Prolog
Es war ein ganz normaler Frühsommernachmittag auf dem Chicagoer Flughafen
O'Hare. Wie immer zur Hauptverkehrszeit war die Ankunftshalle überfüllt. So
kümmerte sich auch niemand weiter um den Mann, der gerade ankam. Warum
sollten sie auch? Er war ein Flugpassagier wie Tausende andere auch. Gut,
er sah etwas seltsam aus: Einerseits machte er in den schwarzen Jeans und
dem weissen T-Shirt einen ausgesprochen lässigen Eindruck. Die schwarze
Lederjacke, die er sich über die Schulter geworfen hatte, verstärkte den
Eindruck noch. Andererseits passten seine traurigen Augen überhaupt nicht
ins Bild.
Der Mann schaute sich um. Anscheinend suchte er irgendjemanden. Viele
Firmen und Reisebüros hatten ihre Empfangsdamen und -Herren geschickt. Aber
auf keinem der Schilder schien sein Name verzeichnet zu sein. Schliesslich
entdeckte er in einer Ecke einen Mann in einem schwarzen Anzug, der Zeitung
las. Das schien die Person zu sein, die er suchte, denn er ging geradewegs
auf sie zu.
"Mr. Smith?", fragte er.
Der angesprochene schaute von der Zeitung auf. Dann legte er sie zusammen,
und bot seinem Gegenüber freudig die Hand. "Mr. Tanner! Willkommen in den
USA. Ich bin von der Aussenstelle Chicago. Es ist mir eine Ehre, sie
persönlich begrüssen zu dürfen."
Tanner ergriff Smiths Hand nicht. Sein Blick verfinsterte sich etwas. Die
peinliche Situation blieb ein paar Sekunden lang bestehen.
"Es wäre mir lieber, wenn Sie meinen Namen nicht quer durch die Halle
schreien würden", sagte Tanner schliesslich.
Smith liess seine Hand sinken.
"Könnten wir jetzt zur Sache kommen?", fragte Tanner.
"Ja, natürlich", meinte Smith etwas verwirrt. Er zog einen Umschlag aus
einer Tasche seines Anzugs. "Dieser Umschlag enthält alle nötigen Papiere.
Reisepass, Führerschein, und so weiter. Die Lizenzen für die Waffen sind
auch drinn."
Tanner nahm den Umschlag entgegen, und begann, den Inhalt durchzusehen.
"Wollen Sie Ihre Waffen wirklich behalten?", fragte Smith. "Die werden
Ihnen noch auf die Spur kommen."
"Meine Spur wurde sehr gut verwischt. So einfach bin ich nicht zu finden."
Plötzlich stutzte Tanner. Er zog einen zweiten, kleineren Umschlag aus dem
ersten.
"Ihre Schlüssel", erklärte Smith.
Tanner nickte, und legte den kleinen Umschlag zurück in den grossen. "Wo
werde ich wohnen?", fragte er.
"Die Adresse ist auf einem Zettel im Handschuhfach ihres Wagens."
"Und mein Wagen?"
"Ist in der Flughafengarage." Smith kramte einen Parkschein hervor, und
hielt ihn Tanner hin.
"Muss ich etwa die Parkgebühr bezahlen?", fragte Tanner in einem
erstaunlich sachlichen Ton.
"Es soll doch wie echt aussehen", erwiderte Smith.
"Ja", sagte Tanner, und nahm den Parkschein. "Ich hoffe für Sie, das
niemand mitgehört hat."
Reine Routine
Zwei Monate später...
In letzter Zeit war es ziemlich ruhig. Es kamen kaum Kunden in den
Waffenladen "Gunsmith Cats". Auch die Kriminellen blieben brav hinter
Gittern. Rally Vincent, Ladeninhaberin und Teilzeit-Prämienjägerin,
langweilte sich also. Sie stand im Laden, auf ein Wunder hoffend, das ihr
etwas Abwechslung verschaffen würde.
Das Wunder kam in Form ihrer kleinwüchsigen Assistentin May. "Da ist ein
Fax für dich angekommen", sagte sie.
"Ein Auftrag?", fragte Rally hoffnungsvoll.
"Ja, aber der lohnt sich kaum. Er bringt gerade mal 2000 ein."
"Na egal, gib her. Irgendwas muss ich tun, sonst roste ich ein."
Rally sah sich das Fax an. Zunächst sah es wirklich nach nichts besonderem
aus. Ein kleiner Drogenhändler namens Arthur Cogan. Doch die Beschreibung
der Umstände der Festnahme hielt eine Überraschung bereit.
"Du, da steht, dass er zehn Kilo 'Kerosin' auf sich trug, als er geschnappt
wurde."
"Zehn Kilo?", echote May überrascht.
'Kerosin' war eine neuartige und sehr gefährliche Designerdroge, die von
Rallys Erzfeindin, der Drogenbaronin Gordi, entwickelt wurde. Nach Gordis
Rückkehr nach Italien waren die Preise ins Unermessliche gestiegen. Zehn
Kilo waren ein kleines Vermögen. Für Rally war der Fall damit jedenfalls
klar: Sie würde den Auftrag übernehmen. Sie war ohnehin nicht besonders gut
auf Drogen zu sprechen, aber Kerosin stand weit oben auf ihrer
Abschussliste.
"Also schön", sagte sie sich.
"Du nimmst an", meinte May, wenig überrascht.
"Ja", erwiderte Rally knapp. "Kannst du kurz den Laden übernehmen, während
ich telefoniere?"
"Ach, du meinst nur für den Fall, das ein Kunde kommen könnte?" kicherte
May.
Rally warf ihr einen finsteren Blick zu, sagte aber nichts. Sie ging zum
Telefon.
Rally bestätigte telefonisch, dass sie den Auftrag annehmen würde. Sie
würde anschliessend noch kurz vorbeifahren müssen, um den Vertrag zu
unterzeichnen. Aber vorher wollte sie noch Becky, ihre Informantin,
anrufen.
"Hallo?", klang Beckys Stimme aus dem Telefon.
"Hallo Becky. Ich bins, Rally."
"Oh, Hallo Rally. Hast du etwa auch noch einen Auftrag für mich?"
"Wie? Bist du etwa beschäftigt?"
"Und wie. Es ist auch ein ziemlich dicker Brocken dabei."
"Na toll, und ich sitz hier auf dem trockenen. Die Welt ist nicht gerecht.
Hast du trotzdem noch Platz für einen kleinen Auftrag?"
"Klar doch. Du bist doch eine alte Freundin. Da lässt sich immer was
machen."
"Danke Becky."
"Vorausgesetzt natürlich, es ist gut bezahlt."
Eine kurze Stille folgte diesen Worten.
"Wie bitte?", fragte Rally. "Also einen kleinen Anreiz musst du mir schon
geben, wenn ich für dich suchen soll. Immerhin muss ich dafür einen gut
bezahlten Job aufschieben. Und ausserdem..."
"Na gut, dann eben nicht", unterbrach Rally verärgert, und hängte den Hörer
ein.
"Jetzt sei doch nicht gleich sauer", sagte Becky, bekam aber als Antwort
nur noch das Freizeichen zu hören. "Mann."
Rally war aber sauer. Becky schien gelegentlich zu vergessen, was wichtiger
war: Geld oder die Freundschaft. Zwar hatte sie Rally auch schon aus
brenzligen Situationen geholfen. Hinterher hatte sie aber jeweils eine
gepfefferte Rechnung gestellt. Mit diesen Gedanken im Kopf ging Rally
zurück in den Verkaufsraum.
"May", sagte sie, "ich muss weg."
"Den Vertrag unterzeichnen, nehme ich an?"
"Nicht nur. Becky will derzeit keine Aufträge annehmen, wenn sie nicht gut
bezahlt sind. Ich muss also selbst nach unserem 'Kunden' suchen."
"Soll das heissen, du gedenkst mich den ganzen Tag im Laden allein zu
lassen?"
"Tut mir leid, May. Aber für so einen kleinen Fisch kann ich nicht den
Laden schliessen."
"Warum denn nicht? Mach doch einfach mal Betriebsferien."
"Wir können nicht einfach Betriebsferien beschliessen. Sonst verlieren wir
noch den Rest der Kundschaft."
"Dann gib den Laden doch auf, und werde hauptberuflich Prämienjägerin."
"Nein, May. Ich bin immer noch in erster Linie Büchsenmacherin."
May gab sich geschlagen: "Na schön. Aber ich werd mich hier wieder zu Tode
langweilen."
"Hör zu, May: Wenn ich Cogan gefunden habe, ruf ich dich an, und wir
schnappen ihn gemeinsam. Ist das ein Angebot?"
"Das klingt schon besser!"
"Also, einverstanden?"
"Klar. Aber vergiss es nicht. Sonst wär ich in Zukunft vorsichtiger beim
Drehen des Zündschlüssels", sagte May mit einem diabolischen Grinsen.
"Wag das ja nicht", erwiderte Rally. May hatte ihr schon einmal die
Motorhaube weg gesprengt. Rally wusste daher, wozu May fähig war.
Der Vertrag war schnell unterschrieben. Anschliessend fuhr Rally zum
Polizeipräsidium. Cogan war dort kein Unbekannter. Seine Akte war dick
genug, jemanden zu erschlagen. Schliesslich erhielt Rally, nicht ganz
legal, eine Liste mit häufigen Aufenthaltsorten. Es war eben von Vorteil,
mit der Polizei gut auszukommen. Die Liste war allerdings ziemlich lang,
und Rally war den ganzen Tag beschäftigt.
Gegen Abend, die Sonne stand schon tief, hatte sie endlich Glück: Es
handelte sich um eine kleine Hütte, etwas ausserhalb von Chicago. Der
Rollladen am Fenster war unten, aber ein Lichtschimmer verriet, dass die
Hütte bewohnt war. Rally lies den Wagen ohne Licht bis vor das Häuschen
rollen. Das Türschloss war anscheinend schon vor langer Zeit heraus-
gebrochen worden, so dass unterhalb der Türfalle ein Loch in der Tür
klaffte. Das erlaubte Rally, einen vorsichtigen Blick hinein zu werfen.
Kein Zweifel: Da sass Cogan hinter einem Tisch, und schien irgend etwas zu
studieren. Rally hätte ihn jetzt einfach festnehmen können, aber
schliesslich hatte sie May etwas Action versprochen. Also fuhr sie den
Wagen wieder vorsichtig in die Stadt zurück. Dort erst rief sie May an.
"Hallo May."
"Ah, es wird allmählich Zeit, das du anrufst. Es war den ganzen Tag lang
kein Kunde da. Du lässt mich hier einfach verrotten!"
"Oh, tut mir leid, dass dein Tag nicht so aufregend war, wie meiner",
meinte Rally mit vor Sarkasmus triefenden Stimme. "Aber ich hab eine gute
Nachricht für dich."
"Du hast ihn gefunden?"
"Ja."
"Und du hast ihn noch nicht geschnappt?"
"Nein."
"Bleib, wo du bist. Ich bin in fünf Minuten bei dir."
"Warte, warte. Soll ich dir nicht erst sagen, wo ich bin?"
Ob so viel Enthusiasmus musste Rally grinsen. Aber sie konnte May
verstehen: Es war in den letzten Tagen wirklich langweilig gewesen.
Es dauerte dann doch ganze zwanzig Minuten, bis May ankam. In dieser Zeit
hatte Rally ständig Cogans Hütte überwacht. Dabei war ihr etwas
aufgefallen: Cogan hob in unregelmässigen Abständen eine Lamelle an. Rally
vermutete, dass Cogan jedesmal, wenn er ein Geräusch hörte, nachschauen
ging, was los war. Er war also nervös. Rally gefiel das nicht, denn das
machte ihn unberechenbar.
Schliesslich bog ein kleiner, weisser Fiat um die Ecke. Daraus stieg eine
energiegeladene May, der es offensichtlich nicht früh genug los gehen
konnte. "Da bin ich!", rief sie fröhlich. "Ging doch schnell, oder?"
"Schnell?", fragte Rally. Sie schaute auf die Armbanduhr. "Na ja, für
deinen Wagen vielleicht."
"Na na. Immerhin ist mein Kleiner trotz seines Alters deutlich weniger in
der Werkstatt, als dein stolzer Cobra."
May berührte mit voller Absicht einen wunden Punkt. Die Reparaturkosten,
die für den Cobra so aufliefen, hätten Rally schon lange in den Ruin
getrieben, wäre da nicht ihr einträgliches 'Hobby'. Andererseits
resultierten die meisten Beschädigungen eben daraus... Jedenfalls hatte
Rally keine Lust, um diese Zeit irgendwo am Stadtrand einen Streit zu
beginnen. Also sagte sie nur: "Schon gut. Schnappen wir ihn uns, bevor die
Sonne untergeht."
"Wo steckt er denn?", fragte May.
Rally deutete über ihre Schulter zur Hütte. "Da drinn", sagte sie knapp.
"Echt? Ist ja nett von ihm, selbst in die Reuse zu latschen. Soll ich ihn
ausräuchern?"
"Geht nicht. Vor dem einzigen Fenster ist ein Rollladen. Ich denke, wir
machens wie damals, als wir Ken gesucht haben."
"Okay!"
Langsam liess Rally den Wagen vor anrollen. Der Plan sah vor, unerkannt zu
Tür zu kommen, eine Granate mit Betäubungsgas rein zu schmeissen, und Cogan
hinterher einfach aufzulesen. Als sie jedoch die halbe Strecke zur Hütte
hinter sich hatten, beschloss Cogan, aus welchem Grund auch immer, heraus
zu schauen. Vermutlich hatte er wieder irgend etwas gehört. "Scheisse,
jetzt hat er uns gesehen!", rief Rally. Sie drückte das Gaspedal durch. Der
Cobra freute sich lautstark über die plötzliche Benzinzufuhr. Die Räder
drehten durch, doch als sie auf der schlechten Strasse halt fanden, machte
der Wagen einen ordentlichen Satz nach vorne. Innert weniger Sekunden waren
Sie am Ziel. Rally bremste scharf. Sie sprang aus dem Wagen, und rannte zur
Hütte. May tat es ihr gleich. Sie postierten sich je auf einer anderen
Seite der Tür. May machte die Granate bereit. Als sie fertig war, trat
Rally einen Schritt zurück, um die Tür einzutreten. Doch sie kam nicht
dazu: Eine Kugel flog durch die geschlossene Tür, und verfehlte Rally nur
knapp. Rally drückte sich wieder gegen die Wand neben der Tür. Sie fluchte:
Genau darum hasste sie übernervöse Typen. Aber sie wusste auch genau, wie
es weitergehen würde: Cogan würde sein Magazin leer schiessen, und dann
versuchen, durch das Fenster zu flüchten. Sie musste nur schneller sein.
Ihre Vermutung schien sich zu bewahrheiten: Nachdem sechzehn weitere Kugeln
die Tür in ein Sieb verwandelt hatten, hörte die Schiesserei plötzlich auf.
Rally konnte noch das Geräusch des eiligst hochgezogenen Rollladens hören,
und beeilte sich daher. Doch als sie zum zweiten Mal versuchte, die Tür
einzutreten, zerschnitt ein scharfer Knall die kurze Stille. Rally starrte
erschrocken auf das Loch, das die Kugel in die Tür gerissen hatte. Der
Knall und die Form des Lochs liessen keinen Zweifel zu: Das war die Kugel
eines Sturmgewehrs.
Ein beherzter Tritt liess die Tür aufschwingen. Ein Loch im
gegenüberliegenden Fenster zeigt deutlich, woher die Kugel gekommen war.
Cogan lag davor auf dem Rücken, und machte keinen besonders gesunden
Eindruck. Geistesgegenwärtig holte May ihren Feldstecher aus dem Wagen.
Damit rannte sie zum Fenster, und suchte die Umgebung ab.
"Und?", fragte Rally, während sie sich über Cogan beugte.
May schaute angestrengt durch den Feldstecher. Schliesslich setzte sie ihn
ab, und schüttelte den Kopf. "Ich hab den Schützen ausgemacht. Aber die
Sonne blendet mich. Ich kann nichts erkennen." Sie seufzte, und wandte sich
Rally zu. "Das Gewehr hatte eine etwas seltsame Form. Ich denke, ich werde
es wiedererkennen."
"Das wird uns vermutlich nicht viel bringen", meinte Rally, "aber es ist
besser als nichts."
"Wie gehts den unserem Kunden?"
Rally grinste. "Besser, als er es verdient. Die Kugel hat nur seine
Schulter gestreift. Er ist glatt ohnmächtig geworden."
May griff sich an die Stirn. "Ach du meine Güte", sagte sie. Dann wanderte
ihr Blick auf den Tisch, an dem Cogan zuvor gesessen hatte. "Du Rally,
schau mal."
Langsam öffnete Cogan die Augen. "Ich... ich lebe ja noch", sagte er
langsam.
"Scharf erkannt", erwiderte Rally.
Cogan sah sich erschrocken um. Er lag auf einer Pritsche in einem Raum, der
ihn unangenehm an eine Gefängniszelle erinnerte. Die Tür stand offen, aber
Rally sass auf einem Stuhl genau davor. Cogan setzte sich auf. "Wer sind
Sie?", fragte er. "Wo bin ich hier? Was wollen Sie von mir?"
"Ein bisschen viele Fragen auf einmal", meinte Rally. "Also der Reihe nach:
Mein Name ist Rally Vincent. Ich bin Prämienjägerin. Und ich habe Sie
gerade festgenommen. Dies hier ist mein Spezialraum für besondere Gäste wie
Sie. Und punkto meiner weit..."
"Sie haben kein Recht, mich hier festzuhalten!", unterbrach Cogan. "Sie
sind nicht die Polizei. Das ist Freiheitsberaubung. Ich verlange, sofort
auf freien Fuss gesetzt zu werden."
"Ich habe das Recht, Sie so lange fest zu halten, bis ich Sie der Polizei
übergeben habe."
"Aber Sie müssen mich auf dem direkten Weg zur Polizei bringen. Das
hier..."
"Ja!", sagte Rally mit einer Schärfe, die Cogan Einhalt gebot. "Ehrlich
gesagt, ich bereue es bereits, Sie nicht direkt der Polizei übergeben zu
haben. Aber ich glaube nicht, dass dies in Ihrem Interesse liegen würde."
Cogan verstand nicht. "Wie?", fragte er.
"Wir haben auf Ihrem Schreibtisch ein paar Dinge gefunden. Eine Karte von
Chicago mit eingezeichneten Fluchtwegen, Karten von verschiedenen anderen
Städten, und diesen netten Brief hier." Rally hielt ein Stück Papier hoch.
Cogan erblasste. "Das... Das dürfen Sie nicht..."
Rally begann vor zu lesen: "Hallo Stevenson, Sie alter Aasgeier. Ich weiss
wo Ihr Drogenlabor ist. Wenn Sie nicht wollen, dass die Polizei es erfährt,
und so weiter, und so weiter." Rally faltete den Brief wieder zusammen.
"Ich nehme an, das hier ist eine Kopie. Das Original haben Sie bereits
verschickt, richtig?"
"Woher... woher wissen Sie...?"
"Ganz einfach Sie Idiot! Jemand hat auf Sie geschossen. Und das waren nicht
wir! Raten Sie mal, wer es gewesen sein könnte."
Das letzte bisschen Farbe wich aus Cogans Gesicht. Er wollte etwas sagen,
brachte aber keinen Ton über die Lippen.
"Sie sitzen ganz schön in der Scheisse, mein Lieber."
Interview mit dem Vampir
Rally kam die Treppe hoch, und ging in den Verkaufsraum. May
wartete dort bereits auf sie. Sie ass Pizza.
"Hey, konntest du nicht auf mich warten?", fragte Rally.
"Die wäre sonst nur kalt geworden", meinte May.
"Und da wolltest du sie in deinem Magen wärmen, oder was?"
Rally nahm sich selbst ein Stück. Befriedigt stellte sie fest,
dass es noch einigermassen warm war.
"Und? Hat er gesungen?", fragte May.
"Mmm" Rally nickte, und schluckte. "Viel mehr weiss ich jetzt
allerdings auch nicht. Dieser Stevenson, den Cogan zu erpressen
versuchte, ist sein Boss. Oder zumindest gewesen."
"Er hat versucht, seinen Boss zu erpressen? So ein Idiot."
"Tja" Rally vernichtete den letzten Rest ihres Pizzastücks, und
nahm sofort ein weiteres. "Die ganze Geschichte könnte aber von
Vorteil für uns sein. Ich habe Cogan versprochen, ihn vor
Stevenson zu schützen. Im Gegenzug hat er mir den Standort des
Drogenlabors verraten."
"Du hast doch nicht etwa vor..."
"Wir könnten uns zumindest mal umsehen." Rally bis herzhaft in
ihr neues Stück Pizza.
"Das könnten wir auch der Polizei überlassen."
Rally schluckte den Bissen hinunter. Sie schüttelte den Kopf.
"Die Polizei wird das Labor nicht hochgehen lassen, nur weil
Cogan behauptet, es sei dort. Dazu ist er zu unglaubwürdig. Und
bevor ich seine Geschichte bestätige, will ich selbst wissen, ob
sie stimmt."
May schaute Rally misstrauisch an. Rally reagierte nicht.
Seelenruhig ass sie den Rest des Pizzastücks.
Als sie nach dem dritten, und letzten, griff, fragte sie: "Was
ist eigentlich mit dem Gewehr?"
May deutete auf einen Stapel Kataloge. "Die hab ich durchsucht",
sagte sie.
"Und?"
"Nix."
Das hatte Rally befürchtet. Sie verkaufte eigentlich nur Sport-
und Jagdgewehre. Darum hatte sie nur wenige Kataloge von
Sturmgewehren.
"Ich habe gedacht, du kennst dich vielleicht besser aus",
erklärte May. "Daher habe ich die Silhouette aufgezeichnet. Aber
wo hab ich die bloss hingelegt..."
Schliesslich fand May die Zeichnung wieder. Sie hatte die
Pizzaschachtel darauf gestellt. Daher hatte es jetzt einige
Fettflecken. Rally nahm die Zeichnung mit einem leicht
vorwurfsvollen Blick entgegen.
"Ach bevor ichs vergesse:", sagte May. "Ich glaube, der Schütze
hat beim Weggehen den Kolben eingeklappt."
Rally schob sich den Rest der Pizza in den Mund, kaute kurz und
schluckte. "Ja", sagte sie schliesslich. "Diese Gewehre haben
serienmässig einklappbare Kolben."
"Du weisst, welches es ist?"
"Ich denke schon. Komm mal mit."
Sie gingen zum Lagerraum hinüber. Rally schaute sich kurz um, und
nahm dann ein Gewehr vom Gestell.
"Ja, genau das ist es!", rief May. "Wie hast du das so schnell
herausgefunden?"
"Ganz einfach. Das Gewehr hier ist durchaus bekannt. Die
SWAT-Abteilung der Polizei verwendet es."
"Der Schütze sah aber nicht wie einer vom SWAT aus."
"Das war ganz sicher keiner. SWAT-Leute arbeiten niemals alleine.
Aber das Gewehr ist vielleicht eine Spur. Ausserhalb der SWAT
verwendet es kaum einer."
"Tatsächlich? Warum denn? Die SWAT kauft doch sicher keinen
Schrott."
"Tja, weisst du, May, das Gewehr ist zwar sehr präzise, aber auch
sehr pflegebedürftig. Das schreckt die meisten ab. Es ist
eigentlich mehr ein Scharfschützen- als ein Sturmgewehr."
Plötzlich verfinsterte sich Rallys Blick.
"Moment mal", sagte sie. "Da stimmt was nicht." Dann fragte sie:
"Wie weit entfernt war der Schütze?"
May überlegte kurz. "Um die zweihundert Meter würde ich sagen. Du
meinst, auf diese Distanz..."
Rally nickte. "Er hätte Cogan treffen müssen. Wenn er kein
völliger Stümper war hätte er ihn treffen müssen."
Am nächsten Morgen. Robert ging den Flur entlang. Er hasste das.
Wenn irgendwas geklaut wurde, musste *er* Meldung machen. Wenn
ein Deal platzte, musste *er* Meldung machen. Und jetzt diese
Sache mit Cogan. Wer wurde geschickt, um dem Boss Bericht zu
erstatten? Er natürlich. Robert atmete tief durch. Dann klopfte
er an die Tür, die mit 'F. Stevenson' beschriftet war. "Herein!",
hörte er Stevenson rufen. Er trat ein.
Stevenson schaute in missmutig an. "Oh, je. Robert", meinte er.
"In diesem Fall sind es wohl schlechte Nachrichten."
Robert seufzte. Sogar der Boss war mittlerweile dran gewöhnt.
"Ja", gab er zu. "Wir haben den Bericht über Cogan."
"Ist er etwa entwischt?"
"Nicht wirklich. Als wir gestern Nacht bei der Hütte ankamen, war
Cogan verschwunden. Die Tür war von Schüssen durchlöchert, und in
der Hütte roch es noch nach frischem Pulverdampf."
"Also ein Feuergefecht."
"Die Löcher in der Tür waren nach aussen ausgefranst. Sie stammen
also vermutlich von Cogan selbst. Was uns aber beunruhigt, ist,
dass die Fensterscheibe auch ein Loch hat. Die Scherben liegen
innen, also kam der Schuss von aussen. Nur ein Schuss. Entweder
hat Cogan sich sofort ergeben, oder er ist tot. Es hat allerdings
kaum Blutspuren."
"Tot?" Stevenson schüttelte den Kopf. "Das glaube ich nicht.
Ausser mir will niemand Cogan tot sehen. Sucht weiter nach ihm."
"Ja, Sir", sagte Robert, und ging.
Stevenson dachte nach. Er wusste von niemandem, der Cogan tot
sehen wollte. Aber es fiel ihm auch niemand ein, der in fangen
wollte. Eine Abrechnung vielleicht? Aus einem Konflikt, von dem
er nichts wusste? Schon möglich. Dann durchfuhr es Stevenson: Es
könnte die Polizei gewesen sein! Cogan könnte auf die Idee
kommen, sein Wissen gegen Straffreiheit zu tauschen. Dann
beruhigte er sich wieder. Sein Maulwurf hatte nichts in der Art
gemeldet. Trotzdem war Stevenson beunruhigt. Er griff zur
Gegensprechanlage.
"Ja?", knarzte es aus dem Lautsprecher.
"Hör zu, Tom. Wir könnten Ärger bekommen wegen dieses Verräters
Cogan. Das Labor wird geschlossen. Sorg dafür, dass das Kerosin
abtransportbereit ist."
"Ziehen wir um?"
"Nein. Aber ich will, dass alles vorbereitet ist, falls es dazu
kommen sollte."
"Aye, Sir!"
Ausserhalb des Gebäudes, ein paar Blocks weiter die Strasse
runter, sass Rally in ihrem Cobra. Sie war wieder allein. May
hatte natürlich eine Szene gemacht. Aber Rally wollte diskret
sein. Und Diskretion war nicht gerade eine von Mays Stärken. Sie
fand das von Cogan bezeichnete Gebäude in einem kleinen
Wohnquartier. Es war eine typische Arbeitersiedlung. Kaum jemand
war auf der Strasse zu sehen. Um so mehr fiel das Gebäude auf:
Die Rolläden waren überall unten, und eine bewaffnete, zivile
Wache sass neben dem Eingang. Anscheinend hatte Cogan einen
Volltreffer gelandet. Auch wenn Rally nur zu gern wüsste, woher
er diese Information hatte. Sie nahm ein Fernglas, und
betrachtete die Szenerie eingehend. Sie währe nicht so ruhig
gewesen, wenn sie gewusst hätte, was hinter ihrem Rücken vor sich
ging.
100 Meter hinter ihrem Rücken, um genau zu sein. Dort endete die
Strasse nämlich in einer T-Kreuzung. Dahinter stand eine
Bauruine, in der jemand Stellung bezogen hatte. Der Mann holte
seinerseits ein Fernglas hervor, um damit den Cobra zu
betrachten. Er erkannte Rally darin. Der Mann stellte das
Fernglas auf den Boden, und rief jemanden mit seinem Handy an.
"Posten 3 hier... Ja, sie ist eingetroffen... Ja... Verstanden."
Der Mann legte auf. Dann öffnete er einen grossen Koffer, den er
bei sich trug. Darin war ein Gewehr. Eine Spezialanfertigung. Er
wusste, dass er so schnell keine zweite Chance erhalten würde.
Daher ging er sehr sorgfältig vor. Zuerst wählte er den Standort,
um das Gewehr aufzustellen. Dann nahm er ein Magazin, und prüfte,
ob es die richtige Munitionsart enthielt. Er schaute nochmals zum
Wagen. Um einen sicheren Schuss anzubringen, würde er erst das
Rückfenster zerstören müssen. Er entfernte die oberste Patrone
des Magazins, und ersetzte sie durch eine SH-Kugel. Das weiche
Geschoss würde das Fenster zersplittern, aber nicht durchdringen.
Schliesslich lud er das so präparierte Magazin. Dann brachte er
das Gewehr in Anschlag, und entsicherte es. Erst ganz am Schluss
öffnete er die Abdeckung des Zielfernrohrs.
Rally lehnte sich zurück. Das sah ihr nach einem hübschen Ziel
aus, um der Kerosinindustrie einen schmerzhaften Stich zu
versetzen. Vielleicht konnte sie Roy, einem befreundeten
Polizeioffizier, sogar eine Beförderung verschaffen. Irgend etwas
blitzte im Rückspiegel auf. Verwundert sah sie genauer hin. Sie
erkannte den typischen Wiederschein eines Zielfernrohrs.
"Scheisse!", rief sie. Ihre Hand fuhr zum Zündschlüssel. Der
Starter heulte auf. Rally hörte noch, wie das Rückfenster
zersplitterte. Dann wurde alles schwarz. Ihre Hand fiel leblos
herunter. Die Zeit hatte noch nicht einmal gereicht, den Motor zu
starten.
Auf dem Tisch standen zwei dampfende Kartonbehälter. Den dritten
hatte May gerade Cogan vorbeigebracht. Es war chinesischer
Fastfood. Wie immer, wenn May das Essen bestellte. Die Jahre in
Chinatown hatten eben doch ihre Spuren hinterlassen. May selbst
stand etwas abseits am Telefon, und schielte sehnsüchtig zum
Essen herüber. "Mann Rally, nimm endlich ab. Ich hab Hunger",
murmelte sie. Schliesslich hängte sie auf. "Jetzt reichts. Wer
nicht will, der hat schon."
Als Rally erwachte, sass sie gefesselt in einem Stuhl. Ihr war so
übel, dass sie glaubte, sich jeden Moment übergeben zu müssen.
"Narkosenachwirkungen", stellte sie fest. Sie versuchte, sich zu
bewegen. Dass erwies sich aufgrund der Fesselung als schwierig.
Wirklich bewegen konnte sie nur den Kopf. Aber sie konnte
immerhin feststellen, dass sie den Körper wieder unter Kontrolle
hatte. Bis auf den rechten Arm. Der fühlte sich seltsam dumpf an.
Wie wenn ihn jemand in Watte gepackt hätte. Rally versuchte, den
Ablauf zu rekonstruieren. Zuerst hatte sie gehört, wie das
Rückfenster des Cobra zersplitterte. Dann hatte sie noch kurz
gefühlt, wie etwas in ihre rechte Schulter eindrang. Das musste
ein Betäubungsgeschoss gewesen sein. Der Treffer war wohl nahe am
Nacken, sonst wäre das Projektil von der Panzerweste aufgefangen
worden. Alles in allem sehr Profimässig. Nachdem Rally gesehen
hatte, wie auffällig Stevensons Labor war, hatte sie ihn erst als
Anfänger eingestuft. Sie hatte ihn wohl unterschätzt. Die
Übelkeit wurde allmählich unerträglich. Rally würgte. Ihr Mund
füllte sich mit säuerlicher Magenflüssigkeit. Angewidert
schluckte sie sie wieder runter. Sie atmete schwer. Erleichtert
stellte sie fest, dass es etwas besser ging. Sie schaute sich um.
Das Zimmer war ein Büro. Ein Einzelbüro. Ein Pult mit Stuhl, ein
Wandschrank, eine Lampe. Und der Stuhl, auf dem Sie sass. Mehr
gab es nicht. Sie schaute die Möbel etwas genauer an. Alles sehr
elegant und teuer. Und dann ein Spannteppich. Richtig weich. Gute
Qualität. Rally stutzte. Warum konnte sie den Teppich fühlen?
Natürlich. Sie trug keine Schuhe. Und überhaupt... die Kleider
die sie trug... das waren doch nicht ihre Strassenkleider. Das
war ein schwarzer Pyjama. "Die haben mich umgezogen!", schoss es
ihr durch den Kopf. Sie fühlte, wie ihr Herzschlag beschleunigte.
Ihr wurde etwas schwindlig. Sie drückte die Augen zu, und zwang
sich zur Ruhe. Allmählich normalisierte sich der Herzschlag.
Rally öffnete die Augen wieder. Dann fiel ihr noch etwas auf: Der
Raum war völlig fensterlos. Das ging irgendwie nicht auf. Von der
Möblierung her gehörte das Büro einer wichtigen Person. Das eine
solche freiwillig auf ein Fenster verzichtete, sah Rally zum
ersten mal.
Eine Tür hinter Rallys Rücken öffnete sich.
"Ah, sie sind erwacht", sagte jemand mit ruhiger Stimme.
Rally konnte den Kopf nicht weit genug drehen, um die Person zu
sehen. "Mr. Stevenson?", fragte sie.
"Nicht doch", meinte der Mann leicht amüsiert.
Rally war verwirrt. Wer könnte es dann sein? Sie wusste keine
Antwort.
"Sie fragen sich vermutlich, wer ich bin, und wo sie sind", sagte
der Mann, und ging nach vorne.
Rally konnte jetzt den Rücken sehen. Wer immer es war, er hatte
einen seltsamen Kleidungsstil. Er trug eine weisse Jacke, eine
weisse Hose... ja sogar die Schuhe waren weiss. Was Rally aber am
meisten auffiel waren die schulterlangen, schneeweissen Haare.
"Mein Name ist Hal Vector", fuhr der Mann fort. "Man nennt mich
auch 'der Vampir'. Ich bin der Geschäftsführer der 'Vector
Problemlösungen GmbH'."
"Der Vampir also?", fragte Rally schnippisch. "Haben Sie darum
Angst vorm Sonnenlicht?"
Vector hielt im Schritt inne. "Bitte?", fragte er.
"Na, ich sehe doch, dass sie keine Fenster haben."
Das schien Vector weiter zu amüsieren. "Gut beobachtet, Miss
Vincent", sagte er. "Nun, ich habe nicht gerade Angst vorm
Sonnenlicht, aber..." Er setzte sich auf den Stuhl hinter dem
Pult. "...ich muss schon vorsichtig sein."
Rally war erstaunt. Vectors Haut war ebenfalls völlig weiss. Der
einzige Kontrast waren seine beinahe leuchtend roten Augen. "Sie
sind ein Albino", sagte sie.
"Ganz Recht", antwortete Vector. "Mir fehlt die natürliche
Pigmentierung. Daher kann ich nicht einfach so ans Sonnenlicht.
Ich hätte sofort einen Sonnenbrand."
"Ja, das ist mir bekannt", meinte Rally. "Aber zusammen mit Ihrer
Grösse verleiht es Ihnen eine gewisse, natürliche Autorität,
nicht wahr? Ich meine, Sie haben schon eine imposante Statur. Ich
würde Sie etwa auf 2 Meter schätzen."
"1 Meter 96", bestätigte Vector. "Sie scheinen die Dinge ja
schnell zu durchschauen. Fast schon wie er... Na gut. Ich denke,
die Frage, wer ich bin, ist damit wohl geklärt. Zur Frage, wo Sie
sind: Das hier ist mein Büro im Geschäftssitz meiner Firma."
"Ehrlich gesagt, mich würde es mehr interessieren, warum ich hier
bin. Ihr Scharfschütze hätte mich ohne weiteres töten können.
Aber er hat mich statt dessen hergebracht. Sie wollen also
irgendwas von mir." Rallys Stimme wurde unvermittelt schärfer.
"Ausserdem würde ich gerne wissen, warum man mich umgezogen hat."
Aufgrund der Aufregung beschleunigte Rallys Herzschlag wieder,
und es wurde ihr wieder schwindlig. Aber diesmal würde sie nicht
so rasch nachgeben. Erst wollte sie eine Antwort.
"Ach, das hatte ich ja fast vergessen", meinte Vector. "Keine
Sorge. Es wurde von Frauen erledigt. Wir haben ein paar in
unserer Organisation."
Rally war mit der Antwort nicht zufrieden. Sie schaute Vector
weiter mit einem stechenden Blick an.
"Hören Sie, Miss Vincent. Das Betäubungsmittel im Projektil war
ziemlich stark. Es hat zu einer sofortigen Entspannung fast aller
Muskeln geführt. Auch derjeniger, die sie... üblicherweise auf
dem stillen Örtchen benutzen. Glauben Sie mir. Sie hätten nicht
in Ihren Strassenkleidern hier sitzen wollen."
Rallys stechender Blick machte einem leicht Überraschten Platz.
Sie errötete etwas.
"Ausserdem sehen sie hübsch aus in dem Pyjama."
Rally errötete weiter. Dann setzte sie wieder einen wütenden
Blick auf. "Sie...", begann sie. Weiter kam sie aber nicht, denn
das Schwindelgefühl wurde übermächtig. Schwer atmend versuchte
Rally, sich wieder zu beruhigen.
"Vorsicht, Miss Vincent. Die Nachwirkungen werden noch eine Weile
anhalten."
Das Schwindelgefühl wich wieder von Rally. Sie stellte fest, dass
sich Schweissperlen auf ihrer Stirn gebildet hatten. Sie fasste
sich, und sagte: "Na schön. Verraten Sie mir jetzt, warum ich
hier bin?"
"Selbstverständlich", antwortete Vector. "Ich habe da nämlich ein
kleines Problem. Es geht um Stevenson."
"Das habe ich mir beinahe gedacht."
"Tja. Was wissen Sie über ihn?"
Rally wollte mit den Achseln zucken, aber die Fesselung liess das
nicht zu. "Nicht all zu viel", sagte sie schliesslich. "Er
scheint der Boss eines Syndikats zu sein, das im grossen Stil mit
Kerosin handelt. Ich hab bis gestern noch nichts von ihm gehört.
Ist wohl neu im Geschäft."
Vector nickte. "Ja, stimmt alles. Ich will sie mal weiter
aufklären. Stevenson war früher mal ein hohes Tier bei einer
Handelsfirma. Er hat seine Position missbraucht, und war dumm
genug, sich erwischen zu lassen. Damit hat er sich so ziemlich
alle Karrieremöglichkeiten verbaut. Also hat er versucht, ein
eigenes Syndikat zu gründen. Er war sogar ganz erfolgreich. Alles
in allem ist er aber nur ein kleiner Fisch. Natürlich", erklärte
Vector grinsend, "glaubt er der Hecht im Karpfenteich zu sein."
Rally musste ebenfalls grinsen. Irgendwie war das am Anfang immer
so. Auch sie hatte sich am Beginn ihrer Karriere für *die*
Schützin und *die* Prämienjägerin gehalten. Bis sie mal tüchtig
auf die Schnauze fiel.
Vector fuhr fort: "Wie dem auch sei. Als Gordi verschwand, und
die primäre Kerosinquelle mit ihr, hielt Stevenson es für eine
gute Gelegenheit, zu den Grossen aufzusteigen. Über einen
Strohmann liess er sich etwas Kerosin besorgen. Es gelang ihm,
den Stoff zu analysieren. Dann hat er das Zeug kilogrammweise
hergestellt, tüchtig gestreckt, und schliesslich eingebunkert.
Anschliessend hat er geduldig gewartet, bis der Markt
ausgetrocknet, und der Strassenpreis entsprechend hoch war. Jetzt
verkauft er die Ware. Weil er sie nicht mühsam importiert,
sondern selbst hergestellt hat, kann er sie billig abstossen. Die
Qualität ist zwar schlecht, aber das interessiert bei diesen
Preisen niemanden. Er hat gute Chancen, den Markt an sich zu
reissen."
"Und jetzt seht ihr eure Felle davonschwimmen. Alles klar."
"Nein."
"Nein? Aber was..."
"Mein Firma ist normalerweise nicht in den Drogenhandel
involviert. Eigentlich ist es uns völlig egal, wer den Markt
beherrscht." Vector machte eine rethorische Pause. "Die Aufgabe
meiner Firma ist es, Probleme zu beseitigen."
Rally ging ein Licht auf. "Ach sooo ist das. Sie meinen, ihr
macht gegen die Bezahlung die Drecksarbeit für die anderen
Syndikate." Sie erntete dafür einen vernichtenden Blick von
Vector, aber damit konnte man Rally nicht beeindrucken. "Ein
Punkt für mich", dachte sie.
"Wenn Sie es so sehen wollen", brummte Vector schliesslich.
"Wie auch immer", meinte Rally. "Sie haben den Auftrag bekommen,
Stevenson samt Syndikat aus dem Weg zu räumen, nicht wahr?"
"So ist es."
"Und was hat das mit mir zu tun?"
"Idealerweise gar nichts."
Vector fixiert Rally. "Ich nehme an, Sie wissen bereits um die
Erpressung von Stevenson durch Cogan. Sonst hätte mein Schütze
sie wohl kaum bei seinem Drogenlabor aufgegriffen."
"M-Hm", sagte Rally, und nickte.
"Aber hat Cogan ihnen auch verraten, woher er die Information
hat?"
"Nein."
"Nun, er hat die Information von mir."
Diesmal war Rally wirklich verblüfft. Sie konnte ihr Erstaunen
nicht verbergen, wie sie am befriedigten Gesichtsausdruck von
Vector ablesen konnte.
"Ich will Ihnen mal was über Cogan erzählen", fuhr Vector fort.
"Er wurde bereits früh von Stevenson angeheuert, und agierte als
Mittelsmann zwischen dem Syndikat und den Strassendealern."
"Ach darum hatte er 10 Kilogramm bei sich."
"Ach sie meinen, als er damals von der Polizei geschnappt wurde?
Ja, da hatte er gerade eine frische Lieferung erhalten. Kennen
Sie übrigens die Umstände der Verhaftung?"
"Er ist in einer Strassensperre hängengeblieben."
"Ja", meinte Vector belustigt. "Sie haben seinen Wagen
durchsucht, weil er seinen Führerschein nicht dabei hatte."
Rallys Augen weiteten sich. "Oh, mein Gott. Wie kann man nur so
behämmert sein." Sie schüttelte den Kopf. "Stevenson war sicher
sauer."
"Und wie. Aber er hatte alle Hände voll zu tun, und auch nur
wenige, professionelle Schläger. Also hat er Cogan einfach
rausgeschmissen. Und er hat ihm natürlich das verlorene Kerosin
in Rechnung gestellt. Cogan fühlte sich aber ungerecht behandelt.
Er war so richtig sauer auf Stevenson. Dazu kommt noch, dass
Cogan den Stoff nie direkt beim Labor erhalten hatte. Er wusste
also nicht, wo das Labor war. Das alles machte ihn perfekt für
meinen Plan."
Rally nickte. "Verstehe. Sie haben ihm also den Standort des
Labors verraten, in der Hoffnung, dass er Stevenson erpresst.
Aber wozu?"
"Es war mein Plan, das Kerosin mitlaufen zu lassen, und danach
die Polizei die Hauptarbeit erledigen zu lassen. Das Problem ist,
dass die Polizei fast täglich irgendwelche Geheimtipps über
Drogenlabors, -verstecke usw. bekommt. Hätten wir die Information
einfach so zugespielt, oder Cogan bei der Polizei singen lassen,
wären sie wahrscheinlich gar nicht erst nachschauen gegangen.
Oder sie wären so auffällig vorgegangen, dass Stevenson genug
Zeit gehabt hätte, zu verschwinden. Also überlegte ich mir etwas
dramatischeres. Ein Informant von mir machte Cogan ausfindig. Wir
übermittelten Cogans Aufenthaltsort an Stevenson. Der schickte
einen Killer. Weiter sah der Plan vor, dass nach Cogans Tot ein
unserer Organisation angeschlossener Notar der Polizei einige
kompromittierende Papiere übergab. Dabei sollte er sagen, dass er
von Cogan den Auftrag habe, diese Papiere der Polizei zu
übergeben, falls Cogan etwas zustossen sollte."
"Was für ein Schmierentheater", sagte Rally. "Sie wollten einen
Menschen töten, nur um Ihre Geschichte plausibler zu machen?"
"Um ein Syndikat zu zerschlagen", berichtigte Vector. "Warum auch
nicht? Es sind schon Leute für weniger umgebracht worden. Für
viel weniger. Dass Sie noch leben, Miss Vincent, haben Sie einem
meiner Informanten zu verdanken."
Rally blickte Vector fragend an.
"Ich habe Cogan von ihm überwachen lassen. Er hat Sie gesehen,
als Sie Cogan verhafteten. Und seither hat er Sie beobachtet.
Jeder andere hätte nur Ihren Wohnort gemeldet. Aber das liess
seine Berufsehre nicht zu. Er musste natürlich herausfinden, *wer*
Sie sind. Das hat Ihnen das Leben gerettet."
Rally blickte immer noch verwundert. Was war den so besonders an
ihr?
"Rally Vincent, einer der bekanntesten Prämienjäger der Stadt,
ist eine Frau, knapp über 20, und führt einen kleinen
Waffenladen. Ich muss zugeben, dass ich recht überrascht war, als
ich den Bericht erhielt. Jedenfalls sind Sie zu bekannt, als das
ich Sie einfach aus dem Weg räumen könnte."
Das war es also. Vector liess Rally nur am Leben, weil er
befürchtete, jemand könnte einen genaueren Blick auf die Sache
werfen. Rally war klar, an welch seidenem Faden ihr Leben hing.
Vector hatte mit Sicherheit Mittel, sie auszuschalten, ohne das
irgendeine Spur zu ihm führte. Es war nur eine Frage des
Aufwands.
"Wie dem auch sei", begann Rally mit etwas unsicherer Stimme,
"wenn es nur darum geht, Cogans Geschichte glaubwürdig zu machen,
hätten Sie mich einfach weitermachen lassen können. Ich hatte
vor, seine Angaben bei der Polizei zu bestätigen."
"Und Ihnen hätte die Polizei geglaubt?", fragte Vector.
"Ich habe meine Beziehungen", erwiderte Rally vieldeutig.
"Ja, ich weiss. Aber ich führe trotzdem lieber meinen neuen Plan
durch."
"Und was soll ich dabei tun?"
"Nicht sehr viel. Erstens: Ich existiere nicht, und dieses
Gespräch hat nie stattgefunden. Zweitens: Behalten Sie Cogan noch
zwei, drei Tage in Arrest. Unser Notar wird dann sagen, Cogan sei
verschwunden. Liefern Sie Cogan einfach erst, nachdem Stevenson
verhaftet wurde. Drittens, und das ist sehr wichtig: Lassen Sie
sich nicht mehr bei Stevenson blicken. Unser Maulwurf hat
berichtet, dass Stevenson wegen der Sache mit Cogan nervös ist.
Er hat seine gesamten Kerosinvorräte abtransportbereit gemacht.
Noch so eine Sache, und er verschwindet."
Vector sagte nichts weiter. "Das ist alles?", fragte Rally nach
einer Weile.
"Ja", war die knappe Antwort.
Rally wunderte sich ein wenig, warum Vector solch ausschweifende
Erklärungen abgegeben hatte. "Wenn die Sache vorbei ist, was
geschieht dann mit mir?"
"Sie sind für uns jetzt natürlich ein Sicherheitsrisiko. Aber
solange sie kooperieren, werden wir darüber hinwegsehen. Es liegt
also an Ihnen."
"Das klingt nicht sehr überzeugend."
"Sie können natürlich auch ablehnen", sagte Vector in einem
bedauernden Tonfall. Er öffnete eine Schublade, nahm daraus eine
Spritze, die mit einer durchsichtigen Flüssigkeit gefüllt war,
und legte sie auf den Tisch. "Das Gift ist nicht nachweisbar",
erklärte er. "Ausser, man sucht explizit danach."
"Schon gut, ich habe verstanden", maulte Rally.
"Dann sind wir uns einig?", fragte Vector.
Rally sagte nichts. Sie nickte nur kurz, wobei Sie sich Mühe gab,
Vector so vorwurfsvoll wie irgend möglich anzuschauen. Vector,
freilich, durchschaute das Spiel. Er lächelte, und nahm eine
zweite Spritze aus der Schublade. Sie war identisch mit der
ersten, ausser, dass sie mit einem blauen Ring gekennzeichnet
war. Dann kam er auf Rally zu.
"He, Moment mal!", rief sie.
"Das ist nur ein Schlafmittel", beruhigte sie Vector. "Sie werden
sich gründlich ausschlafen, und morgen Vormittag erwachen. Bis
dahin sollten auch die Narkosenachwirkungen verflogen sein."
Vector setzt die Spritze an Rallys linkem Unterarm an.
Reflexartig verspannte sie sich.
"Lockerlassen, sonst tuts weh", sagte Vector.
"Sie haben leicht reden", warf Rally ein.
Vector seufzte, und setzte die Spritze am rechten Unterarm an. Er
wusste natürlich, dass Rally diesen noch nicht ganz unter
Kontrolle hatte. Tatsächlich fühlte Rally noch nicht einmal die
Injektion. Nur die Müdigkeit wurde plötzlich stärker. Rally liess
sich einfach übermannen, und schlief ein. Sie wusste, dass es
sinnlos war, dagegen anzukämpfen.
May Hopkins private Ermittlungen
Rally konnte nicht sagen, wie lange sie bereits ohnmächtig war,
als sich eine vertraute Stimme in ihren traumlosen Schlaf schob:
"Hey Rally! Wach auf! Frühstück steht auf dem Tisch!"
Ganz langsam öffnete sie die Augen. Es war May, die da rief. Sie
selbst lag zuhause in ihrem Bett. "Morgen May", sagte Rally, und
stand langsam auf. Sie fühlte sich wie ausgepumpt.
"Mannohmannohmann. Du siehst vielleicht aus", meinte May. "War
wohl ne wilde Nacht, was?"
"Ne wilde Nacht?", fragte Rally. Allmählich kam die Erinnerung
zurück. "Ne wilde Nacht. Ja, kann man so sagen."
Sie ignorierte Mays fragenden Gesichtsausdruck, und ging zur
Küche. Doch May liess nicht locker:
"Sag mal, wo bist du eigentlich gewesen? Und warum hast du dich
nicht gemeldet? Ich hab mir Sorgen gemacht, verdammt noch mal!"
"Später, später", versuchte Rally zu beschwichtigen. Sie hatte
noch nicht alle Gedanken beisammen. May liess sich nicht beirren:
"Und dann kommst du nach Hause, ohne ein Wort zu sagen. Hätte ich
heute Morgen nicht zu dir ins Zimmer geschaut, wüsste ich nicht
einmal, dass du hier bist."
Rally stöhnte. Ein Streit mit May war jetzt wirklich das letzte,
was sie gebrauchen konnte. "Ich bin nicht hergekommen", sagte
sie, "ich wurde hergebracht."
May erkannte, dass sie jetzt nichts von Rally erfahren würde. Sie
zuckte mit den Schultern, und folgte Rally in die Küche.
Rally stocherte lustlos in ihrem Essen. Sie hatte zwar Hunger,
aber überhaupt keinen Appetit. May verstand. Oder zumindest
glaubte sie, zu verstehen.
"So so", sagte sie, "wir haben einen Kater, was?"
"Seit wann kriegt man von Morphium einen Kater?", erwiderte Rally
missmutig.
"Von... Morphium? Rally, was zum Teufel ist passiert?"
Rally begann zu erzählen. Sie tat dies sehr bruchstückhaft, und
May musste häufig nachhaken. Es ging eine Weile, bis May alles
verstanden hatte.
"Also, fassen wir zusammen:", sagte May schliesslich. "Vector
will Stevenson zu Fall bringen. Er bringt Cogan dazu, Stevenson
zu erpressen. Stevenson will Cogan aus dem Weg räumen, was Vector
zu einer Inszenierung ausnutzt, um die Polizei auf den Plan zu
rufen. Wir schnappen Cogan aber direkt vor der Nase des Killers
weg. Der Plan ist im Eimer. Vector schnappt dich, und liest dir
die Leviten. Ausserdem verlangt er, dass du dich nicht in seinen
neuen Plan einmischst. Richtig so?"
"So ungefähr", bestätigte Rally. In Wirklichkeit war sie nicht in
der Lage gewesen, Mays Zusammenfassung zu folgen.
"Und das bringt uns zur hundert Millionen Dollar Frage: Warum
lässt Vector uns nicht einfach Cogan ausliefern, und dessen
Angaben über Stevenson bestätigen. Dann ginge Stevenson doch
genauso hoch."
Rally nahm einen guten Schluck Kaffee. "Ich vermute, es liegt
daran, dass Vector das Kerosin in Stevensons Labor haben will."
Sie setzte die Tasse ab. "Würde er Stevenson einfach überfallen,
dann würde der natürlich sofort verschwinden. Vector will aber
sowohl das Kerosin für sich, wie auch Stevenson vor Gericht. Also
muss er dafür sorgen, dass die Polizei unmittelbar nach dem
Überfall bei Stevenson auftaucht. Geht er nach seinem Plan vor,
kann er die Reaktion der Polizei einigermassen steuern. Liefern
wir Cogan aus, kann er das nicht. Dann landet das Kerosin in
einem Polizeitresor."
May nickte. "Ja, das macht Sinn." Dann seufzte Sie. "Blöde
Geschichte. Wir sind also zum Nichtstun verdammt."
"Wer sagt das?", fragte Rally. Sie hatte mittlerweile ihre Sinne
genug beisammen, um ihrer Stimme eine unüberhörbare Schärfe zu
verleihen.
"Was willst du denn machen?", erwiderte May resigniert.
Rally gab sich ungerührt. "Vector einen Strich durch die
Rechnung", sagte sie.
May zog die Augenbrauen hoch.
"Mir einfach so seinen Willen auf zu zwingen. Das könnte ihm so
passen."
Das brachte May ins Grübeln. Klar, Rally liess sich nicht gerne
zu etwas zwingen. Aber sie hatte es auch schon geschehen lassen,
wenn die Chancen schlecht standen. Es seie denn...
"Ah, alles klar. Du willst nicht, das Vector das Kerosin erhält",
meinte May triumphierend.
Rally schaute May verblüfft an. May hatte Recht. Aber bisher war
es nicht einmal Rally selbst aufgefallen. "Ja, stimmt wohl",
meinte sie etwas verlegen.
"Und was willst du mit dem Kerosin machen? Es verbrennen?"
"Verbrennen? Der Gedanke ist gar nicht so übel."
Eine halbe Stunde später war ein grundlegender Plan gefasst:
Bevor Vector seinen Überfall startete, wollten Rally und May eine
Bombe in den Lagerraum des Drogenlabors schmuggeln. Während des
Überfalls würde sie dann gezündet. Für Vector würde es aussehen,
als wäre die Bombe von Stevenson selbst, der die Drogen lieber
vernichtete, als sie sich klauen zu lassen. May war auf dem Weg
zum Laden, um Cogan Frühstück zu bringen, und um das 'sind
Fischen'-Schild an die Tür zu hängen. Anschliessend wollte sie
sich um die Bombe kümmern. Rally zog sich derweil an. Sie trug
noch immer den Pyjama, in den sie Vector gesteckt hatte. Ihre
alten Kleider hatte er ihr nicht mitgegeben. Als Rally ihr
Halfter anlegen wollte, merkte sie, das noch ein paar andere
Dinge fehlten. "Mist. Er hat meine Waffen einbehalten", fluchte
sie. Rally legte das Ersatzhalfter an. Dann ging sie zum
Waffenschrank hinüber. Sie würde sich eben mit der zweiten
Garnitur begnügen müssen. Ihr Blick schweifte über die Auswahl.
Dann nahm sie eine P210 in die Hand. Mit einigen schnellen
Bewegungen prüfte sie den Zustand der Mechanik. Zufrieden lud sie
die Pistole, und setzte sie ins Halfter ein. "Eine gute Waffe",
dachte sie sich. "Aber kein Vergleich zu einer CZ-75." Ihr Blick
verdüsterte sich. Die CZ würde sie zurückerhalten. Koste es, was
es wolle.
"Was!?"
Cogan glaubte sich verhört zu haben. Musste er tatsächlich noch
zwei Tage in diesem Loch verbringen?
"Jetzt reg dich mal wieder ab", wandte May ein. "Glaubst du, es
macht uns Spass, dich hier unten durchzufüttern?"
Cogan brummte irgend etwas unverständliches. Dann fragte er:
"Habt ihr meine Angaben überprüft?"
"Ja, haben wir", bestätigte May.
"Warum liefert ihr mich dann nicht einfach aus. Wenn ihr meine
Angaben bestätigt, habe ich nichts mehr vor Stevenson zu
fürchten."
"So einfach ist das nicht. Da ist noch eine dritte Partei
involviert."
Cogan stutzte. "Eine dritte Partei? Wer denn?"
May grinste, und schüttelte den Zeigefinger. "Neugier tötet die
Katze".
Cogan gab auf. "Noch zwei Tage in diesem Loch", brummte er.
"Ich würde dir die Zeit ja gerne versüssen", meinte May lächelnd,
"aber ich muss mich leider beeilen."
Cogan sah überrascht hoch, doch May war bereits gegangen, und
hatte die Tür wieder abgeschlossen. Sie war tatsächlich in Eile.
Schliesslich musste sie sich noch um die Bombe kümmern.
Rally war ebenfalls mit Vorbereitungen beschäftigt. Um bei
Stevenson einsteigen zu können, würden sie die Umgebung etwas
unter die Lupe nehmen müssen. Damit Vector sie nicht gleich
wieder einsackt, hatte sie ein paar Verkleidungen besorgt. Sie
hatte dafür den Bronco nehmen müssen, da Vector den Cobra
ebenfalls nicht zurückgebracht hatte. Ein Umstand übrigens, der
Rally beinahe zum explodieren brachte. Als sie aber gerade die
Karte studierte, um möglich Zu- und Abfahrtswege zu finden, hörte
sie plötzlich ein Motorengeräusch, das ihr sehr bekannt vorkam.
Sie rannte die Treppe herunter, und stürmte auf die Strasse.
Tatsächlich: Da stand ihr Cobra. Vom Fahrer war allerdings keine
Spur. Rally besah sich den Wagen. Er hatte keinen Kratzer. Auch
die Rückscheibe war ausgewechselt worden. Auf dem Beifahrersitz
lag eine Kiste. Rally wollte sie sich ansehen, doch die Türen
waren verschlossen. Schliesslich war da noch eine Notiz an der
Frontscheibe. Rally las:
"Sehr geehrte Miss Vincent. Tut mir leid, das wir so spät dran
sind. Wir hatten leider Schwierigkeiten, ein passendes
Rückfenster zu finden. In der Kiste auf dem Beifahrersitz
befinden sich ihre Sachen von gestern. Der Schlüssel liegt im
Briefkasten. Mit freundlichen Grüssen Hal Vector."
Rally starrte auf das Papier. "Der will mich wohl fertigmachen",
sagte sie leise.
Kenichi Takizawa, genannt Ken Taki, war ein begnadeter
Bombenbauer. Er hatte früher für die Mafia gearbeitet, sich aber
erfolgreich von seiner Vergangenheit getrennt. Er war Mays
Lehrmeister was Bomben betrifft... und ihr fester Freund. Nun,
wer May ein bisschen kennt, wird sich vielleicht wundern, dass
sie einen festen Freund hat. Tatsächlich waren die beiden aber
schon länger zusammen.
"Also", sagte Ken. "Du brauchst eine Bombe zum Ausbrennen eines
Drogenlagers. Und das heute Abend."
"Genau", sagte May fröhlich. Sie sass Ken gegenüber, und hatte
ihm gerade die ganze Geschichte erzählt.
"Unauffällig soll sie natürlich auch sein...", grübelte Ken. "Das
wird ein schönes Stück Arbeit."
"Oooch, das schaffst du schon."
May blickte Ken mit verliebten Augen an. Ken fühlte das bisschen
Widerstand zusammenschmelzen. Es war ohnehin eine interessante
Aufgabe. Denn egal, wie unauffällig die Bombe war: Sobald sie
gezündet wurde, musste sie unweigerlich entdeckt werden. Wie aber
würde man das Personal daran hinderen, das Feuer zu löschen, ohne
gleich das ganze Haus zu sprengen?
May ahnte, worüber Ken nachdachte. "Ich denke, Petroleum wäre
nicht schlecht. Das ist sehr schwer zu löschen. Wenn es eine
Sprinkleranlage hat, wird das sicher lustig."
Ken grinste. Petroleum ist ein Öl, und Wasser in ein Ölfeuer zu
giessen, ist allgemein eine sehr schlechte Idee. Aber er war
nicht überzeugt: "Sie könnten das Feuer immer noch ersticken",
sagte er. "Wenn es ein Kellerraum ist, müssen sie nur die Tür
schliessen und abdichten."
"Wie wärs dann mit Napalm?"
Kenn erwog den Gedanken für einen Moment. Napalm enthält selbst
Sauerstoff. Ein Napalmfeuer kann daher nicht erstickt werden.
Aber dann fiel ihm ein anderes Mittel ein.
"Man könnte es immer noch mit einem chemischen Feuerlöscher
bekämpfen. Aber ich habe eine andere Idee: Aerosol."
May erschrak. "Wie... bitte? Ist das dein voller Ernst?"
"Natürlich", antwortete Ken gelassen.
"Das ist doch verrückt. Da könnten wir ja auch gleich eine
Atombombe rein schmeissen."
"Keine Sorge, May. Wenn ich die Dosis genau berechne, wird
lediglich alles im Raum verbrannt. Und zwar innert Sekunden. Es
besteht nicht die geringste Chance, solch ein Feuer zu löschen."
May war keineswegs beruhigt. Aber sie kannte Kens Fähigkeiten,
und beschloss, darauf zu vertrauen.
Rally war sauer auf Vector. Und zwar vor allem darum, weil Vector
ihr systematisch jeden Grund nahm, auf ihn sauer zu sein. Sogar
die CZ-75 hatte er zurückgegeben: Sie lag in der Schachtel im
Auto. Nur das Verbot, sich in den Fall Stevenson einzumischen,
blieb noch. Um so mehr wollte sie im gerade hier
dazwischenfunken. Damit Vectors Späher sie nicht gleich wieder
entdeckten, zog sie eine Perücke mit langen, blonden Haaren an,
und überpuderte ihre indianische Haut, so dass sie hell erschien.
Bei May war es einfacher. Sie machte sich ihre Kleinwüchsigkeit
zunutze, indem sie Kinderkleider anzog. Diesen Trick hatte sie
bereits mehrmals mit grossem Erfolg angewandt. Dann fuhren die
beiden in Mays Wagen, einem Fiat 500, in die Nähe des
Drogenlabors. Rally lenkte den Wagen. Während der Fahrt prüfte
sie immer wieder, ob ihnen jemand folge. Sie konnte aber
niemanden entdecken. Trotzdem war sie unsicher. Sie parkte den
Wagen etwas Abseits, und liess May hinaus. Dann fuhr sie wieder
weg. May hatte ein Handy bei sich, mit dem sie Rally rasch
herbeordern konnte.
May spazierte etwas durch die Umgebung. In ihrer Verkleidung
konnte sie sich sehr unauffällig bewegen. So konnte sie auch das
Gebäude etwas genauer ansehen. Das Haus war ein alter
Plattenblockbau mit fünf Geschossen. Er war etwa doppelt so lang
wie breit. Vor allen Fenstern waren die Sonnenstoren
heruntergelassen, was das Haus doch recht verdächtig aussehen
liess. Der Haupteingang war in der Mitte einer der langen Seiten.
Wie Rally gesagt hatte, wurde er von einer zivilen Wache bewacht.
Nur das sie jetzt im Innern sass, und durch ein Fenster auf die
Strasse schaute. Auf der anderen Seite des Hauses fand May eine
Feuertreppe. Sie befand sich an der Aussenseite des Hauses, ging
aber nur bis zum ersten Stock herunter. Vermutlich befand sich
dort einmal eine Treppe, die hinunterklappte, sobald jemand von
oben draufstand. Aber das war wohl schon lange her, denn die
abgebrochene Halterung machte den Eindruck, als ob sie schon sehr
lange abgebrochen gewesen sei. May stellte ausserdem fest, das
auch im Erdgeschoss, gleich unter der Feuertreppe, ein Notausgang
existierte. Alles in allem war sie aber noch nicht zufrieden mit
dem Ergebniss ihrer Ermittlungen.
Robert sass hinter dem Fenster beim Eingang. Die Pumpgun hatte er
gegen die Mauer gelehnt. Er hasste den Wachdienst. Es war
schlichtweg langweilig. Nur gelegentlich musste ein allzu
neugieriger Passant abgewiesen werden. Er verstand auch die
Kollegen nicht, die mit umgehängter Waffe und betont ernsthaftem
Gesichtsausdruck, wenn möglich mit Sonnenbrille, im Eingang
standen. Wem versuchten die hier Eindruck zu machen? Und falls
tatsächlich mal etwas passieren sollte... Mit umgehängter Waffe
weithin sichtbar herumzustehen, war, wie sich ein Schild
umzuhängen: "Bitte erschiesst mich". Robert seufzte, und liess
den Blick von der Strasse zum Eingang wandern. Ein kleines
Mädchen stand dort.
Eine Zehntelsekunde später war Robert auf den Beinen. "Da lässt
man mal kurz die Gedanken schweifen, und schon...", dachte er
sich.
"He Mädchen! Da darfst du nicht rein!". Robert versuchte, seine
Stimme grimmig erscheinen zu lassen. Es klappte nicht besonders
gut. Aber es erfüllte seinen Zweck: Das Mädchen schien
eingeschüchtert.
"Tut... tut mir leid", sagte sie leise. "Ich suche meinen Hund."
"Deinen Hund?", fragte Robert überrascht.
"Ja. Er ist mir hier in der Nähe davongelaufen. Haben Sie ihn
vielleicht gesehen?"
Robert schüttelte den Kopf. "Nein, hab ich nicht", sagte er
knapp.
Doch das Mädchen liess nicht locker. "Sicher?", fragte sie. "Er
versteckt sich gerne in Kellern. Könnten Sie vielleicht kurz
nachsehen?"
Im Keller? Stevenson würde niemals zulassen, das dort jemand
herumschnüffelte. Das Drogenlabor und das Lager befanden sich
dort. "Hör mal", begann er, diesmal etwas gereizt, "wenn ich
sage, ich habe keinen Hund gesehen..."
"Hey Robert, sei doch nicht so grob."
Das war Stevenson. Robert verspürte plötzlich den dringenden
Wunsch, irgendwo anders zu sein. Aber er versuchte, sich nichts
anmerken zu lassen.
"Du musst ihn entschuldigen", sagte Stevenson zu dem Mädchen. "Er
ist... wie ein Wachhund eben. Er bellt alle an, die er nicht
kennt." Dann wandte er sich Robert zu: "Hast du sicher keinen
Hund gesehen?"
"Nein Sir", erwiderte Robert, wobei er krampfhaft versuchte,
sachlich zu bleiben. "Wenn hier ein Hund hereingekommen wäre,
hätte ich ihn mit Sicherheit gesehen."
Robert war sich da nicht so sicher, wie er sich gab. Aber vor
Stevenson zuzugeben, dass er möglicherweise einen Hund übersehen
hätte? Unmöglich. Da hätte er sich auch gleich selbst erschiessen
können.
Stevenson schaute das Mädchen mit einem bedauernden Blick an.
"Tut mir leid, aber dann ist er wohl nicht hier."
"Ist schon gut, danke", sagte das Mädchen. "Dann muss ich eben
weiter ersuchen." Sprachs, und war verschwunden.
"Siehst du Robert? So gehts doch auch." Stevenson ging zum
Ausgang. "Jetzt muss ich aber los. Eine nette Party wartet auf
mich."
"Ja Sir", sagte Robert langsam. Er wartete, bis Stevenson
gegangen war. Dann liess er sich in den Stuhl fallen. Es waren
Tage wie dieser, die in ihm den Wunsch weckten, einfach alles
stehen und liegen zu lassen, und zu verschwinden. Hätte er
gewusst, was an diesem Tag noch so alles auf ihn zukam, hätte er
es sogar getan.
May ging wieder zur Rückseite des Hauses. Ihr kleiner Vorstoss
hatte sich gelohnt. Während Sie die Wache mit ihrer Geschichte
über den entlaufenen Hund hinhielt, konnte sie einen Blick ins
Haus werfen. Hinter dem Eingang befand sich ein Raum, in dem die
Wache sass. Hinter dem Raum wiederum war ein Quergang. May konnte
bei ihrem kurzen Rundblick feststellen, dass der Gang an beiden
Enden nicht einfach aufhörte, sondern abbog. Vermutlich ging er
um das ganze Haus herum. Ausserdem fiel May auf, dass im Gang,
gegenüber vom Wachraum, eine Stelle mit einer Holzplatte verdeckt
war. Offensichtlich wurde hier irgendein Durchgang blockiert. Als
sie schliesslich die Wache nach dem Keller fragte, konnte sie an
der Reaktion ablesen, dass sich dort wohl etwas wichtiges befand.
Das hatten sie und Rally bereits vorher vermutet. Aber es war
immer gut, sich sicher zu sein. Alles, was jetzt noch fehlte, war
ein sicherer Eingang. Das Erdgeschoss war May zu gut bewacht.
Also ging sie zur Feuertreppe. Mit Hilfe einer alten Mülltonne
stieg sie hinauf in den ersten Stock. Auf jedem Stockwerk befand
sich eine Plattform. Diese war von einer Tür, und vom Fenster
links daneben (von aussen gesehen) erreichbar. May horchte am
Fenster. Als sie nichts hörte, hob sie vorsichtig eine Lamelle
der Storen an. Im Raum war niemand. Es war ein hübsch
eingerichtetes Büro. "Ist wohl das vom Boss", dachte sich May.
"Gleich bei der Feuertreppe." Sie ging weiter hoch. Das Zimmer im
zweiten Stock enthielt lediglich eine Matraze, die einen
unbequemen Eindruck machte. Die Zimmer im dritten und vierten
Stock waren sogar völlig leer. Schliesslich kam May aufs Dach.
Sie schaute sich um. Es gab einen Eingang hier oben. Ansonsten
war das Dach völlig leer.
Plötzlich klingelte das Handy. May schaute auf die Uhr. Vor fünf
Minuten hätte sie Rally anrufen sollen. Sie nahm den Anruf
entgegen.
"Hallo?", sagte sie mit schuldbewusster Stimme.
May konnte Rally erleichtert aufatmen hören. "Ich wollte nur
wissen, ob es dir gut geht."
"Sorry. Ich hab vergessen anzurufen", entschuldigte sich May.
"Wie immer", seufzte Rally. "Und? Hast du was herausgefunden?"
"Jede Menge."
May fasste kurz ihre bisherigen Beobachtungen zusammen. Dann
folgte eine kurze Pause.
"Okay", sagte Rally schliesslich. "Das reicht. Sag mir, wo ich
dich abholen soll."
"Noch gar nicht", antwortete May. "Erst will ich noch
herausfinden, wie wir reinkommen können."
"Das können wir immer noch heute Abend. Geh kein unnötiges Risiko
ein."
"Ach komm, Rally. Glaubst du, ich sei zum Spass auf das Dach
geklettert?"
"Du bist *was*?! Bist du verrückt? Was machst du, wenn Vectors
Männer dich entdecken?"
"Bisher bin ich noch nicht erschossen worden."
"Sehr witzig. Komm da sofort runter."
"Erst prüfe ich, ob wir ungesehen durch die Dachtür rein können."
"Nein, das tust du nicht! Und schon gar nicht durch die Dachtür.
Die ist noch am ehesten gesichert!"
May überlegte einen Moment. Dann sagte sie: "Stimmt. Ich nehme
einen anderen Weg."
"May war..."
Aber in diesem Moment unterbrach May die Verbindung. Sie war gut
genug, um das durchzuziehen. Und das würde sie Rally jetzt
beweisen.
May stieg wieder in den vierten Stock hinunter. Sie schaute sich
das Fenster an. Die Lamellen der Sonnenstoren liessen sich leicht
anheben. Das Fenster selbst war ein einfaches Schiebefenster. Die
Verriegelung war aber von aussen nur erreichbar, wenn man die
Scheibe zerstörte. May hatte keinen Glasschneider dabei, also
liess sie es bleiben. Sie ging zur Tür. Es war eine typische
Notausgangtür. Logischerweise hatte es aussen keine Klinke. Aber
dort, wo man normalerweise die Klinke vermuten würde, war eine
rostige Metallplatte, die von vier ebenso rostigen Schrauben
gehalten wurde. May hatte immer etwas Werkzeug dabei, um kleine
Bomben bauen zu können. Aus einer ihrer Taschen kramte sie einen
Schraubenzieher hervor. Sie setzte ihn an, konnte die Schraube
aber nicht lösen. Als sie es nochmals mit mehr Kraft versuchte,
brach der Schraubenkopf ab. "Völlig durchgerostet", sagte sich
May. Mit gezielten Schlägen enthauptete sie die drei restlichen
Schrauben. Dann entfernte sie die Platte. Dahinter war ein
Schloss. Offensichtlich diente es dazu, im Notfall die Tür von
aussen zu öffnen.
Tom, Stevensons Sicherheitschef, sass zufrieden in seinem Büro.
Das Labor war geschlossen, die Lieferverträge sistiert, und die
Ware abtransportbereit. Alles war vorbereitet für den Fall, das
sie evakuieren mussten. Aber eigentlich machte er sich keine
Sorgen wegen eines bevorstehenden Angriffs. Stattdessen versuchte
er abzuschätzen, wann er wohl wieder den Normalzustand herstellen
konnte. Daher war er nicht schlecht überrascht, als plötzlich
eines der Warnlichter auf der Kontrolltafel aufleuchtete. Tom
betrachtete die Tafel misstrauisch. Aber es gab keinen Zweifel:
Jemand war im vierten Stock durch den Notausgang eingedrungen!
May hatte keinen Dietrich dabei. Aber Sprengstoff. Und der
verwandelte das Schloss in einen Haufen rauchenden Schrott. Mit
einem Ruck zog May die Tür auf. Natürlich hätte sie auch durch
das Fenster einsteigen können. Aber wenn sie schon etwas
zerstören musste, dann lieber die Tür. Die war bequemer. Hinter
der Tür war ein kurzer Durchgang, der ins Gebäudeinnere zum
Hauptgang führte. May schaute sich um. Auch hier bog der Gang
links und rechts am Gebäudeende zur anderen Gebäudeseite ab.
Anscheinend ging er tatsächlich um das ganze Gebäude. Direkt
gegenüber dem Notausgang war das Treppenhaus. May schaute zum
Notausgang hinüber. Das Schloss, oder was davon übrig war, war
jetzt ziemlich schwarz. Es war zwar ziemlich dunkel bei der Tür,
aber es war trotzdem sichtbar. Eine Patrouille würde es
vielleicht entdecken, und die Tür verbarrikadieren. Andererseits
brauchte May nur die Verriegelung des Fensters daneben zu öffnen,
um problemlos dort einsteigen zu können. Sie betrat also den Raum
neben dem Notausgang. Der Raum war annähernd quadratisch, und
völlig leer. An der gegenüberliegenden Wand sah May das gesuchte
Fenster. Sie wollte bereits zur Tat schreiten, als sie plötzlich
jemanden die Treppe hochrennen hörte. May hechtete zur Tür, und
schloss sie.
"Mist! Schon weg", rief jemand.
"Mann oh Mann", sagte jemand anders. "Einfach aufgesprengt."
"Na schön. Dann suchen wir eben systematisch das Haus ab. Prüf
erstmal den Dachausgang."
"Okay."
May rannte zum Fenster. Diesmal prüfte sie es auf Kabel. Und
tatsächlich: Zwei Drähte führten vom Fenster weg. May kratzte mit
einem kleinen Messer die Isolation von den Drähten. Sie musste
vorsichtig sein, denn die Drähte waren dünn, und sie durfte sie
keinesfalls durchtrennen. Als sie fertig war, nahm sie ein Stück
Schnur, um die blanken Stellen zusammenzubinden. Sie hoffte
inständig, damit den Alarm zu überbrücken... und nicht
auszulösen. Als die Enden sich berührten, hielt sie einen Moment
inne. Entsetzt hörte sie, wie sich Schritte näherten.
Ein Mann riss die Tür auf, und kam mit vorgehaltener Pistole
herein. Es war einer von Stevensons Leuten, der Pech genug hatte,
von Tom angetroffen zu werden, als dieser die Treppe hoch
stürmte. Er sah sich kurz um. Der Raum war leer. Er wollte
bereits wieder gehen, als ihm etwas auffiel: Die Verriegelung des
Fensters war offen. Er ging zum Fenster, öffnete es, und hob die
Lamellen davor an. Es war aber niemand zu sehen. Missmutig
schloss und verriegelte er das Fenster wieder. Dann entdeckte er
Mays Überbrückung. Er nahm ein Messer, und schnitt die Schnur
durch, ohne die Drähte zu verletzen. Schliesslich verliess er den
Raum, und zog die Tür hinter sich zu. "Das Fenster war offen, und
der Alarm überbrückt", sagte er. "Er ist wohl schon weit weg."
Aber da irrte er sich. 'Er' war noch sehr nahe. Als May erkannt
hatte, dass die Zeit nicht mehr reichen würde, um aus dem Fenster
zu fliehen, hatte sie sich einfach hinter die Tür gestellt.
Es dauerte einige Minuten, bis May sich wieder zu bewegen wagte.
Erst, als sie die beiden Männer die Treppe hinab gehen hörte,
wagte sie sich wieder zum Fenster. Sie verband die Drähte wieder,
und kletterte durch das Fenster auf die Feuertreppe. Überrascht
sah sie ihren Fiat an der nächsten Kreuzung. Sie stieg die Treppe
runter, und rannte zum Wagen hinüber.
"Da bin ich wieder!", rief sie, als sie sich auf den
Beifahrersitz setzte.
Rally antwortete nicht. Sie sah May nur durchdringend an.
"Äh, was ist denn?", fragte May etwas verlegen.
"Warum hast du dein Handy abgeschaltet?"
"Na ja, damit es nicht klingelt, während ich drinnen bin."
"Hab ich dir nicht gesagt, dass du das bleiben lassen sollst?"
"Schon. Aber..."
"Verdammt, May, wann lernst du das endlich? Man bringt sich nicht
unnötig in Gefahr."
"Was heisst da unnötig? Die haben eine Alarmanlage installiert.
Wenn wir die erst heute Abend entdecken würden, würden wir ganz
schön in der Scheisse sitzen."
"Und was macht es für einen Unterschied, ob sie dich jetzt
schnappen, oder erst heute Abend?"
"Sie *haben* mich nicht geschnappt."
"Zum Glück nicht, nein."
Rally startete den Motor, und fuhr weg. May war sauer. Nur weil
Rally ein Jahr älter war, musste sie sich noch lange nicht so
rechthaberisch aufführen. Da fiel ihr ein letzter Trumpf ein:
"Ich habe übrigens einen Eingang gefunden."
"So." Rally klang reichlich desinteressiert. Aber May liess sich
davon nicht täuschen.
"Beim Fenster im vierten Stock bei der Feuerleiter habe ich die
Alarmanlage überbrückt. Wir können rein und raus wie es uns
beliebt."
Rally sagte einen Moment nichts. Dann seufzte sie. "Na schön, gut
gemacht. Aber sei in Zukunft vorsichtiger."
"Okay", erwiderte May fröhlich. Aber Rally blieb ernst:
"Die Hauptarbeit steht uns nämlich noch bevor."
Bombenlegen für Fortgeschrittene
Am späten Nachmittag fanden Rally und May sich bei Ken ein. Der
zeigte ihnen seine Arbeit. Die Bombe war eine kleine Metallbox,
etwa so gross wie zwei aufeinander gestapelte Videokassetten. Die
einzigen Bedienelemente waren ein Knopf und eine LED. Ken
erklärte, wie sie funktionierte:
"Das ganze ist sehr einfach gehalten. Wichtig ist nur, das ihr
die Bombe gut platziert. Wenn sie scharf ist, darf sie sich auf
keinen Fall mehr bewegen. Sonst geht sie sofort los. Sorgt also
dafür, das sie einen sicheren Stand hat, gut aufgehängt ist, oder
was auch immer."
"Alles klar. Ein empfindlicher Bewegungssensor also", sagte May.
"Nicht nur das. Im inneren befindet sich ein Netz aus
Kleinstdrähten, die bei einem gewaltsamen Öffnen reissen. Bei
einem Temperatursturz geht ebenfalls ein Sensor los, so das
Tricks mit flüssigem Stickstoff nicht greifen. Der eigentliche
Zündmechanismus basiert auf einer simplen Metallfeder, und geht
los, wenn die Elektronik ausfällt."
May zog die Augenbrauen hoch. "Kann man die überhaupt
entschärfen?", fragte sie.
"Kaum", erwiderte Ken. "Man könnte versuchen, die Aussenschale so
vorsichtig zu entfernen, das weder die Drähte verletzt, noch der
Bewegungssensor ausgelöst wird. Aber ich würde die Finger davon
lassen."
May war einen Augenblick lang still. Sie schaute Ken mit einem
scheelen Blick an.
"Nicht zu entschärfen", sagte sie schliesslich.
Ken nickte.
"Wieso?"
"Es ist einfacher, eine Bombe zu bauen, die sich nicht
entschärfen lässt, als eine, die sich schwer entschärfen lässt.
Normalerweise lasse ich mir eine Hintertür offen. Aber diesmal
war ich in Eile, also..."
May seufzte. "Na schön. Wie macht man sie scharf?"
Ken deutete auf den Knopf an der Bombe. "Einfach hier drücken.
Als Bestätigung sollte die LED kurz aufleuchten. Wenn sie mal
scharf ist, gibt es zwei, voneinander unabhängige Zünder. Der
erste ist an die verschiedenen Sensoren gekoppelt. Der
zweite...", Ken gab May einen Funkauslöser, "...wird hiermit
ausgelöst. Das Signal ist stark genug, um durch mehrere Mauern
Stahlbeton zu dringen. Ausserdem geht die Bombe in spätestens
drei Tagen von selbst los. Dann ist nämlich die Batterie alle,
und die Elektronik fällt aus."
"Alles klar." May nahm die Bombe und den Zünder entgegen.
"Sei vorsichtig damit", warnte Ken. "Das Ding ist gefährlich."
May nickte nur.
"Was passiert eigentlich, wenn die Bombe ausgelöst wird?", fragte
Rally, der Mays Unbehaglichkeit natürlich nicht entgangen war.
"Nun, für etwa zehn Sekunden wird der Raum mit Aerosol gefüllt.
Dann wird es gezündet. Das Feuer sollte die Drogen verbrennen,
bevor ein Feuerlöscher vor Ort ist."
Rally konnte daran nichts finden, was May beunruhigen könnte. Sie
würde bei Gelegenheit nachfragen.
Als die Sonne unterging, war alles bereit: Rally und May trugen
immer noch die Verkleidungen vom Nachmittag, und sie benutzten
wieder den Fiat. May bestand darauf, zu fahren. Immerhin war es
ihr Wagen. Für Notfälle hatte Rally Ken beauftragt, etwa einen
Kilometer weiter mit dem Cobra zu warten. Schliesslich kamen
Rally und May in der Nähe von Stevensons Hauptquartier an.
Während May die Bombe aus dem Kofferraum holte, prüfte Rally ihre
Waffen. Wegen der Verkleidung konnte sie nicht beliebig viel
mitnehmen. Sie hatte sich für ihr Lieblingsstück, die CZ-75,
entschieden. Ausserdem hatte sie zwei volle Ersatzmagazine dabei,
wodurch sie immerhin über 46 Schuss verfügte. Desweiteren hatte
sie ihre DUO auf der Schiene im Ärmel versteckt. Die gute, alte
22.-er hatte sie schon mehr als einmal gerettet. May hatte es
sich natürlich nicht nehmen lassen, ein paar Granaten
mitzunehmen. Rally gefiel das gar nicht, denn sie wollte
möglichst unentdeckt bleiben. Granaten waren dafür ein schlechtes
Mittel. Immerhin konnte sie May überreden, sich auf vier Stück
mit reduzierter Sprengkraft zu beschränken.
Der Einstieg erwies sich als einfach. Das Fenster war immer noch
entriegelt. Auch die erneute Überbrückung der Alarmanlage war
nicht entdeckt worden, wie May zufrieden feststellte. Rally
zückte die Waffe und entsicherte sie. Nach Mays Aussagen glaubte
sie zwar nicht, das die Zimmer hier oben überhaupt benutzt
wurden. Aber es bestand immer die Möglichkeit, dass sie einer
Patrouille begegneten. Sie horchte an der Tür. Dann öffnete sie
sie vorsichtig. Der Gang war dunkel. Rechts konnte Rally das
Treppenhaus erkennen.
"Und jetzt?", fragte sie leise. "Da runter?"
"Ich denke schon", flüsterte May. "Es gibt noch ein zweites
Treppenhaus, aber das ist vermutlich blockiert. Und heute Morgen
sind hier zwei Wachen hochgekommen. Es ist wohl schon der
richtige Weg."
Rally drehte sich zu May um. Es war zu dunkel, um Rallys
Gesichtsausdruck zu erkennen. Aber von irgendwo her wusste May,
dass sie gerade ziemlich böse angefunkelt wurde.
"Sie haben dich entdeckt, nicht wahr?", zischte Rally.
May wollte entrüstet Antworten. Im letzten Moment fiel ihr ein,
wo sie sich befanden. Sie wählte einen leiseren Tonfall:
"Sie haben mich nicht entdeckt. Sie haben... sie haben nur
gemerkt, das jemand da war."
Rally schüttelte den Kopf. "Das hättest du sagen müssen", seufzte
sie. "Die sind jetzt gewarnt. Wir müssen vorsichtig sein."
Leise stiegen Rally und May die Treppen hinunter. Sie kamen ohne
Schwierigkeiten bis in den zweiten Stock. Im ersten Stock
allerdings, soviel war von oben zu sehen, brannte das Licht.
Rally ging daher besonders vorsichtig nach unten. Als sie halb
unten war, konnte sie einen Blick in den ersten Stock erhaschen.
Ihre Vorsicht war nicht umsonst gewesen: Ein ziemlich massiger
Typ, Marke Schwarzenegger, sass auf einem Stuhl vor der Treppe,
und 'las' eines jener Blätter, die im Kiosk meist ganz oben auf
den Regalen zu finden waren, damit die Kinder sie nicht so
einfach erreichten. Es war natürlich Tom, der Sicherheitschef.
Aber das wusste Rally nicht. Sie wusste nur eines: Irgendwie
mussten Sie an dem Kerl vorbeikommen. Es gab zwei Möglichkeiten:
Erstens, sie gingen hier nach unten. Diese Möglichkeit gefiel
Rally nicht. Nicht so sehr, weil sie dazu Tom überwinden mussten,
sondern vielmehr, weil sie so wahrscheinlich Aufsehen erregen
würden. Und genau das wollte Rally um jeden Preis vermeiden. Die
andere Möglichkeit war, sich einen anderen Abgang zu suchen.
"May", fragte Rally leise, "gibt es noch einen anderen Weg nach
unten?"
May machte ein etwas enttäuschtes Gesicht. Offensichtlich hätte
sie lieber etwas Radau gemacht. Aber sie war sich über die
Situation durchaus im Klaren. Sie überlegte: "Wie ich schon
gesagt habe, gibt es noch eine zweite Treppe auf der anderen
Seite des Hauses. Aber soweit ich gesehen habe, ist die
blockiert."
"Blockiert?"
"Ja, mit einer Holzplatte."
"Hmmmm..."
Rally dachte einen Moment nach. Viel Zeit dazu hatte sie
allerdings nicht, denn auf einmal konnte sie von unten Schritte
hören. Vorsichtig schaute sie wieder in den ersten Stock hinab.
Sie konnte erkennen, das zwei Männer gerade auf die Treppe zu
kamen.
"Nanu?", sagte einer der beiden. "Du sitzt immer noch hier?"
Tom sah missmutig zu ihm auf. "Hast du nicht gehört? Wir hatten
heute einen Eindringling! Vielleicht sollte ich deine Sinne mal
auf Trab bringen."
"Wir hatten heute *Morgen* einen Eindringling. Und soviel ich
gehört habe, hast du den armen Hawkins durch das halbe Gebäude
gehetzt, bis du überzeugt warst, dass er weg ist."
"Und wer sagt dir, dass er sich nicht immer noch irgendwo
versteckt?"
Toms Gesprächspartner schüttelte nur den Kopf. "Du bist ja
paranoid", sagte er.
"Mag sein", erwiderte Tom. "Aber bisher hat uns diese Paranoia
immer gut beschützt."
"Bisher... gab es nichts wovor sie uns beschützen müsste."
"Das reicht jetzt aber! Los, ab ins Körbchen, ihr beiden, oder
ich prügle euch dorthin!"
Mit diesen Worten jagte Tom die beiden lachenden Männer die
Treppe hoch. Rally reagierte schnell. Sie rannte die Treppe hoch,
wobei sie May mit sich riss, und stürmte oben in das erstbeste
Zimmer. Erst zog sie May hinein, und dann die Tür zu. Sie
versuchte, ihren Atem zu bändigen, während die Schritte näher
kamen.
"Du Rally", flüsterte May.
"Nicht jetzt", zischte Rally.
"Als ich das erste mal hinaufstieg, da habe ich..."
"Scht!"
"Ich habe eine leere Matratze gesehen."
Rally gab auf. "Und?", seufzte sie.
"Sie ist nicht mehr leer."
Rally sah sich um. Tatsächlich schlief jemand auf der Matratze.
Innerlich fluchend horchte sie an der Tür. Keine Chance. Die
Schritte waren bereits zu nahe. Rally hielt den Atem an, aber die
Männer gingen einfach am Zimmer vorbei. Sie lachten immer noch.
"Ach herrje", sagte einer. Vermutlich derselbe, der unten stumm
geblieben war. "Nächstes Mal nehmen wir besser den anderen Weg."
"Welchen anderen Weg denn? Es gibt keinen anderen Weg."
"Oh, hab ich etwas von einem anderen Weg gesagt?"
Beide lachten wieder. Allmählich verhallten die Schritte im Gang.
Rally und May verliessen das Zimmer. Vorsichtig schlossen sie die
Tür hinter sich. Erst dann wagten sie es, auf zu atmen.
"Das war knapp", sagte May.
"Allerdings", bestätigte Rally. "Aber immerhin wissen wir jetzt
sicher, das es noch einen anderen Weg geben muss."
May zuckte mit den Schultern. "Vielleicht ist die andere Treppe
nur im Erdgeschoss blockiert."
"Schauen wir nach", sagte Rally. Langsam schlichen sie sich durch
den Gang. Immer bereit, in eines der Zimmer zu springen. Aber sie
kamen ohne weitere Zwischenfälle auf die andere Seite. Leider war
die andere Treppe aber auch hier blockiert.
"War wohl nix", meinte May enttäuscht.
Rally sagte nichts. Sie schaute nur angestrengt auf die
Holzplatte. Dann drückte sie leicht. Nichts passierte. Sie
schaute noch einmal genauer hin, und drückte an einer anderen
Stelle. Es knirschte leicht. Rally lächelte triumphierend. Sie
drückte stärker, und plötzlich löste sich ein Teil des Brettes.
Rally fing es auf, bevor es lärmend in das Treppenhaus fallen
konnte.
"Das war es also", sagte sie.
"Ein geheimer Durchgang", meinte May erstaunt. "Vielleicht um
unbemerkt an der Wache vorbei zu kommen?"
"Egal. Jedenfalls kommen wir so viel leichter nach unten. Komm
schnell."
Rally setzte die Platte wieder vorsichtig an ihren Platz, bevor
sie und May nach unten gingen. Es war stockdunkel, aber May hatte
eine kleine Taschenlampe dabei. Tatsächlich waren auch die
anderen Stockwerke blockiert. Durch die Dunkelheit im Treppenhaus
konnte man aber auch erkennen, das alle Platten gleich präpariert
waren, denn von aussen schimmerte Licht durch die Ritzen. Im
Keller war allerdings nichts zu erkennen. Vermutlich war das
Licht im Gang ebenfalls abgeschaltet. Rally liess sich davon
nicht stören. Sie tastete das Brett ab, und stellte fest, das
auch dieses präpariert war. Sie horchte kurz, und als nichts zu
hören war, öffnete sie auf die gleiche Weise wie oben den
Durchgang. Im Gang schauten sie sich kurz um. Er sah aus, wie die
Gänge oben. Ausser, das hier Rohre von der Decke hingen, und das,
wie Rally bereits richtig vermutet hatte, das Licht ausgeschaltet
war.
"So", sagte sie. "Jetzt müssen wir nur noch das Lager finden."
Sie versuchte die Tür gegenüber. May leuchtete mit der
Taschenlampe herum. Der Raum enthielt jede Menge Geräte, wobei
einige offensichtlich abtransportbereit waren. Aber es lagen
keine Drogen herum.
"Das muss das Labor sein", sagte May. "wir könnten die Bombe auch
hier platzieren." Rally schüttelte den Kopf. "Was bringt es, wenn
wir das Labor zerstören? In ein oder zwei Tagen ist die Bande
sowieso aus dem Geschäft."
"Stimmt auch wieder."
May und Rally schauten sich die Räume daneben und gegenüber an,
aber sie waren alle leer.
"Seltsam", sagte May. "Es ist doch nicht üblich, die Drogen weit
vom Labor entfernt zu lagern, oder?"
"Vielleicht wollen sie umziehen", erwiderte Rally. "Umziehen?",
fragte May verdutzt. "Wie kommst du darauf?"
"Vector hat erwähnt, das Stevenson nervös ist. Und ausserdem
waren einige der Geräte im Labor transportfertig. Sie werden die
Drogen wohl irgendwo hin gebracht haben, wo sie schnell wegzuschaffen
sind."
"Meinst du, sie liegen im Erdgeschoss?"
"Kaum. Das Risiko wäre zu gross."
"Also noch im Keller." May überlegte: "Vielleicht bei der anderen
Treppe... Der Notausgang ist gleich darüber... Was meinst du?"
Rally blickte May erstaunt an. "Na klar! Das ist es!", sagte sie.
"Gut gedacht, May."
Zum Glück konnte Rally Mays siegreiches Grinsen in der Dunkelheit
nicht sehen. Sie hätte ihr Lob womöglich bereut.
Zurück auf der anderen Seite sahen sie, das Licht im Treppenhaus
brannte. Misstrauisch und vorsichtig schauten sie nach oben. Aber
es war niemand zu sehen. Also gingen sie zur Tür gegenüber. Rally
horchte kurz daran, dann öffnete sie sie schnell, aber
geräuschlos. Sie sah sich schnell um. Es war niemand da, aber der
Raum war nicht leer. Ganz und gar nicht. Er war Stapelweise mit
kleinen grauen Päckchen gefüllt.
"Ach du...", sagte May etwas zu laut.
Erschrocken schaute sie zur Treppe. Aber sie schien nicht gehört
worden zu sein. Leise kam sie hinter Rally her in den Raum, und
schloss die Tür. Sie leuchtete etwas herum. Schliesslich fand sie
den Lichtschalter. Als sich ihre Augen an die plötzliche
Helligkeit gewöhnt hatten, sah sie, dass sie sich nicht getäuscht
hatte: Der Raum enthielt hunderte von den Päckchen.
"Ach du meine Güte", vervollständigte sie den begonnen Satz,
diesmal leiser. "Wenn das wirklich alles Drogen sind, dann ist
das Zeug hier ein Vermögen wert."
Rally hatten einen entschlossenen Gesichtsausdruck angenommen.
Sie nahm sich eines der Päckchen, und öffnete es. Es enthielt ein
gräuliches Pulver. Rally versuchte davon.
"Und?", fragte May.
"Ich bin kein Experte," sagte Rally, "aber das sind ziemlich
sicher Drogen. Wenn auch grosszügig mit Zucker gestreckt."
"Schlechte Qualität was? Der Markt ist wohl ausgetrocknet."
"Der Markt *ist* ausgetrocknet", bestätigte Rally. "Und er wird
es gleich noch etwas mehr sein. Aber das ist nicht unser
Problem."
Sie schloss das Päckchen wieder, und legte es zurück. Dann drehte
sich zu May um: "Jetzt bist du drann."
"Alles klar", sagte May, und begann sich nach einem geeigneten
Platz für die Bombe umzusehen.
In diesem Moment schnappte das Türschloss zu.
Sein und Schein
"Jetzt hab ich euch, ihr zwei Hübschen!", rief Tom von aussen.
"Unbemerkt an mir vorbei zu kommen, ist keine schlechte Leistung.
Alle Achtung. Aber ich hab eine Videokamera hier unten, tut mir
leid."
Rally knirschte mit den Zähnen. Jetzt sassen sie und May im
Lagerraum fest. Das wäre an sich ja nicht tragisch gewesen, denn
Rally zweifelte keine Sekunde, dass sie hier problemlos
ausbrechen konnten. Viel schlimmer war, dass sie überhaupt
entdeckt worden waren. Dieser Vorfall war vielleicht genug, um
Stevenson zur Evakuierung des Gebäudes zu bewegen. Und wenn das
geschah, wäre alles umsonst gewesen. Irgendwie musste sie ihn
davon überzeugen, dass von ihr keine Gefahr ausging.
Tom meldete sich wieder: "Also Mädels. Ich hatte gerade den Boss
am Draht, und der will euch persönlich sprechen. Fühlt euch
gefälligst geehrt. Oh, und ich habe eine Wache vor dem Raum
plaziert. Seit also so nett, und haut nicht ab."
Rally konnte hören, wie Tom sich lachend entfernte. Sie sah sich
kurz im Raum um, und entdeckte rechts oberhalb der Tür eine
Kleinstkamera. Mit einem gezielten Schuss setzte sie sie ausser
Funktion.
"Äh, Rally?", fragte May.
Rally drehte sich zu ihr um.
"Was soll ich jetzt eigentlich damit machen?"
May hielt die Bombe in Händen.
"Installier sie", entschied Rally.
Stevenson hatte beim Aufbau seines Syndikats ein paar kapitale
Fehler gemacht. Aber der wohl schlimmste war eine völlige
Fehleinschätzung der Gefahrenquellen. Er fürchtete die Polizei,
und er misstraute seinen Angestellten. Aber er dachte kaum an die
Gefahr, die von den anderen Syndikaten ausging. Im Gegenteil: Er
sah sich bereits als Handelspartner. Er ahnte nicht, dass die
anderen Syndikate lediglich daran interessiert waren, ihn
möglichst schnell aus dem Weg zu räumen. Oder dass sie Vector auf
ihn angesetzt hatten. Oder dass dieser sein Labor überwachen
liess. Genau so aber war es. Daher war Vector über die Situation
an diesem Abend recht gut im Bilde. Als er erfuhr, dass Stevenson
frühzeitig zurückkehrte, wusste er, dass die Dinge anders liefen,
als geplant. Er rief John, seinen Assistenten, zu sich:
"Es scheint, als wäre irgend etwas schief gelaufen. Wir gehen zu
Plan B über. Wie lange brauchen wir für die Vorbereitungen?"
"Der Computerspezialist meinte, er brauche etwa eine
Viertelstunde, um die Daten einzugeben", antwortete John. "Von da
an können wir die Aktion jederzeit starten."
"Gut. Sag ihm, er soll sofort damit anfangen. Und ich brauche
meinen Wagen."
"Sir?"
"Wir ziehen dass noch heute Nacht durch."
"Alles klar."
May hatte neben den Stapeln eine Stelle gefunden, wo die Bombe
nicht ohne weiteres sichtbar war. Dort hatte sie die Bombe mit
einem Packetklebeband befestigt. Sie drückte den Knopf, und, wie
versprochen, leuchtete die LED kurz auf. May ging wieder zu Rally
hinüber.
"So, das wärs", sagte sie. "Die geht jetzt auf jeden Fall hoch."
"Fang!", rief Rally.
Sie warf May zwei Päckchen mit Kerosin zu.
"Wir überzeugen Stevenson davon, dass wir lediglich ein paar von
den Päckchen klauen wollen", erklärte sie.
May war das nicht ganz geheuer. "Ist das nicht etwas riskant?",
fragte sie.
"Hast du eine bessere Idee?"
"Wie wärs mit abhauen?"
"Wenn wir das machen, dann macht sich Stevenson mit Sicherheit
aus dem Staub. Er darf den wahren Grund unserer Aktion nicht
mitbekommen."
"Schon klar."
Mays Unbehaglichkeit wurde langsam augenfällig. Rally konnte ihre
Neugier nicht länger zügeln:
"Sag mal, warum bist du so nervös? Wir waren schon in
gefährlicheren Situationen."
May seufzte. "Es ist wegen der Bombe", sagte sie schliesslich.
"Wegen der Bombe? Seit wann hast du Angst vor Bomben?"
"Darum geht es nicht. Weisst du, wie Aerosol wirkt?"
Rally schüttelte den Kopf.
"Nun, Aerosol sind feinste Tropfen einer Flüssigkeit. So fein,
dass sie in der Luft schweben. Für Bomben nimmt man etwas
Brennbares. Wenn das ganze entzündet wird... Bumm!"
May sagte nichts weiter. "Und?", fragte Rally nach einer Weile.
"Bei einigen tausend Grad Celsius", ergänzte May. "Wenn wir noch
im Raum sind, wenn die hochgeht, kann man uns bestenfalls noch
aufgrund der Zahnabdrücke identifizieren. Mal ganz abgesehen
davon ist der Explosionsdruck gewaltig. Falls Ken die Dosis
falsch berechnet hat, könnte das ganze Gebäude einstürzen."
Rallys Augen weiteten sich. Bisher hatte sie nicht gewusst, was
für ein Monster von Bombe Ken da gebaut hatte. Jetzt wusste sie
es, war sich aber nicht sicher, ob sie über dieses Wissen
glücklich war.
Stevenson erreichte das Labor. Er stieg aus seinem weissen
Mercedes, und gab dem Fahrer ein Zeichen. Dieser fuhr daraufhin
den Wagen in die nächste Garage. Der Mercedes war in dieser
Gegend fiel zu auffällig. Normalerweise wäre Stevenson in der
Garage ausgestiegen, und zum Labor gelaufen. Aber jetzt hatte er
es eilig. Er ging zum Eingang. Neben der Wache wartete Robert auf
ihn. Stevenson war nicht sonderlich überrascht. Der arme Robert
hatte schlicht kein Durchsetzungsvermögen. Darum erwischte er
immer die schlechten Jobs.
"Guten Abend, Sir", sagte Robert.
"Nett gemeint, Robert, aber der Abend ist auf jeden Fall im
Eimer", brummte Stevenson.
Er und Robert gingen zum Büro hoch.
Die Tür des Lagerraums öffnete sich. Tom stand im Eingang. In
seiner rechten Hand hielt er eine Uzi im lockeren Anschlag, als
wollte er damit sagen: "Ich bin kräftig genug, eine automatische
Waffe aus der Hüfte zu feuern." Rally erkannte aber auf den
ersten Blick, das selbst jemand, der so kräftig gebaut war wie
Tom, so unmöglich auch nur einigermassen präzise schiessen
konnte. Die meisten Schüsse wären vermutlich in der Decke
gelandet. Rally konnte der Versuchung, einfach abzuhauen, nur mit
Mühe widerstehen.
"Also schön!",rief Tom. "Der Boss ist jetzt da, und will euch
sehen. Aber vorher soll ich noch eure Waffen einsammeln. Also
los."
Ein weiterer von Stevensons Männern betrat den Raum. Er hielt
eine Kartonschachtel in Händen, welche er neben Tom auf den Boden
stellte. Dann ging er auf Rally zu, und streckte die Hand aus.
Diesmal juckte es Rally wirklich, denn nun stand er genau
zwischen ihr und Tom. Aber sie liess sich nichts anmerken, und
gab ihm die Pistole. Er warf sie achtlos in die Schachtel.
"Hände hoch", sagte er.
Rally tat, wie ihr geheissen. Der Mann ging um sie herum, und
griff ihr von hinten an die Brust.
"Was soll das!?", schrie Rally ihn an.
"Na, ich taste sie nach versteckten Waffen ab", war die Antwort.
"Ach was?", fragte Rally sarkastisch.
Tom kicherte: "Schon gut, mach weiter. Der Boss wartet."
"Okay", sagte der Mann grinsend, und tastete Rally nach unten ab.
Er fand die Kerosinpäckchen und die Ersatzmagazine. Beides warf
er zur Pistole in die Schachtel. Dann wiederholte er dieselbe
Prozedur bei May. Er fand auch ihre Kerosinpäckchen, drei
Granaten, das Klebeband, und das Werkzeug. Den Auslöser für die
Bombe fand er nicht.
"Also Robert, mal ganz von Anfang an."
Stevenson hatte sich in seinen Bürosessel gesetzt. Robert stand
ihm gegenüber.
"Zunächst einmal würde mich interessieren, wie die überhaupt rein
gekommen sind."
Robert nickte. "Das wissen wir nicht mit Sicherheit. Heute
Vormittag, kurz nachdem Sie das Haus verlassen hatten, ist zwar
jemand im vierten Stock durch den Notausgang eingedrungen, und
hat die Alarmanlage im Zimmer daneben überbrückt. Aber die
Überbrückung wurde entdeckt und entfernt. Ausserdem: Selbst wenn
sie dort eingedrungen sein sollten, stellt sich die Frage, wie
sie ungesehen in den Keller kamen. Wegen der Sache am Vormittag
hielt Tom nämlich bei der Treppe im ersten Stock Wache."
"Dann sind sie im Erdgeschoss eingestiegen?"
Robert zuckte mit den Schultern. "Keine Ahnung. Sie haben keine
der Alarmanlagen ausgelöst. Ausser dem Haupteingang ist alles
gesichert. Und ich bezweifle doch sehr, dass sie dort durch sind.
Überhaupt haben wir sie erst entdeckt, als sie in den Lagerraum
gingen. Dort haben sie die Kamera übersehen. Trotzdem recht
professionell, das ganze."
Stevenson nahm es mit Unbehagen zur Kentniss. "Das gefällt mir
überhaupt nicht", sagte er.
Es klopfte.
"Herein!", rief Stevenson.
Rally öffnete die Tür, und betrat den Raum. Danach kamen May und
Tom. Tom hatte seine Uzi auf die beiden gerichtet. Als Stevenson
May sah, klappte sein Kiefer nach unten. Auch Robert konnte seine
Überraschung nicht verbergen.
"Ja, das darf doch nicht...!", rief Stevenson.
"Hi", sagte May verlegen.
Tom war sichtlich verdutzt. Rally sah May mit ihrem "Was
verbirgst du wieder vor mir"-Blick an.
"Äh, können wir später darüber reden?", meinte May.
Tom räusperte sich: "Ahem. Das hier hatten die beiden bei sich."
Er hielt die Schachtel, mit Rally und Mays Sachen hoch. Stevenson
schaute zu Robert. Der holte die Schachtel, und gab sie
Stevenson. Der legte die Sachen auf dem Pult aus. Er kratzte sich
am Kopf.
"Nettes Arsenal habt ihr dabei", meinte er. "Wem von euch gehören
die Granaten?"
Rally machte eine Kopfbewegung zu May, worauf diese noch etwas
verlegener wurde.
"Hätt ich mir ja denken können", seufzte Stevenson.
Er räumte alles, ausser den Kerosinpäckchen, wieder in die
Schachtel, und stellte sie auf seiner Seite des Pults auf den
Boden.
"Hinsetzen!", befahl er.
Rally und May gingen auf den einzigen Stuhl zu, der auf ihrer
Seite des Pults stand. Stevenson warf Robert einen Seitenblick
zu, worauf dieser aus einer Ecke einen zweiten Stuhl holte, und
vor das Pult stellte. Rally und May setzten sich.
"Gut", sagte Stevenson. "Das wär dann alles, Tom."
"Sie finden mich im Überwachungsraum", erwiderte dieser, und
ging.
Robert zog seine Pistole, und verschränkte seine Arme. Stevenson
wunderte sich.
"Nur zur Sicherheit", erklärte Robert ungefragt. Und zu den
Mädchen: "Ich trau euch nämlich nicht."
Stevenson zuckte mit den Schultern. Dann wandte er sich wieder
den Mädchen zu:
"Na schön. Ich nehme an, ihr wisst was sich in diesen Päckchen
befindet?"
Rally wollte antworten, aber May war schneller:
"Kerosin. Synthetische Droge. Wirkung ähnlich der von LSD. Hohes
Suchtpotential."
"Schön. Ich sehe, ihr habt eure Hausaufgaben gemacht. Ihr wolltet
wohl eure Kasse etwas aufbessern, was? Sind euch meine Preise
nicht tief genug?"
"Eigentlich hoffte ich, hier Stoff von besserer Qualität zu
finden", meinte Rally.
"Ach, reines Zeugs wollt ihr", sagte Stevenson. "Tja, Pech
gehabt. Mein Labor ist derzeit geschlossen. Nur meine
Lagerbestände sind noch da. Und die sind bereit für den Verkauf."
"Bereit für den Verkauf. So nennt ihr das. Nicht genug, dass ihr
dieses Gift in Umlauf bringt, ihr betrügt auch noch eure Kunden."
"Bitte?"
"Glaubt ihr etwa, ich habe es nicht probiert? Da drinn ist mehr
Zucker als sonst was."
Eine unangenehme Stille folgte, während der sich Rally und
Stevenson gegenseitig anfunkelten. Schliesslich ergriff Stevenson
wieder das Wort:
"Nun, immerhin wird es ja gekauft."
"Klar", konterte Rally. "Weil ihr es billig verscherbelt."
"Man kriegt, wofür man bezahlt."
Rally schüttelte den Kopf. "Ich gebs auf", seufzte sie.
"Schön", meinte Stevenson, und lehnte sich zurück. "Nachdem das
geregelt wäre, können wir ja zur Fragestunde übergehen. Also.
Frage 1: Wie habt ihr dieses Haus gefunden."
"Wir haben die Verkaufskette zurückverfolgt. Es war nicht all zu
schwer."
"Ihr habt keinen Tipp erhalten?"
"Nein."
Stevenson beäugte Rally misstrauisch. Doch Rally war bereits
öfters in derartigen Verhören. Sie hatte gelernt, zu bluffen.
"Verstehe", meinte Stevenson schliesslich. "Na schön. Frage 2:
Wie seit ihr hier rein gekommen?"
"Durchs Fenster neben dem Notausgang im vierten Stock", sagte
Rally.
"Ich hab die Alarmanlage überbrückt", ergänzte May.
"Ich dachte, die Überbrückung sei aufgehoben worden?", fragte
Stevenson Robert.
"So hat Tom es mir berichtet, Sir", verteidigte sich dieser.
"Das ist schon richtig", wandte May ein. "Nur leider war ich da noch
im Haus."
Stevenson schaute sie etwas scheel an.
"Also ich muss schon sagen... Ach egal. Frage 3: Mir ist noch
nicht ganz klar, was ihr mit den Drogen wolltet. Also?"
"Es schien einfach ein lukratives Geschäft zu sein. Der Markt ist
ausgetrocknet. Hochwertiges Material müsste sich da zu
Höchstpreisen verkaufen lassen", sagte Rally.
"Und da fiel euch nichts besseres ein, als bei mir einzubrechen?"
"Warum auch nicht? Es schien uns der einfachste Weg."
"Wieso versucht ihr es nicht mit dealen?"
"Damit lässt sich doch kein Geld mehr verdienen, seit die Preise
wieder runter sind."
"Es lässt sich immer noch recht gut davon leben. Und es wäre
wenigstens halbwegs anständig."
"Moment mal, wir reden hier von Drogen, nicht? Und dazu noch von
recht gefährlichem Zeugs. Ich sehe keinen grossen Unterschied, ob
ich das Zeugs jetzt 'ehrlich' erworben, oder geklaut habe."
"Nette Einstellung."
"Gleichfalls."
Stevenson und Rally funkelten sich eine Weile lang böse an. May
fragte sich bereits, ob Rally nicht vielleicht etwas zu weit
gegangen sei. Aber Stevenson beruhigte sich wieder.
"Also schön, ihr zwei", meinte er leicht verärgert. "Wenn ihr
hier heil raus wollt, solltet ihr besser mit uns kooperieren."
"Kooperieren?", fragte Rally. "Inwiefern?"
"Nuuun. Zum Beispiel hätte Ich durchaus noch Bedarf für
Zwischenhändler."
"Sir!", wandte Robert ein.
"Unter Überwachung natürlich", beruhigte ihn Stevenson.
"Das meinen Sie doch nicht im Ernst?", fragte Rally.
"Warum nicht?", fragte May.
"Was!?"
"Überleg doch mal", flüsterte May. "Es wär nur für ein paar Tage.
Wir brauchen das Zeugs ja nicht zu verkaufen."
"Und was, wenn die Polizei es bei uns findet?", flüsterte Rally
zurück.
"Dann tarnen wir es als Granaten."
"Sehr witzig."
May spielte damit auf das nicht gerade kleine und keineswegs
legale Lager an Granaten in Rallys Laden an. Sie waren deswegen
bereits einmal in Schwierigkeiten geraten.
"Was ist jetzt?", fragte Stevenson ungeduldig.
Rally überlegte einen Moment. Es war riskant. Aber andererseits
galt das für das ganze Unternehmen.
"Meinetwegen", meinte Sie schliesslich. "Wenn es keinen anderen
Weg gibt..."
"Einen anderen Weg?", fragte Stevenson. "Hmmm... nun ja...
vielleicht..."
Rally gefiel das Grinsen, das sich auf Stevensons Gesicht
bildete, nicht. Es ging einen Augenblick, bis sie realisierte,
dass Stevenson die ganze Zeit auf ihre Brust starrte. Rally
konnte den Blutdruck förmlich ansteigen fühlen. Zwei solche Typen
an einem Abend waren ein bisschen viel.
"Ist... das... ein... Scherz...?", fragte sie, sichtlich um ihre
Beherrschung ringend.
"Ach wirklich?", fragte May zuckersüss.
Stevenson war baff. Während Rally jetzt den Eindruck eines
Vulkans kurz vor der Explosion machte, war bei May nichts mehr
von ihrer vorherigen Kindlichkeit oder Unschuld sichtbar. Rally
beruhigte sich wieder. Sie schaute May aber verächtlich an.
Natürlich wusste sie, das May damals in Chinatown nicht nur
Frühlingsrollen verkauft hatte. Aber solche 'Manöver' gehörten
ihrer Meinung nach bestenfalls zum Notrepertoire einer
Prämienjägerin. May war da freilich ganz anderer Ansicht.
May öffnete die Träger ihrer Latzhose, so dass das Vorderteil
herunter klappte. Den Gürtel liess sie noch geschlossen. Dann
lehnte sie sich langsam über das Pult, bis ihr Gesicht ganz nahe
an dem Stevensons war.
"Also", sagte sie, "entweder wir arbeiten künftig als Dealer für
dich, oder", sie stand etwas auf, so dass der Ausschnitt ihres
T-Shirts in Stevensons Blickfeld kam, "wir... leisten eine kleine
Kompensation für den verursachten Ärger".
Der Ausschnitt war recht gross, und erlaubte Stevenson einen
guten Einblick.
"Donnerwetter. Für ein Kind ist die aber gut gebaut", dachte er
sich.
Robert erkannte an Stevensons Blick, dass er gerade etwas
verpasste. Er versuchte, ebenfalls einen Blick auf das, was
Stevenson gerade so intensiv betrachtete, zu erhaschen. Aber von
seinem Standpunkt aus war das schlicht unmöglich.
"Ja", sagte Stevenson schliesslich, "darüber liesse sich
diskutieren."
"Darf ich noch eine dritte Möglichkeit vorschlagen?", fragte May.
"Was für eine denn?", fragte Stevenson zurück.
"Nun", sagte May, und schmiegte ihren Kopf an Stevensons, "wir
hauen einfach ab."
Dann ging alles blitzschnell: May griff sich eines der
Kerosinpäckchen, das noch immer auf dem Tisch lag, und zerriss es
mit einer schnellen Bewegung. Eine Granate rollte auf den Tisch.
Noch bevor Stevenson die neue Situation begriffen hatte,
explodierte sie. Es war eine Blendgranate. May hatte die Augen
natürlich sofort geschlossen. Auch Rally hatte rechtzeitig den
Typ erkannt. Stevenson hingegen schaute direkt in die Flamme, und
war komplett geblendet. Robert hatte sich immerhin instinktiv den
Arm vor die Augen gehalten, konnte für ein paar Sekunden aber
auch nichts sehen. Als sein Augenlicht zurückkehrte hatte Rally
von irgend wo her eine Kleinkaliberpistole in ihre Hand
gezaubert, und zielte damit auf ihn.
"Was?", fragte er. "Woher..."
"Die Pistole?", fragte Rally. "Die hatte ich im Ärmel. Nächstes
mal solltet ihr mich besser durchsuchen".
Robert starrte sie fassungslos an, was Rally sichtlich genoss.
Aber er überlegte nicht lange. Er liess seine Waffe fallen, und
rannte zur Tür hinaus. Rally liess ihn machen. Sie wollte nach
wie vor den Anschein von Professionalität vermeiden.
Tom war die Explosion natürlich nicht entgangen. Im ersten
Augenblick war er zu erschrocken, um zu reagieren. Dann sah er,
wie ein Alarm ausgelöst wurde. Die Türe des Notausgangs neben
Stevensons Büro war geöffnet worden. Tom schaute nach aussen, und
sah, wie Robert die Feuertreppe hinuntersprang, und auf die
nächste Seitengasse zu rannte.
"So leicht kommst du mir nicht davon", schrie Tom, obwohl er
wusste, das Robert in unmöglich hören konnte.
Er schnappte sich die auf dem Tisch liegende Pistole, riss das
Fenster auf, und schoss. Zu Roberts Glück hatte Tom nicht die
Uzi, sondern nur seine Magnum erwischt. Aber auch so musste
Robert die leidvolle Erfahrung machen, das eine grosskalibrige
Kugel im Bein meist eine sehr effektive Methode ist, jemanden am
wegrennen zu hindern.
Vector war mittlerweile am Ort des Geschehens eingetroffen. Er
wartete etwas abseits in seinem Wagen. Einer seiner Männer
meldete sich über Funk:
"Gerade ist im Gebäude eine Blendgranate losgegangen. Kurz darauf
hat eine Person, vermutlich einer von Stevensons Männern,
versucht, zu fliehen. Aber jemand aus dem Gebäude hat ihm eine
Kugel ins Bein verpasst."
"Verstanden", sagte Vector.
"Sir, was sollen wir mit dem Angeschossenen machen?"
"Lasst ihn laufen. Es ist besser für uns, wenn er davonkommt."
"Wie sie wünschen."
Vector schaltete das Funkgerät ab. "Was zum Teufel geht da
drinnen vor sich?", fragte er sich.
"Ich seh ihn", sagte May, die aus dem Fenster schaute. "Er
scheint ne Kugel abgekriegt zu haben."
"Du gehst ja nett mit deinen Mitarbeitern um", sagte Rally zu
Stevenson. Sie hatte sich mittlerweile ihre Waffen und
Ersatzmagazine zurückgeholt, und zielte nun mit der CZ-75 auf
seinen Kopf. Da meldete sich Tom über das Intercom:
"Chef? Was ist passiert? Sind Sie in Ordnung?"
"Natürlich, du Idiot!", schrie Stevenson. "Mal abgesehen davon,
dass ich halb geblendet bin, und jemand mit einer 9mm auf mich
zielt, ist es mir noch nie besser gegangen! Hättet ihr die beiden
nicht besser durchsuchen können?!"
"Weg da", befahl Rally knapp.
Sie winkte mit der Waffe zur rechten, hinteren Ecke des Zimmers.
Stevenson stand auf, und ging nach hinten. Rally ging ans
Intercom, wobei sie Stevenson nicht aus den Augen liess. Sie
drückte die Sprechtaste, und fragte:
"Mr. Bodybuilder, nehme ich an?"
"Ich heisse Tom!", kam die Antwort.
"Also Tom. Deinem Boss gehts gut. In ein paar Stunden wird er
wieder sein volles Sehvermögen zurück haben. Wenn ihr
ernsthaftere Verletzungen verhindern wollt, solltet ihr besser
machen, was ich euch sage."
"Und das wäre?"
"Ich will freien Rückzug über die Feuertreppe."
Es vergingen einige Sekunden der Stille. "Mach einfach, was sie
sagen, verdammt!", rief Stevenson schliesslich. "Um das bisschen
Kerosin ists jetzt auch nicht schade."
Tom gab nach: "Also schön. Gebt mir ein paar Minuten, um die
Scharfschützen zu verständigen."
"In Ordnung", meinte Rally.
Tom ärgerte sich. Hatte er die beiden doch tatsächlich
unterschätzt. Aber so einfach würde er nicht aufgeben. Er bot die
Scharfschützen auf, die innert einiger Minuten verfügbar waren,
und plazierte sie in seinem Büro, sowie den angrenzenden Zimmern.
Sie sollten versuchen, Rally und May auszuschalten, ohne den Boss
zu gefährden. Zur Sicherheit plazierte er auch noch ein paar
Leute im Gang des ersten Stocks. Er war sich sicher, die Mädchen
zu schnappen. Auch wenn sie gut darin waren, Waffen zu
verstecken: Profis waren sie nicht. Dachte er.
May hatte mittlerweile Stevenson mittels Klebeband an dessen
Stuhl gefesselt. Dabei hatte sie besonders darauf geachtet, dass
es nicht so einfach sein würde, ihn wieder zu befreien. Rally
hatte ihre Waffe und die Munition geprüft. Bisher hatte sie nur
einen einzigen Schuss abgefeuert. Das sollte genug Reserve
lassen, um hier auszubrechen.
"So. Schätze wir haben alles", sagte sie.
Ihr Blick wanderte über den Tisch.
"Ah, Moment. Das hatte ich ja fast vergessen."
Sie nahm die drei verbliebenen Kerosinpäckchen, und verstaute sie
in Innentaschen ihrer Jacke.
"Pah. Alles in allem seit ihr doch nur Diebe", brummte Stevenson.
"Glauben Sie etwa, es hat Spass gemacht hier einzubrechen?",
verteidigte sich Rally. "Ausserdem ist das Zeug hier sowieso
nicht viel Wert."
"Soll das vielleicht eine Rechtfertigung sein?"
"Entschuldige", sagte May betont freundlich, "aber könntest du
mal deinen Mund halten?"
"Und wieso?", fragte Stevenson missmutig.
May riss ein Stück vom Klebeband von der Rolle.
"Weil ich dir sonst den Mund nicht richtig zukleben kann. Und
wenn ich den Knebel wieder abreissen muss, tuts weh."
Stevenson murmelte etwas unverständliches, und ergab sich in sein
Schicksal. Der Lautsprecher der Gegensprechanlage knackste.
"Hallo?", fragte Tom.
Rally ging zum Gerät hinüber.
"Wir hören", sagte sie. "Ist der Ausgang frei?"
"Erst will ich wissen, wies dem Boss geht."
"Keine Sorge. Er hat keinen Kratzer. Wir haben ihn an den Stuhl
gefesselt."
"Also gut. Ihr könnt jetzt raus. Nehmt das Fenster."
"Danke!"
Rally schaltete das Gerät ab.
"Willst du wirklich die Feuertreppe runter?", fragte May.
"Schliesslich weiss er, dass du dort raus willst. Der hat doch
noch mehr Leute aufgestellt."
"Natürlich hat er das. Darum nehmen wir ja auch den
Haupteingang."
"Den was!?"
"Komm her."
Rally ging zur Bürotür. Sie horchte. Ein leises Gemurmel war zu
hören.
"Okay", sagte sie leise. "Ich hoffte eigentlich, dass er alle
Leute zur Bewachung der Feuertreppe einsetzt. Aber da scheinen
noch ein paar auf dem Gang zu sein. Bist du bereit?"
"Musst du fragen?", sagte May, und machte eine Granate bereit.
May drückte sich rechts neben der Tür gegen die Wand. Rally trat
die Tür auf. Auf dem Gang standen drei reichlich überraschte
Männer. Jeder mit einer Pistole in der Hand. Rally schoss dem in
der Mitte in die Schulter. Die anderen beiden reagierten schnell.
Sie zogen sich nach rechts zurück, wobei sie ein paar Schüsse in
Rallys Richtung abgaben. Die hatte sich aber bereits links neben
der Tür gegen die Wand gedrückt. Der einzige, der ernsthaft durch
die Schüsse gefährdet wurde, war Stevenson, welcher sich eine
mentale Notiz auf der Liste "zu entlassen" machte. Als die
Schiesserei aufhörte, wagte Rally einen kurzen Blick. Sie konnte
erkennen, das die Männer ins Treppenhaus flohen.
"Das Treppenhaus", flüsterte sie.
May nickte. Rally zählte mit den Fingern: Drei... zwei... eins...
Dann sprang sie nach draussen, und feuerte wild zum Treppenhaus
hinüber. May nutzte die so gewonnene Feuerdeckung, um die Granate
zu entsichern, und zu werfen. Sie rollte genau ins Ziel. Sofort
hörte Rally auf zu schiessen, und rannte nach links den Gang
hinunter. May folgte ihr. Etwa auf halbem Weg zur Biegung konnten
Sie die Explosion hören. Daraufhin folgten rasche Schritte.
Mindestens einer der Männer war offensichtlich rechtzeitig
irgendwo in Deckung gegangen. "Halt!", konnte Rally jemanden
rufen hören. Aber sie hatte die Biegung fast erreicht, und dachte
nicht daran, anzuhalten. Ein Schuss fiel. Die Kugel traf Rallys
Rücken wie ein Hammerschlag. Sie stolperte, und wäre beinahe
hingefallen. Doch dann erreichte sie die Biegung, und rannte um
die Ecke. May folgte ihr gleich darauf.
"Die Kugel?", fragte Rally, während sie das fast leere Magazin
aus der Pistole zog, und es in einer Jackentasche verstaute.
"Ist in der Weste hängengeblieben", beruhigte sie May.
Rally atmete auf, und setzte ein frisches Magazin ein. Dem Schlag
nach zu urteilen war das ein ziemlich grosses Kaliber. Gut
möglich, das ein einzelner Schuss durch die Weste käme.
Vorsichtig schaute sie für einen kurzen Augenblick um die Ecke.
Zu ihrem Ärger sah sie, das beide Männer es geschafft hatten, der
Explosion zu entkommen. Einer kam langsam auf sie zu. Der andere
lief von Rally weg den Gang hinunter.
"Schnell!", rief Rally May zu.
Dann rannte sie weiter den Gang entlang zur anderen Seite des
Gebäudes. Ihr Ziel war das blockierte Treppenhaus, welches sie
und May bereits vorhin benutzt hatten. Es würde eine gute Deckung
bieten. Doch kurz bevor sie es erreichte, sah sie ihren Gegner um
die Ecke biegen. Beide bremsten scharf, und feuerten aufeinander.
Rally war einen Sekundenbruchteil schneller. Ihre Kugel traf den
Lauf seiner Waffe, und lenkte seinen Schuss nach rechts ab. Seine
Kugel flog an Rally vorbei, verfehlte May um ein Haar, und schlug
schliesslich harmlos in der Wand ein. Rally setzte sofort zwei
weitere Schüsse nach, diesmal in den Oberarm und den Oberschenkel
des Mannes. Der fluchte, und liess seine Waffe fallen. Rally trat
die Holzplatte ein, die die Treppe verstellte. Um
Geräuschentwicklung brauchte sie sich diesmal schliesslich keine
Sorgen zu machen. Sie griff May, die mittlerweile aufgeschlossen
hatte, am Arm, und zog sie ins Treppenhaus. Dann nahm sie die
Pistole in Anschlag, und zielte dem Gang entlang zurück zur Ecke,
um die sie gerade gekommen waren. Kurz darauf erschien der
Schütze, der in ihre Richtung gegangen war. Auch er erhielt je
eine Kugel in Oberarm und Oberschenkel.
Der Mann, der im Haupteingang stand, war cool. Völlig cool. Er
war so cool, dass er sogar nachts eine Sonnenbrille trug. Seine
Remington PumpAction, und der beeindruckende Patronengürtel,
würden jeden Menschen mit Verstand davon abhalten, all zu nah an
das Haus heran zu kommen. Aber im Augenblick hatte er eine andere
Aufgabe. Er musste zwei Frauen daran hindern, das Haus zu
verlassen, sollten sie es durch den Haupteingang versuchen. Die
Schiesserei im ersten Stock, die er hören konnte, verriet ihm,
das sie es wahrscheinlich versuchen würden. Aber das war kein
Problem. Schliesslich war er ja cool. Und er hatte sein
Schrotgewehr durchgeladen und im Anschlag. Und bei der
Streuwirkung seiner Munition würde es auch nichts ausmachen, das
obgenanntes Gewehr gewaltig zitterte.
Als er die Schritte auf der Treppe hörte, wusste er, das seine
Stunde gekommen war. Er tastete nach dem Abzug. Die Schritte
verklangen genau hinter der Holzplatte, welche das Treppenhaus
verstellte. Es folgte ein nervenzermürbender Moment der Stille.
Dann flog ihm die Platte entgegen. Er drückte ab. Die Salve traf
die sich noch in der Luft befindliche Platte, und schleuderte sie
zurück. Die Wache führte eine Ladebewegung durch, und feuerte
nochmals. Und nochmals, und nochmals. So wie er es unzählige Male
im Schiessstand geübt hatte. Er feuerte weiter, bis ihm ein
leises Klicken sagte, das sein Magazin leer war. Er atmete tief
durch. Niemand konnte das überlebt haben. Noch nicht einmal mit
einer kugelsicheren Weste. Irgend etwas berührte seinen Fuss. Er
sah nach unten. Es war eine Granate.
Zu seinem Glück war es lediglich eine Rauchgranate, die May da
gerade geworfen hatte. Rally hatte damit gerechnet, das in der
Tür ein schiesswütiger Kerl stand. Darum war sie sofort wieder in
Deckung gegangen, nachdem sie die Platte eingetreten hatte. May
hatte daraufhin den Rest besorgt. Als sich der kleine
Eingangsraum mit rosa Rauch füllte (Mays Markenzeichen), und die
Wache damit ihrer Sicht beraubte, stürmten die beiden nach
draussen. Jetzt mussten sie nur noch einen Block lang geradeaus
laufen, und dann nach links abbiegen, dann wären sie bei Mays
Wagen. Doch so weit kamen sie nicht. Sie hatten sich erst wenige
Meter vom Haus entfernt, als jemand "Halt!" rief. Rally blieb
augenblicklich stehen. Sie sah nach hinten, und erblickte Tom.
Langsam drehte sie sich um. Tom hatte sich neben den Eingang
gestellt. Er hielt seine Uzi auf die übliche Art und Weise. Rally
würde keine Mühe mit ihm haben.
"Wirklich gut, Mädels", sagte Tom. "Soviel Chuzpe hätte ich euch
nicht zugetraut. Einfach durch den Haupteingang abzuhauen. Dumm
nur, dass ich daran gedacht habe. Dumm auch", fügte er grinsend
hinzu, "dass ihr den Boss oben gelassen habt."
"Geiselnahme ist nicht unser Stil", erwiderte Rally
unbeeindruckt.
"Euer Pech. Jetzt wirf mir die Waffe rüber."
Rally sah ihn einen Augenblick lang mit gespielter Verärgerung
an. Dann warf sie ihm wortlos ihre CZ zu. Als Tom sie auffing,
nutzte sie die Gelegenheit, und rannte auf ihn zu. Tom liess
Rallys Pistole fallen, und nahm die Uzi in einen korrekten
Anschlag. Ein scharfer Knall erklang. Die Uzi wurde aus den
Händen des verdutzten Tom gerissen. Geistesgegenwärtig wollte er
noch eine andere Waffe ziehen. Doch da war Rally bereits bei ihm,
und versetzte ihm einen genau gezielten Schlag in den
Solarplexus. Stöhnend brach er zusammen.
"Bist du in Ordnung?!", rief May.
"Alles klar", sagte Rally, obwohl ihre Hand höllisch schmerzte.
Vermutlich war sie angestaucht.
Rally hob die CZ auf, und schaute zu Toms Uzi hinüber. Jemand
hatte den Verschluss durchschossen, und die Waffe so unbrauchbar
gemacht. Als sich Rally umsah, konnte sie auch die Hülse
entdecken. Der Schütze musste in der Nähe sein. Und ein Gewehr
benutzen, das die Hülsen noch vorne auswarf. Kurzentschlossen hob
sie auch die Hülse auf, und verstaute sie in einer Tasche. Dann
rannten Sie und May weiter die Strasse runter.
"Sie kommen", meldete sich Vectors Funkgerät.
"Verstanden. Danke", meldete dieser zurück.
Als Rally und May um die Ecke bogen, war dort keine Spur von Mays
Wagen. Statt dessen stand dort eine schwarze Limousine. Neben der
Limousine stand ein Mann in einem Geschäftsanzug, der mit einem
Revolver auf sie zielte. Neben dem Mann stand Vector. Und der sah
nicht besonders zufrieden aus.
"Scheisse!", rief Rally, denn das war genau das, worin sie jetzt
steckte.
"Nicht so vulgär, wenn ich bitten darf", meinte Vector. "Und
stecken sie bitte ihre Waffe weg. Das wäre der Atmosphäre mit
Sicherheit förderlich. Und sie, Miss Hopkins, lassen ihre
Granaten, wo sie sind."
Rally seufzte, und steckte die CZ zurück ins Halfter.
"Schön, das sie so einsichtig sind", sagte Vector.
Er ging hinter dem Mann mit der Waffe hindurch, und öffnete die
hintere, rechte Tür des Wagens.
"Nehmen Sie bitte auf der linken Seite Platz."
Rally ging zum Wagen. Die Tür führte zu einem separierten Abteil
mit einer Sitzbank hinten, und zwei Stühlen vorne. Die Stühle
waren so eingebaut, dass sie nach hinten zeigten. Auf diese Weise
konnten während der Fahrt kleine Konferenzen gehalten werden.
Rally setzte sich auf die Sitzbank, gefolgt von May, welche sich
neben sie setzte. Dann folgte der Schütze, und setzte sich auf
den Stuhl gegenüber von Rally. Jetzt konnte Rally noch einen
weiteren Vorteil dieser Konstruktion erkennen: Der Schütze hatte
sie beide im Visier, ohne den Fahrer zu gefährden. Als letzter
folgte schliesslich Vector, der sich auf den verbliebenen Stuhl
setzte. Er schloss die Tür. Dann streckte er die Hand aus.
"Dürfte ich um den Auslöser bitten?", fragte er.
"Oh nein", dachte Rally. "Das wars dann."
May schaute unsicher zu Rally hinüber.
"Rück in raus", sagte diese konsterniert.
"Du hast ihn", sagte May. "Es ist das Päckchen mit dem Kreuz drauf."
Rally griff in die Tasche, und holte besagtes Päckchen hervor.
Sie gab es Vector. Der öffnete das Päckchen äusserst vorsichtig.
Doch es war tatsächlich nur der Auslöser drinn.
"Sie werden es nicht verhindern können", sagte Rally.
"Was meinen Sie?", fragte Vector.
"Die Explosion. Auch wenn Sie den Auslöser besitzen, werden Sie
die Explosion nicht verhindern können. Die Bombe ist nicht zu
entschärfen."
"Lassen Sie das meine Sorge sein."
Vector verstaute den Auslöser in seiner Jacke. Dann nahm er
wieder das Funkgerät zur Hand:
"Bei mir ist alles klar. Schickt das Einsatzteam los, und zieht
die Beobachter ab."
"Verstanden", krächzte es aus dem Lautsprecher.
"Fahren Sie", befahl Vector dem Fahrer.
Langsam fuhr der Wagen an.
Der Fahrer fuhr nur ein paar Blocks weit, bevor er denn Wagen
wieder anhielt.
"Wir sind von einem schwarzen Motorrad verfolgt worden", sagte
er.
"Ein schwarzes Motorrad?", wunderte sich Vector. "Das muss wohl
Dantes sein. Der Typ traut mir wirklich nicht."
"Warum sollte er? Würde ich auch nicht", bemerkte Rally.
"Nana. Das müssen ausgerechnet Sie sagen. Wir hatten doch eine
eindeutige Abmachung, oder etwa nicht? Mal ganz abgesehen davon
war ihr kleines Kunststück vorhin nicht besonders professionell."
"Hoffentlich nicht. Sonst kriegt Stevenson am Ende noch Angst,
und haut ab."
"Sie meinen, sie haben sich absichtlich dilettantisch verhalten,
damit Stevenson sich nicht weiter in Gefahr glaubt?"
"Exakt."
"So schnell kommt er ohnehin nicht weg", meinte May. "Er ist
derzeit... gebunden."
"Gebunden?", fragte Vector.
"Jepp", bestätigte May grinsend. "Und zwar mit Klebeband an einen
Stuhl. Die brauchen allermindestens eine Viertelstunde, um ihn da
raus zu kriegen."
Vector zog die Augenbrauen hoch.
"So ist das also... Aber egal. Die Jungs sind jetzt unterwegs.
Sie müssten jeden Moment hier sein. Wenn alles glatt läuft, will
ich mal nicht so sein, und euch zwei laufen lassen. Ihr könnte
wirklich von Glück reden. Ich bin nicht immer so grosszügig."
Rally hatte eine Erwiderung auf der Zunge, liess es dann aber
sein. Wenn sie tatsächlich die Chance hatten, hier nochmals mit
heiler Haut davon zu kommen, dann würde sie diese Chance nicht
leichtfertig verspielen.
Es vergingen noch etwa zwei Minuten, bis etwas passierte. Dann
fuhr in der Nähe ein Wagen mit hoher Geschwindigkeit vorbei.
"Da sind sie ja", bemerkte Vector.
Ein zweiter Wagen folgte kurz darauf. Beim dritten Wagen erkannte
Rally den Typ.
"Aber... das sind ja Polizeiwagen", sagte sie.
"Das ist ja auch die Polizei", meinte Vector.
Und während sich Rally noch fragte, was Vector damit meinte,
hatte dieser bereits den Auslöser wieder aus der Jackentasche
geholt, und auf den Knopf gedrückt. Etwa zehn Sekunden später war
ein dumpfer Knall hörbar. Der Fahrer hatte mittlerweile den
Polizeifunk eingeschaltet. Sie hörten einen Offizier über ein
Feuer im Keller berichten. Ein anderer regte sich über die
Vernichtung von Beweismaterial auf. Irgendwann dazwischen kam
auch die Meldung von der erfolgreichen Festnahme Stevensons
durch.
"Das reicht, danke", sagte Vector nach einer Weile.
Der Fahrer schaltete den Polizeifunk wieder ab.
Rally war baff. Und das sah man ihr auch an. Schliesslich
schaffte sie es, ein einzelnes Wort zu artikulieren:
"Warum?"
"Warum ich die Bombe gezündet habe?", fragte Vector.
Rally nickte. "Ich dachte, sie wollten die Drogen stehlen."
"Ja, das war ursprünglich meine Absicht. Aber grundsätzlich ging
es mir nicht darum, in den Besitz der Drogen zu kommen, sondern
den Marktpreis zu erhöhen. Das war nämlich auch Teil des
Auftrags. Um das zu erreichen, ist es besser, die Drogen zu
vernichten, als sie zu stehlen. Als ich also gehört habe, dass
sie eine Bombe rein schmuggeln wollen, habe ich sie einfach
machen lassen."
Rally griff sich an die Stirn.
"Ich... Idiot. Ich habe Ihnen voll in die Hände gespielt!"
"Allerdings."
"Aber woher wussten Sie die Sache mit der Bombe?"
"An ihrer Stelle", antwortete Vector, "würde ich mal ihr Haus
untersuchen."
Rally dämmerte etwas: "Sie haben mich verwanzt?!"
"Na, was glauben Sie denn?", fragte Vector, als ob es das
natürlichste der Welt wäre.
Rally fühlte ihren Blutdruck ansteigen. Mal wieder. Es wurde
allmählich zum vertrauten Gefühl, wenn Vector in der Nähe war.
"Lassen sie mich bitte hier raus", sagte sie gepresst.
"Sie können jederzeit gehen."
Rally öffnete die Tür, und stieg aus. Als sie die Tür schliessen
wollte, fiel Vector noch etwas ein:
"Ach, Miss Vincent! Ich vergass noch zu erwähnen, dass ich ihnen
10'000 Dollar auf ihr Konto überweisen werde. Für die Mühe."
"Was?", fragte Rally.
Der Mann, der die ganze Zeit den Revolver in der Hand gehalten
hatte, zog die Tür von Innen zu. Dann fuhr der Wagen los. Rally
schaute May an, die auf der anderen Seite ausgestiegen war.
"Ich werd nicht schlau aus dem Typen", sagte Rally.
"Ich auch nicht", meinte May.
Zwei Scheinwerfer wurden eingeschaltet. Sie gehörten zu einem
Motorrad, welches ein paar Meter weiter in der Richtung stand,
aus der sie mit Vectors Wagen gekommen waren. Vermutlich jenes,
welches der Fahrer erwähnt hatte. Das Motorrad machte eine
scharfe Wendung, und verschwand in der Dunkelheit.
"Soll ich fahren?", fragte May.
Rally drehte sich verwundert um. Dann sah sie Mays Fiat. Vectors
Männer hatten ihn offensichtlich hier abgestellt.
"Oh, ja. Danke", sagte sie.
Sie stiegen ein, und May fuhr los. Rally rief Ken auf das
Autotelefon an.
"Hallo Ken... Ja, sie ist bereits hochgegangen... Sie haben
bereits heute Abend zugeschlagen... Nein, keine Probleme... Wir
sehen uns bei mir zuhause... Bis dann."
Danach lehnte sich May im Autositz zurück. Die Sache, so dachte sie,
würde noch ein Nachspiel haben. Sie ahnte nicht, dass es gerade erst
begonnen hatte.
Wer ist Donald Tanner?
Rally sass in ihrem Cobra, und fluchte innerlich. Da sass sie nun:
Eine der bekanntesten Prämienjägerinnen, und eine hervorragende
Fahrerin. Kein Auftrag zu gefährlich, kein Gegner zu schnell. Alles,
was sie tun sollte, war, zum Polizeipräsidium zu fahren. Und jetzt
drohte dieser simple Auftrag daran zu scheitern, dass sie keinen
Parkplatz fand. Aber das war nicht der wirkliche Grund für ihre
schlechte Stimmung.
Es war nun einige Wochen her seit ihrer Auseinandersetzung mit
Stevenson. In der Folge hatte es einen unglaublichen Wirbel gegeben.
Die Zeitungen berichteten auf den Frontseiten davon. Mittlerweile
waren die Berichte auf die 'letzte Seite' gewandert, aber das Thema
war immer noch präsent. Die Tatsache, dass die Polizei sich
hartnäckig weigerte, den Fall für abgeschlossen zu erklären, war mit
ein Grund dafür. Genau das machte Rally Sorgen. Bisher wusste die
Polizei nicht um ihre Rolle in der ganzen Geschichte. Aber wenn es
herauskommen sollte, wartete eine Staffel von Anklagen auf Rally, an
die sie lieber noch nicht einmal denken wollte. Ihre Waffenlizenzen
und den Laden könnte sie wohl vergessen. Womit sie dann ihren
Lebensunterhalt verdienen sollte, war ihr selbst nicht klar.
Verständlicherweise war sie nicht gerade davon erbaut, dass Roy sie
aufs Präsidium bat.
Nach einer langen Irrfahrt hatte sie endlich einen Abstellplatz
gefunden. Von hier aus hatte sie zwar knapp eine Viertelstunde zu
gehen, aber was besseres würde sie so schnell nicht finden. Während
sie die Strasse hinunter ging, überlegte sie sich, was die Polizei
gegen Sie in der Hand haben könnte. Sie und May waren vorsichtig
genug gewesen, möglichst keine Spuren wie Fingerabdrücke zu
hinterlassen. Damit blieben eigentlich nur Zeugenaussagen als
belastendes Material. Da sie verkleidet war, eine Spezialperücke
trug, und sogar die Haut überpudert hatte, glaubte sie nicht, das
jemand von Stevensons Leuten sie hätte erkennen können. Blieben noch
Cogan und Vector. Da Cogan von Rally geschnappt und abgeliefert
wurde, war er als Belastungszeuge unglaubwürdig. Schwieriger wäre da
schon Vector. Aber warum sollte er das tun?
Rally seufzte, und schüttelte den Kopf. "Hat keinen Sinn, im Trüben
zu fischen", sagte sie sich.
Im Präsidium herrschte die übliche Geschäftigkeit. Auch sonst schien
nichts besonders. Dieselben Leute wie üblich arbeiteten, dieselben
Leute wie üblich lungerten herum, und dieselben Männer wie üblich
versuchten, Rally anzumachen. Normalerweise gingen ihr letztere eher
auf die Nerven. Diesmal war sie fast froh darüber, denn es war ihr
ein Indiz, dass noch niemand auf ihrer Spur war. Oder zumindest war
es noch nicht allgemein bekannt. Rally bahnte sich den Weg zu Roys
Büro, als ihr Kate, seine Assistentin, mit einer Akte unter dem Arm
entgegenkam.
"Hallo Rally!", rief sie.
"Oh, Hallo Kate. Wie gehts?", antwortete Rally.
"Ganz gut, danke. Nur etwas überarbeitet. Der ganze Stevenson-Fall
hat ne Menge Arbeit verursacht. Aber jetzt ist der grosse Haufen
durch. Und Stevenson wurde heute früh abgeurteilt."
"Habs gelesen. Ging ganz schön schnell, was? Was hat er den gekriegt?"
"Lebenslänglich."
"Oha."
Rally war erstaunt. Sie wusste zwar, das Stevenson ein Anfänger war,
aber sie dachte doch, dass er sich zumindest einen guten Anwalt
leisten könnte.
"Ist schon seltsam, was?", fragte Kate.
"Was meinst du?", fragte Rally zurück.
"Naja, dass alles so schnell ging, dass es so viele Beweise gegen ihn
gab, dass der Staatsanwalt so viele Zeugen fand, dann der öffentliche
Druck auf den Prozess... Irgendwie schien sich alles gegen Stevenson
verschworen zu haben. Ausserdem wäre da noch die Sache mit dem
Computer: Als wir den Tipp mit dem Drogenlabor erhielten, waren in
unserem System jede Menge Informationen über Stevenson gespeichert,
von denen die zuständigen Ermittler schworen, sie hätten sie noch nie
gesehen. Und schau mal hier:"
Kate öffnete die Akte, und suchte ein einzelnes Stück Papier heraus,
welches sie Rally zeigte. Es war ein Bericht der Spurensicherung.
Daraus ging hervor, dass eine Bombe Stevensons Drogenvorräte zunichte
gemacht hatte. Auch Typ und die vermutete Funktionsweise waren
haarklein verzeichnet.
"Ja", sagte Rally, "das habe ich auch in der Zeitung gelesen. Aber
was ist daran besonders? Ich dachte, es sei durchaus üblich, die
Vorräte zu vernichten, bevor sie der Polizei in die Hände fallen."
"Schon", meinte Kate. "Aber schau dir mal den Typ an. Das war eine
Aerosolbombe. Die 'Atombombe des kleinen Mannes'. Für einen solchen
Zweck ist die, milde gesagt, etwas unüblich."
"Hmmm... Und was schliesst Miss Marple daraus?"
"Keine Ahnung. Ich für meinen Teil vermute, das es ein Konkurrent
war, der ihn aus dem Weg haben wollte. Falls ich richtig liege, war
das alles sehr sauber geplant und durchgeführt."
"Mm-hm"
Rally studierte weiterhin den Bericht. Zu ihrer Erleichterung fand
sie darin nichts, was auf sie hin deutete.
"Ach Rally?", fragte Kate ernst.
"Ja?"
"Die Akte habe ich dir nie gezeigt."
Rally grinste, und gab Kate das Papier zurück.
"Welche Akte?", fragte sie.
Kate grinste zurück. Sie nahm das Papier, und legte es in die Akte
zurück.
"Vorläufig bleibt die noch unter Verschluss", erklärte sie. "Die
Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen."
"Ich weiss", sagte Rally. "Naja, ich muss zu Roy. Bis später."
Sie ging zur Tür von Roys Büro, und wollte sie gerade öffnen, als
Kate noch etwas einfiel:
"Du, warte Rally. Ich glaube, Roy hat Besuch."
"Ach? Wer denn?", wollte Rally fragen. Doch die Frage klärte sich von
selbst, als unmittelbar vor ihr die Tür aufschwang.
Der Mann, der in der Tür stand, machte einen etwas seltsamen
Eindruck. Er war jung. Höchstens ein paar Jahre älter als Rally. Er
trug schwarze Jeans, und eine offene, schwarze Lederjacke. Darunter
war ein weisses T-Shirt zu sehen. Alles in allem sah er eigentlich
wie ein junger Motorradfreak aus, aber irgendwie passte etwas nicht
ins Bild.
"Entschuldigung", sagte er, und machte einen Schritt zur Seite.
Langsam ging er zum Ausgang. Rally sah ihm nach.
"Oh Rally, komm doch rein!", rief Roy.
Rally betrat das Büro, und schloss die Tür.
"Hallo Roy", sagte sie. "Wer war das denn?"
"Der? Ist ein komischer Typ, nicht war? Sein Name ist Tanner. Er ist
ein Kollege von dir."
"Ein Büchsenmacher?"
"Ein Prämienjäger."
"Ein Prämienjäger? Im Ernst? Den Beruf hätt ich jetzt als letztes
vermutet."
"Ich glaube, da geht es den meisten Leuten bei dir nicht anders. Aber
kommen wir zum Thema. Setz dich doch."
Rally setzte sich auf den Stuhl vor Roys Pult.
"Also? Worum gehts?", fragte sie.
"Eine heikle Sache Rally. Es geht um den Fall Stevenson."
"Aha?", sagte Rally scheinbar unbefangen, doch in Wirklichkeit schoss
ihr Puls gerade raketenartig in die Höhe.
"Genauer gesagt geht es um Stevensons Leibwächter Thomas Martin.
Kennst du ihn?"
Rally zuckte mit den Schultern. "Ich glaube nicht, nein. Wieso?"
"Naja. Eigentlich sollte er ja nächste Woche ebenfalls abgeurteilt
werden. Dummerweise ist er abgehauen."
"Ach so. Ein Fall für Prämienjäger also?"
"Darum hab ich dich nicht herkommen lassen", erklärte Roy. "Es geht
um das hier." Er schob Rally einen Zettel zu. "Das hat er
zurückgelassen."
Rally nahm den Zettel, und las: "An Rally Vincent: Du bist tot! Tom."
Sie gab den Zettel an Roy zurück. "Kapier ich nicht."
Rally war tatsächlich verwundert. Natürlich kannte sie Tom. Immerhin
hatte sie sich beim Zweikampf mit ihm die Hand übel angestaucht. Was
sie nicht verstand, war, woher Tom sie kannte, denn zu jenem
Zeitpunkt war sie verkleidet gewesen.
"Nun... Ich bin mir nicht absolut sicher, aber ich glaube, dass dein
letzter 'Kunde' dahintersteckt."
"Cogan meinst du?"
"Genau der. Unmittelbar bevor Tom verschwand, hatte er Besuch von
Cogan bekommen. Was sie genau besprochen haben, ist nicht bekannt,
aber es ist schon ein verdächtiger Zufall."
Rally atmete hörbar aus. Sie wusste nicht, was ärgerlicher war: Das
Tom hinter ihr her war, oder das sie sich unnötig Sorgen wegen der
Polizei gemacht hatte.
"Alles klar", sagte sie schliesslich. Dann stutzte sie. "Moment.
Nichts ist klar. Wieso konnte Cogan... Wieso konnte er diesen Martin
besuchen? Er sollte doch noch in U-Haft schmoren."
"Er ist freigekommen", sagte Roy. "Wusstest du das nicht?"
"Wie bitte?!"
"Man hat ihm Straffreiheit geboten, wenn er als Kronzeuge aussagt. Er
hat angenommen."
"Wie grosszügig", brummte Rally.
Sie hatte seit jeher etwas Mühe mit der Kronzeugenregelung, auch wenn
ihr der Sinn natürlich klar war.
"Ach egal", meinte sie nach einer Weile. "Martin ist doch ein Fall
für Prämienjäger, oder? Ich schnapp ihn mir halt, so wie jeden
anderen Häftling auch."
"Du kannst ja bei seinem Anwalt vorsprechen", sagte Roy. "Aber ich
fürchte, da kommst du zu spät."
Eine Stunde später war Rally wieder im Laden. May stand hinter dem
Tresen.
"Hallo Rally", sagte sie. "Was soll den dieser düstere Blick? Ist dir
Roy etwa auf die Schliche gekommen?"
"Mal den Teufel nicht an die Wand", erwiderte Rally fast erschrocken.
"Dann ist ja gut. Allerdings hab ich noch eine gefunden."
May nahm etwas kleines vom Tresen auf, und warf es Rally zu. Sie fing
es auf. Es war eine 'Wanze'. Eine sehr kleine. Derjenige, der sie
gebaut hatte, war wohl recht geschickt darin. Rally kannte den Typ
mittlerweile. Nach dem Fall Stevenson hatten sie und May jede Menge
davon gefunden. Sie gehörten vermutlich Vector. Rally drehte die
Wanze zwischen den Fingern hin und her.
"Oh Mann", sagte sie. "Die wievielte ist das eigentlich?"
May überlegte kurz. "Naja, das wären mit dieser hier fünf im Laden.
Dazu kommen die fünf im Haus, die..."
"Schon gut, schon gut. So genau wollte ich es gar nicht wissen."
"Mann, du bist mir vielleicht ne Stimmungskanone. Was ist los, hm?
Raus mit der Sprache!"
Rally seufzte. "Tom ist abgehauen."
"Tom? Stevensons Muskelmann?"
"Jepp."
"Hm. Na und?"
"Es ist ein Fall für Prämienjäger, aber..."
"Ist dir die Belohnung zu klein, oder was?"
"Das ist es ja gerade. Die Belohnung ist recht hoch für einen Typen
seines Kalibers. Aber so ein Trottel namens Tanner hat ihn mir
weggeschnappt."
"Ach so", sagte May, und schaute betont desinteressiert in eine Ecke
des Verkaufslokals.
Es vergingen einige Sekunden der Stille.
"Weisst du, dass du Becky immer ähnlicher wirst?", fragte May, ohne
Rally anzusehen.
"Halt den Mund", brummte Rally. "Darum gehts doch gar nicht."
Wieder war es für einige Sekunden still.
"Kennst du diesen Tanner?", fragte May, wiederum ohne den Kopf zu
drehen.
"Kennen ist zuviel gesagt. Ich bin vorhin auf dem Präsidium fast mit
ihm zusammengestossen."
"Ach was", sagte May, und begann zu grinsen.
"Ja. Ist ein komischer Kerl. Sieht aus wie... wie ein Motorradfreak,
der zu lebenslangem Mopedfahren verurteilt wurde. Hoffentlich löst er
seine Fälle etwas schneller, als er durch die Gegend marschiert."
May dreht sich wieder nach Rally um. Sie grinste immer noch. Und zwar
auf eine Art und Weise, die Rally gar nicht gefiel.
"Er ist also mit dir zusammengestossen", sagte May. "War er hübsch?"
"Was!?"
"Oh du hast mich schon verstanden."
"Lass den Unsinn, May. Ich bin nur fast mit ihm zusammengestossen.
Und ganz sicher nicht absichtlich."
"Wirklich?"
"Wirklich!"
"Och, das ist aber schade. Weisst du, wenn du dich Männern gegenüber
weiterhin so verschliesst, wirst du nie..."
"Das reicht May! Ich habe..."
Rally wurde vom Geräusch eines parkierenden Autos unterbrochen. Sie
schaute nach draussen. Es war ein blauer Corsa. Der Fahrer stieg
gerade aus.
"Na toll", brummte Rally.
"Was ist?", fragte May.
"Das ist er."
"Wer? Der Kopfgeldjäger, der dir den Fall weggeschnappt hat?"
Rally nickte nur.
"Dann solltest du nicht so verbiestert in die Gegend gucken, Rally.
Du solltest lächeln. Sonst wird er sich nie für dich interessieren."
Der Blick, den Rally May zuwarf, hätte einen Leoparden in die Flucht
geschlagen. May hingegen liess sich davon nicht beeindrucken.
Tanner kam herein. In weniger als einer Sekunde hatte Rally ihr
'Verkäufergesicht' aufgesetzt, und sagte: "Guten Tag, mein Herr."
May war davon so überrascht, das ein kurzes "Ga" alles war, was sie
herausbrachte.
Tanner sah zu Rally herüber. "Guten Tag. Miss Vincent nehme ich an?",
fragte er, ohne das geringste Anzeichen von Erstaunen.
"Ja, das bin ich."
"Ah. Mein Name ist Donald Tanner. Ich bin Prämienjäger." Tanner
zeigte seine Lizenz. "Ich bin hinter einem Mann namens Thomas Martin
her."
"Ich weiss. Die Polizei hat mich bereits informiert."
"Sehr gut. Da Martin hinter Ihnen her zu sein scheint, dachte ich, es
sei eine gute Idee, sich hier mal umzusehen. Und als ich hörte, das
sie eine Büchsenmacherin seien, wollte ich ohnehin mal
vorbeischauen."
"Ich bitte Sie, die privaten Räume nicht zu betreten. Aber sie können
sich im Verkaufsraum umschauen, so lange sie möchten. Für Fragen..."
Rally schaute sich um, und entdeckte May bei der Tür zum Nebenraum.
"Ich überlasse das dir", sagte May. "Ich muss noch die Bücher prüfen,
und bis jetzt bin ich noch nicht dazugekommen." Das war natürlich
eine blanke Lüge.
"Für Fragen können Sie sich an mich wenden", vervollständigte Rally.
"Herzloses Biest!" dachte sie, als May die Tür schloss. "Ich wette,
du beobachtest uns mit der Überwachungskamera".
Wenn das ganze irgendeinen Eindruck auf Tanner machte, so liess er es
sich nicht anmerken. Er nickte nur kurz, und begann, die Auslage zu
begutachten.
Nach einer Weile fragte Rally: "Entschuldigen Sie. Sie sagten, Sie
wollten hier ohnehin vorbeischauen, als Sie hörten, das ich
Büchsenmacherin bin. Darf ich fragen, warum?"
"Selbstverständlich", sagte Tanner, der gerade vor einem Schaukasten
mit Pistolen kniete. Er stand auf, so dass er Rally sehen konnte.
"Wissen Sie, ich bin erst vor ein paar Wochen angekommen. Daher bin
ich auf der Suche nach einem guten Waffenladen. Und dieser hier ist
für mich besonders interessant."
"Aha?"
"Nun ja, soweit ich weiss sind Sie doch ebenfalls Prämienjägerin.
Somit sollten Sie über einige Kenntnisse über das Verhalten von
Waffen unter Kampfbedingungen verfügen."
"Ah ja. Das stimmt schon."
Das war eher überraschend für Rally. Die meisten ihrer Kunden
kümmerte es nicht, was sie sonst noch tat. Der Grossteil wusste es
noch nicht einmal.
Tanner holte sie wieder aus Ihren Gedanken: "Da fällt mir ein: Sie
sind doch sauer auf mich, weil ich Ihnen den Fall weggeschnappt habe,
nicht wahr?"
"Öh... Nun..." Rally fühlte sich ertappt.
"Ich habe persönliche Gründe, diesen Auftrag anzunehmen. Bitte haben
Sie Verständnis dafür."
"Ja, natürlich", sagte Rally, obwohl sie sich fragte, was denn das
für persönliche Gründe sein könnten. "Ich werde Ihnen nicht in die
Quere kommen. Aber wenn ich angegriffen werde, werde ich mich
verteidigen."
"Selbstverständlich." Tanner kniete wieder vor die Pistolen. Eine
schien es im besonders angetan zu haben.
"Sagen Sie", fragte er, "ist dieser 'Peacemaker' hier echt?"
"Ja. Ein echtes Western-Original. Ein schönes Stück, nicht wahr?"
"Ein schönes Stück. Ja, allerdings. Aber das kann ich mir unmöglich
leisten." Er lächelte. "Naja. Ich bin ja eigentlich sowieso kein
Sammler." Dann stand er auf, und kam zur Theke. Das Lächeln war
bereits wieder verflogen. "Wie steht es um Munition?"
"Wir haben alle üblichen Kaliber, und viele weniger gebrauchte. Alle
anderen kann ich bestellen."
"Ich benötige .223 Gewehrmunition. Vollummantelt. Europäische, wenns
geht."
"Kein Problem. Wie viele?"
Nachdem Tanner zwei Pack à 50 Schuss gekauft hatte, ging er wieder.
May kam in den Verkaufsraum. "Ist schon ein seltsamer Typ", sagte
sie. "Nicht unfreundlich, aber..."
"Hast du uns beobachtet?" fragte Rally.
"Ehehe... Ja, hab ich."
"Dann sag mir: Ist das der Mann, der auf Cogan geschossen hat?"
"Was?"
"Du weisst schon... Als wir Cogan geschnappt haben, hat doch jemand
auf ihn geschossen."
May erinnerte sich. Cogan wurde an der Schulter gestreift. May
entdeckte den Schützen zwar mit ihrem Feldstecher, aber wegen der
untergehenden Sonne konnte sie nicht viel sehen. Trotzdem... "Kann
schon sein", sagte sie. "Die Statur stimmt überein. Warum
verdächtigst du ihn denn?"
"Der Schütze verwendete ein Gewehr. Ein SIG SG551. Erinnerst du dich?"
"M-Hm."
"Nun, Tanner versteckt ein Gewehr unter seiner Jacke. Von der Grösse
her könnte es ein SG551 sein. Und die Munition, die er gerade gekauft
hat, würde ebenfalls passen."
"Du meinst, er ist einer von Stevensons Killern?"
Rally schüttelte den Kopf. "Nein, das glaube ich nicht. Wie ich
damals schon sagte, ist das ein äusserst präzises Gewehr. Cogan wurde
vermutlich absichtlich 'verfehlt'. Ausserdem glaube ich, das es
Tanner war, der Toms Uzi zerschoss, als er uns vor Stevensons
Hauptquartier abgefangen hatte."
"Wie kommst du darauf?"
"Ganz einfach." Rally holte eine leere Patronenhülse unter der Theke
hervor. "Diese Hülse fand ich dort auf dem Boden. Es ist ebenfalls
eine .223. Und jetzt schau dir das an:" Sie drehte die Hülse in ihrer
Hand, so das eine kleine Delle in der Seite sichtbar wurde. "Die
Gewehre der SG55x-er Serie werfen die leeren Hülsen nach vorne aus",
erklärte sie. "Dabei entsteht diese Delle. Bei keiner anderen Waffe
ist das der Fall."
May dachte darüber nach. "Das ergibt doch keinen Sinn", sagte sie
schliesslich. "Das würde bedeuten, dass Tanner uns zweimal aus einer
etwas brenzligen Situation geholfen hat."
"Genau das bedeutet es", erwiderte Rally ernst. "Und ich will wissen,
warum."
Das Telefon läutete und läutete. "Komm schon, Becky", murmelte Rally.
"Du bist doch zu Hause." Das Telefon gab sich unbeeindruckt, und
läutete munter weiter. "Warum schaltest du den Anrufbeantworter nicht
ein, wenn du nicht da bist?"
Endlich, Rally wollte bereits auflegen, wurde der Anruf
entgegengenommen. "Hallo?" meldete sich Becky reichlich verschlafen.
Rally schaute auf die Wanduhr. Es war Viertel nach Zehn. "Hab ich
dich etwa geweckt?" fragte sie ungläubig.
"Sieht so aus. Hab die ganze Nacht durchgearbeitet. Muss vorm
Computer eingeschlafen sein."
Rally hörte, wie Becky eine Tasse aufhob, und daraus trank... und
sofort wieder ausspuckte.
"Baaa. Der ist ja kalt!"
"Der was?"
"Kaffee."
"Na, was hast du denn erwartet? Der bleibt nicht heiss."
"Einen Moment."
"Becky!" rief Rally, aber es war bereits zu spät. Becky war nicht
mehr am Telefon. Nach einer Weile konnte Rally Wasser kochen hören.
"So, da bin ich wieder. Was isn?" fragte Becky.
"Ich werde dir die Telefonkosten in Rechnung stellen!"
"Lass das, Rally. Ich bin nicht..." Becky gähnte. "Ich bin nicht in
der Stimmung für solche Scherze. Also?"
"Ich hab einen Auftrag für dich."
"M-Hm." Becky klang nicht gerade begeistert.
"Das gibts doch nicht. Hast du etwa immer noch keine Zeit?"
"Eigentlich bin ich ja noch am selben Job, wie letztes Mal, als du
mich angerufen hast. Aber ich komme einfach nicht weiter. Wenns also
ein Routinejob ist, nehm ich ihn vielleicht an. Worum gehts denn?"
"Ich brauch lediglich ein paar Informationen über einen anderen
Prämienjäger."
"Hm? Willst du dich etwa unliebsamer Konkurrenz entledigen? Ah, es
ist heiss."
Das Kochen hörte auf.
"Unsinn. Es ist nur so, das er solch eine seltsame Person ist. Ich
will nicht in seine Schusslinie geraten... Becky?... Bist du noch
drann?..."
"Ja, ja, da bin ich. Hab nur gerade den Krug geholt. Ich brauch jetzt
etwas Kaffee. Wie heisst die Zielperson?"
"Tanner. Donald Tanner."
"Autsch!" Becky fluchte laut.
"Äh, Becky?"
"Mmm. Ich habe mir gerade den heissen Kaffee über die Hand
geschüttet. Ah, so ein Mist! Äh, du Rally. Ich bin in einer halben
Stunde bei dir, okay?"
"Alles klar. Bis später."
Rally hängte den Hörer ein. "Seltsam", dachte sie sich. "Wieso kommt
sie extra hierher? Da steckt doch mal wieder mehr dahinter."
Ein Pakt mit Becky
Obwohl sie und May den Laden bereits mehr als einmal nach Wanzen
abgesucht hatten, war es Rally zu riskant, hier die Sache mit Tanner
zu besprechen. Als Becky ankam, fuhren sie daher in die Innenstadt zu
einer Bar. Fay, eine Freundin von Rally, arbeitete dort.
Normalerweise war die Bar am Vormittag geschlossen. Aber für Rally
wurde da schon ab und zu mal eine Ausnahme gemacht. So war es auch an
jenem Tag.
Rally und Becky setzten sich an einen Tisch. Sie hatten reichlich
Auswahl, denn natürlich war das Lokal völlig leer.
"Kann ich euch irgendwas bringen?", fragte Fay.
"Danke, ja. Ich... nehme einen Kaffee", sagte Rally.
"Ich nehme *zwei* Kaffee. Den stärksten, den ihr habt", meinte Becky.
"Alles klar."
Fay ging nach hinten, und machte sich an der Kaffeemaschine zu
schaffen.
"Also", sagte Rally zu Becky, "warum konnten wir das nicht am Telefon
besprechen?"
"Weil der Fall möglicherweise viel grösser ist, als du denkst", sagte
Becky. "Dieser Tanner ist eine ganz schön harte Nuss."
"Ist er der Typ, hinter dem du seit Wochen her bist?"
"Wie kommst du darauf?"
"Ist nur ne Vermutung."
Becky nickte. "Ganz genau. Und in dieser Zeit habe ich nicht
allzuviel über ihn rausbekommen. Allerdings... Das was ich über ihn
rausbekommen habe...", sagte sie mit düsterer Miene.
"Nun?", fragte Rally.
"Würde dich normalerweise ein kleines Vermögen kosten",
vervollständigte Becky.
"War ja klar", dachte sich Rally. "Wieviel willst du denn?", fragte
sie.
"Tja, du hast Glück", meinte Becky. "Meinem Kunden reichen die
bisherigen Informationen nicht, und ich komme einfach nicht weiter.
Ich könnte etwas Hilfe gebrauchen."
"Ich soll für dich Arbeiten?", fragte Rally überrascht.
"M-Hm", bestätigte Becky. "Erstens musst du ja schon etwas über ihn
wissen, sonst hättest du mich ja wohl kaum nach ihm gefragt. Dann
könntest du mir helfen, ihn zu überwachen. Wäre mir eine grosse
Hilfe. Der Kerl ist schlüpfrig wie ein Aal. Und ausserdem seit ihr ja
quasi Kollegen. Du könntest, na du weisst schon, Verbindungen
knüpfen."
Rally errötete leicht. "Äh, ich glaube, dass ist doch eher Mays
Fachgebiet."
"Wie du meinst. Aber ich glaube, etwas Erfahrung in diesem Gebiet
würde dir auch nicht schaden."
"Sie hat gar nicht so Unrecht", meinte Fay, die gerade mit den drei
bestellten Kaffee ankam. "Alles in allem... In deinem Alter."
"Mann...", brummte Rally, "könntet ihr zwei bitte ernsthaft werden?"
"Ich bin todernst", sagte Becky grinsend, und nahm sich gierig eine
der Kaffeetassen.
Noch bevor Fay ein Wort der Warnung aussprechen konnte, hatte Becky
den Kaffee schon angesetzt. Die Folgen waren schmerzhaft. Der Kaffee
war nämlich noch heiss.
Nachdem Becky sich die Lippen etwas gekühlt, und Fay den
verschütteten Kaffee aufgewischt hatte, nahm Rally das Gespräch
wieder auf:
"Also Becky, irgendwie kommt mir das alles ein wenig Spanisch vor.
Unter welchen Umständen hast du den Auftrag denn bekommen?"
"Das darf ich dir doch nicht sagen. Zumindest nicht, bis wir einen
Vertrag geschlossen haben. Aber grob gesagt, ist ein Kunde bei mir
aufgetaucht, und hat mir den Auftrag gegeben, so viel wie möglich
über Tanner rauszufinden. Und die Bezahlung hängt von der Menge und
Qualität der Informationen ab."
"Und wer der Kunde war, darfst du mir natürlich nicht sagen?"
Becky zuckte mit den Schultern. "Warum auch nicht. Ist eh ein
Pseudonym. Er nannte sich Dantes."
"Dantes? Hmmm... Den Namen hab ich kürzlich gehört."
"Ich würde nicht allzuviele Gedanken darüber verschwenden. Wie schon
gesagt: Es ist vermutlich ein Pseudonym. Aber nun zum Geschäft: Die
Infos, die ich bisher über Tanner gesammelt habe, sind bereits eine
Menge Wert. Aber wenn du mir hilfst, noch weitere zu finden, würde
ich dir alles gratis überlassen."
"Hmmm..."
Rally lehnte sich zurück. Vorsichtig nahm sie einen Schluck Kaffee.
Er war mittlerweile genug abgekühlt, um trinkbar zu sein.
"Wenn ich das richtig verstanden habe, dann erhältst du um so mehr
Geld, je mehr Informationen wir zusammentragen, richtig?"
Becky wurde klar, dass sie vorhin eine elementare Grundregel eines
jeden Informanten verletzt hatte: Rücke keine Informationen heraus,
die dir nichts bringen. Und schon gar keine, die dich etwas kosten!
"Ich denke", fuhr Rally fort, "in diesem Fall wäre eine prozentuale
Beteiligung angebracht. Sagen wir, 30 Prozent?"
Dann trank Rally langsam ihren Kaffee, während Becky sichtlich um
ihre Fassung rang.
"W... W... Wie bitte!? Wieviel!?", rief sie. "Weisst du, wieviel ich
alleine schon für die Infos bekommen würde, die ich selbst schon
habe? Fast... 50'000 Dollar! Und die würde ich dir schenken!"
"Tanner interessiert mich nur insofern, als dass ich wissen will,
warum er mir ständig in die Quere kommt. Deine Infos sind für mich
also nicht so wahnsinnig interessant. Vor allem würde ich keine 50
Mille dafür zahlen."
Becky überlegte einen Moment. "Also meinetwegen. Du kriegst 10
Prozent der Prämie. Das ist doch was, oder?"
"Ich sagte 30"
"Erde an Rally, bitte melden! Soviel zahle ich nicht. Niemand würde
das."
"Das ist aber schade."
Becky seufzte. "Was soll das Rally? Soll ich dich etwa auf Knien
anflehen, und traurige Geschichten über zu ernährende Kinder
erzählen?"
Rally grinste, und überlegte einen Moment. "20% der Prämie plus alle
Informationen, die diesen Fall betreffen, gratis?", fragte sie.
"Hm. Na schön. Einverstanden", brummte Becky.
Einen Handschlag später, mit Fay als Zeugin, war der Handel
besiegelt. Becky holte einen Stapel Blätter aus ihrer Aktenmappe.
"Na, dann wolln wir mal. Erst mal ein grober Abriss: Unser Freund ist
Ausländer. Höchstwahrscheinlich Europäer, vermutlich Italiener. Er
ist erst seit einigen Wochen oder Monaten hier. Hat Verbindungen
aller Art. Sowohl zu legalen wie auch zu illegalen Organisationen. Er
ist sehr vorsichtig, was ihn schwer greifbar macht. Ausserdem fürchte
ich, dass er Verbindungen zu ein paar hohen Tieren hat."
Rally pfiff durch die Zähne. "Und so was hab ich als Kunden."
"Als Kunden?"
"Ja, er hat Munition bei mir eingekauft. Aber warum meinst du, dass
er ein paar hohe Tiere kennt?"
"Oh, ganz einfach. Während der Routinekontrolle habe ich die
Einwohnerdatenbank abgefragt. Dergemäss ist Tanner von Geburt an
Bürger des Staates Illinois. Aber ich konnte keine Verbindung zu
einer der eingesessenen Familien ziehen. Das hat mich misstrauisch
gemacht, und ich habe die Datenbank mal... genauer angesehen."
"Du meinst... gehackt."
"Wer? Ich?", sagte Becky mit Unschuldsmiene.
Rally und Becky lachten. Dann fuhr Becky fort:
"Wie dem auch sei: Sein Eintrag ist gefälscht. Er wurde erst vor 3
Monaten gemacht. Was mich an der ganzen Sache stört, ist, dass die
Fälschung hervorragend gemacht wurde. Ohne eine genaue Prüfung der
Rohdaten auf der Datenbank ist sie nicht zu entdecken. Wenn du mich
fragst, ist sie offiziell angeordnet worden."
"Ein Hacker kommt nicht in Frage?"
"Unwahrscheinlich. Die Fälschung zu entdecken war schwierig. Sie
anzubringen, war aber noch viel schwieriger. Wenn das ein Hacker war,
dann war er schweinisch gut."
"Gibt es Fälle, wo so etwas offiziell gemacht wird?"
"Ja, bei Zeugenschutzprogrammen. Aber ich glaube, dass können wir
ausschliessen. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, welches Tanners
wirkliche Nationalität ist. Aber ich bin mir fast 100-prozentig
sicher, dass er kein US-Amerikaner ist."
"Ja", bestätigte Rally. "Wenn ichs mir recht überlege, so klangen
seine Sätze doch ziemlich wie aus dem Schulbuch. Es klang so, als
könne er zwar Englisch sprechen, sei es sich aber nicht gewohnt."
"Sowas dachte ich mir", sagte Becky. "Was weisst du denn so alles
über ihn?"
"Tja", sagte Rally, "da erklär ich dir am Besten die ganzen Umstände,
wie ich auf ihn gestossen bin. Was weisst du über den Fall Stevenson?"
"Den Fall Stevenson?", fragte Becky. "Der Drogenring? Ah, dann
steckst du also doch hinter der Bombe. Ich dachte mir schon, dass sei
doch genau Kens Typ. Na, liege ich richtig?"
"Äh, ja. Wie ich sehe, bist du gut informiert. Aber sei bitte etwas
leiser."
"Klar doch", meinte Becky grinsend. "Also, der Fall Stevenson. Und
weiter?"
"Nun, alles hat angefangen mit dem Fall Cogan. Du weisst schon. Der,
wegen dem ich dich angefragt hatte. Als ich Cogan einsacken wollte,
hat ihn jemand angeschossen. Ich vermute, dass das Tanner war."
"Hast du was Handfestes?"
"Leider nicht, aber... sag mal, hat Tanner eine Lizenz für ein SIG
Sturmgewehr Typ SG550 oder so?"
"Ein Sturmgewehr? Augenblick."
Becky sah die Blätter durch. Schliesslich fand sie, wonach sie
gesucht hatte:
"Hier. Lizenz für ein Sturmgewehr SIG SG551."
"Dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch. Jedenfalls hatte der Schütze
genau so ein Gewehr."
"Meinst du? Immerhin sind die SIG Waffen doch recht verbreitet, oder?"
"Nicht dieses Gewehr. Es ist teuer und sehr pflegebedürftig. Darum
wird es fast nur von offiziellen Stellen verwendet."
"M-Hm. Könnte eine Spur sein. Und weiter?"
"Nun, in der Folge sind wir in den Fall Stevenson hinein geraten. Und
dabei hat wiederum jemand mit solch einem Gewehr mir kurz geholfen,
indem er die Waffe von Thomas Martin, Stevensons Sicherheitschef,
zerstörte. Ausserdem ist Tom gestern abgehauen, und anscheinend hat
sich Tanner sofort auf dessen Fersen geheftet."
Becky zog die Augenbrauen hoch. "Na schau mal einer an. Nur zu deiner
Information: Der Auftrag, Martin zurückzuholen, wurde nie
ausgeschrieben. Tanner hat ihn direkt erhalten."
"So ist das also. Ich hatte bei dem Job also gar keine Chance. Oh,
jetzt weiss ich wieder, wo ich den Namen Dantes schon mal gehört
habe. Vector hat ihn erwähnt."
"Vector? Doch nicht der Syndikatsboss Vector, oder?" Beckys
Gesichtsfarbe wurde sichtlich heller.
"Genau der. Kennst du ihn?"
"Machst du Witze? Jeder bessere Informant hatte schon mal Besuch von
diesem netten Herrn oder einem seiner Untergebenen."
"Oh. Naja, jedenfalls hat er..."
"Ich wills nicht wissen", warf Becky ein. Sie nahm ihren zweiten
Kaffee, und leerte die Tasse in einem Zug.
Rally war perplex. Dass letzte Mal, das Becky etwas *nicht* wissen
wollte... Nein, sie konnte sich nicht erinnern, dass sowas bisher je
der Fall gewesen war.
"Du... willst es nicht wissen?", fragte sie.
"Wenn Vector rauskriegt, dass du Informationen über ihn herausgibst,
dann bist du so gut wie tot", erklärte Becky. "Glaub mir, es ist
besser, wenn ich nichts darüber weiss. Nur soviel: Was glaubst du,
war die Verbindung zwischen Vector und Dantes?"
"Nun, Vector sagte, dass Dantes ihm misstraue. Dantes war wohl ein
Auftraggeber. Ich vermute, er gehört zu einem der anderen Syndikate."
Becky atmete hörbar auf. "Gut. Das ist immer noch viel angenehmer,
als für Vector selbst zu arbeiten. Lass mich dir einen Tipp geben:
Vector heuert gelegentlich Leute von ausserhalb seines Syndikats an.
So ziemlich alle, die einem solchen Handel zugestimmt haben, haben
sich daran die Finger verbrannt. Also halte dich fern von ihm."
"Ich kann dir versichern, dass ich absolut keine Absicht habe, mich
nochmals mit ihm zu befassen."
"Gut. Also, überlegen wir uns mal wie weiter. So, wie ich das sehe,
haben wir zwei Spuren, die wir verfolgen können. Die eine ist Martin.
Die andere wäre sein Einkauf bei dir. Er hat doch mit Kreditkarte
bezahlt, oder?"
Kurze Zeit später erschienen Becky und Rally wieder im Laden. Rally
ging die Kassenbelege durch, und fischte den von Tanners
Munitionskauf heraus. Becky notierte sich Tanners Kreditkartennummer.
"Sag mal", flüsterte Rally, "du willst dich doch nicht in den
Bankencomputer einhacken."
Den Gedanke, was Becky dort alles anstellen könnte, fand Rally etwas
beängstigend. Aber Becky beruhigte sie:
"Nein, das habe ich nicht vor. Banken sind grundsätzlich paranoid,
und ihre Systeme entsprechend gut geschützt. Ein direkter Angriff
wäre viel zu umständlich. Aber es gibt noch andere Mittel und Wege,
um an Informationen zu gelangen. Wie auch immer. Ruf mich an, wenn du
weiterkommst, ja?"
Daraufhin ging Becky wieder. May, die sich bisher zurückgehalten
hatte, konnte ihre Neugierde nicht weiter bezähmen.
"Was habt ihr denn besprochen?", fragte sie.
"Gehn wir rasch rüber", meine Rally, und ging zum Raum nebenan.
Rally und May hatten diesen Raum besonders gründlich auf Wanzen
abgesucht, um das Telefon darin einigermassen sicher benutzen zu
können. Die Wahrscheinlichkeit, abgehört zu werden, war hier also
bedeutend kleiner, als in irgend einem anderen Teil des Ladens.
"Also", begann Rally. "Becky ist schon eine ganze Weile hinter diesem
Tanner her. Aber ihrem Auftraggeber reichen die Informationen noch
nicht. Und weil sie einfach nicht weiterkommt, helfen wir ihr aus. Im
Gegenzug bekommen wir Beckys Infos zum Fall gratis, und einen Fünftel
der Erfolgsprämie."
"Was!? Becky bezahlt uns?"
May konnte das kaum glauben. Aber Rally nickte nur lächelnd.
"Die muss ganz schön verzweifelt sein", meinte May.
"Wie dem auch sei", fuhr Rally fort, "ich brauche deine Hilfe bei der
Sache. Und als erstes habe ich einen Job für dich und Ken, wo ich
eure speziellen Fähigkeiten brauche."
"Echt? Wann? Wo?"
"So schnell wie möglich. Was genau und wo werde ich dir draussen
erklären. Sicher ist sicher."
Mays Augen hatten einen Rally gut bekannten, und normalerweise
gefürchteten, Glanz angenommen. May konnte es anscheinend kaum
erwarten. Für sie war das zu schön, um wahr zu sein.
"Alles klar, ich hole das 'beim Fischen'-Schild, und..."
"Das wird nicht nötig sein", unterbrach Rally. "Ich habe von der Bar
aus eine Vertretung organisiert."
"Eine Vertretung?"
"Ja. Für den Laden. Während wir weg sind."
May setzte einen halb verwunderten, halb fragenden Blick auf. Doch
Rally schien entschlossen zu sein, May auf die Folter zu spannen. Die
'Folter' dauerte indes nicht lange. Die rote Lampe über der Tür zum
Verkaufsraum begann zu blinken, was bedeutete, dass jemand den Laden
betreten hatte. Rally und May gingen hinüber. Das heisst, Rally ging.
May stürmte eher.
"Hallo?", fragte Misty etwas verloren.
Es kam ihr seltsam vor, dass niemand im Verkaufsraum war. Doch kurz
darauf flog die Tür zum Nebenraum auf, und May stürmte herein.
"Misty?", fragte May überrascht.
"Genau", bestätigte Rally. Dann wandte sie sich Misty zu. "Danke,
dass du kommen konntest."
"Aber für dich doch immer", erwiderte Misty.
"Also, hier hast du eine Schürze", begann Rally zu erklären. "Das ist
der Schlüssel für den Munitionsschrank. Die hier sind für die
Waffenschränke. Das Lager lass ich zu. Komplexere Aufträge wie
Spezialanfertigungen oder Sonderbestellungen bringst du mir einfach
am Abend nach Hause. Ich seh sie mir dort an."
"Alles klar", sagte Misty, und legte sich die Schürze um.
"Du Rally?", fragte May. "Jetzt, wo Misty da ist, können wir doch
anfangen, oder?"
"Klar doch", meinte Rally beschwichtigend. "Gehn wir."
Draussen erklärte Rally May kurz, was sie tun sollte:
"Also, du nimmst jetzt deinen Wagen, und fährst nach Hause. Ken
wartet wahrscheinlich schon dort. Er wird dir alles weitere
erklären."
"Bin schon unterwegs", meinte May. "Und was machst du?"
"Ich statte einem alten Freund einen Besuch ab."
Eine halbe Stunde später befand sich May im Keller ihres gemeinsamen
Hauses, und hantierte mit einem elektronischen Gerät. Sie war sauer,
und man sah es ihr an. Ihre Laune besserte sich auch nicht, als Ken
durch die Tür kam.
"Bist du fertig?", fragte Ken.
"Gleich", brummte May.
Einige Sekunden später schaltete sie das Gerät ab.
"So, das wärs."
Gemeinsam gingen sie zur Kellertreppe.
"Warum bist du eigentlich so sauer?", fragte Ken.
"Als Rally von unseren besonderen Fähigkeiten sprach, dachte ich
eigentlich an Bomben, nicht an Elektronik. Und unser Haus zu
entwanzen finde ich nicht gerade aufregend", murrte May vor sich hin.
"Ach so, Rally hat dir also nicht gesagt, worum es sich bei der
Aufgrabe genau handelt."
"Hmpft. Hast du eigentlich welche gefunden? Bei mir war keine
einzige."
"Ja, am Lüftungsgitter war eine."
Ken griff in die Jackentasche, und holte besagte Wanze hervor. Der
Typ war May wohlbekannt. Es waren dieselben, die sie im Laufe der
letzten paar Wochen immer wieder gefunden hatten.
"Die hier scheint allerdings tot zu sein", fuhr Ken fort.
May hielt im Schritt inne.
"Tot?", fragte sie.
"Keine Signale", erklärte Ken. "Ich hab sie auch mit einem Multimeter
geprüft. Anscheinend ist ihr die Batterie ausgegangen."
"A-Aber wenn alle Wanzen vom gleichen Typ sind, dann ist unsere
Arbeit vielleicht..."
"Nicht so voreilig. Es könnten ja auch welche nachträglich platziert
worden sein."
Ken ging weiter zur Treppe, und stieg ins Erdgeschoss hinauf, um auch
dieses zu prüfen. May folgte ihm. Aber nicht, bevor sie ein lautes
"Warum ich?!" durch die Gänge schallen lies.
Arthur Cogan war guter Laune. Zum einen hatte er für seine Aussage
als Kronzeuge Straffreiheit erhalten. Zum anderen hatte er seinen
Wegzug aus dieser Stadt organisieren können. Nicht mehr lange, und er
konnte die meisten seiner Feinde hinter sich lassen. Nicht zu
vergessen seine Unterkunft, eine Wohnung in einer Bruchbude, die
irgend ein Witzbold als Wohnhaus eingestuft hatte. Noch dazu in einem
heruntergekommenen ex-Industrieviertel. Aber immerhin waren die
Mieten niedrig, und die Umgebung ruhig.
Wie schon gesagt, er war guter Laune. So guter Laune sogar, dass es
ihn nicht weiter störte, dass die Ganglichter schon wieder
ausgefallen waren. Das passierte so häufig, dass er mittlerweile
darin geübt war, das Schüsselloch im Dunkeln zu treffen. Das war auch
tagsüber nötig, da der Gang keine Fenster hatte. Er hatte gerade den
Schlüssel in die Hand genommen, als er hinter sich eine ihm bekannte
Stimmer hörte.
"Guten Abend Mister Cogan", sagte Rally.
Das genügte, um bei Cogan den Angstschweiss ausbrechen zu lassen.
Einen Moment dachte er daran, über die Feuertreppe am anderen Ende
des Ganges zu flüchten. Aber dann fiel ihm ein, dass dies ein
hoffnungsloses Unterfangen gewesen wäre. Der Notausgang war
blockiert. Die Leute hier fürchteten Einbrecher mehr als Brände.
Langsam drehte er sich um. Es war tatsächlich Rally, die da vor ihm
stand. Er sah keine Waffe, aber er zweifelte keine Sekunde daran,
dass sie mindestens eine bei sich trug.
"N'Abend", sagte er langsam.
"Wollen wir nicht reingehen?", fragte Rally.
Cogan nickte nur kurz. Er schloss die Tür auf und ging geradewegs ins
Wohnzimmer. Das war der einzige Raum, der gross genug war, dass sich
zwei Personen darin aufhalten konnten, ohne sich auf die Füsse zu
treten.
"Verdammt!", dachte er sich. "Die ist sicher nicht da, um sich nach
meiner Gesundheit zu erkundigen. Und dabei hätte ich es fast
geschafft."
Er hörte, wie Rally die Tür schloss, und ihm folgte. Ihr fiel sofort
auf, dass die Wohnung fast leer war. Mal abgesehen von ihr und Cogan
waren da nur noch die beiden grossen Koffer bei der Tür, und der alte
Sessel im Wohnzimmer, der zu sperrig war, um ihn mitzunehmen.
Ungefragt setzte sie sich.
"Du ziehst weg?", fragte sie.
"Mmmm... ja. Auf Anraten meines Arztes. Die... Atmosphäre in dieser
Stadt ist nicht gut für mich."
"Jaja... Der Bleigehalt ist in den letzten Wochen deutlich gestiegen.
Das kann einem ganz schön ans Herz gehen."
"Öh... So in der Art."
Cogan warf einen flüchtigen Blick zum Fenster. Sollte er es
riskieren, und rausspringen? Immerhin waren sie hier nur im ersten
Stock. Andererseits... weh tun würde es auch so. Rally war der Blick
offenbar aufgefallen, den sie stand auf, und lehnte sich, sehr zu
Cogans Missfallen, gegen das Fenster. Damit war die Sache auch
entschieden.
"Sag mal", fuhr Rally fort, "so ein Umzug kostet doch einen Haufen
Geld. Vor allem, sicherzustellen, das man am neuen Ort *nicht*
erreichbar ist."
"Oh, das Zeugenschutzprogramm..."
"...hast du nicht in Anspruch genommen. Misstraust wohl der Polizei,
was?"
Cogan schluckte leer. Sie hatte ihre Hausaufgaben gemacht. Das gefiel
ihm gar nicht.
"Na schön", brummte er, "ich habe ein paar Dinge verkauft, um an das
nötige Geld zu kommen."
"Dinge wie Informationen über meine Verwicklung in den Fall
Stevenson?"
Das hatte Cogan befürchtet. Rally wusste bereits alles, und war nur
da, um abzurechnen. Aber sie hatte einen entscheidenden Fehler
gemacht. Jetzt, wo sie am Fenster stand, war der Weg durch die Tür
frei! Cogan drehte sich um, rannte zur Tür, und riss sie auf. Doch
die Tür öffnete sich nur ein Stück weit. Rally hatte beim
hereinkommen die Kette eingehängt. Geistesgegenwärtig versuchte Cogan
noch, die Kette zu lösen, doch da war Rally bereits neben ihm, und
schlug die Tür wieder zu.
"Schluss mit den Spielchen!", rief sie. "Was hast du Tom erzählt?!"
"Tom? Wer ist Toooo?"
Rally zog ihn an an einem Ohr zurück ins Wohnzimmer, und drückte ihn
in den Sessel. Dann zog sie betont langsam und mit einer sehr
verärgerten Miene die CZ-75, ihre Lieblingspistole, aus dem
Seitenhalfter.
"Ist ja gut, ist ja gut!", schrie Cogan in Panik. "Ich habe so einem
Typen von Stevensons Sicherheitstruppe verraten, dass du hinter der
Sache gesteckt hast. Mehr nicht, ich schwörs! Und er Kerl hiess
Martin, nicht Tom!"
"Martin ist sein Nachname. Wo steckt er jetzt?"
"Woher soll ich das Wissen! Ich kenn den Typen doch gar nicht!",
jammerte Cogan.
Rally stieg wieder in den Wagen. Ihr Verhör von Cogan war nicht
besonders ergiebig gewesen. Natürlich wusste sie, dass Cogan nie
selbst im Labor war. Trotzdem hatte sie gehofft, dass Stevenson ihn
zumindest in einige wenige Dinge eingeweiht hatte. Sie rief Becky mit
dem Autotelefon an, und brachte sie auf den aktuellen Stand der
Dinge.
"Tja, das ist Pech", sagte Becky. "Aber wenigstens wird er sich jetzt
wohl hüten, uns weiteren Ärger zu machen."
"In der Tat", meinte Rally grinsend. "Aber leider bringt uns das auch
nicht weiter."
"Kopf hoch. Ich hab hier eine nette, kleine Liste mit Toms üblichen
Verstecken."
"Ah schön, dann werd ich die mal überprüfen." Rally öffnete das
Handschuhfach, und holte daraus einen Notizblock. "Also, schiess
los."
"Nicht so hastig", wandte Becky ein. "Das sind neue Informationen.
Die verrechne ich dir."
"Nix da", protestierte Rally. "Laut Abmachung bekomme ich alle
Informationen gratis, die diesen Fall betreffen. Nicht nur
diejenigen, die bereits vorher bekannt waren."
"Aasgeier!"
Rally musste ob dieser letzten Bemerkung Beckys grinsen, denn
üblicherweise war die Situation umgekehrt. Becky gab schliesslich,
wenn auch zähneknirschend, die Adressen heraus, und Rally notierte
sie sich.
"Gut", sagte Rally schliesslich. "Ich werd mal noch so viele prüfen,
wie ich heute schaffe. Ken und May sollten auch bald fertig sein. Wir
können uns also heute Abend bei mir treffen. Sagen wir, um acht?"
"Kein Problem. Aber an deiner Stelle würde ich mich beeilen. Tanner
ist mit Sicherheit selbst bereits auf der Suche nach Tom. Und die
alten Verstecke zu prüfen, ist Routine."
"Jaja. Ich mach diesen Job auch nicht erst seit gestern, weist du."
"Wie du meinst. Aber ruf mich an, falls du Tanner findest, okay?"
"Meinetwegen", brummte Rally und legte auf.
Ihr Plan war einfach. Gerade deshalb hoffte sie auf Erfolg. Da Tom
noch nicht bei der Polizei abgeliefert worden war, war er ja
offensichtlich noch frei, und Tanner logischerweise hinter ihm her.
Sollte Rally Tom finden, bevor Tanner das tat, würde Tanner ihr
früher oder später in die Arme laufen. Rally klaubte einen Stadtplan
hervor, und suchte die Standorte der Verstecke heraus. Natürlich
waren sie über die ganze Stadt verteilt. Rally beeilte sich daher.
Die ersten drei Verstecke waren ein Reinfall. Weder von Tom noch von
Tanner war die geringste Spur vorhanden. Das beunruhigte Rally nicht
weiter, doch allmählich wurde es später, und Rally wusste, dass sie
die Suche bald abbrechen musste, wenn sie noch rechtzeitig zu Hause
sein wollte. Beim vierten Versteck erwartete sie jedoch eine
Überraschung. Vor dem Haus stand ein blauer Corsa. Genau so einer,
wie ihn auch Tanner fuhr. Jetzt waren diese Wagen zwar alles andere
als selten, doch dieser hier stand ganz alleine auf weiter Flur.
"Mal sehen", dachte sich Rally, und wartete in sicherer Distanz.
"Vielleicht..."
Sie wurde nicht enttäuscht. Kurze Zeit später kam Tanner,
offensichtlich unverrichteter Dinge, aus dem Gebäude. In seiner
rechten Hand hielt er ein Gewehr. Es war tatsächlich ein SG551. Mit
ihrem Kennerblick erkannte Rally sofort das überlange Magazin. Das
erstaunte sie, denn mit 30 Schuss war dieses Magazin doch recht gross
für ein halbautomatisches Gewehr. Es seie denn, natürlich, es würde
sich um die vollautomatische Armeeversion handeln. Aber dann wäre
diese Waffe in den Händen eines Zivilisten normalerweise illegal.
Das Geräusch von Tanners startendem Corsa holte sie aus ihren
Gedanken. Vorsichtig verfolgte sie ihn im Cobra. Als sie vor einer
roten Ampel halten musste, rief sie Becky an:
"Du Becky, ich hab Tanner. War ein Riesenglück. Ich hab ihn zufällig
gesehen, wie er eines von Toms Verstecken verliess."
"Spitze! Wo seit ihr jetzt?"
"Er ist wieder unterwegs. Von der Fahrtrichtung her zu urteilen, ist
er auf dem Weg zu einem der anderen Verstecke."
Rally gab die Adresse des Versteckes durch, von dem sie vermutete,
das Tanner es ansteuerte.
"Alles klar", sagte Becky. "Ich mach mich sofort auf den Weg.
Unternimm nichts, bevor angekommen bin, hörst du?"
"Ist ja gut."
Rally legte wieder auf. Das Lichtsignal schaltete ebenfalls gerade
wieder auf grün, so dass sie Tanner weiter folgen konnte. So
allmählich bereute sie es, den Auftrag angenommen zu haben. Dass die
Tatsache, dass sie für Becky arbeitete, auch bedeutete, dass sie nach
Beckys Regeln arbeitete, hatte sie schlicht nicht bedacht. Sie machte
sich so ihre Gedanken, als Tanner mitten in einem Industrieviertel
unvermittelt vor einem Haus anhielt. Dass war dumm, denn es war
deutlich nach Feierabend, und die Gegend dementsprechend ruhig. Rally
konnte hier nicht einfach anhalten, ohne das es auffiel. Daher fuhr
sie an Tanner vorbei, und bog in die nächste Seitenstrasse ein. Erst
dort stellte sie den Wagen ab. Sie stieg aus, und sah um die Ecke.
Auch Tanner war mittlerweile ausgestiegen, und betrachtete das Haus
gegenüber. Es war ein altes Lagerhaus, dass anscheinend schon seit
einiger Zeit leerstand. Ideal für ein Versteck also. Das Problem lag
lediglich darin, dass dies nicht das Haus war, welches Rally gemeint
hatte. Es stand noch nicht einmal auf der Liste. Rally schnappte sich
das Autotelefon, und versuchte, Becky zu erreichen. Doch Becky
antwortete nicht. Sie war wohl schon unterwegs. Rally riskierte, den
Hörer in der Hand, einen zweiten Blick. Tanner ging mittlerweile, das
Gewehr gut sichtbar, zum Lagerhaus hinüber. Zufällig sah Rally, wie
sich im ersten Stock des dreigeschossigen Gebäudes die Überreste
dessen, was wohl mal ein Vorhang gewesen war, bewegten. Tanner schien
es nicht zu bemerken.
"Idiot!", dachte Rally. "Du wirst noch erschossen!"
Als Tanner schliesslich die Tür erreichte, und Becky noch immer nicht
antwortete, wurde es Rally zufiel. Sie schmiss den Hörer auf die
Gabel, und schloss den Wagen ab. Dann zückte sie die Pistole, und
rannte selbst zum Eingang, den Tanner gerade hinter sich geschlossen
hatte.
Überraschungen und andere Unannehmlichkeiten
Rally entsicherte die Waffe, und öffnete vorsichtig die Tür, durch
die Tanner eben gegangen war. Tanner war nicht zu sehen. Vermutlich
war er bereits nach oben gegangen. Leise schloss Rally die Tür
wieder, und sah sich kurz um. Sie stand in einem Gang, der gerade von
der Eingangstür wegführte, und an der gegenüberliegenden Hauswand
endete. An der rechten Seite hatte es verschiedene Türen, die
vermutlich zu ehemaligen Büros führten. Ganz hinten rechts war ein
Treppenhaus. An der linken Seite hatte es lediglich zwei Durchgänge.
Einen gleich beim Eingang, und einen gegenüber des Treppenhauses.
Rally hörte ein Geräusch von links oben. Vorsichtig ging sie durch
den Durchgang neben ihr. Unvermittelt stand sie in einem grossen,
praktisch leeren Lagerraum. Ein kurzer Rundblick zeigte, dass, wer
immer auch das Geräusch verursacht hatte, bereits wieder weg war.
Auch hier sah sich Rally kurz um. Der Lagerraum nahm drei Stockwerke
ein. Im Erdgeschoss befand sich eine grosse Schiebetür, die jedoch
zugenagelt worden war. Im ersten und zweiten Stock waren jeweils
Laufgänge, die rund um den Raum führten. Sie waren, wie im
Erdgeschoss, mit je zwei Durchgängen mit dem anderen Gebäudeteil
verbunden. Ausserdem hatte es beim Durchgang, durch den Rally gerade
gekommen war, sowie in der Ecke schräg gegenüber, jeweils eine
Leiter. Am Durchgang im zweiten Stock, auf halber Strecke zwischen
der hinteren Leiter und dem hinteren Durchgang, hatte jemand ein Seil
befestigt, welches jetzt von dort bis zum Boden des Raums
herunterhing.
"Tanner durchsucht das Gebäude vermutlich von unten nach oben",
dachte sich Rally. "Wenn ich also von oben nach unten suche, können
wir Tom in die Zange nehmen."
Rally kletterte die Leiter hoch in den zweiten Stock. Von dort aus
ging sie auf den Gang hinüber. Auch hier waren Bürotüren auf der
rechten Seite. Rally wollte die Zimmer einzeln prüfen. Sie ging zur
ersten Tür, um sie rasch und lautlos zu öffnen. Leider hatten die
Scharniere schon bessere Tage gesehen. Die Tür schwang zwar auf, aber
ein lautes Quietschen liess sich nicht vermeiden. Der Raum wahr leer.
Rally schloss die Tür wieder, und ging zur nächsten. Gerade, als sie
die Tür öffnen wollte, hörte sie Schritte im Treppenhaus. Sie ging
ein paar Schritte zurück, damit sie Notfalls im Durchgang Deckung
nehmen konnte. Aber es war nur Tanner, der da heraufkam. Er hatte das
Gewehr nicht im Anschlag. Aber so, wie er es hielt, war dies nur eine
Frage eines Sekundenbruchteils. Keine Frage: Er wusste, wie man damit
umgeht.
"Sie hatten mir doch versprochen, sich da rauszuhalten", sagte er,
während er zu Rally hinüberging.
Er sagte dies nicht vorwurfsvoll. Eher schon im Tonfall einer
sachlichen Feststellung.
"Tut mir leid", entschuldigte sich Rally.
"Jedenfalls sollten sie nicht den Cobra nehmen, wenn sie jemanden
verfolgen", meinte Tanner.
"Der Wagen ist wohl etwas zu auffällig", sagte Rally etwas verlegen.
"Allerdings", bestätigte Tanner leicht schmunzelnd.
In diesem Moment wurde die Bürotür beim Treppenhaus eingetreten. Tom
stürmte heraus, und zielte mit einer Uzi auf Rally. Tanner, der zu
diesem Zeitpunkt etwa in der Mitte des Gangs stand, fuhr herum, und
zielte auf Tom. Rally tat es ihm gleich.
"Schau an, wenn das nicht Rally Vincent ist", brüllte Tom. "So siehst
du also wirklich aus."
"Hallo Tom. Neue Waffe?", erwiderte Rally.
Tanner gab sich ebenfalls unbeeindruckt. "Mr. Martin, Sie sind
verhaftet", sagte er schlicht.
"Nun mal langsam, Freundchen. Sonst ist deine Kollegin hier nur noch
als Sieb zu gebrauchen", meinte Tom.
"Ich glaube nicht", konterte Rally. "Du schätzt deine Lage falsch
ein."
"Ach, ist das so? Inwiefern denn?", fragte Tom.
"Nun, du hattest die Wahl, entweder auf mich oder auf Mr. Tanner zu
zielen. Das du auf mich zielst, ist eine ziemliche Dummheit."
Rally demonstrierte, was sie meinte, indem sie durch den Durchgang
sprang, und auf dem Laufgang abrollte. Tom war damit seines Zieles
beraubt. Aus dem Gang hörte Rally einen Gewehrschuss, und dann wie
jemand alles andere als lautlos die Treppe hinunterstürmte. Rally
kletterte die Leiter hinunter ins Erdgeschoss, und rannte wiederum
durch den Durchgang. Gerade noch rechtzeitig, um Tom aus dem
Treppenhaus stürmen zu sehen. Tom sah Rally ebenfalls, und rannte
geradewegs weiter in den Durchgang beim Treppenhaus. Rally stürmte
wiederum zurück, aber Tom war nicht im Lagerraum. Sie lief in den
Gang zurück, aber dort war er ebenfalls nicht. Er war im Durchgang
stehengeblieben, wie Rally klar wurde, als Tom eine Salve auf den ihn
über die Treppe verfolgenden Tanner abfeuerte.
"Geben Sie auf, Martin!", rief Tanner mit seltsam nasaler Stimme.
"Du kannst mich mal!", rief Tom zurück.
"Sie können nicht ewig hier bleiben."
"Das gilt aber auch für euch! Mal sehen wer länger durchhält!"
Rally war in der Zwischenzeit in die Lagerhalle gegangen, und der
Wand entlang zum Durchgang geschlichen, in dem sich Tom verbarg.
Jetzt sprang sie mit entsicherter Waffe hervor. Aber Tom war viel
schneller als erwartet. Er sprang seinerseits in den Gang, und rannte
zum Ausgang. Rally sprang ihm hinterher, und feuerte einen Warnschuss
zu seiner Linken.
"Hier kommst du nicht raus!", rief sie.
Tom rannte durch den Durchgang bei der Tür. Rally fluchte, und rannte
ihrerseits zurück in den Lagerraum. Sie konnte gerade noch sehen, wie
Tom die Leiter hinaufkletterte, und hörte Schritte auf dem Laufgang
im ersten Stock.
"Er ist oben!", rief sie Tanner zu.
Dann rannte sie zur Leiter gegenüber, die jetzt näher war. Als sie
bis in den ersten Stock geklettert war, hörte sie wiederum Schritte
auf dem Laufgang im zweiten Stock, der von der Leiter zum Durchgang
führte. Rally machte ein paar Schritte auf den anderen Laufgang, so
dass sie freies Blickfeld nach oben hatte. Es war Tom. Er war
wirklich extrem schnell. Rally brachte die Pistole in Anschlag.
"Keine Bewegung!"
Tom fuhr herum, und zielte auf Rally. Doch diesmal war Rally
schneller. Ihre Kugel drang schräg in den Lauf der Uzi ein, und
machte die Waffe unbrauchbar. Ein zweiter Schuss riss die Waffe aus
Toms Hand.
Der zweite Schuss stammte nicht aus Rallys Waffe. Es war Tanner, der
Tom mittlerweile gefolgt war. Er kam gerade, mit dem Gewehr im
Anschlag, auf den Laufgang heraus. Nun konnte Rally sehen, warum
Tanners Stimme vorhin so nasal geklungen hatte. Tanner hatte zwei
Schläuche in der Nase, die aussahen, als ob sie zu einem Atemgerät
gehören würden.
"Geben Sie auf", forderte Tanner. "Auch eine kugelsichere Weste nützt
Ihnen nichts gegen diese Kugeln."
Da hatte Tanner vermutlich recht. Gegen .223-er Gewehrkugeln, wie er
sie verwendete, hilft nur eine Weste, die zusätzlich mit
Keramikplatten verstärkt worden ist. Tom ging kein Risiko ein, und
hob die Hände. Er sah zur Uzi hinüber, die sich im Geländer des
Laufgangs verfangen hatte. Der Verschluss war sauber durchschossen
worden. Genau wie damals, als Rally aus dem Labor flüchtete.
"Zwei auf einen Streich", murmelte Tom.
Langsam drehte er sich um, so dass er Tanner den Rücken zeigt.
"Ich habe nichts von umdrehen gesagt", sagte Tanner.
Tom sprang. Mit Händen und Füssen griff er die Aussenseite der
Leiter, und liess sich hinabgleiten. Tanner reagierte schnell. Aus
einer Innentasche seiner Jacke holte er ein Bremsseilrolle, und
hängte diese an dem Seil ein, das am Laufgang hing. Rasch liess er
sich hinunter. Doch Tom war etwas schneller gewesen, und erwartete
ihn unten bereits. Mit einer schnellen Bewegung schlug er Tanner das
Gewehr aus der Hand. Es schlitterte quer durch die Halle. Tanner
revanchierte sich mit einem Tritt in Toms Bauch, doch dessen
Bauchmuskulatur schien aus Stahl zu bestehen. Tom taumelte lediglich
etwas zurück, und griff dann sofort wieder an. Rally konnte nicht
einschreiten, denn sie hatte zwar eine freie Sichtlinie, in dem
Gerangel aber kein klares Ziel. Das Problem war, dass ihre Kugeln Tom
problemlos durchschlagen konnten. Und sie wollte Tanner auf keinen
Fall gefährden. Andererseits war es überdeutlich das Tanner Tom
unterlegen war. Er wich immer weiter zurück... in Richtung seines
Gewehrs, wie Rally plötzlich erkannte. Als er nur noch zwei Schritte
davon entfernt war, drehte er sich um, und wollte das Gewehr
aufheben. Tom aber hatte seine Absichten durchschaut, und hielt ihn
an der Jacke fest. Als Tanner sich wieder umdrehte, um sich zu
befreien, liess Tom unvermittelt los. Tanner verlor das
Gleichgewicht. Er war zwar sofort wieder auf den Beinen, aber
inzwischen hatte sich Tom das Gewehr geschnappt. Und natürlich stand
er genau zwischen Tanner und Rally.
Tom nahm das Gewehr locker in Anschlag, und hielt es gegen Tanner.
"Und nun?", fragte er höhnisch.
"Das Gewehr ist gesichert", erwiderte Tanner.
"Sehr witzig."
"Nicht wirklich."
Ein gezielter Tritt Tanners in die rechte Hand von Tom entwaffnete
diesen wieder. Das Gewehr wirbelte herum. Tanner wollte es auffangen,
aber da traf ihn eine rechte Gerade Toms mitten ins Gesicht. Er
taumelte zur Wand zurück. Die Schläuche in seiner Nase färbten sich
rot. Tom, wohl wissend, dass Rally leicht auf ihn schiessen konnte,
wenn er zu weit von Tanner weg war, liess das Gewehr liegen, und
baute sich direkt vor Tanner auf. Aus seinem Gürtel zog er einen
kleinen Colt 25, den er Tanner vors Gesicht hielt. Rally machte sich
bereit zu schiessen, denn jetzt war es nicht mehr so wichtig, ob
Tanner ebenfalls verletzt wurde. Aber sie musste eine Stelle treffen,
die höchstwahrscheinlich nicht geschützt war, und die Tom sofort
ausser Gefecht setzen würde. Da bemerkte sie, wie Tanner seine Jacke
etwas zurückzog.
"Okay, Tom, du hattest deinen Spass!", rief Rally. "Jetzt steck brav
deine Pistole wieder ein, und nimm die Hände hoch."
"Ich denke nicht daran", rief Tom, ohne sein Gesicht von Tanner
abzuwenden. "Ich glaube nämlich, ich bin hier in der stärkeren
Position."
"So? Soll ich dich vielleicht in Notwehr erschiessen? Jedes Gericht
der Welt würde das in dieser Situation akzeptieren."
"Und deinen Freund hier? Den willst du doch nicht verletzen, oder?"
"Wenn es nicht anders geht..."
Tom drehte den Kopf zu Rally. "Also hör mal!", rief er.
Genau darauf hatte Tanner gewartet. Blitzschnell zog er das Messer,
das er unter der Jacke versteckt hatte, und rammte es längs in Toms
Handgelenk.
Kurz darauf traf die Polizei ein, um Tom einzusammeln. Aber es
dauerte noch eine halbe Stunde, bis der Tatbestand aufgenommen, und
die Spurensicherung abgezogen war. Tanner diskutierte draussen, mit
einem Polizisten, während Rally in der Lagerhalle stand, und
versuchte, einem anderen Polizisten die Situation zu erklären.
"Also, sie standen da oben auf dem Laufgang, und Martin und Tanner
kämpften hier unten, richtig?", fragte er.
"Genau", bestätigt Rally.
"Und während des Kampfes hat dann Martin Tanner das Gewehr
entrissen."
"Nein! Martin hat Tanner das Gewehr gleich zu Beginn des Kampfes aus
der Hand geschlagen."
"Aber sie haben doch gesagt, Martin habe mit dem Gewehr auf Tanner
gezielt?"
"Ja, nachdem Martin es wieder aufgelesen hatte."
"Warum hat Tanner es denn nicht aufgelesen."
"Weil er nicht ran gekommen ist, verdammt!"
"Ganz ruhig, Miss Vincent. Aufregen bringt sie hier auch nicht
weiter. Also, danach wurde Tanner gegen die Wand geschlagen, und dann
haben sie von dort oben aus auf Martin geschossen."
Es ging noch eine ganze Weile so weiter. Als der Polizist
schliesslich darauf beharrte, Rally mit auf die Wache zu nehmen,
hätte sie ihn am liebsten erwürgt. Zum Glück kam da gerade der andere
Polizist, der mit Tanner geredet hatte, herein. Dieser meinte knapp,
es sei nicht nötig Rally oder Tanner auf die Wache zu nehmen, zumal
beide bei der Polizei bekannt waren. Rallys Polizist war zwar
offensichtlich nicht damit einverstanden, fügte sich aber in sein
Schicksal. Missmutig ging er nach draussen. Rally folgte ihm.
Draussen waren mittlerweile die meisten Wagen wieder verschwunden.
Ausser der Polizeiabsperrung deutete nichts mehr auf die Ereignisse
hin. Tanner lehnte sich gegen die Hauswand. Er sah etwas mitgenommen
aus. Zwei rote Striche unter der Nase zeugten vom Nasenbluten. Sein
Gewehr lehnte an der Wand. Die Jacke hatte er ausgezogen, und auf den
Boden gelegt. Denn Ausbuchtungen nach zu schliessen, enthielt sie
recht viel Ausrüstung. Rally konnte jetzt sehen, dass Tanner ziemlich
gut gepanzert war. Unter seinem ärmellosen Hemd trug er anscheinend
eine ziemlich dicke, schusssichere Weste. Auch die Arme waren durch
etwas, dass wie 'schusssicherer Ärmel' aussah, geschützt. Nur die
Gelenke waren frei.
"Ah, Miss Vincent", sagte Tanner. "Sie sehen etwas mitgenommen aus."
Rally stutzte einen Moment. Dann antwortete sie: "Ach, der Kerl hat
mich ein bisschen durch die Mangel genommen." Sie deutete auf den
Polizisten, der gerade in den letzten, bereitstehenden Polizeiwagen
eingestiegen war. "Ich mache mir mehr sorgen um Sie."
"Wieso, wegen des Faustschlags? Ich hab schon schlimmeres erlebt. Ich
glaube, Toms Schrei hat mir fast mehr geschadet."
"Naja, immerhin haben Sie ihm ja auch ins Handgelenk gestochen. Das
tut ganz schön weh."
"Ich denke eigentlich, ich war ziemlich nett zu ihm. Ich habe nur
seine Fingersehnen durchtrennt, so dass er die Waffe losliess.
Immerhin hätte ich ihn ja auch töten können."
Der andere Polizist kam aus dem Gebäude. Er hielt das Seil, dass an
den Laufgang gehängt war, aufgewickelt in der rechten Hand.
"Da hast du dein Seil zurück, Donald", sagte er, und warf das Seil
Tanner zu.
"Danke Paul", erwiderte dieser. "Aber sag deinem Azubi, er soll
künftig nicht mehr so übereifrig sein."
"Geht klar", meinte Paul grinsend. "Dein Messer ist leider
Beweisstück. Das kann ich dir nicht aushändigen."
"Das ist Verbrauchsware. Behaltet es als Souvenir."
"Okay. Für die Bestätigung musst du dich noch auf der Wache melden.
Bis dann!"
Dann stieg Paul ins Auto, und fuhr weg. Auch Tanner machte sich
daran, zu gehen. Er legte das Seil um seine Schulter.
"Ich... wollte mich noch entschuldigen", sagte Rally.
"Wofür?", fragte Tanner.
"Nun ja, weil ich mich in Ihren Fall eingemischt habe."
Tanner zuckte mit den Schultern. "Solange das Ergebnis stimmt..."
"Naja. Unter einem perfekten Ergebnis hätte ich mir vorgestellt, Tom
zu schnappen, ohne das jemand von uns verletzt wird."
"Ach was..."
"Hm. Ein Indianer kennt keinen Schmerz, was?"
Die Luft um Tanner schien schlagartig abzukühlen. Rally fragte sich,
ob sie nicht etwas falschen gesagt hatte.
"Da irren sie sich, Miss Vincent", sagte Tanner ernst. "Schmerzen
sind mir sehr wohl bekannt."
Er öffnete den Ärmel an seinem linken Oberarm. Darunter kam eine
riesige Brandnarbe zum Vorschein. Rally erschrak.
"Tut... tut mir leid", stammelte sie.
"Schon gut. Das konnten sie ja nicht wissen."
Tanner schnallte den Ärmel wieder an. Dann nahm er seine Jacke und
sein Gewehr, und ging zu seinem Wagen. Auch Rally ging zu ihrem
Cobra, der immer noch in der Seitengasse geparkt war. Kaum sass sie
drinnen, da läutete auch schon das Autotelefon. Verwundert nahm es
Rally ab.
"Du hast es vermasselt!", brüllte Beckys Stimme aus dem Hörer.
"Oh Hallo Becky. Was meinst du mit..."
"Tu nicht so. Ich beobachte dich seit einer Viertelstunde. Glaubst
du, ich sei nicht fähig, Polizeifunk abzuhören? Wir sehen uns bei
dir! Und ich hoffe, du hast ein paar gute Erklärungen zur Hand!"
Becky legte auf. Rally tat es ihr gleich.
"Toll!", dachte sie sich. "Genau das, was mir zum krönenden Abschluss
eines erfolgreichen Tages noch fehlt."
Die Stimmung zuhause war nicht die beste. Becky war sauer, May war
sauer und Misty schien beunruhigt zu sein. Nur Ken machte einen
ziemlich unbeteiligten Eindruck. Rally machte sich auf ein paar
unangenehme Fragen gefasst. Sie sollte nicht enttäuscht werden.
"Also?", fragte Becky. "Darf ich mal erfahren, was dein Alleingang
sollte?"
"Alleingang?", fragte Misty noch mehr beunruhigt also vorher.
"Rally! Du hast doch nicht etwa...", rief May.
Rally hob beschwichtigend die Hände. "Ja. Ich habe Tanner gesehen,
wie er gerade Tom verhaften wollte. Und ich habe in den Kampf
eingegriffen", gab sie zu.
"Na, das ist mal wieder typisch", meinte May. "Ich darf hier das
ganze Haus nach Wanzen durchwühlen, und du machst dich auf die Jagd.
Die Action findet mal wieder ohne mich statt, was?"
"Die Action? Ein Glück dass du nicht dabei warst!", warf Becky ein.
"Was bitteschön soll das jetzt wieder heissen?"
"Du hättest alles noch schlimmer gemacht! Wahrscheinlich hättest du
das ganze Haus gesprengt."
"Na Und?"
"Was heisst da, na und? Der Trick beim observieren ist es, unbemerkt
zu bleiben. Nicht, mitten rein zu spazieren."
"He, he, beruhigt euch", beschwichtigte Rally. Dann fuhr sie fort.
"Tut mir leid, Becky. Aber als Tanner so offen auf den Hauseingang
zuging, dachte ich, er sei Tom vielleicht nicht gewachsen. Und ich
glaube nicht, dass dein Auftraggeber noch an den Informationen
interessiert ist, wenn Tanner tot ist. Ausserdem hatte Tanner meinen
Wagen schon vorher erkannt."
"Dann nimm halt nicht den Cobra. Der ist für solche Sachen ja wohl
nicht geeignet. Und was Tanners Fähigkeiten betrifft: Weist du
wieviele der schon eingelocht hat? Der Kerl ist ein Profi!"
"Ja, *das* ist mir auch klar geworden. Aber Tom ist auch nicht gerade
langsam. Er ist viel besser, als es den Anschein macht."
"Also, nach allem, was ich im Polizeifunk mitgekriegt habe, hat
Tanner Tom ausgeschaltet, nicht du."
"Ja. Tanner hat ihm ein Messer ins rechte Handgelenk gerammt. Können
wir jetzt das Thema wechseln?"
Becky war anscheinend nicht einverstanden. Rally erkannte das. "Habt
ihr noch Wanzen gefunden, May?", fragte sie, bevor Becky einen
Einwand bringen konnte.
"Nein", antwortete May knapp.
"Nein?", fragte Rally überrascht.
"Wir haben ein paar gefunden", erklärte Ken, wobei er geflissentlich
Beckys Versuche, das Gespräch wieder an sich zu reissen, ignorierte.
"Aber bei allen waren die Batterien leer. Von der Leistung des
Senders und der Grösse der Batterie her geschätzt, würde ich sagen,
dass die Dinger nicht länger als zwei Wochen durchhalten."
"Hmmm, sind wohl zur kurzfristigen Überwachung gedacht", meinte
Rally.
"Und genau das macht mir Sorgen", fuhr Ken fort. "Misty hat nämlich
eine gefunden."
"Genau", sagte Misty nervös, und legte besagte Wanze auf den Tisch.
"Die hier klebte an der Ladentheke."
"Ich habe die Batterie abgetrennt", sagte Ken, "aber vorher war sie
noch aktiv. Es ist derselbe Typ, wie die anderen. Sie muss also
relativ neu sein."
"Die ist definitiv neu", meinte May. "Die Theke hab ich sicher drei
mal gründlich abgesucht. Die wäre mir nicht entgangen."
"Hmmm...", sagte Rally, und betrachtete die Wanze genauer. Es war
wirklich derselbe Typ wie diejenigen, die sie schon früher gefunden
hatten. "Hast du irgendwas bemerkt, Misty?"
Misty schüttelte den Kopf. "Vielleicht hat sie einer der Kunden
angebracht, aber ich habe nichts bemerkt."
"Einer der Kunden", echote Rally. "Könnte es sein..."
"Sagt mal, bin ich eigentlich Luft!?", rief Becky dazwischen.
"Schon gut, Becky, beruhige dich wieder", sagte Rally, und steckte
die Wanze ein. "So tragisch ist die Sache nicht. Tanner hat keinerlei
Anzeichen gegeben, dass er vermutet, ich sei wegen ihm dort gewesen.
Wahrscheinlich glaubt er, ich sei ebenfalls hinter Tom her gewesen."
"Das hoffe ich für dich", brummte Becky, gab sich aber zufrieden.
"Die Frage ist eher, wie weiter", fuhr Rally fort. "Ich habe keine
Anhaltspunkte mehr. Wie siehts bei dir aus?"
"Ich habe die Kreditkartennummer einem Insider gegeben. Aber noch
habe ich nichts zurück bekommen. Ausserdem habe ich von Tanners Narbe
eine Fotografie gemacht. Die zeige ich mal einem Doktor."
"Hm? Was denn für eine Narbe?", fragte May dazwischen, die sich nicht
an eine Narbe erinnern konnte.
"Tanner hat eine grosse Brandnarbe am linken Oberarm", erklärte
Rally. "Ach und Becky: Im Kampf hatte Tanner zwei Schläuche in der
Nase, die nach einem Atemgerät aussahen. Vielleicht hilft das auch
noch weiter."
Becky nickte. "Ja, das könnte helfen. Hoffentlich erbringt dass eine
Spur. Naja, vielleicht hast du ja auch mehr Glück als Verstand, und
Tanner kreuzt nochmals in deinem Laden auf."
"Ich denke schon", murmelte Rally. "Ich hab so das Gefühl, dass er
das tun wird..."
Wie ein Licht im Nebel
Die nächsten zwei Tage war es ruhig. Rally nutzte die Gelegenheit, um
Misty im Laden etwas einzuführen. Schliesslich konnte es gut sein,
dass sie nochmals gebraucht würde. May und Ken hatten einen
unverdächtigen Wagen aufgetrieben. May hätte lieber ihren Fiat 500
behalten, aber Ken befürchtete, dass Tanner diesen Wagen bereits
kennen könnte.
Am dritten Tag war es mit der Ruhe vorbei. Rally, sie hatte gerade
den Laden geöffnet, sah Tanners blauen Corsa vorfahren. Misty war
einkaufen gegangen. Rally und May mussten also selbst zurechtkommen.
"Guten Tag, Mister Tanner", begrüsste ihn Rally freundlich, als er
zur Tür hereinkam.
"Guten Morgen", erwiderte dieser. "Wie läuft das Geschäft?"
"Kommt drauf an, welches sie meinen", meinte Rally lächelnd.
"Jedenfalls würde ich das gerne sagen. Aber Tatsache ist leider, dass
im Moment beides nicht besonders läuft."
"Naja, vielleicht kann ich ja wenigstens beim Waffengeschäft etwas
nachhelfen. Bei der Auseinandersetzung mit Martin habe ich bemerkt,
dass ich mich zu sehr auf des Gewehr verlasse. Also habe ich meine
Pistolen wieder hervorgeholt. Könnten Sie sich die mal ansehen?"
"Natürlich."
Tanner holte eine SIG P210 aus einem Seitenhalfter unter der Jacke,
und eine SIG P226 aus einer Tasche, die links unterhalb seines linken
Knies befestigt war. Bei beiden entfernte er die Magazine, entlud
sie, und legte sie dann auf den Tisch. Rally nahm die P210, und
demontierte sie. Sie betrachtete die Bauteile eingehend.
"Sie haben ihr Gewehr ja heute gar nicht dabei", sagte sie, während
sie den Lauf untersuchte.
"Warum sollte ich?", fragte Tanner.
"Weiss nicht. Aber beim letzten mal hatten sie es unter der Jacke
versteckt."
"Ach ja. Ich habe vergessen, dass ich mich im Laden eines Profis
befinde", meinte Tanner schmunzelnd.
"Zuviel der Ehre", erwiderte Rally. "Die P210 ist jedenfalls in gutem
Zustand. Ich schau mir mal die 226er an."
Die P226 war, aufgrund ihrer einfachen Konstruktion schneller
überprüft. Auch hier fand Rally nichts zu beanstanden.
"Sind beide in gutem Zustand", sagte sie, nachdem sie auch die P226
wieder zusammengesetzt hatte. "Ich würde damit bedenkenlos auf die
'Jagd' gehen."
"Zuallererst brauche ich aber Munition", sagte Tanner. "Sie haben
doch welche?"
"9mm Luger? In allen Geschmacksrichtungen."
"Dann hätte ich gerne GECO Dynamit Nobel, wenn sie welche haben."
"Jede Menge. Die benutze ich selber. Wieviel denn?"
"Für den Anfang 500 Schuss. Damit habe ich mal etwas Vorrat. Und ich
würde gerne ihren Schiessstand benutzen."
Nachdem Tanner die verlangte Munition erhalten hatte, ging er zum
Schiessstand hinüber. Rally schaltete den Überwachungsmonitor ein,
und beobachtete, wie er mit den Waffen umging. Nachdem Tanner zwei
Übungsserien geschossen hatte, ging sie zum Nebenraum, wo May sass.
"Komm mal rüber", sagte sie, und ging wieder zum Monitor. May folgte
ihr.
"Wer ist den im Schiessstand?", fragte May, als sie erkannte, das
Rally auf den Monitor schaute.
"Tanner", antwortete Rally knapp.
"Echt?" May lief ebenfalls zum Monitor. "Wie schlägt er sich denn?"
"Ganz gut. Er hat auf jeden Fall schon mit den Waffen trainiert."
Tanner hatte gerade eine weitere Übungsserie abgeschlossen, und liess
die Scheibe zurückkommen. Die Einschusslöcher waren zwar nicht so
nahe beisammen, wie May das von Rally gewohnt war, aber das Resultat
konnte sich durchaus sehen lassen.
"Hmmm... Scheint so, als könnte er nicht nur mit einem Gewehr
umgehen", meinte May.
Tanner schoss noch ein paar Serien. Dann war er mit dem Ergebnis
offenbar zufrieden. Er steckte die Waffen ein, und kam in den
Verkaufsraum zurück.
"Oh. Guten Tag Miss Hopkins", sagte er, als er May erblickte.
"Guten Tag. Wie liefs denn?", fragte May.
"Gar nicht schlecht. Muss wieder etwas in Übung kommen. Aber jetzt
wollen wir erstmal abrechnen."
"Selbstverständlich", meinte Rally, und holte die entsprechenden
Formulare hervor. "Und May, ich glaube, du hast was anderes zu tun,
nicht?"
"Bin schon unterwegs", sagte May in seltenem Enthusiasmus, und
verschwand wieder im Nebenzimmer.
May hatte tatsächlich etwas anderes zu tun. Sie verschwand durch den
Hinterausgang, und ging zum etwas abseits geparkten Ford Sierra, den
Ken für die Verfolgung ausgewählt hat. Wie üblich hatte May den Wagen
präpariert, so dass sie ihn trotz ihrer Kleinwüchsigkeit fahren
konnte. Vom Wagen aus beobachtete sie den Laden. Sie brauchte nicht
lange zu warten. Nach kurzer Zeit kam Tanner heraus, und fuhr mit
seinem Wagen davon. May heftete sich auf seine Fersen.
"Das ist ein interessanter Fall, Miss Farrah", sagte der Arzt.
"Was ist es denn genau?", fragte Becky.
Der Arzt legte die Aufnahme, die ihm Becky gegeben hatte, auf den
Tisch.
"Verbrennungen zweiten bis dritten Grades. Noch nicht all zu lange
her. Von der Vernarbung her würde ich sagen, dass der Arm eine Weile
lang unter oder in einem brennenden Gegenstand eingeklemmt war. Aber
das ist mehr Spekulation, als ein Befund."
"Sie meinen also, es sei ein Brand gewesen?"
Der Arzt nickte, und zeigte auf das Foto. "Sehen Sie. Der Rand der
Verbrennung ist fliessend. Hätte man ihn gefoltert oder sonstwie
absichtlich verbrannt, wäre eine scharfe Abgrenzung zwischen
verbrannter und nicht verbrannter Haut sichtbar. Nur hier ist ein
Streifen sichtbar, wo die Haut weniger verbrannt ist. Möglicherweise
ist hier ein Balken aufgelegen."
"Verstehe", sagte Becky. "Das würde vermutlich auch erklären, warum
er ein Atemgerät benutzt, wenn er etwas Anstrengendes unternimmt."
"Ist gut möglich. Wenn er tatsächlich in einen Wohnungsbrand oder
etwas ähnliches verwickelt war, dann hat er vermutlich eine
Rauchvergiftung und möglicherweise ein Hitzetrauma erlitten. Bei
anstrengenden Tätigkeiten kann die Lunge dann das Blut nicht mehr mit
genügend Sauerstoff versorgen. Das Inhalieren von Luft mit hohen
Sauerstoffanteil ist eine häufige Therapie in solchen Fällen. Wenn er
es allerdings ausschliesslich dazu braucht, um anstrengende
Tätigkeiten auszuführen, ist es äusserst ungesund."
"Ich glaube nicht, dass er auf sie hören wird. Aber danke für die
Auskunft."
"Ach, ich könnte doch niemandem einen medizinischen Ratschlag
vorenthalten."
Den Beisatz, "jedenfalls nicht bei der Bezahlung", sprach er nicht
aus. Aber Becky kannte ihn auch so.
"Eine Frage hätte ich noch", sagte Becky. "Sie sagten, die Narbe sei
noch nicht all zu alt. Wie alt schätzen sie denn?"
Der Arzt überlegte einen Augenblick. "Zu lange kann es nicht her
sein. Die Narbe ist noch relativ frisch. Drei oder vier Monate
vielleicht. Sechs Monate, wenn seine Haut langsam verheilt. Aber auf
keinen Fall länger." Becky nickte. "Danke. Ich werd mal sehen, ob ich
damit etwas anfangen kann."
May verfolgte Tanner. Wie Becky es ihr gesagt hatte, fuhr sie ihm
sehr vorsichtig hinterher. Sie war sich ziemlich sicher, dass Tanner
sie noch nicht bemerkt hatte. Tanner seinerseits machte es ihr aber
auch einfach. Er fuhr hauptsächlich über dicht befahrene Strassen.
Anscheinend rechnete er nicht mit einer Beschattungsaktion. Als
Tanner seinen Wagen aber in der Innenstadt einparkte, kam May etwas
in Bedrängnis, denn natürlich war weit und breit kein anderer
Parkplatz frei. Ausser einem gerade neben dem, den Tanner gerade
benutzt hatte. May liess es drauf ankommen. Sie drehte eine Runde um
den Block, so dass Tanner ausgestiegen war, als sie zurückkam. Sie
schaffte es, den Wagen in die letzte Parklücke zu setzen, ohne das
Tanner etwas zu bemerken schien. Der ging einfach von seinem Wagen
weg, und verschwand hinter der nächsten Ecke. May schnappte sich die
Kamera, die sie für solche Fälle im Handschuhfach deponiert hatte,
und folgte ihm. An der Kreuzung sah sie vorsichtig um die Ecke. Die
Querstrasse war sehr belebt. Trotzdem konnte May Tanner rasch
ausmachen. Er hatte die Strasse überquert, und ging nun zu einem
Kiosk auf der anderen Seite. Ein Mann in einem schwarzen Anzug stand
dort vor dem Zeitungsständer. Tanner beachtete in anscheinend nicht,
aber an den Lippenbewegungen konnte May erkennen, dass die beiden
sich durchaus unterhielten, ohne sich aber anzusehen. May schoss ein
paar Fotos von den beiden. Dann ging sie selbst so rasch wie möglich
über die Strasse, und schlich sich an den Kiosk heran.
"Wie weit ist er denn schon?", hörte sie Tanner fragen.
"Ziemlich weit. Er sucht schon die Standorte aus", sagte der Andere.
"Viel zu früh. Warum eilt es ihm so?"
"Nach allem, was ich weiss, steht er ziemlich unter Druck."
"Diese Idioten. Das macht alles komplizierter. Auf jeden Fall müssen
wir unseren Terminplan beschleunigen. Sonst hat er schon zuviel
Macht, wenn wir eingreifen."
"Ja. Der Boss hat bereits eine Besprechung angeordnet."
"Wie lautet der Code?"
"Brief 257"
"Ich werde da sein."
Ohne ein weiteres Wort zu wechseln, entfernte sich Tanner wieder vom
Zeitungsstand. Er ging nicht direkt zu seinem Wagen zurück. May
folgte ihm unauffällig, um zu sehen, ob er vielleicht an einen Ort in
der Nähe wolle. Aber Tanner umrundete lediglich den Block, und stieg
dann wieder in den Wagen. May wartete, bis Tanners Wagen aus der
Parklücke fuhr. Dann stieg sie selber ein, und nahm die Verfolgung
wieder auf.
Becky sass vor ihrem Computer. Sie durchforstete verschiedene
Datenbanken nach aussergewöhnlichen Brandfällen in Europa innerhalb
der letzten drei bis sechs Monate. Was sie fand, ermutigte sie nicht
gerade. Es gab eine ungeheure Anzahl ungeklärter Fälle, und es war
nicht gerade leicht, die banalen von den wirklich interessanten zu
trennen. Becky hatte gerade eine Datenbank der italienischen
Kriminalpolizei angezapft, und eine Suchabfrage abgesetzt, als das
Faxgerät sich meldete. Die Nachricht kam über den Scrambler, einem
Verschlüsselungsgerät für Faxe. Sie war also definitiv wichtig. Becky
schaute sich die Seiten an, die nach und nach ausgespuckt wurden. Sie
stammten vom Insider, den sie auf Tanners Kreditkartennummer
angesetzt hatte. Sie machte sich eine mentale Notiz, ihm mal wieder
eine Gefälligkeit zukommen zu lassen. Einen 'Maulwurf' in einem
derart neuralgischen Informationszentrum zu haben, war einfach
unbezahlbar.
"Gute Arbeit, mein Junge", murmelte Becky, als sie die Seiten
durchsah.
Die Informationen waren wichtig genug, um ein neues Treffen mit Rally
zu vereinbaren. Aber erst wollte Becky sehen, was die
Datenbankabfrage gebracht hatte. Sie setzte sich wieder an den
Computer. Die Ergebnisse kamen gerade herein. Als Becky die Einträge
durchsah, fiel ihr etwas auf. Sie startete die Abfrage erneut,
diesmal mit einem zusätzlichen Kriterium: Vermutete Beteiligung eines
nicht italienischen Syndikats. Und sie staunte nicht schlecht
darüber, was dabei herauskam.
Eine halbe Stunde später klingelte bei Rally im Laden das Telefon.
Misty, die gerade im Nebenraum war, nahm den Hörer ab.
"Oh, Hallo Becky", sagte sie.
"Tag Misty", antwortete Becky. "Sag mal, könnt ihr heute Abend wieder
ein Treffen einrichten?"
"Von mir aus kein Problem, aber da musst du Rally fragen. Ich hol sie
mal."
"Danke"
Misty legte den Hörer auf den Tisch, und ging in den Verkaufsraum, wo
Rally auf zu bedienende Kunden wartete.
"Da ist jemand für dich am Telefon", sagte Misty.
Das war ein Code für "Becky am Apparat". Rally reagierte
dementsprechend schnell.
"Ich komme", sagte sie. "Übernimm doch bitte kurz den Laden."
"Okay", sagte Misty, und schnappte sich eine Schürze vom Gestell.
Derweil ging Rally in den Nebenraum, und nahm den Hörer wieder auf.
"Ja?", fragte sie.
"Bist du das, Rally?"
"Leibhaftig"
"Sehr witzig. Hör zu, ich hab einen Haufen neuer Informationen.
Können wir uns heute Abend treffen?"
"Sicher. Allerdings ist May gerade auf Tour. Ich weiss nicht, wie
lange das noch dauern wird."
"Dann soll sie halt später kommen. Das Zeug hier ist
hochinteressant."
"Schon gut, ich hab verstanden. 8 Uhr?"
"Wäre ideal."
"Okay, wir sehn uns dann."
"Bis später."
Rally legte auf. Becky hatte sehr aufgeregt geklungen. Allem Anschein
nach würde sie heute Abend ein paar nette Details über Tanner
präsentieren. Gut Gelaunt ging Rally in den Verkaufsraum zurück.
Misty war dort gerade dabei, mit einem Kunden die Formulare für einen
Waffenkauf auszufüllen. Rally riskierte einen Blick auf die Papiere.
Die Waffe, welche der Kunde kaufen wollte, kostete über 800 Dollar.
"Sag mal", fragte sie Misty, als der Kunde gegangen war, "wie kommt
es eigentlich, dass die guten Kunden immer genau dann kommen, wenn du
an der Theke stehst?"
May verfolgte Tanner weiter. Tanner seinerseits fuhr einen äusserst
seltsamen Kurs kreuz und quer durch die Stadt. May war sich nicht
ganz sicher, ob er eventuelle Verfolger abschütteln wollte, oder ob
er schlicht den Weg nicht kannte. In Gedanken versunken entging ihr
beinahe, dass Tanner wieder in eine Seitenstrasse eingebogen war. May
folgte ihm, und fand sich unvermittelt auf einer Landstrasse am
Stadtrand wieder.
Tanner war in letzter Zeit häufiger beschattet worden. Daher hatte er
es sich zur Gewohnheit gemacht, regelmässig in den Rückspiegel zu
schauen. Die Tatsache, das seit einiger Zeit jedesmal ein weisser
Ford zu sehen war, schien ihm seltsam, selbst wenn er bedachte, dass
diese Wagen relativ häufig waren. Auch als er ein paar sinnlose
Abbieger innerhalb der Stadt machte, änderte es sich nicht.
Schliesslich fuhr er auf eine Landstrasse, um sich Gewissheit zu
verschaffen. Und tatsächlich folgte ihm, in sicherem Abstand, genau
so ein weisser Ford, wie er ihn schon die ganze Zeit gesehen hatte.
"Dacht ichs mir doch!", sagte Tanner. "Hartnäckig ist sie ja, muss
ich schon sagen."
Dann trat er das Gaspedal durch.
"Scheisse, er hat mich entdeckt!", dachte May, als Tanners Wagen
plötzlich beschleunigte. Aber so leicht wollte sie denn doch nicht
aufgeben: Sie beschleunigte ebenfalls, und nahm die Verfolgung auf.
"Unsere Motoren sind etwa gleich stark", dachte sich May. "Es kommt
also völlig aufs Fahrgeschick an... leider."
Mays leise Selbstkritik schien aber fehl am Platz, denn sie konnte
Tanner mühelos folgen. Tanner bemerkte dies. Er fuhr in ein
nahegelegenes Waldstück. Vermutlich wollte er dort May abschütteln.
Das Waldstück verfügte über viele Kreuzungen, die darüber hinaus
relativ nahe beieinander lagen. Tanner steuerte auf die erste
Kreuzung zu, bremste scharf, hinterliess dabei zwei Bremsstreifen,
drehte scharf nach links, und beschleunigte wieder, wobei die Räder
durchdrehten. May waren die blockierenden Räder beim Bremsen, sowie
die durchdrehenden Räder beim Beschleunigen nicht entgangen.
"Haha! Du hast weder ABS noch Traktionskontrolle!", rief sie. "Jetzt
komme ich!"
Tatsächlich war Mays Ford mit beidem ausgerüstet. Und das ermöglichte
ihr ein perfektes Bremsen und Beschleunigen ohne grosse Mühe. Gerade
auf der Landstrasse, mit eingeschränkter Strassenhaftung, ein nicht
zu unterschätzender Vorteil. Und den bekam Tanner jetzt zu spüren. Er
bog noch einmal scharf ab, ohne dass dies May beeindruckte. Dann noch
zwei mal direkt hintereinander. Aber May war zu schnell an der ersten
Kreuzung, und sah ihn, ehe er um die zweite biegen konnte. Tanner
wurde klar, dass er seine Verfolgerin so nicht abschütteln konnte.
Also änderte er seine Taktik. Er fuhr ein Stück lang geradeaus, dann
bog er wieder rechts ab. May folgte ihm natürlich unverzüglich, aber
als sie um die Ecke bog, war von Tanners Wagen nichts zu sehen. In
einiger Entfernung war eine weitere Kreuzung, aber May konnte sich
nicht erklären, wie Tanner so schnell dahin kommen konnte. Sie fuhr
auf die Kreuzung, und bremste scharf. Sie schaute nach links und nach
rechts, aber auf beiden Seiten war keine Spur von Tanner zu sehen,
obwohl auf beiden Seiten lange Zeit keine Kreuzung mehr kam. May
schaute nach hinten, aber es gab keine Anzeichen, das Tanner ins
Gestrüpp gefahren wäre. Schliesslich schaute sie wieder nach vorn.
Ein Stück weiter war eine Biegung.
"Das ist doch nicht möglich", sagte May leise.
Trotzdem fuhr sie den Wagen um die Biegung. Die Strasse führte aus
dem Wald über freies Feld zurück in die Stadt. Auf der Strasse konnte
sie, schon ziemlich weit entfernt, einen blauen Wagen ausmachen. Ein
Blick durch den Feldstecher brachte die Bestätigung: Es handelte sich
um Tanner.
"Wie hat er das nur gemacht?", fragte sich May, als sie sich
frustriert in den Sitz zurückfallen liess.
"Er ist also davongekommen", resümierte Becky wenig überrascht.
"Tja", gestand May. "Keine Ahnung, wie er das gemacht hat. Sein Wagen
muss wesentlich stärker beschleunigt haben, als dies für einen Corsa
normalerweise möglich ist."
"Wahrscheinlich hat er einen Turbo eingebaut", erklärte Rally.
"Schneller wird er damit zwar nicht, aber er kann die
Höchstgeschwindigkeit wesentlich schneller erreichen."
Becky, May und Rally sowie Misty waren in Rallys Wohnung, um die
Resultate ihrer Nachforschungen zu zeigen.
"Hat die Beschattung wenigstens sonst was gebracht?", fragte Becky.
"Naja, Tanner hat sich in der Stadt mit einer verdächtig aussehenden
Person getroffen. Aber ich habe nur einen Teil des Gesprächs
mitbekommen. Es ging um irgend eine Person, die offensichtlich etwas
plant, und die gestoppt werden müsse, bevor sie zu mächtig würde. Ich
hatte den Eindruck, dass Tanner und jener Mann Kollegen sind."
"Seltsam. Weisst du irgendwas über eine grosse Sache, Becky?", fragte
Rally.
"Etwas grosses? Nein", sagte Becky überrascht. "Aber ich habe in
letzter Zeit ja auch nicht in diese Richtung ermittelt. Hast du ein
Foto, May?"
"Hier! Frisch aus dem Schnellentwicklungslabor!", rief May
triumphierend.
"Wunderbar! Ich wusste doch, es lohne sich, dich in der Kunst der
Beschattung zu unterweisen", freute sich Becky.
Doch als sie die Fotos in die Hände bekam, änderte sich ihr Stimmung
wieder.
"Die sind aber unscharf", meinte sie etwas verärgert.
"Sorry. Vielleicht solltest du mich auch in der Kunst der Fotografie
unterweisen."
Becky ging nicht weiter darauf ein, sondern schaute die Fotos durch.
So unscharf waren sie nun auch wieder nicht. Man konnte immer noch
Details erkennen, wie zum Beispiel... Becky stutzte.
"Hast du mal eine Lupe, Rally?", fragte sie.
"Klar", antwortete Rally, und gab Becky eine Leselupe, welche sie
einst gekauft, aber nie im Leben benutzt hatte.
Becky schaute sich zwei der Fotos mit der Lupe nochmals genauer an.
Dann legte sie Fotos und Lupe auf den Tisch. Ihr Gesichtsausdruck
verhiess nichts gutes.
"Der Mann, mit dem sich Tanner unterhielt, hatte eine kleine
Anstecknadel in Form einer Rose auf der rechten Brust. Das muss
nichts heissen, aber... Es wird gerne als Erkennungszeichen
verwendet, und zwar von Vectors Leuten."
"Nicht doch!", rief May.
"Tanner ein Angestellter Vectors?!", rief Rally.
Misty, welcher der Name nichts sagte, wunderte sich über die
entsetzten Gesichtsausdrücke Rallys und Mays. Sie hatte nicht den
Eindruck, dass die Geschichte einen Weg nahm, der ihr gefiel.
"Ich glaube nicht", sagte Becky nach einigem Zögern. "Ich glaube
nicht, das Tanner ein normaler Angestellter Vectors ist. Sie würden
sich sonst nicht so treffen. Wahrscheinlich ist Tanner ein
'externer'. Ein angeheuerter Mitarbeiter. Sein Hintergrund weist
ebenfalls darauf hin."
"Sein Hintergrund?", fragte Misty, die bis dahin stumm gewesen war.
Becky schaute kurz überrascht in Mistys Richtung, dann begann sie zu
erklären:
"Ich habe die Fotografie von Tanners Brandnarbe einem Doktor gezeigt.
Der war der Meinung, dass Tanner kürzlich in einen Brand geraten sei.
Also habe ich im fraglichen Zeitraum mal alle ungeklärten Brände in
Europa abgesucht. Das waren natürlich ziemlich viele, Aber eine Reihe
ist mir dann aufgefallen: Es gab mehrere Dutzend Brände, in denen die
Beteiligung eines Syndikats vermutet wurde. Dieses Syndikat hatte
sich anscheinend auf Mord durch Brandstiftung spezialisiert. Mehr
noch: Alle Anschläge waren gegen mutmassliche Mafiamitglieder
gerichtet. Es kann natürlich ein Zufall sein, aber wenn Tanner ein
Opfer eines solchen Anschlags war, dann hätte er auf jeden Fall Grund
genug, hierher zu flüchten."
"Das wird ja immer besser", brummte Rally. "Aber warum glaubst du
dann, dass er kein fest Angestellter Vectors ist?"
"Vectors fest Angestellte sind ausnahmslos Leute, die er bereits seit
Jahren kennt. In seiner Organisation herrscht ein grosses,
gegenseitiges Vertrauen, dass macht sie so stark. Ich bezweifle, dass
Vector Tanner gegenüber ein genug grosses Vertrauen aufbringt, um ihn
gleich fest einzustellen. Aber ich kann mir vorstellen, warum Tanner
mit Vector zusammenarbeitet. Wenn er tatsächlich wegen einer
Streitigkeit zwischen Syndikaten fliehen musste, hat er jetzt
möglicherweise einen Hass auf die Mafia. Und Vectors Syndikat ist
insofern speziell, als dass es von den Streitereien der anderen
Syndikate lebt. Auch bei den Fällen, die er als Kopfgeldjäger
angenommen hat, ist er sehr wählerisch. Es waren alles Fälle von
Leuten, bei denen Verbindungen zu einem Syndikat vermutet wurden."
Die vier Frauen lehnten sich zurück, und liessen sich die Sache durch
den Kopf gehen.
"Seltsamer Typ", sagte Misty schliesslich.
"Kann man wohl sagen", bestätigte May.
"Je mehr Indizien zusammenkommen, desto mysteriöser wird der Kerl",
sagte Rally. "Hast du sonst noch irgendwas, Becky?"
"Naja, etwas habe ich noch. Wegen der Kreditkarte habe ich zwei Dinge
rausbekommen. Erstens: Er hat die Kreditkarte noch nie benutzt.
Ausser in deinem Laden, meine ich. Verstehe dass wer will. Und das
zweite: Ich habe jetzt seine Adresse."
Rally setzte sich ruckartig auf.
"Du hast was!?", rief sie.
"Seine Adresse", wiederholte Becky grinsend.
"Du hast dir das bis zum Schluss aufgespart, nicht wahr?", meinte
May.
Becky sagte nichts, und holte nur den Insiderbericht hervor. Darauf
stand tatsächlich Tanners Adresse.
"Ich war heute mal kurz dort, und hab ihn gesehen, wie er seinen
Wagen in die Garage fuhr. Er wohnt also tatsächlich dort."
"Na das ist doch endlich mal was", freute sich Rally. "Misty, ich
hoffe, du hast dein Handwerk noch nicht verlernt."
"Willst du bei ihm einbrechen?", fragte Misty.
"Nicht doch, ich will ihn besuchen", meinte Rally. "Nur eben dann,
wenn er nicht zuhause ist."
Enthüllungen
Bevor Misty von Rally aufgenommen wurde, war sie eine berüchtigte
Diebin. Ihre Spezialität war das Schlösserknacken. Sie war dafür
bekannt, dass im Haus praktisch nichts auch nur auf einen Einbruch
hinwies. Misty versuchte eigentlich, dieses Kapitel ihres Lebens zu
vergessen. Aber gelegentlich half sie Rally beim "inspizieren von
potentiellen Verstecken". So auch diesmal.
Rally ging das ganze routiniert an. Sie und May waren über
Funk-Headsets miteinander in Verbindung. May hatte einen
Beobachtungsposten bezogen, Rally und Misty warteten in der Nähe. Das
bedeutete zwar, dass sie den Laden schliessen mussten, aber Rally
wollte sich diese Gelegenheit um nichts in der Welt entgehen lassen.
Sie warteten schon eine ganze Weile. Rally hatte kurz die Beobachtung
übernommen, damit May etwas zu Mittag essen konnte. Danach hatte sie
für sich und Misty ebenfalls ein paar Sandwichs und etwas Kaffee
geholt. Sie waren noch mit essen beschäftigt, als May sich meldete:
"Rally? Tanner hat gerade das Haus verlassen."
Rally schluckte einen Bissen herunter. Dann fragte sie:
"Bist du sicher?"
"Absolut. Er hat seinen blauen Corsa benutzt. Und ich habe seine
Silhouette erkannt."
"Mmmm... Naja, was solls. Wir gehen."
Hastig packten Rally und Misty die Sandwichreste weg. Wehleidig
blickend schüttete Misty den Kaffee den nächsten Gulli hinunter.
"Der ist kalt, bis wir zurück sind", erklärte sie.
"Lässt sich nicht ändern", meinte Rally.
Dann machten sie sich auf den Weg.
Tanners Wohnung war in einem unauffälligen Wohnblock. Die Haustür war
zwar verschlossen, konnte Mistys Dietrichen aber keinen nennenswerten
Widerstand entgegensetzen. Sie fanden keine Wohnung mit Tanners Namen.
Die Tür im zweiten Stock war aber als einzige nicht beschildert. Misty
betrachtete sie genauer.
"Soso. Dafür, dass die Wohnung unbenutzt ist, wurde die Tür in
letzter Zeit aber recht häufig geöffnet", meinte sie, nachdem sie
einen Blick auf Türklinke und Boden geworfen hatte.
Dann legte sie Latexhandschuhe an, und untersuchte die Türschlösser.
Es waren insgesamt deren vier. Während sie beschäftigt war, streifte
sich auch Rally Handschuhe über.
"Hmmm. Automatische Schlösser. Standardfabrikate. Mittlerer
Schwierigkeitsgrad. Ganz gut... Aber nicht gut genug."
Sie begann, die Schlösser, eines nach dem anderen, zu öffnen. Als sie
das letzte geschafft hatte, zog sie die Tür einen kleinen Spalt weit
auf.
"So, jetzt brauche ich den Spiegel, und den Stock", sagte sie zu
Rally.
Rally hatte beides auf Wunsch von Misty mitgenommen. Sie hatte sich
zwar darüber gewundert, aber Misty hatte nur gemeint, sie brauche
diese Dinge, wenn sie bei einem Profi einbrechen sollte. Misty
demonstrierte nun, wozu sie dienten. Sie führte den Spiegel, der an
einem Draht befestigt war, durch den Spalt in der Türe, und nutzte
ihn so als Periskop. Vorsichtig drehte sie ihn ein wenig, um einen
Rundumblick des Raumes zu erhalten.
"Dacht ichs mir doch", sagte sie triumphierend. "Big Brother links
neben der Tür."
Was sie damit meinte, war eine Überwachungskamera. Sie nahm den Stock
zur Hand. Der 'Stock' war eine Teleskopstange, die sich auf eine
Länge bis zu zehn Metern ausziehen liess. Damit konnte Misty auch
weit entfernte Kameras erreichen. In diesem Fall war die Kamera
allerdings gerade mal zwei Meter entfernt, was nicht das geringste
Problem darstellte. Vorsichtig, und mit Hilfe des Spiegels, führte
Misty den Stock zur Kamera, und drückte diese nach oben.
"Schiess mal ein paar Aufnahmen von der Decke", meinte Misty.
Dann öffnete sie die Tür vollständig, und sie und Rally gingen
hinein. Sie schauten sich um. Die Wohnung war nicht all zu gross.
Gleich hinter der Tür war ein relativ grosser Raum, der wohl
gleichzeitig als Wohnzimmer wie auch als Arbeitszimmer diente.
Daneben gab es eine kleine Küche, und ein separates Zimmer, welches
sich Tanner mittels Bett und Kleiderschrank als spartanisches
Schlafzimmer eingerichtet hatte. Das Wohn- und Arbeitszimmer war
wesentlich ausführlicher möbliert. Zunächst einmal fiel der Computer
auf. Es war eines jener Modelle, welche für Anfänger ausgelegt waren,
und passte farblich überhaupt nicht zum Rest der Ausstattung. Daneben
stand ein Fernsehgerät mit Stereoanlage und Videorekorder. Der
Videorekorder lief. Vermutlich zeichnete er nun Aufnahmen aus dem
aufregenden Leben einer Stubenfliege an der Decke auf, was
allerdings wohl auch nicht viel langweiliger war als das
Fernsehprogramm. Auf einem grossen Tisch schliesslich stand eine gut
ausgebaute Lötstation. Ganz offensichtlich war Tanner durchaus im
Fach der Elektronik bewandert. Ein Gestell in einer Ecke, welches
lauter Schubladen enthielt, weckte das Interesse der beiden. Zur
ihrer Enttäuschung waren die meisten Schubladen allerdings leer,
enthielten elektronische Bauteile, oder Papiere, von welchen Becky
schon längst eine Kopie besass. In der rechten unteren Ecke fand
Rally schliesslich etwas interessantes: Die Schublade war
vollgestopft mit diversen elektronischen Geräten.
"Was haben wir denn da", sagte sie vor sich hin. "Wanzen,
Kleinstkameras, elektronische Stetoskope... Alles für den kleinen
Abhörer. Und die Bauweise der Wanzen kommt mir doch sehr bekannt
vor."
Auch Misty erinnerte sich. Eine solche Wanze, wie sie in dieser
Schublade war, hatte sie vor kurzem im Laden gefunden.
Als sie die linke Schubladenreihe untersuchten, stiessen sie noch auf
Richtmikrofone, ein paar weitere Geräte, deren Zweck Rally nicht
erkennen konnte, sowie einen Funkempfänger. Ein zweites Exemplar, so
erkannte Rally jetzt, war an der Stereoanlage angeschlossen.
Anscheinend verwendete Tanner diese nicht nur, um entspannende Musik
zu hören. In einer der Schubladen schliesslich befand sich eine
schwarze Metallschatulle. Diese war, wie Misty schnell erkannte, von
der Innenseite her mit der Schublade verschraubt. Desweiteren war die
Schublade so gefertigt, dass sie sich nicht vollständig aus dem
Gestell entfernen liess.
"Ohne brachiale Gewalt kann man die nicht mitnehmen", sagte Misty.
Dann strich sie mit der Hand über die Oberfläche, klopfte an
verschiedenen Stellen, schaute aus verschiedenen Blickwinkeln darauf,
und betrachtete schliesslich das Schloss genauer. Es vergingen einige
Minuten, bis sie endlich etwas sagte:
"Gute Arbeit. Die Schatulle ist vermutlich aus mehrwandigem
Edelstahl. Man muss schon mit grobem Geschütz kommen, um den zu
durchtrennen. Ich glaube nicht, dass der Inhalt das überleben würde.
Ausserdem ist die Schatulle anscheinend verkabelt. Wahrscheinlich
durch den Boden der Schublade. Wenn die Kabel durchtrennt werden,
löst das wohl irgend einen Alarm aus."
"Und das Schloss?", fragte Rally.
"Eine echte Herausforderung", sagte Misty, und zückte grinsend ihr
Spezialwerkzeug. Es waren nicht die üblichen Dietriche. Misty machte
sich damit an die Arbeit. Vorsichtig, aber offensichtlich gut
gelaunt, stocherte sie mit den Werkzeugen im Schloss.
"Kommst du voran?", fragte Rally nach einigen Minuten.
"Geht schon. Aber ich brauche noch etwas Zeit", meinte Misty.
Wieder vergingen einige Minuten. Da meldete sich auf einmal May:
"Rally, er kommt zurück. Er war nur kurz weg."
"Verstanden. Behalt ihn im Auge", sprach Rally ins Headset. Dann
wandte sie sich an Misty: "Tanner kommt zurück. Beeil doch, oder lass
es bleiben."
"Ich habs gleich", sagte Misty.
Sie wusste, dass es nur noch eine Frage von Sekunden sein konnte. Und
sie wollte zumindest wissen, was in der Schatulle drinn war.
"Ich habs gleich", sagte sie nochmals...
Das Schloss klickte. Aber es klickte nicht so, wie Misty es erwartet
hatte. Daher wusste sie sofort, dass sie einen Fehler gemacht hatte.
Aber es war bereits zu spät. Die Schublade fuhr mit Gewalt zu, und
klemmte Mistys rechte Hand ein. Es knackste bedenklich. Misty wollte
schreien, aber Rally hielt ihr geistesgegenwärtig die Hand vor den
Mund. Erst, als Misty den Impuls überwunden hatte, nahm Rally die
Hand wieder weg.
"Sorry Misty", sagte Rally.
"Schongutbittemachdieschubladeaufdastutweeeeh", wimmerte Misty leise.
Rally zog an der Schublade, aber der Motor, der in die andere
Richtung zog, war stark. Erst, als sie ihr Knie gegen das Gestell
stemmte, gelang es ihr, die Schublade ein Stück weit zu öffnen. Misty
zog die Hand heraus, und Rally liess los. Die Schublade schloss sich
mit einem Knall. Misty betrachtete kurz ihre lädierte Hand. Selbst
durch den halbdurchsichtigen Handschuh hindurch konnte sie eine rote
Linie auf beiden Seiten erkennen. Dann fiel ihr etwas ein:
"Das Werkzeug ist noch in der Schublade", sagte sie.
Rally zog kurz daran, aber die Schublade war nun fest verschlossen.
"Keine Chance, da komm ich jetzt nicht ran", sagte sie.
Ihre Hand fuhr zur Sprechtaste des Headsets.
"May! Wo ist er jetzt?", fragte sie.
"Tanner ist bereits im Treppenhaus. Seit ihr etwa noch da drinn?"
Tanner schloss die Tür auf, und betrat seine Wohnung. Er hatte ein
paar Besorgungen gemacht, und wollte sie gerade in der Küche abladen,
als ihm auffiel, dass der Motor der Schublade mit der Kassette
surrte. Erstaunt stellte er die Tüten auf seinem Arbeitstisch ab, und
griff in eine Tasche auf der Innenseite seiner Jacke, von wo er eine
Fernsteuerung heraus holte. Ein Tastendruck später hörte das surren
auf. Tanner öffnete die Schublade. Darin fand er zwei feinmechanische
Werkzeuge. Er kannte sich auf diesem Gebiet zwar nicht aus, aber es
war ihm klar, dass sie dazu gedacht sein mussten, Schlösser zu
knacken. Also setzte er sich vor seinen Fernseher, spulte das Band
etwas zurück, und sah es sich an.
"Miss Vincent", sagte er nach einer Weile. "An ihrer Stelle würde ich
allmählich aus dem Wandschrank kommen. Im Übrigen wäre es, glaube
ich, besser, wenn ich mal einen Blick auf die Hand ihrer Freundin
werfen würde. Der Motor in der Schublade ist ziemlich stark."
Rally wusste, wann sie geschlagen war. Missmutig öffnete sie den
Schrank, und ging ins Arbeitszimmer hinüber. Das Headset hatte sie
abgenommen, zusammengeklappt, und in einer Jackentasche verstaut.
Tanners Gesichtsausdruck zeigte weder Triumph noch Genugtuung noch
Verärgerung. Das Fernsehbild demonstrierte zumindest, warum sie
aufgeflogen waren. Aufgrund des Bildwinkels erkannte Rally, dass die
Aufnahme unmöglich aus dem Eingangsbereich heraus gemacht sein
konnte. Sie blickte nach oben, und fand zwischen Wand und Decke gut
versteckt eine Kleinstkamera.
"Sie haben also zwei Kameras", meinte sie resigniert.
"Nein, nur eine. Die im Eingang ist eine Attrappe", korrigierte
Tanner.
"Genau wie das Schloss, nicht wahr?", fragte Misty, die mittlerweile
nachgekommen war.
"Bitte?", fragte Tanner.
"Das Schloss der Schatulle", erklärte Misty. "Es ist eine Falle,
nicht wahr? Man kann die Schatulle dort nicht öffnen."
"Gut erkannt", sagte Tanner anerkennend. "Nur etwas spät, wie mir
scheint. Na, kommen Sie mal mit."
Tanner ging zur Küche hinüber, und setzte sich an den Esstisch. Mit
einer Handbewegung hiess er Misty, sich ihm gegenüber zu setzen.
Misty tat dies, und legte anschliessend die verletzte Hand auf den
Tisch. Tanner zog vorsichtig den Handschuh von Mistys Hand, was nicht
ganz einfach und auch nicht ganz schmerzfrei war, zumal der Handschuh
sehr eng anlag. Dann drückte er an verschiedenen Stellen leicht auf
die Handfläche.
"Sind Sie denn gar nicht wütend?", fragte Rally.
"Ach, ich dachte mir schon, dass die früher oder später hier
aufkreuzen würden. Nur das es so schnell gehen würde, dass überrascht
mich zugegebenermassen ein wenig."
An der nächsten Stelle, an der Tanner drückte, gaben die Knochen
etwas nach. Misty zog vor Schmerz die Luft ein.
"Tja, die ist gebrochen", sagte Tanner. "Miss Vincent. Seien sie doch
so nett, und holen sie meinen Erste Hilfe Koffer. Er ist im Gestell
im Arbeitszimmer, in der Schublade ganz oben links."
"Öh, ja klar", antwortete Rally.
Sie ging zum Gestell hinüber, und holte das Gewünschte. Dabei fragte
sie sich, was Tanner eigentlich für ein Spiel mit ihnen trieb. Ahnte
er tatsächlich schon, dass sie kommen würden? Und falls ja: warum?
Und warum rief er nicht die Polizei, oder schmiss sie zumindest aus
der Wohnung? Als sie mit dem Koffer in die Küche zurückkahm, holte
Tanner aus einer Schublade gerade einige kleine Holzspachtel hervor.
"Damit sollte es gehen", sagte er. "Ich werde die Hand jetzt
notdürftig schienen. Aber Sie sollten sie unbedingt einem Arzt
zeigen. Ah, danke Miss Vincent."
Tanner öffnete den Koffer, und entnahm ihm eine Schere und
Verbandszeug. Dann machte er sich daran, Mistys Hand zu schienen.
Rally erkannte, dass Tanner dies nicht zum ersten Mal machte, oder es
zumindest schon geübt hatte. Tanner führte die Arbeit sauber und
professionell durch. Danach nahm er das Gespräch wieder auf:
"So. Jetzt hätte ich doch eine kleine Frage an Sie: Was machen Sie
eigentlich hier?"
"Ich dachte, Sie hätten uns erwartet?", entgegnete Rally schnippisch.
"Nun ja, mir ist durchaus aufgefallen, dass Ihr Interesse an mir über
eine normale Kundenbeziehung hinaus geht. Aber warum, das würde ich
schon gerne wissen."
Rally überlegte kurz, und entschied dann, in die Offensive zu gehen.
Sie nahm eine Wanze aus der Jackentasche, und warf sie auf den Tisch.
Es war diejenige, die Misty im Laden gefunden hatte.
"Das ist doch Ihre, oder?", fragte sie.
Tanner nahm die Wanze auf, und betrachtete sie ein wenig.
"Ja, das ist meine Bauart", sagte er schliesslich. "Ich habe eine
Reihe davon verkauft. Sie hatten wohl Ärger mit jemandem."
"Die haben wir unmittelbar nach ihrem ersten Besuch in meinem Laden
gefunden. Und die Batterie war noch taufrisch. Vielleicht möchten Sie
uns ja erzählen, warum Sie uns nachspionieren."
Tanner seufzte. Dann schmiss er die Wanze in einen bereitstehenden
Abfallkorb, und stand auf.
"Ich schätze, das wird etwas länger dauern. Kaffee?"
Ein paar Minuten später hatte Tanner drei Tassen dampfenden
Cappuccino auf den Tisch gezaubert. Misty war froh darüber, hatte sie
doch vorhin den Kaffee wegschütten müssen. Rally hingegen war
ungeduldig, und wollte endlich ihr Gespräch mit Tanner fortsetzen.
"So, das hätten wir", sagte Tanner, als er die Tassen abgesetzt
hatte. "Vorsicht, er ist noch heiss."
"Also, wie siehts aus?", fragte Rally.
"Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Sie dürfen mir einige Fragen
stellen, und ich werde sie wahrheitsgetreu beantworten, sofern dies
meine Sicherheit nicht gefährdet. Als Ausgleich dafür will ich von
Ihnen ein Ehrenwort als Prämienjägerin, dass sie mich nicht weiter
bespitzeln werden. Ist das ein Angebot?"
"Woher soll ich Wissen, ob Ihre Auskünfte für mich ausreichend sind?
", fragte Rally.
"Das kann ich natürlich nicht garantieren. Aber sie werden in
nützlicher Frist auch nicht mehr über mich rausbekommen. Ich bin ganz
gut darin, meine Spuren zu verwischen."
Das war keineswegs übertrieben, und Rally wusste das. Immerhin war
Becky bereits seit Wochen auf der Jagd nach Informationen über
Tanner.
"Also gut", sagte Rally schliesslich. "Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort,
dass ich Ihnen nicht weiter nachspionieren werde."
"Und auch niemanden damit beauftragen", sagte Tanner.
"Einverstanden."
"Miss Hopkins auch nicht."
"Gut."
"Und sie Miss...", sagte Tanner zu Misty.
"Brown", antwortete sie.
"Für Sie gilt dasselbe."
Misty schaute zu Rally, aber Rally nickte nur kurz.
"In Ordnung", sagte Misty.
"Na, dann schiessen sie mal los."
"Gut", sagte Rally. "Zunächst einmal: Wollen Sie denn überhaupt
nichts über mich wissen?"
"Nein", sagte Tanner. "Und selbst wenn, würde ich es auch so
herausfinden. Ich bin nämlich auch noch Informant, wissen Sie."
"So einfach bin ich nicht auszuspionieren."
"Und ob. Sie sind zwar eine hervorragende Prämienjägerin, aber vom
Spuren verwischen haben Sie nicht so viel Ahnung Miss Eileen
Vincent."
"Eileen?", fragte Misty.
Rally versuchte, es nicht zu zeigen, aber sie erschrack fürchterlich.
Eileen war ihr wirklicher Name. Wenn Tanner den wusste, dann kannte
er vermutlich auch ihr wahres Alter. Und damit hatte er etwas gegen
sie in der Hand, denn Rally war nach amerikanischem Recht eigentlich
noch minderjährig, und durfte somit keinen eigenen Laden führen. Von
ihrem Waffenbesitz, und ihrer Tätigkeit als Prämienjägerin ganz zu
schweigen.
"Für wen Arbeiten sie denn als Informant?", fragte Rally etwas
nervös.
"Och, eigentlich nur noch für mich selbst. Früher hatte ich mal fest
für eine bestimmte Organisation gearbeitet, aber natürlich kann ich
ihnen nicht sagen, wer das war."
"Natürlich", sagte Rally erleichtert. Sie nahm einen Schluck vom
Kaffee, spie ihn aber beinahe wieder aus.
"Meine Güte, ist der stark!", rief sie.
Misty versuchte ebenfalls davon. Auch ihr zog es jeden Gesichtsmuskel
zusammen.
"Kann man danach überhaupt noch schlafen?", fragte sie.
"Natürlich", meinte Tanner leicht amüsiert. "In meiner Heimat trinkt
man den immer so stark. Nur halt nicht literweise. Der hier gehört
noch zu den Schwächeren."
"Können Sie uns Ihren Heimatort etwas genauer umschreiben", fragte
Rally, während sie vorsichtig am Kaffee nippte.
"Mitteleuropa", sagte Tanner kurz angebunden.
"Und ihr wahrer Name?"
"Meine Identität muss geheim bleiben."
"Ihre Pseudonyme vielleicht?"
"Ich hab noch ein paar weitere. Aber es sind aus gutem Grund
verschiedene. Die Leute, mit denen sie Umgang pflegen, kennen mich
alle unter dem Namen Tanner."
"Na schön. Warum sind sie überhaupt hier?"
"Ich musste aus Europa fliehen."
"Warum?"
"Vergessen Sies."
Rally seufzte. "Also, besonders kommunikativ sind Sie ja nicht!"
Tanner schaute sie einige Zeit eindringlich an. Rally hielt dem Blick
stand.
"Bleibt das unter uns?", fragte Tanner schliesslich.
"Natürlich."
"Keine Scherze bitte. Miss Hopkins können Sie von mir aus
informieren. Aber wenn sie es sonst jemandem sagen, bringen sie mich
in ernsthafte Gefahr, verstanden?"
Rally zögerte kurz, nickte dann aber. Das bedeutete natürlich, dass
sie Becky nichts sagen durfte. Aber sie war einfach viel zu
neugierig, um sich diese Informationen entgehen zu lassen.
"Gut," sagte Tanner. "Ich habe als Informant für ein Syndikat
gearbeitet. Ich hatte auch Verbindungen zu verschiedenen hohen
Tieren, sowohl in der Unterwelt, wie auch in offiziellen Stellen.
Tja, vermutlich hätte ich eine glänzende Unterweltskarriere vor mir
gehabt."
Rallys Augen verengten sich. Tanner war anscheinend ein
'Puppenspieler'. Jemand, der andere für sich die Drecksarbeit
erledigen liess, und selten selbst in Erscheinung trat. Sie mochte
solche Leute nicht besonders.
"Was ist passiert?", fragte sie.
"Tja, ich kannte unter anderem den Sohn eines Syndikatbosses. Er
hätte später höchstwahrscheinlich das Syndikat übernommen. Wenn er
nicht ermordet worden wäre. Irgendwie sind seine Mörder auf meine
Verbindung zu ihm gekommen, also haben sie versucht, auch mich zu
beseitigen. Ironisch, nicht wahr? Die Verbindung, die mir später
Kontakt zur absoluten Spitze garantiert hätte, wurde mir zum
Verhängniss."
Rallys Mundwinkel zogen sich etwas nach oben. Irgendwie befriedigte
es sie, das selbst jemand wie Tanner nicht unbesiegbar war.
"Die Mörder legten einen Brand, um den Mordversuch zu vertuschen,
nicht wahr?", fragte sie.
Tanner zuckte unmerklich zusammen.
"Ja, das haben sie", sagte er.
Dann nahm er einen grossen Schluck Kaffee.
"Bis hierhin und nicht weiter. Mehr werde ich Ihnen dazu nicht
sagen."
"Schon gut, wechseln wir das Thema."
"Wir haben Sie beobachtet, wie sie mit einem Mann aus dem Vector
Syndikat gesprochen haben. Was ist Ihre Beziehung zu diesem Syndikat?"
"Oh, dann waren *Sie* das gestern. Nun, ich arbeite gelegentlich für
das Syndikat."
"Haben die Wanzen im Laden damit etwas zu tun?"
"Nur zum Teil. Ich habe einige an Vector verkauft, und er hat sie
offensichtlich gegen Sie eingesetzt. Ich selbst habe lediglich
routinemässig zwei platziert, als ich hinter Tom her war."
"Zwei?"
"Ach ja, wenn ich mich recht entsinne, haben Sie nur die an der Theke
gefunden. Die andere ist am Schaukasten mit den alten Pistolen."
"Hmpft. Na schön. Aber warum arbeiten Sie überhaupt für ihn?"
"Weil ich ein neues Beziehungsnetz brauche, wenn auch diesmal nur für
Informationen. Vector ist häufig einer der ersten, der von Bewegungen
im Untergrund erfährt. Ausserdem... brauche ich das Geld. Die Flucht
hat mich viel gekostet."
"Waren Sie damals der Schütze, der auf Arthur Cogan geschossen hat?"
"Ja, das war mein Auftrag. Ich sollte sicherstellen, das Cogan
geschnappt wird, ohne ihn selbst zu töten. Eigentlich hatte ich mit
Stevensons Leuten gerechnet, die allesamt Amateure waren, also ging
ich auf Nummer Sicher."
"Und was war mit dem Schuss durch Thomas Martins Uzi vor Stevensons
Hauptquartier? Waren Sie das auch?"
"Ja. Vector wollte, das sie sicher wieder raus kommen."
Das überraschte Rally. "Vector wollte uns helfen?"
"Naja, so wie ich ihn kenne, war nicht die Sorge um Sie im
Vordergrund. Ich vermute eher, er hat sich Sorgen um das Gelingen der
Mission gemacht. Wenn sie geschnappt worden wären, hätte das nicht
mehr zur Story gepasst, das Stevenson die Vorräte selbst vernichtete,
damit sie nicht der Polizei in die Hände fallen."
"Ja, das entspricht eher Vectors Charakter. Und die Jagd nach Tom,
nachdem er geflohen war, war wohl auch auf sein Kommando hin?"
"So ist es. Eine erfolgreiche Flucht hätte die Untersuchung weiter
verzögert. Und Vector wollte sie so schnell wie möglich abgeschlossen
haben."
Rally trank den Kaffee aus. Sie vermutete zwar, dass sie damit den
Koffeinbedarf für die gesamte, nächste Woche abdeckte, aber sie
wollte auch nicht unhöflich erscheinen.
"Nun gut, mehr will ich gar nicht wissen", sagte sie, und stand auf.
"Danke für den Kaffee."
"Sie sind jederzeit willkommen. Jedenfalls, solange sie keinen
Dietrich verwenden, um hier reinzukommen."
"Das brauchte schon mehr als einen Dietrich", sagte Misty mit einem
doch etwas gekränkten Unterton.
Sie trank ebenfalls aus, und stand auf, vergass aber für einen
Augenblick die Bandage, und stützte sich auf die rechte Hand. Der
Schmerz liess das Wasser in ihre Augen schiessen.
"Vergessen Sie nicht, Ihre Hand einem Doktor zu zeigen", erinnerte
sie Tanner. "Oh, und Miss Vincent: Falls Sie mein Gespräch mit dem
Angestellten Vectors mitgehört haben sollten: Halten Sie sich besser
aus dem Fall raus. Er ist eine Nummer zu gross für Sie."
Tags darauf führte May wieder den Laden. Rally hatte Misty zu einem
Arzt gefahren, und danach ein Treffen mit Becky ausgemacht, um sie
über die Resultate ihrer Nachforschungen zu informieren. Sie war
schon den ganzen Vormittag weg. Kurz nach Mittag endlich hörte May
das vertraute Motorengeräusch von Rallys Cobra. Einige Minuten später
stand Rally im Laden. Sie sah etwas mitgenommen aus.
"Hallo Rally", sagte May. "Wo hast du Misty gelassen?"
"Tag May. Misty ist direkt nach Hause", antwortete Rally.
"Wie geht es ihr?"
"Den Umständen entsprechend gut. Sie hat ihre Hand fixiert bekommen.
In ein paar Wochen sollte alles verheilt sein."
"Tja, Tanner springt nicht gerade zimperlich mit Leuten um, die an
seine Papiere wollen, was?"
"May... Ach übrigens: Hast du die Wanze gefunden?"
"Ja. Sie war dort, wo Tanner es gesagt hatte."
Rally nickte, sagte aber nichts weiter.
"Sag mal Rally, wie hat es Becky eigentlich aufgenommen?", fragte
May.
Rally seufzte. "Nicht besonders gut. Sie hat mir eine Standpauke
gehalten, weil ich mich von Tanner habe erwischen lassen. Und dass
ich mich aus der Sache zurückziehe hat ihr erst recht nicht in den
Kram gepasst. Sie hat mir vorgeworfen, ich würde mich nur
zurückziehen, weil ich alle für mich selbst wichtigen Informationen
zusammen habe."
"Oh je. Und die Informationen, die du ihr gegeben hast?"
"Damit war sie natürlich auch nicht zufrieden. Naja, so viel wars ja
auch nicht."
"Hast du ihr die Sache mit Tanners Vorgeschichte verschwiegen?"
"Jaaa."
"Du weisst, wenn du es ihr gesagt hättest, wäre sie vielleicht
zufrieden gewesen."
"Ich pflege meine Versprechungen zu halten!", sagte Rally gereizt.
"Schon gut. Schon gut. Aber wie sieht es jetzt mit Kohle aus?
Immerhin haben wir einigen Aufwand betrieben."
"Becky hat mir fünf Riesen in die Hand gedrückt, und mich
rauskomplimentiert."
"5000?! Das ist wenig! Wir haben wegen der Sache mit Tanner
vielleicht Aufträge sausen lassen, die mehr einbrachten, und
einfacher gewesen wären!"
"Ich weiss. Es ist mit Sicherheit zuwenig. Es sind 10 Prozent vom
geschätzten Wert der Informationen, bevor wir unsere Nachforschungen
begonnen haben. Ausgemacht waren 20 Prozent vom entgültigen Wert.
Aber ich wollte Becky so schnell wie möglich loswerden. Tut mir
leid."
"Schon gut, das lässt sich jetzt wohl nicht mehr ändern. Wenigstens
haben wir jetzt erstmal wieder unsere Ruhe."
Rally nickte lächelnd, aber irgendwie hatte sie so ihre Zweifel.
Tanners Worte liessen sie darauf schliessen, dass irgend etwas
grosses im Anzug war. Irgend etwas, dass die Ruhe der Stadt
nachhaltig stören würde. Sie vermutete, dass die Geschichte noch
lange nicht vorbei war. Und wie so häufig, sollte sie damit recht
behalten.