Schneeflocken
Sorry, damit ihr nicht so lange warten müsst, erst mal die erste Hälfte des ersten Kapitels. Die zweite gibt es hoffentlich im Laufe des WE. ^^
Und danke für die vielen Kommentare, die ich allein zum Prolog schon bekommen habe! Wenn das so weitergeht, hui! XD
„Verdammt, ist das kalt!“ Die junge Koordinatorin fröstelte, als sie das Kaufhaus verließ, und zog ihre Jacke enger um ihren Körper. Weißen Atem ausstoßend, lief sie die weihnachtlich dekorierten Straßen entlang in Richtung ihres Hauses.
Nicht mehr lange und es würde schneien, hatten sie vorhin im Wetterbericht gesagt. Aber damit rechnete sie schon seit einer ganzen Weile, Sinnoh war schließlich für sein kaltes Wetter bekannt. Nicht umsonst war sie wegen einer Klimaveränderung dorthin gezogen, aber an Tagen wie diesen, an denen sie weder Schal noch Mütze trug, wünschte sie sich zurück ins subtropische Hoenn. Da an ihrem Aufenthaltsort im Moment eh nicht viel zu ändern war, konnte sie nur zusehen, dass sie so schnell wie möglich wieder ins warme Haus kam.
Während sie weitereilte, bemerkte sie tatsächlich, wie vereinzelt die ersten Schneeflocken fielen. Für einen Moment blieb Haruka stehen, um die kleinen weißen Kristalle zu beobachten. Ein Jahr war es nun her, seit sie zum letzten Mal Schnee gesehen hatte...
„Shuu, sieh mal, es schneit!”, rief sie von ihrer Position am Fenster zu ihrem Freund, der auf dem Bett saß und in einer Zeitschrift blätterte. Dieser blickte kurz auf. „Wie ungewöhnlich für diese Gegend“, spöttelte er bloß und vertiefte sich wieder in seine Lektüre. „Mach das Fenster zu, es ist kalt.“
Er hatte nicht mit Haruka gerechnet, die ihm die Zeitung wegnahm und ihn zum Fenster zerrte. „Guck doch wenigstens einmal richtig hin. Es ist der erste Schnee dieses Jahr- freust du dich nicht? Bald wird alles wunderbar weiß aussehen, die Häuser, die Bäume, einfach alles!“ Vor Aufregung hatte sie ganz rote Wangen bekommen.
„Du kannst dich über so etwas wirklich wie ein kleines Mädchen freuen, was?“, fragte er und schmunzelte ein bisschen dabei. „Natürlich kann ich! Los, lass uns rausgehen und einen Schneemann bauen!“
Shuu tippte sich nur mit einem Finger gegen die Stirn. „Mit den drei Flocken kannst du nicht mal einen Miniatur-Schneemann bauen.“ „Ich wette, um dich einmal ordentlich einzuseifen, reicht es“, erwiderte sie gespielt beleidigt. „Zu dumm, dass ich nicht vorhabe, einen Fuß da rauszusetzen“, grinste er und zog sie an sich heran. Haruka schloss die Augen und wartete darauf, dass er sie küssen würde, doch statt seiner Lippen auf den ihren spürte sie etwas kaltes im Nacken. Erschrocken riss sie die Augen wieder auf und sah Shuu, wie er sich vor Lachen krümmte. Offenbar hatte er hinter ihr das Fenster geöffnet und sich eine Hand voll Schnee gegriffen. „Sehr witzig, Shuu. Das wird ein Nachspiel haben, darauf kannst du dich verlassen!“ Sie versuchte, ebenfalls etwas Schnee zu erhaschen, doch Shuu hatte in weiser Voraussicht den Arm um ihre Taille gelegt und hielt sie fest. „Na, wir wollen doch im Zimmer keine Schneeballschlacht veranstalten“, kommentierte er ihre vergeblichen Versuche, sich loszumachen. „Aber du hattest Recht: Um dich einzuseifen, hat der Schnee tatsächlich gereicht.“
Aufgrund dieser Bemerkung musste Haruka lachen. „Wer ist jetzt hier das Kind, hm?“ „Wir können auch gerne zu erwachsenerem Spaß übergehen“, erwiderte er mit einem etwas anzüglichen Grinsen und begann, ihren Hals zu küssen. Haruka ihrerseits knöpfte sein Hemd auf und streifte es ihm schließlich von den Schultern. Während er damit beschäftigt war, ihre Frisur zu lösen, griff sie hinter sich nach etwas Schnee, der auf dem Fensterbrett liegengeblieben war. Sie musste zugeben, es bereitete ihr doch eine unheimliche Freude, ihm die kalte Materie in die Brust zu reiben. „Die Rache kommt immer dann, wenn du es nicht erwartest“, stellte sie zufrieden fest, während Shuu sich fluchend den Schnee abklopfte.
„Okay, du hast gewonnen.“ Er hob seine Hände, um ihr zu signalisieren, dass er aufgab. „Frieden?“ „Frieden“, stimmte Haruka zu. „Dann können wir ja jetzt da weitermachen, wo wir aufgehört hatten“, schlug Shuu vor. Seine Freundin schüttelte in gespielter Verzweiflung den Kopf. „Du denkst wirklich nur an eine Sache, was?“ „Ja, an dich“, flüsterte er ihr ins Ohr und zog sie in Richtung Bett.
Warum musste sie ausgerechnet jetzt an ihn denken? Sie hatte so viele andere Erinnerungen, die mit Schnee zusammenhingen. Doch statt der vielen schönen Dinge, die sie als Kind erlebt hatte, kam ihr nur dieses eine Erlebnis in den Sinn. Jede einzelne Flocke schien seinen Namen, sein Gesicht zu tragen. Bestimmt fielen sie extra so langsam vom Himmel, um sie zu ärgern, dachte Haruka.
„Jetzt reiß dich aber mal zusammen!“, schalt sie sich selbst. Es hatte einfach keinen Sinn, immer nur der Vergangenheit nachzutrauern. Aber sie konnte nun mal nicht anders, und bei solchen Dingen kam man mit Vernunft schließlich nicht weiter.
Allein der Gedanke daran, dass die Zeit seitdem unbarmherzig weiterlief und weiterlaufen würde bis zum bitteren Ende, wenn es sie schon gar nicht mehr geben würde, schnürte ihr die Kehle zu.
Aber war es nicht ihre eigene Entscheidung gewesen?
Sie hatte immer gedacht, wenn sie zusammen wären, würde schon alles gut werden. Doch irgendwann hatte sie feststellen müssen, dass ihre Lebenswege auseinander gingen...
Vielleicht hatte sie sich etwas vorgemacht. Vielleicht war sie auch einfach zu jung gewesen und hatte nicht richtig nachgedacht. Wenn man jung und verliebt war, sah man die Welt eben gern durch die rosarote Brille. Und es war ja auch viel einfacher, den Blick auf die schönen Seiten einer Beziehung zu lenken und vor den Nachteilen die Augen zu verschließen.
Manchmal fragte sie sich, ob sie die richtige Wahl getroffen hatte. Wenn ihr Herz und ihre Augen überquollen vor Sehnsucht, und sie sich wünschte, sie hätte damals diese Worte nicht ausgesprochen. Aber er musste es doch auch gespürt haben. Diese Unzufriedenheit, die sich ganz leise in ihrer beider Herzen geschlichen hatte und über die Zeit hinweg gewachsen war, bis sie zu groß geworden war, um sie weiterhin zu ignorieren.
Ja, er, gerade er, musste doch ebenso gedacht haben. Schließlich war er derjenige, der sein Leben lieber allein gelebt hatte, bevor sie sich nahe gekommen waren. Und er war doch derjenige gewesen, der niemals aufgab und immer nach neuen Herausforderungen suchte.
Sie fragte sich, was er gerade tat. Ob er wohl auch irgendwo draußen stand und den Schneeflocken zusah? Nein, soweit sie wusste, war er in Hoenn, und dort schneite es nicht. Ob er wenigstens den gleichen Himmel sah wie sie?
Eine einzelne Träne bahnte sich langsam den Weg ihre Wange hinunter, wie die Schneeflocken, die immer noch sacht vom Himmel rieselten. Dabei wollte sie doch stark sein hatte, sie sich geschworen.
Da hatte sie ihn schon verlassen, um selbstständig zu sein, und dachte trotzdem nur an ihn...