anfang dreißig lief mit großen Schritten hinunter zu den Kabinen im Vorderdeck, wo sich auf der Steuerbordseite die Kapitänskajüte befand. Er klopfte kurz, aber kräftig an die Tür und stieß sie auch schon sofort auf. Die gesamte linke Wand wurde von Regalen eingenommen, hinter dessen Glastüren ordentlich aufgereiht Bücher über die Seefahrt, Länder Eredians, Schiffsbau und Seekarten befanden. An der rechten Wand standen längs eine schmale Koje und eine große Truhe mit Kleidung sowie ein kleines Schränkchen mit einer schnörkellosen Schale, gefüllt mit Wasser. Zwei Laternen hingen gleichmäßig verteilt von der Decke herab und spendeten abends, wenn das Tageslicht verschwunden war, genügend Licht. Vor den Regalen befand sich ein Schreibtisch aus kräftiger Eiche, hinter dem eine Elbin saß und mit einem weißen Federkiel Eintragungen in einem kleinen Buch machte. Die kurzen, bordeauxroten Haare waren zu einem Seitenscheitel frisiert und fielen ihr ins Gesicht. Dabei wurden die leicht gebogenen Augenbrauen und die mandelförmigen haselnussbraunen Augen verdeckt. Die gerade, kleine Stupsnase war vor Konzentration leicht gekräuselt und die vollen Lippen waren gespitzt. Ein weißes Rüschenhemd lag locker auf den schlanken, aber doch kräftigen Schultern, dessen bauschigen Ärmeln bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt waren. Sie sah nicht auf, als der Mann die Tür schwungvoll aufriss und vor den Schreibtisch trat. Unbeirrt tunkte sie die Federspitze in ein Fässchen und schrieb weiter.

"Was gibt es?", fragte sie mit rauchiger Stimme, die es gewohnt war Befehle zu erteilen.

"Tobey kam gerade zurück", sprach der Mann. Sein Name lautete Christian Bradshaw und war Erster Offizier auf der Zefrir sowie ein enger Freund der Elbin. Vor fünf Sommern war er der Besatzung von Natalya, der ,Roten Rächerin', wie sie auch genannt wurde, beigetreten. Den Namen verdankte sie den vielen Auseinandersetzungen mit den Piraten, denen sie sich mutig entgegenstellte und dabei schon das eine oder andere Schiff versenkt hatte.

"Ich hatte ihm aufgetragen", sprach Chris weiter, "sich ein wenig in der Stadt umzuhören. Dabei hat er erfahren, dass Cooking Jack in der Stadt ist."

Natalya hielt im Schreiben inne und hob erstaunt den Kopf.

"Jack ist hier?", hakte sie nach. Chris nickte bestätigend mit dem Kopf. Natalya legte die Feder neben das Büchlein und lehnte sich im Stuhl zurück. Von ihrem Platz aus blickte sie nachdenklich aus dem Bullauge hinaus und sah auf das Achterdeck eines Handelsschiffes, das am Kai neben der Zefrir ankerte.

"Die ,Wild Bull' liegt doch hier auch vor Anker, oder?", fragte Natalya schließlich.

"Ja, das ist richtig. Es gab auch schon eine Auseinandersetzung zwischen Jack und Gorick, die aber glimpflich ausgegangen ist. Tobey hatte nämlich gehört, dass eine Frau, wahrscheinlich eine Freundin von Jack, sich in das Geschehen eingemischt hat. Sie soll Gorick sogar mit einem Bogen bedroht haben."

"Was hat Gorick vor?"

"Er sammelt seine Männer um sich", antwortete Chris. "Er scheint ziemlich wütend zu sein und ist auf Vergeltung aus."

"Und wo hält sich Jack auf?", wollte Natalya wissen. Sie kannte Gorick und wusste, dass er brutal und unberechenbar war. Niederlagen hatte er noch nie akzeptieren können. Und schon gar nicht, wenn diese durch eine Frau kam. Von einer Frau besiegt zu werden, war für Gorick die größte Demütigung von allen. Er wird sich grausam an ihr rächen, dachte Natalya grimmig.

"Er wollte zum alten Einsiedler."

"Gut", meinte die Elbin und verließ mit entschlossenen Schritten die Kajüte, während Chris neben ihr Schritt hielt. "Die Männer sollen die Ladung auf das Schiff bringen, und zwar schnell. Sie können sie später immer noch verstauen. Dann bringst du die Zefrir zur Bucht bei den Klippen. Da ist ein Landesteg. Ich werde dort mit Jack auf euch warten."

"Willst du etwa alleine gehen?", fragte Chris unbehaglich. Der Gedanke, dass sein Kapitän Gorick allein gegenüberstehen würde, gefiel ihm nicht.

"Ich will Gorick nicht warnen."

Mit einem kurzen Nicken verabschiedete sich Natalya von ihrem Freund und lief mit sicheren Schritten die Planke zum Kai hinunter, während Chris mit lauter Stimme den Männern Befehle zurief sich zu beeilen und die Ladungen vorerst auf das Deck abzustellen. Langsam und darauf bedacht keine Aufmerksamkeit zu erregen, ging Natalya die Straße entlang, wobei die Enden ihrer roten Schärpe, die sie um ihre Taille gebunden hatte, wild um sich flatterten und der stärker werdende Wind am Kragen der Bluse zerrte. Sobald die Elbin die Stadt verlassen hatte, lief sie geschwind über den grasigen Untergrund hinauf zur Ebene, wo die kleine Hütte des Einsiedlers stand. Dort blieb sie wie angewurzelt stehen und starrte überrascht auf den weißen Höllenwolf vor sich, der sie mit gesträubtem Nackenfell bedrohlich anbellte und ihr die gefährlichen Fangzähne zeigte. Hinter einem der Fenster der Behausung erschien das Gesicht des alten Mannes und kurz darauf öffnete sich auch schon die Tür. Natalya erkannte Jack sofort, der zusammen mit einer jungen Frau aus der Hütte heraustrat, die zu dem Karach´nak ging und ihm sanft eine Hand auf den Kopf legte, woraufhin er seine Angriffshaltung aufgab und die Elbin mit aufgerichteten Ohren wachsam beobachtete, während Jack auf sie zutrat.

"Natalya, schön dich mal wieder zu sehen", begrüßte er sie lächelnd und mit einem fragenden Unterton in seiner Stimme. Er fragte sich, was die junge Elbin zu Margus führte und bekam prompt die Antwort darauf.

"Gorick ist auf den Weg hierher", kam Natalya ohne Umschweife zur Sache, wobei sie den Wolf nicht aus den Augen ließ. "Gehört der etwa zu euch?"

Jack nickte, aber bevor er etwas sagen konnte, trat Kid an seine Seite, der die Elbin fragend musterte.

"Was ist los?", wandte er sich an den Freund.

"Wir müssen weg hier. Gorick ist auf Rache aus."

"Verdammt", fluchte Kid leise, während Syreene näher kam. Natalya sah währenddessen hinauf aufs Meer, wo sich stolz die Zefrir einen Weg durch das Wasser bahnte. Sie streckte einen Arm aus und wies auf ihr Schiff.

"Dort ist die Zefrir", sagte sie zu Jack. "Ich habe Anweisung gegeben, dass meine Männer unten in der Bucht auf uns warten sollen."

"Wir haben Pferde dabei", entgegnete Jack und wies auf die drei Tiere, die friedlich am Pferch standen. Natalya seufzte leise und blickte zurück nach Tritos. Mit schmalen Augen beobachtete sie eine große Gruppe Männer, die, von einem bekannt aussehenden Mann angeführt, die Stadt verlassen wollten.

"Könnt ihr die Pferde nicht zurücklassen?", fragte sie grimmig.

"Niemals!", antwortete Kid entschlossen. "Chitone ist ein Geschenk meines Vaters. Ich werde sie sicher nicht hier lassen."

"Dann solltet Ihr Euch beeilen", meinte Natalya ungehalten. "Gorick ist nämlich in Anmarsch."

Während Jack und Syreene zu den Pferden gingen und sie losbanden, trat Kid auf Margus zu, der bisher schweigend im Eingang der Hütte gestanden hatte. Der junge Mann nahm einige Goldstücke aus seinem Geldbeutel heraus und überreichte sie dem Alten.

"Ihr habt uns sehr geholfen, Margus", sprach er und verbeugte sich leicht. "Ich danke Euch dafür. Doch jetzt müssen wir gehen."

"Ich verstehe, mein Prinz", erwiderte Margus und hielt Kid die Schriftrolle mit dem Rätsel hin. "Nehmt dies mit. Ihr werdet es noch auf Eurer Suche brauchen."

Mit einem Kopfnicken bedankte sich der junge Mann und stieg in den Sattel seines Pferdes, während Syreene die junge Elbin hinter sich hinaufzog. Gemeinsam ritten sie eiligst die Anhöhe auf der anderen Seite hinunter, wo sie einem ausgetretenen Pfad entlang zur Bucht folgten. Ein langer Landesteg verlief weit auf das Wasser hinaus, an dessen Ende die Zefrir gerade den Anker auslegte. Die Bucht war vor sehr langer Zeit eine beliebte Anlegestelle für Schmuggler gewesen, da die weit hinaufragenden scharfkantigen Klippen selbst die größten Masten vor den neugierigen Blicken der Stadtwache verbargen. Am Ende des Steges wurden die Freunde von Christian erwartet, der bei dem Anblick der Reittiere sofort den Befehl gegeben hatte die Seitenluke des Schiffes zu öffnen. Es war nicht das erste Mal, dass sie Tiere mit sich führten, so dass in einem der unteren Decks entsprechende Boxen eingerichtet waren, die bei jedem Hafenbesuch mit neuem Stroh gefüllt wurden. Mit einem rasselnden Klirren der schweren Eisenglieder öffnete sich die Luke, die mit einem dumpfen Poltern auf den Steg aufkam. Währenddessen waren die Freunde bei Chris angekommen, der bei dem Anblick von Ghost mit weit aufgerissenen Augen erschrocken einige Schritte zurückstolperte. Natalya sprang schwungvoll vom Rücken des Pferdes und trat auf den Ersten Offizier zu.

"Bereite alles für ein schnelles Ablegen vor", befahl sie ihm. "Es wird nicht lange dauern und Gorick wird hier mit seinen Männern auftauchen."

Sie blickte den Pfad, den sie gekommen waren, zurück, während die Freunde ihre Tiere in den Unterbau des Schiffes führten. Chris sah fassungslos zu, wie der weiße Wolf ihnen folgte.

"Und ... was ist mit diesem Karach´nak?", fragte er zögernd.

"Er scheint zu dieser Frau zu gehören."

Ungerührt drehte sich Natalya zum Schiff, kletterte die Strickleiter hinauf und zog sich gekonnt über die Reling. Chris folgte ihr kopfschüttelnd. Während er dafür sorgte, dass die Zefrir den Anker lichtete und wieder Fahrt aufnahm, begab sich die junge Elbin zu ihrem Steuermann auf das Achterdeck.

"Sobald wir aus der Bucht sind", sagte sie zu ihm, "steuerst du erst einmal nah an der Küste entlang."

"Wohin soll es denn gehen?", fragte Chris neugierig, der auf das Achterdeck geklettert kam.

"Das werde ich erst dann wissen, wenn ich mit Jack gesprochen habe."

"Und was ist mit der Ladung?"

Chris schaute auf das Deck hinab, wo sich noch einige Kisten und Truhen stapelten, die nur behelfsmäßig mit einigen Seilen gesichert waren. Sobald sie auf dem offenen Meer waren, würden sich die Männer daran machen sie in den unteren Decks zu verstauen.

"Wir haben einen Auftrag."

"Achte darauf, dass wir ohne Schaden hier heraus kommen", antwortete Natalya stattdessen. Sie beobachtete, wie Jack und seine Freunde das Deck betraten und sich umsahen. "Und dann komm in meine Kajüte."

Die Elbin kletterte leichtfüßig die Leiter zum Hauptdeck hinunter und gab zwei Männern Anweisung ein paar Stühle in die Kapitänskajüte zu bringen. Mit einem kräftigen "Aye, Aye" führten sie den Befehl ihres Kapitäns aus. Jack gab sie mit einem Kopfnicken zu verstehen, ihr zu folgen und führte die Freunde hinunter in ihren Raum, wo sich Natalya hinter den Tisch setzte.

"Ich bin Natalya aus dem Hause Corochtan", fing sie an, nachdem die Freunde sich gesetzt hatten.

"Mein Name ist Kid Hawk und dies ist Syreene."

"Hawk?" Durch den Namen aufmerksam geworden, verschränkte Natalya ihre Arme auf der Tischplatte und beugte sich vor. "Seid Ihr etwa der Bruder des Königs?"

"So ist es."

"Darf ich fragen, was Euch nach Tritos geführt hat?"

Natalya blickte kurz zu Jack hin, als sie zögernd ihre Frage stellte. Verunsichert durch die plötzliche Wendung, die das Geschehen genommen hatte, wusste die Elbin nicht, wie sie jetzt vorgehen sollte.

"Ich meine, Jack ist in der Stadt nicht gerade willkommen, seid er Goricks Schiff verlassen hat."

"Nun, das war mir vorher nicht bekannt", erklärte Kid langsam, woraufhin Natalya verständnisvoll nickte.

"Wir werden Kurs auf die Hafenstadt Okeanid nehmen", sagte sie und nahm die Tatsache hin, nicht weiter in der Angelegenheit aufgeklärt zu werden. "Dort wird die Ladung gelöscht. Ich kann Euch selbstverständlich bis dorthin mitnehmen. Aber wenn Ihr wollt, dann werden wir auch einen anderen Hafen ansteuern, wo Ihr von Bord gehen könnt."

"Ich danke Euch für das Angebot. Doch bis jetzt sind wir noch nicht dazu gekommen über unser weiteres Vorgehen zu sprechen."

"Natalya könnte uns helfen", gab Jack zu bedenken, der an das Rätsel dachte. Die Freunde sahen ihn fragend an. Bevor er aber seine Worte genauer erklären konnte, ertönte ein Klopfen an der Tür und Chris trat ein.

"Wir sind aus der Bucht raus", berichtete er ganz seiner Position entsprechend mit sachlicher Stimme. Natalya nahm es mit einem Nicken zur Kenntnis und blickte dann wieder zu Jack hinüber.

"Also, was meintest du damit, ich könnte euch helfen?", wollte sie energisch wissen, während Chris sich rittlings auf einen Stuhl setzte und seine Arme auf die Rückenlehne legte. Jack sah aber Kid an.

"Der Ort, der in dem Rätsel genannt wird, ist Bandits Keep. Um dorthin zu kommen, brauchen wir ein Schiff."

"Ich soll euch nach Bandits Keep bringen?", lachte die Elbin ungläubig auf. "Du weißt selber am Besten, wie gefährlich die Insel ist. Ich werde doch meine Mannschaft nicht in Gefahr bringen."

"Wie kommst du auf Bandits Keep?", mischte sich Kid ein. In Gedanken ging er den Wortlaut des Gedichtes durch und erinnerte sich nicht an einen Hinweis, der auf die Insel deutete.

"Furiosan war der erste Mann, der einen Fuß auf die Insel gesetzt hatte", begann Jack zu erklären. "Er war zu seiner Zeit der schlimmste Pirat, der damals die Meere unsicher gemacht hatte. Durch einen Sturm kam sein Schiff vom Kurs ab und sie gelangten zu der damals noch unbewohnten Insel. Daraufhin hatte er sie nach sich selbst benannt und sein Lager dort aufgeschlagen. Er hatte vorgehabt eine ganze Flotte aufzubauen, um der alleinige Herrscher der Meere zu werden. Doch dazu kam es nie, denn das Alter machte sich bei ihm bemerkbar, und er starb schließlich. Da sich aber zu der Zeit bereits schon eine Menge Schurken auf der Insel befanden, wurde sie schließlich unbenannt in Bandits Keep."

Nachdem Jack geendet hatte, sah Kid ihn eine Weile nachdenklich an, bis er sich Natalya zuwandte. Sie hatte mit gerunzelter Stirn dem Piraten zugehört und hin und wieder fragende Blicke mit Chris getauscht.

"Ich kann verstehen, wenn Ihr meine Bitte ablehnt", sprach Kid nach einer Weile entschlossen zu Natalya. "Aber wie Jack bereits sagte, wir müssen nach Bandits Keep. Würdet Ihr uns dorthin bringen?"

"Worum geht es eigentlich?", mischte sich jetzt Chris in das Gespräch ein. Ihm behagte die Wendung der Unterhaltung gar nicht. Kein Mann von Ehre wagte sich auch nur in die Nähe von Bandits Keep. Die Insel war fest in den Händen von allerlei Schurken. Vom einfachsten Dieb bis hin zum schlimmsten Mörder konnte man dort jeden antreffen.

"Jemand versucht die Macht über Eredian an sich zu reißen", antwortete Kid ruhig und sah den Ersten Offizier dabei an. "Und dies will er mit Hilfe von gewissen Gegenständen erreichen, die von den Göttern geschaffen und hier auf Eredian versteckt wurden. Wir sind im Besitz eines Rätsel, das uns einen Hinweis auf den ersten Ort gibt, wo sich eines der Gegenstände befindet. Und das scheint wohl Bandits Keep zu sein."

"Wieso kämpft Ihr nicht einfach gegen diese Person?"

Natalya war über das eben gehörte verwirrt.

"Weil wir nicht wissen, wer dahinter steckt. Es gibt einen Orden, der sich ,Das schwarze Auge' nennt. Wir konnten einige Mitglieder festnehmen und befragen, aber scheinbar wissen wohl nur wenige, wer ihr Meister ist."

Die Elbin lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und schlug die Beine übereinander, während sie über die Worte von Kid nachdachte. Ein unbekannter Feind bedeutete nichts Gutes, da man keine Möglichkeit hatte diesen anzugreifen. Die Freunde schauten den Kapitän abwartend an.

"Bandits Keep", murmelte Natalya leise vor sich hin. "Versteht mich nicht falsch, Prinz. Wir haben nicht gerade wenige Gefechte mit den Piraten gehabt, so dass meine Mannschaft nicht unerfahren ist. Aber die Rede ist hier immerhin von Bandits Keep. Wir können nicht einfach so durch die dortigen Gewässer segeln und seelenruhig am Hafen anlegen, wie sonst auch immer. Es würde zu Schlachten führen. Gegen ein Schiff, vielleicht aber auch gegen zwei, können wir ankommen, aber nicht gegen mehr. Die Zefrir ist für das Transportieren von Handelsgütern gedacht und nicht als Schlachtschiff."

"Gibt es noch eine andere Möglichkeit, wie man dorthin kommt?"

"Nur die Möglichkeit sich einer Piratenbande anzuschließen."

"Und wenn Ihr unter einer Piratenflagge segeln würdet?", schlug Kid vor. Er wusste um die Gefahr, die eine solche Reise mit sich brachte. Aber sie brauchten unbedingt ein Schiff.

"Ihr befindet Euch auf der Zefrir." Chris lachte belustigt auf. "Sicher, wir könnten uns als Piraten tarnen, aber niemand würde uns das glauben."

"Es ist die Galionsfigur", fügte Natalya erklärend hinzu. "Sie ist einzigartig unter ihresgleichen, da kein anderes Schiff eine vollständige Figur am Bug besitzt. Egal, wo wir auch anlegen, die Zefrir zieht die Blicke immer auf sich. Selbst bei den Leuten, die sie schon unzählige Male gesehen haben. Wir werden jetzt einige Tage unterwegs sein, bis wir den Hafen von Okeanid erreicht haben. Ich kann Euch nur den Rat geben, von dort aus zurück nach Castle Shelter zu reiten und nach einer Möglichkeit zu suchen den Orden auf eine andere Art zu bekämpfen."
 

Später am Abend stand Natalya auf dem Achterdeck an der Reling und schaute auf das im Dunkeln glitzernde Wasser hinaus. Gedankenvoll strich sie zärtlich über das weiche Holz unter ihren Händen, während sie die frische salzige Luft einatmete und den Kopf dem sanften Wind entgegen hob. Nur das beruhigende Knacken und Knarren des Holzes um sie herum und das Plätschern der Wellen, das sich am Rumpf des Schiffes brach, war zu hören. Die meisten Besatzungsmitglieder hatten sich zu einem wohlverdienten Abendessen eingefunden und nur der Steuermann und ein Mann im Ausguck befanden sich mit der Elbin auf dem Deck. Zusammen mit Chris und ihren Gästen hatte Natalya in ihrer Kajüte das Essen eingenommen und dabei über Belanglosigkeiten gesprochen. Sie hatten es tunlichst vermieden ein Wort über den Orden oder Bandits Keep zu verlieren. Nach dem Essen hatte die Elbin dafür gesorgt, dass zwei Kabinen für ihre Gäste hergerichtet wurden und war auf das Oberdeck gegangen. Seitdem genoss sie das sanfte Schaukeln des Schiffes, während sie nachdenklich auf das Meer hinaussah. Mit leisen Schritten stellte sich Chris an ihre Seite und stützte sich auf die mit Elbenrunen verzierte Reling.

"Mein ursprüngliches Leben", begann Natalya mit wehmütiger Stimme, "das Leben in meinem Stamm konnte mich nie richtig ausfüllen. Bäche, Flüsse, Seen, ja sogar der Regen haben ständig meinen Namen gerufen und eine unerfüllte Sehnsucht in mir geweckt. Und eines Tages habe ich den Entschluss gefasst die Meere zu umsegeln. Meinem Stamm war diese Entscheidung egal, aber nicht meiner Familie."

"Was ist passiert?", fragte Chris behutsam. Obwohl Natalya ihm vieles anvertraut hatte, hatte sie ihm bisher nie etwas von ihrem früheren Leben erzählt.

"Ich stamme aus einer Dynastie von Sehern. Es war an mir eines Tages die Position meines Großvaters bei seinem Tode einzunehmen. Eines Abends ging ich zu seiner Höhle, um ihm meine Entscheidung mitzuteilen. Doch er hatte es längst gewusst. Er sagte zu mir: "Geh wieder in die Nacht hinaus. Der Entschluss, denn du dabei mit dir trägst, wird entscheiden, ob du Natalya Corochtan bist oder Natalya ohne Namen." Ich habe die Welt als Natalya Corochtan betreten, aber verlassen werde ich sie als Natalya ohne Namen."

Natalya lehnte sich mit dem Rücken an die Reling und verschränkte die Arme vor der Brust. Dann sah sie ihren Ersten Offizier an, der seinen Kopf auf seine Arme gelegt hatte und auf das Meer blickte.

"Ich erzähle dir dies nicht ohne Grund", sagte sie schließlich und wartete ab, dass Chris sie ansah. "Während mein Großvater mir die Fähigkeiten eines Sehers beibrachte, erzählte er mir von einer Prophezeiung. Sie sagte voraus, dass sich ein schwarzer Meister aus dem Norden erheben wird und Eredian mit einer dunklen Wolke bedeckt. Gleichzeitig würden sich ihm aber sechs Mächte aus dem Westen entgegenstellen und sich auf eine lange Reise begeben. Viele Aufgaben werden sie meistern müssen, bis sie dann auf die Dunkelheit treffen können. Ohne das Wissen meines Großvaters hatte ich damals meine eher schwachen Fähigkeiten genutzt um herauszufinden, wie die Prophezeiung ausgehen wird. Doch ich sah nur verworrene Bilder. Eine Hand, die durch einen Wasserfall nach einem Schild greift. Riesige Bäume, von Ranken umschlungen, in deren Ästen seltsame Tiere sitzen. Ein Einhorn, das über das Wasser galoppiert. Eine wunderschöne Frau, aus deren Fingerspitzen Blitze schossen, und die von einem ... weißen Wolf ... angegriffen wird."

Aus schmalen, blauen Augen sah Chris die Elbin an, während er sich zu seiner vollen Größe aufrichtete und sich ihr ganz zuwandte.

"Ein weißer Wolf?", wiederholte er schließlich die Worte und beobachtete aufmerksam seinen Kapitän. "Hast du ihnen davon erzählt?"

"Nein, noch nicht", antwortete Natalya leise und blickte wieder auf das sanfte, ruhige Meer hinaus. "Vielleicht, wenn wir einen großen Bogen machen und irgendwo an der Nordküste ankern, können wir den Auseinandersetzungen mit den Piraten umgehen."

"Trotzdem bleibt es riskant."

Mit der Hüfte lehnte sich Chris wieder an die Reling und verschränkte die Arme vor seiner muskulösen Brust. Er wusste genau, worauf Natalya hinauswollte, und es behagte ihm keineswegs. Und doch, würde sich sein Kapitän dazu entschließen die Reise nach Bandits Keep zu unternehmen, würde er auf jeden Fall dabei sein.

"Die See im Westen ist noch unerforscht und die Reise würde auch zu lange dauern", sprach Chris weiter, wobei er sich in Gedanken eine Karte von Bandits Keep vorstellte. "Damit bleibt für uns nur die Möglichkeit an der Ostküste entlang zu segeln. Aber dort sind die Gewässer voller Strömungen und das Wetter ist ziemlich stürmisch."

"Damit würden die Männer schon fertig werden."

"Ich weiß, aber wird die Zefrir dabei beschädigt und wir geraten dann in einen Konflikt mit den Piraten ..."

Chris musste seinen Satz nicht erst zu ende ausführen, da Natalya sich auch so gut vorstellen konnte, was mit ihnen dann geschehen würde. Das Überleben auf dem Meer hing stets von der Beschaffenheit des Schiffes und von der Kompetenzfähigkeit des Kapitäns und seiner Mannschaft ab. Auch wenn die Zefrir aufgrund ihrer schnittigen Form mit zu den schnellsten Schiffen gehörte, konnte eine Beschädigung am Rumpf ihr Untergang sein, besonders dann, wenn die Besatzung dann noch in einen Kampf verstrickt wäre.

"Sind die Männer im Gemeinschaftsraum?", fragte Natalya ohne weiter auf den Kommentar ihres Ersten Offiziers einzugehen.

"Zumindest die meisten", kam nickend die Antwort. Schweigend und in sich gekehrt, schritt die Elbin mit festen Schritten über das Deck zum Niedergang, gefolgt von Chris, der sich mühelos ihrem Schritt anpassen konnte. Kurz bevor sie unter Deck gingen, legte Natalya den Kopf in den Nacken und blickte hinauf in den dunklen Abendhimmel, an dem sich bereits einige Sterne zeigten. Der Ruf eines Adlers weckte ihre Aufmerksamkeit, der schon die ganze Zeit über der Zefrir folgte. Stirnrunzelnd beobachtete sie eine Weile den Raubvogel bei seinen kreisenden Zügen, bevor sie dann die schmale Treppenstiege hinab ging.

Aus dem Gemeinschaftsraum, der genügend Platz für die dreißigmannstarke Crew bot, drangen die ausgelassenen Stimmen der Männer, die den Tag mit Kartenspielen und einigen Flaschen Rum abklingen lassen wollten. Von allen Seiten drangen Rufe zu Natalya herüber, nachdem sie den Raum betreten hatte, die sie einluden sich mit zu den vereinzelten Gruppen dazuzugesellen. Für Natalya war es anfangs schwer sich gegen die einzelnen Seeleute zu behaupten. Angefangen hatte sie als Leichtmatrose auf einem kleinen Handelsschiff, auf dem man ihr die schwersten Aufgaben übertragen hatte, in der Annahme, dass sie im nächsten Hafen von Bord gehen würde. Doch niemand hatte mit ihrem eisernen Willen gerechnet, mit dem sie alle Schwierigkeiten meisterte. Neben ihren täglichen Arbeiten, wie das Deck zu schrubben, die Segel zu flicken, dem Smutje beim Kartoffelschälen zu helfen und vielen weiteren Verrichtungen, achtete sie immer auf die Gespräche des Kapitäns und des Ersten Offiziers, anhand denen sie mit der Zeit lernte ein Schiff zu manövrieren und zu befehligen, Kurse zu berechnen, das Wetter vorherzusagen und vielen anderen Dingen. Es dauerte sieben Jahre bis Natalya zum Ersten Offizier aufstieg und langsam von ihren Kameraden als eine der ihren akzeptiert wurde. In dieser Zeit hatte sie jede Chance genutzt, um ihre Qualitäten unter Beweis zu stellen und zu zeigen, dass sie nicht einfach nur eine schwächliche Frau sei. Nach vier weiteren Jahren dann hatte sie endlich genügend Geld, um sich ihren großen Traum von einem eigenen Schiff zu erfüllen, das ganz nach ihren eigenen Wünschen erbaut wurde. Einige ihrer Kameraden verließen zusammen mit ihr nach der Fertigstellung der Zefrir das kleine Handelsschiff, um unter ihrer Flagge weiter auf dem Meer zu segeln. Nach und nach schlossen sich ihnen weitere Männer an, die beeindruckt von den Fertigkeiten der jungen Elbin waren, und aus der Mannschaft wurde eine geschlossene Gemeinschaft, die in ihrem Kapitän nicht nur ihren Befehlshaber sahen, sondern auch als einen Freund.

Zielstrebig ging Natalya auf einen langen Tisch zu, auf dem sie mit einem geschmeidigen Satz sprang, von wo aus sie den ganzen Raum überblicken konnte. Die Gespräche der Männer verstummten augenblicklich, wodurch eine Stille eintrat, in der man das Fallen einer Stecknadel hätte hören können, und alle Augen waren gespannt auf ihren Kapitän gerichtet. Natalya drehte sich langsam einmal um die eigene Achse, wobei sie jeden einzelnen Mann musterte, während sie sich fragte, ob sie auch das Richtige tat.

"Es dürfte unlängst bekannt sein", hallte klar und deutlich ihre kehlige Stimme durch den Raum, ohne dass sie sie erheben müsste, "dass der Bruder des Königs sich an Bord befindet."

Leises Gemurmel erhob sich an einigen Tischen, die ihre Zustimmung über diese Feststellung bekundeten.

"Nun ist es so, dass der Prinz mich um Hilfe gebeten hat. Wie er mir erzählte, gibt es einen Orden, der sich über die einzelnen Königreiche verbreitet hat und Leute rekrutiert. Dieser Orden stellt für ganz Eredian eine Gefahr dar, weil ihr Meister nach der Herrschaft der Welt strebt. Niemand weiß, wer dieser Meister ist noch wo er sich aufhält. König Hawk hat aber herausgefunden, dass der Orden auf der Suche nach einigen Gegenständen ist, die von den Göttern erschaffen wurden. Diese Gegenstände würden diesen Meister eine Macht verleihen, der man nichts entgegenzusetzen hat, daher ist der Prinz ebenfalls auf der Suche nach ihnen. Mittlerweile weiß er auch, wo sich einer dieser Gegenstände befinden soll und hat mich gefragt, ob wir ihn dorthin bringen könnten."

"Die Fahrt geht also nich nach Okeanid?", kam aus einer Ecke die Frage, woraufhin sich Natalya der rauen, schleppenden Stimme zuwandte.

"Wie geplant nehmen wir Kurs auf die Hafenstadt, wo wir dann die Ladung löschen", antwortete sie bereitwillig ihrem Smutje, einem schlanken, leicht gebeugten Mann mittleren Alters. "Doch wohin es danach geht, entscheidet ihr. Entweder nehmen wir den nächsten Auftrag an, der uns weit nach Süden führen wird, oder aber wir werden den Prinzen helfen und ihn nach Bandits Keep bringen."

Kaum dass ihr der Name der Insel über die Lippen gekommen war, brach ein höllischer Tumult unter den Männern aus, die lautstark ihre Bedenken ob der möglichen Aufgabe kundgaben. Natalya machte aber keine Anstalten ihre Mannschaft zu beruhigen, da sie bereits mit dem Aufruhr gerechnet hatte, und verschränkte daher nur abwartend die Arme vor der Brust. Auch Chris, der die ganze Zeit über unter der Tür am Rahmen angelehnt dastand, sah dem Treiben mit unbeteiligter Miene zu, während er die Stärke seines Kapitäns, mit der die Elbin ihre Mannschaft leitete, bewunderte.

"Jetzt haltet mal die Schnauze, Jungs! Bei eurem Theater kann man ja sein eigenes Wort kaum verstehen."

Ein hochgewachsener Elbe mit braunem, strähnigem Haar, dessen Name Pitch war, stand von seinem Platz auf und versuchte mit erhobenen Händen seine Freunde zu beruhigen. Sein von Wetter gegerbtes Gesicht wies mehrere Narben auf, von denen eine davon über seine gesamte linke Wange verlief, die in seinem Haaransatz an seiner Schläfe endete. An seinem abgewetzten Gürtel trug er zwei scharfgeschliffene Dolche, die er mit meisterhaftem Geschick werfen konnte.

"So ist es schon besser", nickte Pitch dann sichtlich zufrieden, nachdem das laute Gemurmel seiner Kameraden langsam nachließ. "Also, Cap, was denkst du über diese Sache?"

Ohne dem aufmerksamen Blick des Mannes auszuweichen, sah Natalya ihn für einige Sekunden fest an, bevor sie ihm schließlich antwortete.

"Die Reise wäre sehr gefährlich. Die Gefahr, Piraten zu begegnen, ist weitaus größer, als auf den Handelsrouten. Und selbst wenn wir die Insel erreichen, wären wir noch lange nicht in Sicherheit. Doch es ist nicht auszuschließen, dass dieses Unternehmen von Erfolg gekrönt sein könnte."

"Du willst dem Prinzen helfen, richtig?", hakte Pitch nach, der die Gedanken seines Kapitäns genau wissen wollte.

"So weit ich weiß, ist dies momentan die einzige Möglichkeit, die dem König zur Verfügung steht, um etwas gegen den Orden zu unternehmen. Die Welt, die wir kennen, ist im Begriff auseinanderzufallen, sollte der Orden sein Ziel erreichen und die Gegenstände seinem Meister übergeben. Ich habe großes Vertrauen in euch und euren Fähigkeiten. Von daher bin ich sicher, dass wir es nach Bandits Keep schaffen können. Doch die Entscheidung, ob wir den Prinzen bei seiner Aufgabe helfen oder nicht, überlasse ich euch. Bis wir Okeanid erreicht haben, habt ihr Zeit darüber nachzudenken."

Nach diesen Worten stieg Natalya vom Tisch herunter und begab sich zu Chris, um mit ihm zusammen den Raum zu verlassen, während die Männer eine Weile nur schweigend an ihren Plätzen saßen und über das eben gehörte nachdachten. Erst nach langer Zeit, als ihr Kapitän zusammen mit ihrem Ersten Offizier bereits in ihrer Kajüte saß, fingen die Männer an darüber zu reden und das Für und Wider abzuwägen.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu dieser Fanfic (7)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von: abgemeldet
2006-04-08T18:41:37+00:00 08.04.2006 20:41
Ein neues Kapi! *luftsprung mach* War natürlich wieder klasse! *dich ganz fest knuddel dafür*

LG
Von: abgemeldet
2006-03-22T13:44:30+00:00 22.03.2006 14:44
Tja, ich glaube jetzt steht es schon fest, dass ich abhängig von deinen FFs bin! *gg* War wieder ein echt super Kapi! Freu mich schon aufs nächste!

LG
Von: abgemeldet
2006-03-19T18:38:03+00:00 19.03.2006 19:38
Wahnsinn, ich bin schon richtig süchtig danach! Ganz schnell weiter! *knuff*

LG
Von: abgemeldet
2006-03-19T08:06:19+00:00 19.03.2006 09:06
Wahnsinn, wieder klasse! Die Storf trifft wirklich genau meinen Geschmack! *knuddel*

LG
Von: abgemeldet
2006-03-18T08:18:03+00:00 18.03.2006 09:18
Wow, wieder klasse! Tja, wie ich sehe bin ich noch immer die einzige Leserin, aber das wird schon noch! *knuff*

LG
Von: abgemeldet
2006-03-13T18:26:36+00:00 13.03.2006 19:26
War wieder ein klasse Kapi! Die Story ist genau nach meinem Stil! Freu mich schon wenns weiter geht!
*knuff*

LG
Von: abgemeldet
2006-03-13T07:48:51+00:00 13.03.2006 08:48
Tja, und wieder einmal bin ich die Erste die es ließt! Aber meine Meinung kennst du ja eh schon! Würd mich total freuen wenn du die anderen Kapis auch noch hochladest!
*knuddel*

LG


Zurück