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Die Chroniken von Khad-Arza - Die Herrscher der Geisterwinde

von

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Das Heilermädchen

Dritter Teil: Anthurien
 


 

Sie zogen mehrere Tage durch ein Land der Verwüstung. Nachdem sie Hoffnung geschöpft hatten ob der Tatsache, dass die Stadt Undath hinter dem Gebirge noch stand, wurde ihnen diese gleich wieder genommen, als sie weiter nach Süden kamen. In Undath hatten sie sich mit Proviant, neuen Kleidern und Reisedecken gerüstet, sodass sie die Straße, die an der Küste entlang führte, hinter der völlig zerstörten Stadt Morusk nach Osten verließen. Sie passierten die Reste des Walls, den Kelar vor Zeiten an der Grenze Dokahsans hatte bauen lassen, und betraten die Provinz Anthurien, mit der ihre Väter und Großväter lange Zeit Krieg gehabt hatten.

Anthurien und Dokahsan waren in ihrer Fläche etwa gleicher Größe. Aber die Provinzhauptstadt Anthuriens, Pinhu, war sehr viel kleiner als Yiara. Das Feuer von Morusk hatte sich tief in die westlichen Wälder Anthuriens gefressen, erst nach einem weiteren Reisetag erreichte die Gruppe ein Stück bewachsenes, offenbar noch unbeschadetes Land.

„Wir machen einen Bogen um die Straße und sind jetzt auf dem besten Weg quer feldein nach Brayk,“ erklärte Keisha, die in Undath eine staubige alte Landkarte von einem alten Herrn billig bekommen hatte. Sie hatten Glück, dass Meoran vor ihrer Flucht aus Tuhuli einen kleinen Stapel Wertpapiere aus der Kommode mitgenommen hatte, von dessen Großteil sich die sechs Menschen alles Nötige in Undath gekauft hatten. Die alte Karte war nicht ganz aktuell, einige Namen von Städten waren geändert worden und einige kleinere Dörfer waren noch nicht mal verzeichnet. Aber für das Nötigste würde sie ihren Dienst tun.

Meoran lugte seiner Mutter über die Schulter, während sie auf einem umgestürzten Baumstamm saß, an dem sie ein feuerloses Lager für die Nacht aufgeschlagen hatten.

„Brayk? Großartig, ich denke, wir sollten dann um die Stadt auch gleich einen Bogen machen, die Städte werden sie sicher angreifen und so viele wie sie sind, werden sie nicht auf der Hauptstraße nach Vialla bleiben, sondern fröhlich nach allen Seiten Patrouillen schicken.“

„Na, wenn unser weiser Lehrmeister das sagt,“ machte Tabari grinsend und sein Freund murrte.

„Das sage ich, wenn unser großer Jäger und Fallensteller mal in die Hufe käme und das Abendessen endlich zerteilte…“ Keisha lenkte die Aufmerksamkeit wieder auf sich, wieder auf die Karte sehend.

„Wenn wir um die Stadt einen Bogen machen wollen, sollten wir über Norden ausweichen. Gebirge sind immer gut zum Verstecken, das Nächste wäre das Nosar-Gebirge im Osten von Anthurien, an der Grenze zum Land Janami.“

„Wenn wir auf dem Weg nach Nosar zwei Straßen kreuzen, brauchen wir sicher drei Tage, bis wir dort sind,“ bemerkte Meoran dumpf. „Außerdem, he, Gebirge, du willst doch nur, dass ich dich wieder trage, du faule Tante, weil du ja nicht klettern kannst!“

„Trägt mich auch jemand, wenn ich sage, dass ich nicht klettern kann?“ freute Tabari sich, aber keiner antwortete ihm, so nahm er verdrossen die zwei Kaninchen weiter aus, die er auf dem Weg erlegt hatte, damit sie die haltbaren Vorräte noch etwas aufsparen konnten. „Aber in Nosar soll es viele Gämsen geben, die sollen gut schmecken und die Felle und Hörner sind ganz schön wertvoll…“

„Ihr seid doch albern!“ rief Nalani herüber, die gemeinsam mit ihrem Sohn und Ruja ein kleines Zelt aufbaute, für das sie in Undath Lederhäute und leichte, aber stabile Pfähle gekauft hatten. Es war genug Platz darin für die sechs Menschen, was alle etwas überrascht hatte, von außen sah es unheimlich eng aus. Aber es schützte vor Regen und Wetter. „Einer jammert über das Klettern, einer denkt nur ans Essen, wo kommen wir da hin? Wir müssen nicht klettern, es gibt ein Stück Grasland zwischen den Ausläufern der Berge und dem Fluss nördlich davon. Verblüffenderweise führt keine Straße da durch, die Straße nimmt nämlich den Pass nach Kerhi-Uhl.“

„Eine Straße durch das Gebirge, obwohl es einen Weg direkt daneben gibt?“ fragte Puran sie verdutzt, „Wie… strategisch unklug angelegt.“

„Und wieso kann deine Mutter die Karte im Kopf, hätte sie das vorher gesagt, hätte ich den alten Tattergreis nicht bequatschen müssen!“ empörte Keisha sich in Purans Richtung.

„Ich kenne sie nicht auswendig, ich habe mir nur die Straßen angesehen in Richtung Osten.“

„Kerhi-Uhl,“ wiederholte Meoran nachdenklich, „Das erscheint mir wie eine gute Idee, der östliche Teil des kleinen Kreises Kerhi-Uhl ist abgegrenzt vom Rest der Provinz, im Norden durch einen Fluss, im Südwesten durch das Nosar-Gebirge. Vielleicht machen sich die Zuyyaner nicht die Mühe, an so abgeschiedene Hinterwäldlerstädte zu kommen, vielleicht stehen Darleri und Omaen noch. Von Omaen aus ist es nur noch ein Katzensprung nach Janami, die Stadt liegt direkt an der Grenze des Landes.“
 

Damit beschlossen sie, dem Angriff der Zuyyaner so weitläufig wie möglich aus dem Weg zu gehen. Der abgeschiedene Ostteil Kerhi-Uhls kam dabei gerade recht.

In der Nacht grollte der Himmel wieder über dem Land, als die Menschen in ihrem Zelt lagen. Puran starrte gedankenverloren hinauf an die lederne Decke des Unterschlupfes, während er dem Donnern lauschte. Es gab keinen Blitz und auch keinen Regen, es gab nur Donner aus dem Himmel. Ein komisches Gewitter.

Die Geister waren unruhig, und er war es ebenso. Er fand keinen Schlaf, vor seine Augen flogen nur verzerrte Bilder, die er nicht sehen wollte. Brennendes Land unter blutigem Himmel, Berge aus Toten und zerstörte Dörfer. In all der Zerstörung lief seine Freundin Cholena, quicklebendig und lachend, an ihm vorbei. Er versuchte sie festzuhalten, aber er griff in die Luft und das Mädchen verschwand im Inferno des Krieges.

„Cholena! Lauf nicht weg!“ keuchte er und drehte den Kopf; doch Cholena war verschwunden, stattdessen sah er das kleine Mädchen wieder, das er schon öfter in seinen Träumen gesehen hatte, das Kind mit den dunklen Haaren. Es sah in sein Gesicht aus riesigen, schwarzen Augen, ehe auch es im Feuer verschwand.

Er erwachte aus seinem unwirklichen Halbschlaf und sah noch die Umrisse des Mädchens vor sich, als er sich murrend auf seinem kleinen Schlafplatz aufsetzte. Die anderen schienen zu schlafen, so kroch er so geräuschlos wie nur irgend möglich aus dem Zelt, er konnte nicht still liegen und schweigen, er brauchte frische Luft.

Die Nacht war verhangen und der Himmel grollte immer noch, als der junge Mann sich etwas vom Lager entfernte und an den hohen Bäumen empor sah. Er fragte sich, wer das Kind war, das er jetzt schon öfters im Traum gesehen hatte… er kannte es nicht, abgesehen von den Träumen hatte er das Mädchen nie gesehen. Und dennoch kam ihm ihr kleines Gesicht irgendwie vertraut vor und so, als würde es nicht mehr lange dauern, bis er erführe, was der Traum bedeutete.

„Wie kann ich mir über sowas Gedanken machen, während ich um meine Cholena trauere?“ schimpfte er mit sich selbst und raufte sich die Haare. Wie pietätlos von ihm!

Aber es war Krieg. Jetzt war alles anders.

Puran erschrak sich beinahe zu Tode, als er mitten im Grübeln plötzlich eine reale Stimme hinter sich vernahm.

„Ich glaube nicht, dass Trauer dich am Denken hindern sollte, das wäre töricht, oder?“

Er fuhr keuchend herum. Hinter ihm zwischen den Fichten stand Ruja.

„Was zum-…?! I-ich habe mich halb tot erschrocken!“ platzte er heraus. Die Frau neigte höflich den Kopf.

„Vergib mir, das wollte ich nicht… ich sah dich fortgehen und bin dir gefolgt…“ Er stutzte für einen Moment. Was hatte sie? Sie war seinetwegen gekommen?

Wäre sie zufällig gekommen, hätte er es leichter ertragen…

Es fiel ihm noch immer schwer, ihr ins Gesicht zu sehen, obwohl sie jetzt schon mehrere Tage gemeinsam reisten. Puran hatte sich zuerst eingeredet, es würde leichter werden, weil jetzt alles anders war und er im Kopf genug anderes hatte; sie waren nicht in Tuhuli und sie steckte keine Blumen, sie waren in irgendeinem hässlichen Wald in Anthurien. Aber Ruja war immer noch Ruja. Sie war immer noch betörend schön, eine so hübsche Frau wirkte in der Verwüstung des Landes dermaßen fehlplaziert, dass es zu unwirklich erschien, sie tatsächlich neben sich zu haben. Obwohl das, was er jetzt empfand, wenn er sie ansah, sich gewaltig von dem unterschied, was er in Tuhuli gefühlt hatte, irgendwo tief verborgen in seinem Inneren würde das Begehren nach dieser Frau immer sein, hatte er das Gefühl.

Meorans Frau trat jetzt drei Schritte näher, worauf er unwillkürlich zusammenzuckte. Sie sollte bloß nicht zu nahe kommen… was dachte er da eigentlich? Er wurde schon wieder pietätlos…

Lass das, Puran, befahl er sich selbst grantig. Und zwar auf der Stelle. Wage niemals wieder in so eine Richtung zu denken, sie ist eine die Frau deines Lehrmeisters!

Er seufzte tief, als er ihr den Rücken kehrte und sich entschuldigte.

„Ich kann… dich nicht ansehen, Ruja, verzeih. Ich-… kann es immer noch nicht, meine ich.“ Sie verstand und lächelte bitter.

„Ich wollte mit dir sprechen… an sich geht es… in gewissem Sinne darum, Puran.“ Er schwieg. Er musste dazu nichts sagen, sie wusste, was er fühlte. Sie wusste es und dennoch tat sie, als wäre alles wie immer… hinter ihrer Liebenswürdigkeit war sie eine entsetzlich grausame Person, fand er mitunter. „Als Meoran neulich erzählt hat, ich hätte eure Lebensgeister gespürt und euch so gefunden, war das nur zum Teil richtig… ich habe nur deinen Lebensgeist gespürt und bin ihm gefolgt.“

Jetzt sah er sie doch an. Die Nacht war beinahe vorüber; am östlichen Horizont zeichnete sich ein blässlicher Schimmer ab. Im fahlen Sonnenaufgang sah Ruja bleich und krank aus. Aber sie lächelte mit höflich gesenktem Blick.

„Meinen-… wieso meinen?“ wollte er wissen. Sie nickte.

„Was du spürst, Puran… ist vielleicht nicht so unehrenhaft, wie du glaubst, ich… denke, es ist der Wille der Geister, dass wir uns auf diese Weise begegnet sind.“

„Das macht es nicht ehrenhafter, die Frau meines Meisters zu begehren,“ sagte er errötend und schämte sich gleich danach, es ausgesprochen zu haben.

„Das ist es nicht,“ widersprach die Frau, „Wir beide sind durch die Geister miteinander verbunden worden, es ist eine Art… seelisches Band zwischen uns, deswegen kann ich dich spüren, auch auf weitere Entfernung.“ Sie sah die unausgesprochene Frage in seinem Gesicht und fuhr fort: „Ich kann das, weil ich Seelenmagierin bin, du bist Schwarzmagier. Das Spüren von Geistern ist nicht dein Metier, du sollst sie ja beherrschen.“ Er drehte den Kopf in Richtung Osten. Beherrschen… er beherrschte gar nichts, er wurde wie ein Stück Holz von den Wogen des Willens der Geister hin und her geworfen.

Als er lange Zeit schwieg, trat sie direkt hinter ihn, bis er ihren sanften Atem in seinem Nacken spüren konnte und erschauderte. Wie gerne hätte er sich umgedreht und sie umarmt? Er seufzte erneut und zwang sich, ihr weiter den Rücken zu kehren.

„Du drehst dich weg…“ flüsterte sie ihm ins Ohr und streckte sich dabei; er war ein gutes Stück gewachsen seit Tuhuli.

„Ich habe nichts zu sagen,“ murmelte er bedrückt, und die Frau stellte sich wieder auf die ganzen Füße und lächelte sanft.

„Die Welt ist im Wandel. Du wirst sehen, sie… hat sich für immer verändert mit den Dingen, die geschehen sind.“ Er grinste verzerrt. Ja, das wusste er. „Du sorgst dich so viel…“ fuhr sie leise fort und er drehte langsam den Kopf in ihre Richtung, als sie ihre Hand hob und seine Wange hauchzart berührte. An sich wollte er sofort den Kopf wegdrehen, vermochte aber nicht, sich von ihrem Anblick loszureißen.

„Ich habe Träume,“ antwortete er ihr unverblümt, sie weiterhin anstarrend, „Und immer noch geht die Welt unter in Flammen und Zorn des Himmels. Es ist noch lange nicht vorbei, das hier… ist erst der Anfang.“ Er erwähnte das fremde Mädchen nicht, dessen Bedeutung er nicht kannte.

„So wird es sein…“ Ruja blickte hinauf in den Mischwald. „Die Blätter färben sich bald golden… und die Sonne verblasst mit jedem Tag mehr, den wir erleben. Ehe der Winter gekommen ist, wird es viele Flammen und viel Tod geben, so fürchte ich.“ Sie standen zusammen da und sahen in die aufgehende Sonne, die man hinter der verhangenen Wolkendecke kaum ausmachen konnte. In dem Moment, in dem sie da einfach nur standen und in die Richtung der aufgehenden Sonne sahen, hatte Puran plötzlich das Gefühl, sie wären wieder vereint wie in Tuhuli. Aber es war eine rein seelische Vereinigung, eine viel stärkere als eine körperliche es sein konnte, und sie beide standen lange schweigend da und genossen die tiefen Empfindungen, bis die Frau lächelnd den Kopf senkte und die schönen blauen Augen schloss, ehe sie sprach.

„Ich wünschte, ich könnte dich fester umarmen…“
 

Als Ruja und Puran zum Lager zurückkehrten, wachten die anderen im Zelt gerade auf. Sie hatten sich kaum aufgesetzt, da ertönte in nicht allzu weiter Entfernung ein gewaltiges Krachen, es folgte eine Erzitterung der Erde, wie sie alle sie in Dokahsan zuvor verspürt hatten.

„Die Zuyyaner?!“ schrie Puran und machte einen Satz zurück, als hätte Ruja neben ihm sich plötzlich in einen Feind verwandelt. Die Frau fuhr ebenfalls herum nach Süden, während die vier anderen aus dem kleinen Unterschlupf lugten, Tabari absolut nicht ausgeschlafen.

„Das kann doch nicht wahr sein, wo sollen die herkommen?“ fragte er empört, „Ich meine, Welle eins dürfte längst weiter unten sein und Welle zwei – ist das Welle zwei?“

„Von mir aus kann es Welle dreihundertelf sein, Hauptsache, sie entdecken uns nicht, rasch!“ keuchte Meoran und verschwand wieder im Zelt, wohin ihm dann alle folgten. Sie räumten ihr Hab und Gut zusammen und bauten in Windeseile die provisorische Behausung ab. Tabari und Meoran nahmen die Pfähle und banden sie provisorisch auf die Rückentragen aus Knochen, die sie in Undath besorgt hatten. Während sie die Spuren der Raststätte so gut wie möglich verwischten, ertönte das Krachen öfter und aus der Ferne im Süden drang ein unwirkliches, tödliches Licht zu ihnen.

„Sie legen Feuer,“ stöhnte Ruja benommen, die wie angewurzelt am Rand der kleinen Lichtung stand und gen Süden sah. „Wieder…“

„Es war eine weise Entscheidung, einen Bogen um Brayk zu machen, Meoran,“ behauptete Nalani, „Wir sollten weiter nach Osten, und zwar möglichst noch schneller als die Zuyyaner. Sie scheinen nicht nur den Weg direkt nach Vialla nehmen zu wollen, wenn sie hier herüber marschieren… dann wollen sie vermutlich so viele Leute ausmerzen wie nur irgend möglich, oder so.“

„Das ist furchtbar!“ machte Keisha, während die kleine Gruppe davon eilte.

Sie ließen die Lichtung hinter sich und wendeten sich der aufgegangenen Sonne zu, um die Nordstraße nach Brayk möglichst bald zu passieren und zurücklassen zu können. Sie verfolgte das Grollen des verhangenen Himmels und das Zittern der Erde unter ihren Füßen ließ auch die Menschen erschaudern. Je mehr sie nach Osten kamen, desto deutlicher hörten sie Schreie aus der Ferne. Brayk oder die umliegenden Dörfer wurden vermutlich angegriffen. Puran schloss keuchend die Augen, als vor ihm wieder das Feuer aus seinen Träumen auftauchte. Wenn er sich ausmalte, was diesen Leuten, die sie schreien hörten, in dem Moment angetan wurde, in dem sie hier durch den Wald rannten, wurde ihm übel und schwindelig. Er strauchelte, Nalani griff ihn am Arm und zerrte ihn wieder hoch.

„Gib dich nicht dem Grauen der Visionen hin,“ riet sie ihm dumpf, „Es kann dich umbringen, wenn du es zu tief auf dich wirken lässt, renn, Puran!“

„I-ich kann nicht!“ japste er verzweifelt, „Mir wird schwarz vor Augen…“

„Reiß dich zusammen!“ hörte er in der sich drehenden Welt vor seinen Augen auch Meoran rufen, der seinen anderen Arm packte, als seine Beine ihrem Dienst entsagten. Als er seine Füße wieder spüren konnte, verblassten die Flammen vor seinen inneren Augen und wurden gegen reale ausgetauscht, als er sein Gesicht hob und keuchte.

„Da, am Waldrand! Es brennt…“

„Die Welt brennt überall…“ meinte Nalani beunruhigt, als sie ihren Weg eilig fortsetzten, verfolgt von dem Grollen und dem Beben der Erde. „Weg vom Feuer, weiter nach Norden, rennt!“ Sie rannten und schnappten nach Luft, je länger sie liefen, je mehr die Erschöpfung wuchs. Puran spürte seine Füße nicht und fragte sich, wie sie ihn trugen, aber sie taten es. Er konnte die Geister in seinem Kopf wispern hören; nein, es war mehr ein eindringliches Zischen.

„Komm!“

Der Befehl kam gleichzeitig mit dem realen Ausruf seiner Mutter, die an ihm zerrte, als Puran merkte, dass er stehen geblieben war und nach Südosten starrte.

„Was ist denn?!“ rief Tabari von vorne.

„Frag deinen Sohn! Warum hältst du an, lauf!“ Nalanis Stimme trug Entsetzen inne und etwas, was Puran nie bei ihr gehört hatte… Angst.

„Ich renne aber in die falsche Richtung…“ stöhnte er plötzlich, worauf Nalani und auch die anderen ihn noch entsetzter ansahen. „Ich muss hinunter nach Südosten!“

„Bist du verrückt, da rennst du denen in die Arme, Puran!“ schrie Keisha. Nalani hielt ihn fest, als ihr Sohn taumelte und offenbar drohte, das Bewusstsein zu verlieren.

„Reiß dich zusammen!“ wiederholte sie Meorans Worte grantig.

„Aber die Geister befehlen es!“

„Komm!“ riefen die Stimmen in seinem Kopf. Nalani senkte die Brauen und verfesterte ihren Griff, zog ihn weiter nach Norden.

„Die Geister ziehen dich nicht in das Kriegsfeuer, Puran, das ist dein Drang, Cholena zu folgen,“ mutmaßte sie kaltherzig und Ruja keuchte erschrocken über solche Grausamkeit.

„W-wie kannst du sowas sagen?!“ fragte sie entsetzt und Tabari erbleichte auch. Meoran war ziemlich sachlich.

„Puran sieht nicht aus, als wäre er suizidgefährdet.“

„Kennst du meinen Sohn besser als ich, Meoran?!“ schnappte Nalani grimmig und ihr Kollege zog eine Braue hoch.

„Lügen die Geister, Königin?“ fragte er zurück. Tabari unterbrach die Diskussion, als seiner Frau ohnehin nichts einzufallen schien.

„Wartet… das Trommeln ist verstummt.“

Sie lauschten. Tatsächlich war es plötzlich still im Wald und das Beben hatte nachgelassen. Die Menschen schwiegen bitter, bis Puran sich mit sanfter Gewalt aus Mutters Griff befreite und sich gen Osten drehte.

„Wir sollten gehen.“ Mit diesen Worten ging er einfach voran und obwohl Nalani der Gedanke übel aufstieß, ihren Sohn nicht weiter festzuhalten, wehrte sie sich nicht, als Tabari sie am Arm nahm und das verhinderte.

„Er ist ein Mann und kein Säugling, der deine Arme immerzu um sich braucht,“ sprach er dazu und seine Frau sah verbiestert zu Boden.

„Vielleicht, aber er ist immer noch unser einziger Sohn. Würdest du es verkraften, wenn ihm etwas zustieße, Tabari?“ Tabari antwortete nicht.

Sie setzten ihren Weg jetzt entspannter fort, weil der Lärm nachgelassen hatte. Vögel flohen aus dem Wald gen Westen, als sie sich dem Feuer im Osten näherten, obwohl sie an sich versuchten, ihm auszuweichen. Die Flammen schienen sich ihnen um jeden Preis in den Weg stellen zu wollen. Am Ende des Waldes kurz vor der Nordstraße von Brayk, die aus der Kleinstadt in die nördlich von ihr gelegenen Dörfer führte, hielten die sechs für einen Moment im Schutz der noch stehenden Bäume an und betrachteten das Ausmaß des Feuers.
 

Es war dabei, sich zurückzuziehen, aber das kleine Dorf vor ihnen, das die Nordstraße durchquerte, stand lichterloh in Flammen. Es kamen keine Schreie mehr, die Bewohner schienen das Schlimmste hinter sich zu haben.

„Das ist furchtbar,“ meinte Keisha bedrückt und sie schwiegen andächtig, gedachten der vielen toten Geister, die jetzt verwirrt umher schwirren würden. Nie würden sie heil ins Geisterreich kommen, weil sie keine anständige Bestattung bekommen hatten. Es gab keine grausamere Art, einen Menschen auszulöschen, als den Körper so zu zerstören, dass auch die Seele nie den Weg ins Geisterreich fände. So starb nicht nur der Mensch, sondern auch die Erinnerung an ihn auf gewisse Weise.

„Die Geister, die nie lügen, haben einen komischen Willen,“ murmelte Tabari mit gesenktem Kopf. „Gehen wir hinunter und sehen nach, ob noch jemand lebt. Die Zuyyaner scheinen weg zu sein. Ob wir auf dem Weg nach Osten durch das Dorf oder drum herum gehen, ist reichlich egal.“ Da hatte er zweifellos recht.

So verließen sie nach einer weiteren Weile, in der nichts passiert war, den Schutz des Waldes und betraten die sehr große Lichtung, auf der das Dorf stand. Im Dorf selbst war kein Zeichen von Leben. Häuser und Tote auf der Straße brannten noch, einige der Gebäude fielen in sich zusammen, als die Gruppe an ihnen vorbei ging. Keisha erschauderte bei jedem Geräusch und die anderen schüttelten traurig die Köpfe.

„Kein Leben,“ machte Meoran irgendwann, als sie drei brennende Straßen durchquert hatten, „Die sind alle verbrannt und zertrümmert von den fliegenden Steinen…“

„Wie kann man so grausam sein? Das waren Frauen und Kinder, wehrlose Zivilisten, die vermutlich noch nie im Leben mit Zuyyanern geredet, geschweige denn ihnen was angetan haben…“ murmelte Puran benommen und drehte den Kopf. Es gab ein knarrendes Geräusch, als ein brennender Balken von einer Hausruine stürzte und Funken aufstoben, als das Holz zu Boden krachte. „Wenn die Zuyyaner ein Problem haben, sollen sie sich an die wenden, die sie verärgern, und nicht alle möglichen zufälligen Opfer leiden lassen, das ist doch hirnverbrannt!“

„Nein, das ist Aufräumen, fürchte ich,“ seufzte sein Vater mitleidig und sah traurig auf eine bis zur Unkenntlichkeit verkohlte Leiche, an der er vorbei ging. Plötzlich vernahmen sie ein leises Geräusch, das nicht von einstürzenden Hütten kommen konnte, und blieben stehen. Ein leises Wimmern in knapper Entfernung…

„Da ist noch jemand am Leben!“ machte Ruja schnell und zeigte nach links, „Dort drüben, daher kommt das Weinen!“ Nalani weitete die Augen.

„Oh nein, rasch!“ Sie liefen um ein verkohltes Haus herum und kamen dem Geräusch näher – es kam hinter einer hölzernen Kiste hervor, die erstaunlicherweise nicht brannte. Nalani und Puran lugten hinter die Kiste und fanden am Boden zusammengekauert ein aufgelöst weinendes, schwer verwundetes kleines Mädchen. Und während Nalani die Augen minimal weitete, erstarrte ihr Sohn neben ihr, als das Kind vor ihnen erschrocken das Gesicht hob.

Er hatte sie schon mal gesehen… öfter. Es war das Mädchen aus seinen Träumen.
 

Ehe er sich versah, hatte er sich zu dem Kind gehockt, das er nicht kannte, das er nur schon gesehen hatte. Und er wusste plötzlich, was der Traum bedeutete – die Geister hatten ihn hergeführt, sie hatten geplant, dass er dieses kleine Kind traf, das neben dem brennenden Haus saß.

„Sie ist verwundet,“ stellte er besorgt fest, „Was ist mit dir? Bist du ganz alleine?“ Vielleicht lebte ja noch jemand außer dem Kind? Doch das Mädchen fing nur an stärker zu weinen und rieb sich mit Blutverkrusteten Fäusten die großen, braunen Augen und sprach nicht.

„Hier ist keine Seele, ich glaube, sie ist alleine,“ bemerkte Meoran, der mit den anderen dazu stieß, „Sie hat immerhin noch alle Körperteile und Kraft zu Weinen, ich habe ein gutes Gefühl, dass sie leben kann…“ Er wurde unterbrochen, abermals ertönte das Trommeln in der Ferne. Dieses Mal kam es von Norden. Die Gruppe fuhr auf, das Kind hinter der Kiste erbleichte und verstummte augenblicklich.

„S-sie kommen zurück?!“ fragte Tabari entsetzt, „Rasch! Hinfort nach Osten, ehe sie da sind!“

„Nimm sie mit, wir lassen das Kind auf keinen Fall hier!“ entschied Nalani an Puran gewandt, und ohne Widersprüche hob er das Mädchen hoch und ließ es sich von Nalani auf den Rücken setzen, um es besser tragen zu können. Das fremde Kind regte sich nicht, abgesehen davon, dass es zitterte, es wehrte sich nicht und sprach nicht, es wimmerte nur vor sich hin. Nalani fasste der Kleinen auf die Stirn.

„Die Wunden sind schlimm, Keisha muss sie bald behandeln, sonst ist es vielleicht zu spät, und sie steht unter Schock. Halt sie gut fest.“

„Nicht aufgeben, kleines Mädchen!“ sagte Puran zu dem Kind auf seinem Rücken, als sie weiter rannten, um das tote Dorf zu verlassen. „Wir bringen dich in Sicherheit, hab keine Angst vor uns! Die Zuyyaner werden dich nicht bekommen, das schwöre ich dir!“ Weil er nach vorn sah und das Kind hinter ihm hockte, sah er nicht, wie sich das kleine Gesicht vor Dankbarkeit und Erleichterung kurz aufhellte, ehe die Schmerzen das kleine Mädchen wieder einzuholen schienen und es sich kraftlos gegen seinen Rücken lehnte.
 

Sie rannten. Sie passierten die leere Straße so schnell wie möglich und verschwanden hinter ihr wieder im düsteren Wald von Morund. Sie hörten das Grollen in der Ferne, es näherte sich immer schneller, so beeilten sich auch die Menschen immer mehr. Puran hörte das kleine Kind auf seinem Rücken vor Schmerzen wimmern und unverständliche Dinge murmeln, während es sich mehr schlecht als recht an ihm festhielt.

„Halt noch ein bisschen durch!“ versuchte er verzweifelt, der Kleinen einzureden, „Gib dich nicht den Stimmen hin, du bist noch viel zu jung, um hier zu sterben, verstanden?! Halte durch, du schaffst das schon!“ Er griff nach ihren dürren Beinchen, die um seinen Oberkörper hingen, und stellte verblüfft fest, dass sie an den Beinen so gut wie unversehrt war, nur sehr kleine Narben zierten ihre weiche Haut.

„Sie verliert das Bewusstsein,“ meldete Keisha hinter ihm und betrachtete das Mädchen, „Rascher!“
 

Das Kind hörte die Stimmen der fremden Leute, während es durchgeschüttelt und getragen wurde. Es war unangenehm, aber gleichzeitig auch wohltuend, plötzlich die Wärme eines Körpers an sich zu spüren; freundliche Stimmen, die Leute wollten ihr nichts Böses, sagten ihre Instinkte. Sie kamen von wo anders her, ihre Sprache hatte einen anderen Akzent als die der Bewohner des Dorfes Makar… Benommen ertastete das Kind mit den verbrannten, übel schmerzenden Fingern Nacken und Kiefer ihres Trägers. Ihr schwindelte und die Sicht vor ihren Augen verschwamm.

„Mein Retter…“ wisperte sie tonlos, als ihre Sinne ihrem Dienst entsagten und es um das Kind herum lange Zeit schwarz wurde.
 

Sie fanden eine kleine Ansammlung von Felsen, zwischen denen sie sich versteckten, als das Donnern immer näher kam; als es am lautesten krachte und sie vor Schreck aufschrien in der Befürchtung, hinter dem nächsten Stein könnte eine Armada hervor springen, folgte aber nur ein dumpfes Zittern des Waldes, ehe das Geräusch der Feinde wieder abebbte und gänzlich verstummte. Erst eine Weile nach dem Verklingen des Stampfens von vielen Soldaten und des Trommelns lugte Tabari als Erster zwischen den Felsen hervor.

„Sie sind die Nordstraße wieder zurück nach Brayk gezogen,“ orakelte er nachdenklich, „Sie haben Brayk heute Morgen angegriffen, sind die Straße hinauf in die Dörfer gezogen und wieder zurück, nachdem alle Dörfer platt waren. Wir können ihnen nur sehr knapp entkommen sein, wären wir nur wenig später aufgebrochen, hätten sie uns sicher gesehen.“ Allgemeines Aufatmen. In der kleinen, länglichen Höhle, die an sich mehr ein breiter Felsspalt war, auf den abermals flache Steine gefallen waren, könnten sie etwas verschnaufen, ehe sie sich aufmachten, nach Kerhi-Uhl zu gelangen.

„Das wären drei Dörfer,“ meinte Keisha, die die Karte ausgebreitet hatte, „Das Dorf, das wir durchquert haben, muss Makar gewesen sein.“ Tabari lugte ihr dieses Mal über die Schulter, inzwischen setzte Puran das kleine Mädchen ab und legte es auf seine Reisedecke, die er auf den Steinboden geworfen hatte.

„Könnt ihr mir erst mal helfen hier?“ wendete er sich an Keisha, „Die Karte können wir nachher auswendig lernen! Das Mädchen braucht Medizin, und zwar schnell!“ Keisha widersprach nicht und eilte umgehend herbei, gefolgt von Nalani und Ruja. Eine kurze, provisorische Untersuchung des Kindes ergab, dass es Glück gehabt hatte: „Sie sieht schlimmer aus, als es ist,“ meinte Keisha nämlich. „Sie hat keinen brennenden Stein abbekommen, nur etwas Feuer aus dem Dorf. Aber sie fiebert, die Wunden müssen gereinigt und sauber verbunden werden, sonst entzünden sie sich und alles wird schlimmer.“

„Ihre Beine sind in Ordnung, oder?“ wunderte Puran sich besorgt, „Sie fühlten sich gar nicht verletzt an, was für ein Wunder.“ Alle blickten auf die tatsächlich unverletzten Beine des Mädchens. Nalani fasste flüchtig über die Haut.

„Das ist nicht möglich,“ meinte sie dazu, „Wie können ihre Beine nichts abbekommen haben, während der Rest ihres Körpers vor kleinen Verbrennungen nur so strotzt?“

„Sie ist Heilerin,“ bemerkte Ruja, worauf sie alle dumm anblickten. Puran vor allem.

„Willst du sagen, sie hat ihre Beine selbst geheilt?“

„Wenn die vorher so ausgesehen haben wie der Rest von ihr, ist es schier unmöglich, in ihrem Alter so etwas zu heilen!“ warf Keisha ein, „Sie ist noch ein Kind, sie kann nicht mal zehn Sommer alt sein! In dem Alter lernt man gerade die Grundzauber, ohne Medikamente kann sie unmöglich einfach so ihre Beine geheilt haben…“

„Warum nicht, vielleicht ist sie talentiert?“ machte Ruja, „Puran hat mit sechs Jahren Windmesser gerufen, warum soll eine Heilerin nicht auch existieren, die mit weniger als zehn Jahren Verbrennungen heilt?“ Den anderen fiel dazu nichts ein. Der Junge seufzte schwermütig und streichelte der Kleinen über die dunklen Haare.

„Sei tapfer, kleines Mädchen. Du wirst wieder gesund werden… wenn es soweit ist, werden wir immer noch herausfinden können, wer du bist und ob du sowas kannst.“
 

Als das Kind erwachte, umfing sie Dunkelheit. Eine andere Dunkelheit als die Ohnmacht zuvor, es war angenehmer und kühler. Sie fand sich liegend auf irgendetwas Weichem. Ihre Schmerzen waren so gut wie verschwunden, als sie verwirrt die Augen aufschlug.

„Ah, sie wacht auf,“ hörte sie eine Stimme über sich, und sie drehte langsam den Kopf. Etwas pochte. Doch noch Schmerzen.

Wo war sie? Wo war Onkel Turoni? Und seine Frauen und Töchter?

Als sie die blonde, ältere Frau über sich erblickte, wusste sie, dass sie nicht geträumt hatte. Das Dorf hatte gebrannt, die Männer waren losgezogen, um die Angreifer zu erschlagen. Keiner war zurückgekommen. Alles hatte gebrannt, Onkels erste Frau war von einem Stein erschlagen worden, der vom Himmel gefallen war. Die zweite Frau hatte zwei der Kinder unter die Arme genommen und war weggerannt… sie hatte sie zurückgelassen. Sie hatte sie weggestoßen, als sie ihr hatte folgen wollen, und das Kind war alleine neben dem brennenden Haus sitzen geblieben.

Ihre Beine, waren ihre Beine da? Sie versuchte, sie zu bewegen, erfolgreich. Sie waren noch dran! Zeitweise hatte sie geglaubt, sie würden abfallen, sie hatten gebrannt und es hatte so wehgetan, dass sie gedacht hatte, sie müsste sterben. Das Kind hatte wegrennen wollen, wie Onkels zweite Frau, aber ihre Beine hatten ihr nicht gehorcht. Sie hatte es mit aller Kraft und Mühe versucht, die Schmerzen wegzuzaubern, es hatte nicht ganz geklappt…

Dann waren die Fremden gekommen, als schon kein Leben mehr im Dorf gewesen war. Als die unheimlichen Männer in Rüstungen weggezogen waren, sie hatte sie gesehen, hinter ihrer Kiste versteckt hatte sie getan, als wäre sie tot. Die Angreifer hatten sie wohl übersehen. Die Fremden hatten sie mitgenommen… suchend sah sich das Kind nach seinem Retter um. Wo war der Mann, der sie getragen hatte? Er war sehr lieb zu ihr gewesen. Sie sah bei sich nur die blonde Frau und eine jüngere mit schwarzen Haaren, beide sahen besorgt aus. Die Blonde fasste dem Kind auf die Stirn.

„Shhh… hab keine Angst, Mädchen,“ sagte sie sanft. „Du bist in Sicherheit, das Feuer ist fort, die Zuyyaner auch. Ich bin Keisha. Neben mir sitzt Ruja. Ich habe deine Wunden geheilt und die Schlimmeren verbunden, du wirst bald keine Schmerzen mehr haben.“ Dabei lächelte sie, die Jüngere tat es ihr freundlich gleich. Das Kind sagte nichts. Es beobachtete die beiden Frauen, sie schienen sehr nett zu sein. Wieder sah sie sich suchend um und versuchte, einen Eindruck von ihrem Zufluchtsort zu bekommen. Wo waren sie? Es war dunkel, sie waren nicht unter freiem Himmel, aber auch in keinem Haus. Da waren mehr Stimmen gewesen, erinnerte sie sich… wo war ihr Retter, der sie getragen hatte?
 

Ruja erkannte die verwirrten Gedanken der Kleinen und sie erhob sich lächelnd. Keisha sah sie verdutzt an.

„Wohin gehst du?“

„Warte kurz, kleines Mädchen, ich bringe dir Besuch,“ versprach sie, tätschelte ihrer Schwiegermutter den Kopf und verließ die Höhle, vor der Puran auf einem Stein hockte und unruhig mit dem Fuß tappte. Als er Meorans Frau zu sich kommen sah, sprang er auf.

„Ist was passiert?“

„Die Kleine ist aufgewacht,“ berichtete Ruja, „Sie möchte dich sehen, glaube ich. Sie hat noch nicht gesprochen, aber sie hat an dich gedacht. Die Wunden sind gut versorgt, wenn deine Eltern mit den Wurzeln wiederkommen, die Nalani suchen sollte, wird es ihr bald gut gehen.“

„So ein Glück… es wäre doch ein Jammer gewesen,“ seufzte er und war im Begriff, die Höhle zu betreten, da hielt die hübsche Frau ihn noch einmal auf.

„Du kennst das Mädchen… oder nicht? Du kennst es aus deinen Träumen…“ Er hielt inne.

„Ich hasse es, wenn du meine Gedanken siehst,“ gestand er.

„Vergib mir. Wenn die Geister dir das Kind gezeigt haben, hattest du vorhin recht… sie haben dich nach Makar gezogen, damit du das Kind rettest. Es war deine Bestimmung, von Anfang an. Kümmere dich gut um sie, sie scheint dir sehr dankbar zu sein.“ Puran schwieg kurz.

„Danke,“ gab er dann von sich, ehe er die Höhle betrat.

Das Kind sah ihn aus großen Rehaugen an, als er sich neben Keisha hockte und wohlwollend grinste, erleichtert, dass sie sich besser fühlte.

„Du wirst bald wieder gesund sein,“ versprach er ihr auch, „Ich hoffe, ich habe dir kein Unrecht angetan, als ich dich mitgenommen habe.“ Das Mädchen lächelte ihn liebevoll an, obwohl es ihn gar nicht kannte, und er kratzte sich am Kopf. „Mein name ist Puran Lyra,“ stellte er sich gehorsam vor und nahm vorsichtig die kleine Hand in seine. Als er sie wieder loslassen wollte, hielt das Kind ihn plötzlich fest und sah ihn wehleidig an. „Du… willst wohl, dass ich hier bleibe?“ Stumm nickte das Mädchen. Er setzte sich ganz auf den Boden und ließ seine Hand in ihrer. „Dann werde ich das tun, hab keine Angst. Wie ist dein Name?“

Doch die Kleine sagte nichts, sie lächelte nur dankbar und zeigte ihm ihren größten Respekt.
 

Mit der Dämmerung begann es zu regnen. Die Menschen saßen im Eingang der Höhle und betrachteten den Regen, der offenbar immer kam, um das Feuer zu löschen.

„Ich frage mich, wieso der Regen Feuer löschen kann, wenn unsere Wasserzauber es nicht schaffen,“ meinte Meoran, der im Eingang stand und sich gegen den feuchten Fels lehnte. Er sah nach unten und seinem Kollegen Tabari dabei zu, wie er mal wieder das Abendbrot ausnahm. Auf der Suche nach heilenden Wurzeln, auf die der Blonde seine Frau begleitet hatte, hatte er gleich noch zwei zu langsam schaltende Vögel erlegt, die dann als spärlicher Proviant herhalten mussten.

„Und ich frage mich, wo Kiuk, Sukutai und Alona abgeblieben sind…“ seufzte der Herr der Geister dumpf während seiner Arbeit, die an sich Frauenarbeit war – aber Nalani musste Keisha helfen, das kleine Mädchen zu pflegen, das war wichtiger. Meoran seufzte.

„Wenn du willst, schicke ich Späher, um sie zu suchen, ich suche auch schon nach den anderen Geisterjägern. Kohdars sind irgendwie nach Aledyn gekommen, war das letzte, was ich gehört habe, das ist einige Tage her.“

„Ah, dann geht es ihnen gut? Was ist denn mit unserem Liebling, Henac Emo?“

„Gute Frage, den hab ich noch nicht gefunden. Ich habe Kohdars eine Botschaft geschickt, dass wir nach Kerhi-Uhl gehen, vielleicht wäre es ganz sinnvoll, wenn wir aus dem Rat uns zusammentun.“

„Nalani wird Emo häuten,“ feixte Tabari, indem er den zweiten Vogel zu rupfen begann. Als Puran zu den anderen Männern herüber kam, sah Meoran hoch.

„Und, geht es der Kleinen besser?“

„Sie schläft jetzt,“ seufzte der Jüngere, „Ich hab nichts herausfinden können über sie, sie lächelt nur und spricht nicht.“

„Wenigstens wird sie gesund,“ meinte Meoran nickend, „Es war gut von dir, sie mitzunehmen, Puran.“

„Hätte ich sie etwa verrecken lassen sollen? Was ist denn das für ein Mann, der sowas tät?“

„So jemand wie dein Großvater,“ feixte Tabari erstaunlich guter Dinge, während Purans Gesicht sich bei der Erwähnung des Großvaters deutlich verfinsterte.

„Sprich nicht von ihm, während wir alle im Unheil stecken und vielleicht sterben werden!“

„Nein,“ machte der Vater grinsend und amüsierte sich über die Aufregung, „Du irrst dich, Puran. Sterben werden wir alle, das ist gewiss. Wir können uns nur den Zeitpunkt nicht aussuchen.“
 

Weil der Regen andauerte und sie keine bösen Zeichen oder Trommeln wahrnehmen konnten, blieben sie in der Höhle im Wald. Sie war trocken und gut versteckt, dass die Zuyyaner sie dort schnell fänden war unwahrscheinlich. Sie alle konnten etwas Ruhe vertragen nach der Aufregung der letzten Wochen und die Verletzungen des kleinen Mädchens sollten erst ganz geheilt sein, ehe sie weitergehen wollten.

„Die Wurzeln scheinen gut anzuschlagen,“ meinte Nalani nach mehreren Tagen des Aufenthaltes, als sie am provisorischen Lager des kleinen Kindes hockte und die so gut wie geheilten Wunden überprüfte. Sie lächelte die Kleine an, die sich inzwischen aufsetzen durfte. Ihre dunkelbraunen Haare waren glatt und lang, ein paar Haare standen jedoch widerspenstig von ihrem Köpfchen ab. „Keisha ist eine gute Heilerin. Du bist auch Heilerin, nicht wahr? Du hast gute Vorarbeit geleistet an deinen eigenen Beinen.“ Sie sprach es einfach mal an in der Hoffnung, eine weiterführende Reaktion zu erhalten. Das Mädchen verneigte sich aber nur sehr tief vor ihr, dass ihr alle Haare ins Gesicht hingen. Seit sie bei ihnen war, hatte die Kleine nicht gesprochen. Sie bedankte sich höflich durch Gesten, aber kein Wort verließ ihre Lippen. Nalani seufzte und sah zu ihrem Sohn, der neben dem Lager an der Wand hockte. Da er am meisten Zeit mit dem Kind verbrachte, setzte seine Mutter große Hoffnung darauf, dass er es vielleicht eher als sie schaffte, das Kind zum Reden zu bewegen…

Falls es das konnte. Vielleicht war es ja stumm?
 

Das Mädchen hob den Kopf wieder, als die Frau mit den schwarzen Locken sich erhob und ging. Nalani nannte sie sich, hatte sie mitbekommen, und sie war Purans Mutter. Dafür, dass ihr Sohn schon ein Mann war, sah Nalani noch ziemlich jung aus. Das Kind fragte sich, wie alt sie gewesen sein mochte, als sie Mutter geworden war.

Ihre größte Aufmerksamkeit galt immer Puran. Er hatte sie gerettet, wäre er nicht gekommen, wäre sie jetzt verbrannt mit Makar. Oder Onkel Turoni wäre wiedergekommen und hätte sie dafür bestraft, dass sie nutzlos war. Keine der beiden Möglichkeiten gefiel ihr.

Das Kind strahlte Puran an, als er das Gesicht zu ihm drehte. Er strahlte zurück.

„Dir scheint es ja wirklich besser zu gehen,“ stellte er fest, „Das erleichtert uns alle sehr, kleines Mädchen. Dann werden wir diesen Ort bald verlassen nach Osten. Es hat… dich niemand gefragt, ob du mitkommen möchtest, du sprichst nicht mit uns…“ Er seufzte jetzt und das Kind weitete die braunen Augen. „Aber ich bin mir sehr sicher, dass du meine Sprache verstehen kannst. Du musst nicht sprechen, du musst mir nur antworten, wenn ich dich frage: möchtest du mit uns kommen oder soll ich mit dir zurück, um nach deiner Familie zu suchen? Ich weiß nicht, ob du eine hast…“ Sie schüttelte langsam den Kopf. Puran zog eine Braue hoch.

„Heißt das, du möchtest lieber mitkommen?“ Jetzt nickte sie vorsichtig. Sie taten so viel für sie… sie musste Dankbarkeit zeigen! Vorsichtig rappelte sie sich etwas mehr auf und neigte beschämt über ihre eigene Nutzlosigkeit den Kopf. Immer war sie allen ein Klotz am Bein. Onkel Turoni hatte darüber geschimpft und seine Frauen hatten gemeint, man müsse sie in Brayk auf dem Viehmarkt verkaufen. Vielleicht fände sich ja ein dummer Bauer, der so etwas Hässliches wie sie haben wollte, hatte sie gemeint.

Und jetzt kam einer und wollte sie mitnehmen – seit sie die Fremden getroffen hatte, hatten sie nie von Belastung oder nutzlos gesprochen.

Sprechen war ein gutes Stichwort.

„Ich heiße Leyya Bao,“ stellte sie sich schüchtern vor, und sie sah Puran vor sich erstarren, offenbar völlig verblüfft darüber, ihre Stimme zu hören. Sie hasste ihre Stimme; sie war schon acht und damit ein großes Mädchen und klang wie ein Baby. Puran schien das nicht zu stören.

„Du redest ja mit mir!“ machte er und lächelte sie liebevoll an, „Wie überraschend – das freut mich, dass du doch noch sprechen möchtest. Ich hoffe, wir haben dich nicht bedrängt?“ Er schien zu denken, genau das jetzt zu tun, als sie kurz zögerte, denn sein Gesicht wurde jetzt besorgt. „Tut mir leid, jetzt texte ich dich zu…“ Doch das Kind schüttelte den Kopf.

„Bedrängen? Du hast mir das Leben gerettet, du bist ein großer Held! Ich… hoffe, ich bin keine zu große Belastung, ich… würde dein Angebot, mich mitzunehmen, so gerne annehmen…“

„Ich denke, ob wir einen Menschen mehr oder weniger dabei haben, ist kein Unterschied, Leyya,“ erklärte er ihr. „Was ist… mit dem Dorf? Was ist mit den Leuten von dort, ist deine Familie fort?“ Da senkte die Kleine ihren Kopf abermals und sprach eine Weile wieder nicht.

„In Makar habe ich keine Familie… und die, die ich in Brayk hatte, ist schon seit vielen Jahren tot.“
 

„Bao?“ war Rujas erste Reaktion, nachdem Puran den Namen des Mädchens kurz an seine Mitreisenden weitergeleitet hatte und wieder in die Ecke zu der Kleinen verschwunden war, um sie ein bisschen aufzuheitern. Die schwarzhaarige Frau hatte es mit Keishas Hilfe geschafft, ein so gut wie rauchloses Feuerchen zu errichten, das einen kleinen Ring von Steinen erhitzte, auf denen jetzt das gusseiserne Töpfchen stand, das Keisha ebenfalls billig in Undath erstanden hatte. Sie mussten vorsichtig sein, wenn sie kochen und Feuer machen wollten, der Rauch durfte nicht gesehen werden, er würde ihre Anwesenheit verraten. Jetzt kochte sie in dem Topf Brühe. „Die Baos sind eine ehrenwerte Heilerfamilie in Kisara, soweit ich weiß, sollen sie ihren Ursprung in Yatoret haben, im Laufe des Krieges mit Anthurien sind sie irrsinniger weise nach Morund gekommen, glaube ich. – Tabari, du hast vergessen dem Vogel den Fuß abzuschneiden, sieh dir an, wie das Ding in meiner Brühe schwimmt, möchtest du Füße in deinem Essen?“

„Wie bitte? Kann nicht sein, der war ganz sicher ab! Gib mal her, ich mach es raus…“

„Ja, Khonma Bao hieß ein Mitglied des Heilerrates, soweit ich weiß,“ fiel Meoran jetzt auf, der neben seiner kochenden Frau am Boden saß. Tabari versuchte mit seinem Schwert das Stück Fleisch mit Fuß aus der Suppe zu angeln, wobei Nalani, die auch dabei saß, ihn empört anschnaubte, was er mit der Waffe, die Menschen getötet hatte, im Essen suche.

„Das Ding ist blitzsauber, Himmel!“ nörgelte der Herr der Geister, „Für wen hältst du mich, ich bevorzuge gutes Essen, ich bin ein verwöhnter Schlossjunge, schon vergessen?“ Er wandte sich während seiner ziemlich albernen Arbeit an Meoran: „Ja, Khonma Bao, sagt mir auch was. Hab ich aber seit Jahren nicht gesehen, er muss gestorben sein…“

„Vor vier Jahren in etwa,“ meldete Keisha überraschend und wurde von Tabari unterbrochen, der jubelte:

„Hab den Fuß! – Ach, verflixt, jetzt ist er wieder in die Suppe gefallen.“

„Du bist so ein Vollidiot,“ stöhnte Nalani und verdrehte die Augen.

„Vor vier Jahren ist er verstorben, soweit ich weiß, aber aus dem Rat verschwunden ist er schon vor sieben oder acht Jahren, so fürchte ich. Ich bin ja selbst nicht im Rat, ich habe nur in Tuhuli einiges gehört,“ war Keishas Aussage, als alle ihre Aufmerksamkeit von Tabari abwendeten.

„Und die haben in Anthurien gewohnt?“ fragte Nalani gedämpft, „Wenn, dann ist es ja nicht auszuschließen, dass die Kleine mit Khonma Bao verwandt ist. Hatte er Kinder?“

„Keine Ahnung, aber ich bin sicher, dass er nicht in Makar gelebt hat, Khonma Bao war ein vornehmer Mann, jedenfalls kein Bauernsohn.“

„Wie auch immer,“ entgegnete Meoran, schob Tabaris Schwert im Topf zur Seite und fischte den Vogelfuß selbst mit der bloßen Hand heraus, „Wir wissen jetzt, wie sie heißt. Leyya Bao. Redet sie nur mit Puran? – Sieh mich nicht so an, Nalani, meine Finger sind sicher nicht dreckiger als Tabaris Schwert, außerdem reinigt Dreck den Magen.“

„Männer,“ seufzte Nalani darauf nur. „Ob sie auch mit uns spricht, wird sich zeigen. Besser nur mit Puran als mit niemandem.“
 


 

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Hurra, Hurra, Leyya ist da xD *Fahne schwenk* Etwa September 976, btw.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Kimiko93
2010-01-13T20:50:06+00:00 13.01.2010 21:50
öhm... Leyya ♥ !!!!

Na, die Rettung war ja recht unspektakulär, was? Ich meine, an sich hat er sie nur weggetragen... Naaah, egal. Sie ist putzig. Allerdings würde ich an deiner Stelle das 'Kleine' nicht so betonen... Ähem.

Schön, dass sie eine Poserheilerin ist. Nicht schön, dass Neisa das nicht war. Ich meine, ihre heilerischen Leistungen waren ja eher kümmerlich, oder? Na ja, is ja auch egal... Ich würd gern mehr über ihre Familiengeschichte und so erfahren ôô
Von:  Decken-Diebin
2009-12-14T17:32:16+00:00 14.12.2009 18:32
Leyyachen ♥
Ich freu mich, ich liebe Leyya. Weil irgendwo gibt es ja nicht viele Heiler, die so bekannt, sag ich mal, sind... es ist doch irgendwie so xD Ich denk mal nicht, dass es beabsichtigt ist, aber gibt es nicht in vielen Fantasybüchern ne Gruppe, die nicht so Berühmtheiten hat? xD
Und Leyya ist süß. Und vergöttert Puran XD Das ist so knuffig, dass sie für's erste nur mit ihm redet. Ich könnte wetten, sie ist noch auf Ruja eifersüchtig für die nächste Zeit xD
LG, Hina
Von:  -Izumi-
2009-12-14T17:22:22+00:00 14.12.2009 18:22
Dieses Mal nur schönes! XD
Dramaaaa q___q
Ich meine, ich finde das so schlimm, an der Stelle, wo sie diese Schreie gehört haben, hatte ich auch eine Gänsehaut .///.
Ich mag es, dass Puran schon im Vorraus von leyya geträumt hat, das passt gut! ^_^
Und die Unterhaltung von Puran und Ruja... ich habe den Sinn davon ehrlich gesagt nicht ganz kapiert, ich hab bloß die ganze Zeit geawwt, weil es so furchtbar süß gewesen ist!
>///<
Ach, wäre es schön, wenn die sich etwas näher gekommen wären...
Und dann natürlich Leyyachen, die arme süße kleine Maus ó__ò
Ihr Onkel war ja ein echter Arsch, wurde aber auch früher schon mal angedeutet von dir, von daher bin ich nicht wirklich überrascht XD
Aber trotzdem, die Arme! .__.
Und sie liebt Puran so XD
Übrigens finde ich es toll, dass Leyya so talentiert ist, das macht die Heiler mehr Poser, was sie an sich ja auch verdienen ^///^
Ach ja, und sehr angenehme Kappilänge <3


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