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Die Chroniken von Khad-Arza - Die Herrscher der Geisterwinde

von

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Feuer und Wasser

Der zweite Winter, den sie in Kadoh verbrachten, war lang und hart. Eine schier unendliche Kette von Stürmen und Gewittern zog sich über die Iketh-Berge hinweg und verurteilte die Menschen dazu, kaum einen Fuß vor die Höhle zu setzen; noch weniger als in den Wintern davor. Und die Höhle war stickig von den vielen Menschen und den Kochfeuern der Familien, aber immerhin warm.

Mit dem düsteren Grollen des Himmels, das durch die Wände der Berge dröhnte, und dem immerzu anhaltenden Zittern der Erde häuften sich die dunklen Vorahnungen immer mehr.

Schatten huschten über Purans Gesicht und er zuckte mit den Lidern, während er versuchte, die kichernden Geister der Vergangenheit und der Zukunft einzufangen und so vielleicht herauszufinden, was sie ihm sagen wollten.

Warum träumte er immer wieder von dem komischen Jungen namens Ulan, der wenige Tage bei ihnen im Schloss gewesen war? Und warum wurde die Furcht, die er beim Anblick er rätselhaften Knochenspiralen verspürte, mit jedem Mal, das er sie sah, noch größer und drückender?

„Redet, Himmelsgeister!“, befahl er den kichernden und zischenden Stimmen in seinem Kopf erbost, „Ich befehle euch, mit mir zu sprechen! Was geschieht mit uns?! Wovor… fürchte ich mich da…?“

Doch die Stimmen zischten in einer Sprache, die er nicht verstehen konnte, und gaben ihm keine befriedigende Antwort. Und ehe er sich wütend von den informationslosen Träumen losriss, fuhr ihm das Bild des unbekannten Mannes erneut vor Augen, der ein Gesicht hatte wie sein Großvater… und dieselben, abartigen Eckzähne, die ein Zeichen des Todes und der tödlichen Macht Kelars gewesen waren…

„Willst du immer noch… davon rennen, Puran Lyra?“
 

„Ach!“, schimpfte der Mann empört und setzte sich ruckartig auf seinem Schlaflager auf. „Diese elenden Toren! Wartet, ich werde es euch zeigen und eines Tages werdet ihr vor meinen Füßen um Gnade winseln wie räudige Köter!“ So erboste er sich und schlug grimmig Vogelstimmes Hand weg, die nach seiner Brust geangelt hatte, und die junge Frau fuhr jetzt erschrocken zurück, als er sich vom Lager rollte und aufstand. „Entschuldige, aber lass mich in Frieden!“, brummte er die Frau an, und sie schien zumindest den vagen Sinn der Worte zu verstehen, denn sie machte keine Anstalten, ihn aufzuhalten oder zurück zu holen, als er sich einige Fuß von seiner Schlafstätte entfernt gegen die Felswand lehnte, sich zu Boden sinken ließ und sich genervt und frustriert die Haare raufte.

Da war die Furcht wieder, und sie pochte schmerzend in seinem Kopf, als er sich an der Wand zusammenkauerte und nicht wagte, sich weiter zu bewegen.

„Das… ist das Ende der Welt.“ , flüsterten die Geister, im selben Moment erschütterte ein lauter Donner von draußen die gesamte Höhle. Puran fuhr hoch; einige waren aufgewacht und sahen sich erschrocken um, aber die meisten waren vom dauerhaften Grollen den ganzen Winter über so abgehärtet, dass sie seelenruhig weiterschliefen. Er fragte sich, ob es schon Tag war.

In der Höhle war es immerzu dämmrig.

Als er sein Gesicht etwas drehte, fiel sein Blick auf Leyya. Sie sah ihn aus ihren riesigen Augen an, die wie die eines unschuldigen Rehs wirkten, und in ihnen war eine ähnliche Furcht wie die, die er verspürte.

„Leyya?“, sprach er sie vorsichtig an, und das Mädchen zuckte zusammen und kuschelte sich fest in ihre Decke.

„Ich fürchte mich vor dem Donner…“, gestand sie leise, „Kannst du… nicht schlafen?“ Sie fröstelte; sie wunderte sich, dass er gar nicht fror, so nur in Hosen, aber offenbar war das nicht der Fall. Er seufzte und rutschte zu ihr herüber.

„Komm zu mir.“, bot er ihr murmelnd an, „Ich… passe auf dich auf, versprochen.“ Ihre hübschen Augen weiteten sich vor Verblüffung. Aber dann fackelte sie nicht lange, rappelte sich auf und kuschelte sich dicht neben ihn, worauf er seufzend einen Arm um sie legte und sie an sich drückte. Sie zitterte ebenso wie die Haut von Mutter Erde es oft tat. Aber als sie in seinen Arme war, hörte sie zu zittern auf und drehte ihr Gesicht vor Freude und Stolz strahlend zu seinem hinauf.

„Es ist ewig her, dass wir zuletzt so gesessen haben.“, sagte sie glücklich und errötete, den Kopf senkend, „I-ich… habe das vermisst…“ Er spürte, dass sie eine Hand auf sein Bein legte, und musste darüber leicht lächeln. Es war, wie es schon einmal geschehen war; sie war nur bei ihm, aber durch ihre Anwesenheit verjagte sie die Beklemmung in seinem Geist. Er fühlte sich mit einem Mal nicht mehr so ausgelaugt und frustriert wie zuvor; sie war eine gute Heilerin. Eine Heilerin des Geistes, hatte Puran manchmal das Gefühl. Zumindest bei ihm funktionierte das, er hatte keine Ahnung, ob sie auf alle anderen auch so beruhigend wirkte.

„Ja…“, machte er gedehnt, „Ich hab das auch vermisst, um ehrlich zu sein. Ich habe irgendwie im Moment die Schnauze voll von den Weibern…“ Er wusste ja, dass Vogelstimme ihn nicht verstand, so konnte er das ruhig aussprechen. Er hatte zwar keine Abneigung gegen sein Geschenk, aber er konnte immer noch nichts mit ihr anfangen außer das, was Männer nun einmal mit Frauen taten; das war eine auf Dauer unglaublich einfältige Beziehung und irgendwie war das nicht sein Ding, hatte er in den vergangenen Monden bemerkt. Er wollte keine Matratze, sondern eine Frau…

„Aber sie sind hübsch…“, murmelte Leyya leise und riss ihn damit aus seinen Gedanken. Er sah auf sie herunter.

„Was? Wer?“

„Vogelstimme… und Karanas Schwester und Rehkleid… und Ruja.“ Jetzt zuckte er.

„Was, Ruja? Wieso Ruja, die war aber nie in meinem Bett, also hör mal…“

„Nicht in Kadoh!“, protestierte Leyya schnippisch, „Aber früher einmal war sie das, habe ich nicht recht? Du… du bist in sie verliebt!“ Er schob sie sanft von sich und musterte sie skeptisch.

„Woher hast du das denn bitte?“

„Ich…“ Sie errötete abermals, „Ich… sehe es dir an, wenn du sie ansiehst…“ Er musste lachen.

„Ich bin nicht in Ruja verliebt!“, versetzte er gedämpft und hoffte, seine Eltern würden nicht aufwachen. „Als ich bei ihr in Tuhuli war ein Jahr lang, hat sie für mich das Blutritual gemacht. Das heißt, sie hat mich zum Mann gemacht. Aber das war das einzige, was ich je mit ihr geteilt habe, und das ist ein heiliges Ritual und hat im eigentlichen Sinne gar nichts mit Sex zu tun.“

„Aber du warst damals in sie verliebt!“, protestierte die Kleine und verschränkte schmollend die Arme.

„Himmel – na ja, damals… vielleicht ein bisschen. Ich war noch ein dämlicher Junge, das hat doch nichts mit dem zu tun, was ich heute – wieso rechtfertige ich mich eigentlich vor dir, du bist doch nicht meine Frau!“ Konnte ihr doch egal sein, was er mit Ruja machte oder nicht…

Er dachte beschämt an den einzigen Kuss, den er mit ihr geteilt hatte vor einigen Monden. Irgendwie fühlte er sich jetzt schuldig; er hätte sie niemals küssen dürfen, aber es war einfach so über ihn gekommen… sich räuspernd senkte er den Kopf, sodass ihm die zerzausten Haare ins Gesicht hingen. Ruja hatte seinen Kuss erwidert. Hatte sie damit nicht ihren Mann betrogen? Ach, was hängte er es ihr an, er hatte sie doch zuerst geküsst…

Er hatte plötzlich das Bedürfnis, sich dafür zu vierteilen.

„Es ist doch nicht schlimm, ich verstehe das doch!“, warf die Heilerin neben ihm ein und er sah sie perplex an. In der Dunkelheit der Höhle erkannte er es nicht, aber er hatte irgendwie das Gefühl, als würde ihr Gesicht jetzt rot werden, als sie bedrückt zur Seite sah. „Sie ist wunderschön und sie hat richtige Brüste. Jeder Mann sollte in sie verliebt sein, es würde mich kaum wundern.“ Puran sagte nichts. Warum erzählte sie ihm das und was sollte dieser melancholische Unterton?!

„Ähm.“, wollte er ansetzen, aber Leyya kam ihm zuvor, indem sie sich hinkniete und sich plötzlich selbst an die Brust fasste.

„Findest du, ich habe auch schon Brüste? Schau, wenigstens ein bisschen! Ich finde es sehr ungerecht, ich bin so gut wie erwachsen und habe trotzdem keine Brüste!“ Sie versuchte, irgendwie ihre Brustansätze zu betonen, und Puran weitete verwirrt die Augen und starrte sie an. Jetzt wurde er ebenfalls rot und hustete leise.

„Ähm – na ja, das… wächst bestimmt noch!“ Sie sah ihn aufgelöst an und ihm kam der Gedanke, dass das ziemlich unsensibel gewesen war. „Leyya, du bist noch keine Frau. Es ist nicht wichtig!“

„Doch, für mich ist es das, ich bin fast eine Frau!“, jammerte sie, „Die Mädchen im Stamm, die jünger sind als ich, haben mehr Brüste als ich! Ich hasse diesen blöden Mädchenkörper, ich will solche schönen Brüste haben wie Ruja und Vogelstimme und Nalani und alle anderen!“ Jetzt verdrehte er die Augen. Warum redete er mitten in der Nacht mit ihr über Brüste?

„Leyya, Brüste sind nicht das Wichtigste an einer Frau!“, belehrte er sie mürrisch. „Absolut überhaupt nicht das Wichtigste. Verstanden?“ Sie verstummte und eine Weile herrschte Stille. Dann flüsterte sie zaghaft:

„N-nicht? Aber… ich dachte, alle Männer mögen große Brüste…“

„Nein, ich mag sie nicht. Überhaupt nicht, um ehrlich zu sein.“ Die Heilerin erstarrte kurz. Er mochte keine Brüste? Hieß das, er fand eine Frau ohne Brüste schöner als eine mit? Puran erläuterte sich kleinlaut: „Ähm, na ja, große Brüste sind so unhandlich, weißt du?“ Dabei hielt er ihr seine Hände hin. „Meine Hände sind nicht sonderlich groß, da passt nicht so viel rein. Ich finde kleine Brüste viel hübscher… aber trotzdem finde ich sie nicht wichtig! Eine Frau besteht doch nicht nur aus Brüsten, Himmel bewahre…“ Das Mädchen grabschte sich immer noch verunsichert selbst an den doch sehr kleinen Brüstchen herum und er drehte jetzt verlegen das Gesicht weg. Was machte sie da, wieso fummelte sie sich vor seinen Augen selbst an? Unwillkürlich linste er sie abermals an, während sie schwieg.

Verdammt… schoss es ihm plötzlich durch den Kopf, Unrecht hat sie nicht… sie ist tatsächlich beinahe eine Frau…

Wie lange war es her, dass er das kleine Mädchen Leyya aus Makar mitgenommen hatte? Seitdem waren Jahre vergangen… ihm war gar nicht aufgefallen, wie groß und weiblich sie geworden war in der Zeit. Jetzt sah er sie an und stellte zum ersten Mal fest, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis sie wirklich eine richtige Frau wäre; ihr Körper hatte sich verändert… was dachte er da?

Das fast erwachsene Heilermädchen sah ihn wieder an und fragte:

„Du, Puran…? Was… ist denn für dich das Wichtigste an einer Frau?“

Er seufzte.

„Für mich? Na, dass sie einen selbstständig denkenden Geist hat und nicht auf alles Jawohl sagt, was ihr Mann so von sich gibt! Ich meine, wenn ich eine Frau habe, bin ich natürlich verantwortlich dafür, dass es ihr gut geht und muss sie beschützen, wenn es drauf ankommt, natürlich sollte sie bis zu einem gewissen Grad auf mich hören, aber sie sollte auch ihre eigene Meinung haben und fähig sein, Nein zu sagen, wenn sie für bescheuert hält, was ich sage! Ich meine, ich bin nicht unfehlbar, niemand ist das. Mich kotzt das irgendwie an, wenn eine Frau ihrem Mann gegenüber so absolut unterwürfig ist und alles tun würde, was er sagt. Wenn er sagt ‚Spring von der Klippe!’ , tut sie es vermutlich noch, oder wie? Das ist doch unwürdig! Mutter Erde würde Vater Himmel da auch den Vogel zeigen!“ Er ereiferte sich richtig, während er sprach, und das Mädchen sah ihn fasziniert an – und einmal mehr glaubte sie, dass er der wunderbarste, weiseste und tollste Mann der Welt sein musste. Während alle Männer nur an Brüste dachten, war er so philosophisch… er war wirklich etwas besonderes, und sie liebte ihn so sehr in diesem Moment, dass sie plötzlich weinen wollte.

„Das… klingt irgendwie vernünftig…“, meinte sie leise und er hörte zu reden auf und sah sie skeptisch an. Irgendwie war sie seltsam heute Nacht.

„Wenn ich eine Frau heirate, tue ich das, weil ich sie als Mensch liebe, weil ich ihre Art mag, und nicht wegen ihrer Brüste oder was weiß ich.“, addierte er noch, „So oberflächlich bin ich nicht…“

„Denkst du, ich habe einen eigenständigen Geist, Puran?“, unterbrach sie ihn und er drehte sich ruckartig zu ihr herum und starrte sie an.

„Was denn, du? Natürlich hast du den, immerhin kannst du ziemlich beleidigt sein, wie ich bemerkt habe-…“ Er stockte und sah, dass sie verwirrt die Brauen hochzog – mit einem Mal dämmerte es ihm. Wieso bezog sie alles, was er über Frauen sagte, auf sich selbst? Er erzählte ihr ahnungslos, was er mochte, und sie fragte ihn dann, ob er fand, dass das auf sie zutraf… „Nein… Himmel!“, keuchte er erkennend und fasste sich an den Kopf, „Meine Güte, jetzt weiß ich, warum du die ganze Zeit sauer warst, du bist eifersüchtig…“ Jetzt machte plötzlich alles Sinn…

Leyya schnappte nach Luft und reagierte heftiger als er angenommen hatte.

„Ich bin nicht eifersüchtig!“, rief sie energisch und ignorierte die Tatsache, dass sie alle wecken könnte. „Das… das ist nicht wahr! Ich war sauer, weil du… du… dich so aufgespielt hast mit deinen Weibern da, genau!“

„Aufgespielt?!“, empörte er sich, „Wann bitte soll ich mich aufgespielt haben?!“

„Ich konnte nie schlafen, wenn du dich da mit deinen Frauen vergnügt hast, ich habe mich über die Geräusche geärgert und war deshalb sauer!“, schnappte sie, „Das hat nichts mit dir zu tun, also, doch, aber nicht wie du denkst! Pah, eifersüchtig, ich bin doch nicht eifersüchtig, i-ich meine, warum sollte ich? So großartig bist du nun auch wieder nicht, als wäre jede Frau sofort eifersüchtig, wenn-…!“ Sie redete und redete und er verdrehte seine Augen; das musste aufhören, Himmel! So erfasste er etwas unsanft ihr Kinn, zog es hoch und stoppte ihren empörten Redeschwall, indem er sie auf die Lippen küsste.
 

Sie erstarrte augenblicklich. Eine Weile brauchte sie, um zu registrieren, was gerade geschah. Er… küsste sie. Richtig auf den Mund, so, wie ein Mann eine Frau küsste, nicht wie ein Küsschen unter Verwandten oder guten Freunden. Sie war so perplex über das, was er tat, dass sie sich nicht rühren konnte ob der gigantischen Welle an Gefühlen, die jetzt in ihr empor stieg wie eine Flut. Seine Lippen waren warm und ganz weich, als er sie zärtlich und doch so bestimmend gegen ihre presste, als er sie leicht dagegen bewegte und sie dazu brachte, es ihm gleichzutun, als sie schüchtern und überwältigt von der Euphorie in ihrem Inneren seinen innigen Kuss erwiderte. Als er sich von ihr löste, schlug sie die Augen wieder auf und errötete über und über. In sich spürte sie eine wohlige Wärme, ein schönes, kribbelndes Gefühl; und sie war sicher, dass das eben der wunderschönste Moment ihres ganzen Lebens gewesen war.

Den Puran mit einem einfachen Satz zunichte machte, ohne es zu beabsichtigen.

„Das wolltest du doch?“, seufzte er, „Entschuldige, Leyya… ich hätte das nicht tun sollen.“

Sie blinzelte ein paar Mal, ehe sie seine Worte verstand.

„Was?“, japste sie, „Dann hast du das nur getan, damit ich still bin? Nicht, weil…“ Sie senkte beschämt den Kopf. „Nicht, weil du… mich… begehrst?“ Das war ernüchternd. Oder enttäuschend. Nein, beides…

Er erbleichte.

Begehren? Sie begehren? Sie hatte noch kein Blutritual hinter sich, er durfte sie gar nicht begehren! Allein der Gedanke ließ ihn erröten und er keuchte, als er sie betrachtete; das Mädchen, das kein kleines Mädchen mehr war, sondern fast eine Frau. Und er fühlte noch immer die Wärme ihrer Lippen auf seinen, die Hingabe und die bedingungslose Liebe, die sie ihm geschenkt hatte in diesem kurzen Moment; die Gedanken erweckten in ihm eine ungewohnte Flamme, ein Verlangen, das sich grundlegend von dem unterschied, was er früher für Ruja empfunden hatte oder für Cholena. Er konnte es nicht beschreiben, aber es wurde heftiger, je länger er sie ansah, und er spürte das Bedürfnis, sie erneut zu küssen, immer dringender werden.

Entsetzt über seine Gedanken fuhr er hoch und schnappte nach Luft.

Bist du wahnsinnig?! Sie ist noch keine Frau, auch wenn dazu nicht viel fehlt! Wie kannst du so schamlose Gedanken haben?!

„Ich… v-vergiss das, Leyya!“ zischte er und sie weitete entsetzt die Augen, als er sich erhob und plötzlich aus irgendeinem Grund sehr angespannt und grimmig zu sein schien.

„Habe ich etwas falsches gesagt?“, fragte sie unglücklich, „Ich… ich meine… d-das war der wunderschönste Augenblick in meinem ganzen Leben, als du mich eben geküsst hast!“

„Sag sowas nicht.“, antwortete er kalt und kehrte ihr den Rücken, „Und hör besser auf, dich so an mich zu klammern, ich bin… nicht der Mann, den du begehren solltest, Leyya.“ Dann ließ er sie alleine und kehrte zurück auf sein Schlaflager, auch wenn sein Geist sich sträubte; zu gerne wäre er bei ihr geblieben und hätte sie umarmt; oder noch mal geküsst… aber das konnte er nicht mit seinem Gewissen vereinbaren. Es war besser, wenn sie sich von ihm löste, bevor er in ihr zu große Hoffnungen schürte.
 

Leyya verstand nichts. In den letzten Tagen des Winters tat Puran konsequent, als wäre sie Luft, was sie unglücklicher machte als jemals zuvor. Warum küsste er sie und machte sie für einen kurzen Moment zum glücklichsten Menschen der ganzen Welt, um sie dann fallen zu lassen…? Sie wollte mit ihm sprechen; sie wollte zu ihm gehen, ihn ohrfeigen und ihn anschreien, was er sich erlaubte, so mit ihr umzugehen… aber sie konnte es nicht. Sie liebte ihn doch von ganzem Herzen… der Gedanke, ihn anzuschreien, tat ihr weh.

Dann würde er sie nur noch weniger mögen…

Sie würde sich resigniert damit abfinden müssen, dass Puran sie nie mit dem Blick ansehen würde, den sie sich wünschte… er würde sie nie wie eine Frau ansehen und sie begehren. Sie war auch nicht besonders begehrenswert mit ihrem scheußlichen, noch immer zu kindlichen Körper. Sie verstand, dass er sie nicht wollte… aber es machte sie traurig.

Sie hatte keinen Schimmer, was Puran wirklich dachte… und warum er versuchte, Abstand von ihr zu halten.
 

Das Feuer des Himmels kehrte mit aller Macht zurück, als der Winter vorüber war; an dem Tag, an dem die Zuyyaner über den Grat kamen.

Morgens erschütterte ein lautes, dröhnendes Grollen die Iketh-Berge und riss den Stamm damit aus dem Schlaf.

„Was war das?“, fragte Tabari entsetzt, der aufsprang, als die Erde unter ihren Füßen zu beben begann, als wollte Mutter Erde ihren Rachen auftun und sie alle verschlingen. Die Menschen des Stammes fingen an zu schreien und wild durcheinander zu rufen, Kinder weinten vor Schreck über das mächtige Beben und das Donnern aus dem Himmel, das alle vorigen des gesamten Winters um Längen in seiner Lautstärke schlug.

Nalani kam ebenfalls auf die Beine und sah keuchend hinauf zur Höhlendecke, an der bereits kleine Felsbrocken zu wackeln begannen.

„Das Feuer von Himmel und Erde, vor dem wir uns alle gefürchtet haben…“, japste sie tonlos und erntete fassungslose Blicke von Tabari, Puran und auch Meoran, der mit seiner Familie herüber geeilt war. Die Geisterjägerin drehte den Kopf zum Höhleneingang. „Der Tag ist gekommen.“

„LAUFT!“, schrie Puran und schnappte erbleichend nach Luft, ehe er Vogelstimme packte und sie am Arm hinter sich her zerrte, „Der Berg, er wird zusammenfallen unter Vater Himmels Zorn!“

„Sag es dem Volk, weise Frau!“, herrschte Nalani die alte Frau an, die jegliche Gesichtsfarbe verloren hatte und zu ihrem Sohn sah, der nur mit offenem Mund hinauf starrte und nichts sagte. „Sag es ihnen, jetzt! Wir müssen hier raus und alle fliehen!“

Als die Geisterfrau es übersetze, brach Panik aus.
 

Als die Menschen aus der Höhle stürzten und Hals über Kopf planlos irgendwo hinrennen wollten, schlug ihnen eine gewaltige Feuerwand entgegen. Die vordersten verbrannten jämmerlich im Feuer der Angreifer, die von oben herab kamen, schwer bewaffnet und in ihren eigentümlichen Rüstungen.

„W-was für eine Ausgeburt von Dämonen ist das…?!“, japste der Dolmetscher, der zusammen mit seiner Mutter und dem Häuptling neben den Gästen aus der Höhle gestürzt war, „Das ist doch kein tharranisches Feuer…?!“

„Die Zuyyaner!“, keuchte Ruja und drückte die vor Angst schreiende kleine Saidah an sich, die sie auf den Armen trug. „Was sollen wir machen, Tabari?! Wir kommen hier nicht raus!“

„Hol sie da runter, Vater!“, brüllte Puran und fuhr wutentbrannt herum, ehe er mit einer Hand sein Geisterschwert erscheinen ließ und es aus dem Himmel krachte, „Hol sie aus dem Himmel, diese lästigen Schmeißfliegen! Sollen sie kommen, sie werden ihr blaues Wunder erleben!“

„Die sind bis hierher gekommen, um uns zu jagen…?“, keuchte Keisha erbleichend und wich zurück. Tabari machte einen Schritt nach vorn und mit einer bloßen Handbewegung kontrollierte er die Luftströmungen über ihnen, sodass die fliegenden Krieger schnell gezwungen waren, zu landen. Zwei landeten innerhalb des Ringes aus Feuer, den sie selbst um das Plateau gezogen hatten; nach einem grellen Blitzen und einem Hieb mit dem Geisterschwert waren beide Geschichte, ehe sie eine Chance gehabt hätten, sich zu wehren.

Die Erde bebte und warf die Menschen beinahe von den Beinen als mit einem lauten Tosen von unten das Feuer verschwand und sich die Flammen in staubige Schatten verwandelten. Puran ließ seine Waffe sinken und drehte den Kopf über die Schulter, um zu seiner Mutter zu sehen, die mit ausgestreckten Armen das Schattenschwert Kadhúrem nach vorn hielt und damit die Flammen von Finsternis verschlucken ließ. Tabari weitete die Augen, als er nach vorn sah, sobald der Rauch der gelöschten Flammen sich verzogen hatte; und er erstarrte ebenso wie der gesamte Stamm hinter ihm.

Hinter der Mauer aus Feuer wartete eine ganze Armada aus Zuyyanern auf sie. Puran machte heftig nach Luft schnappend einen Schritt rückwärts. Instinktiv suchte er nach dem blonden General vom letzten Mal… aber er war nirgends zu sehen. Vielleicht war er bereits gefallen…

Der vorderste der Krieger erhob seine Waffe, worauf die anderen sich bereit zum Angriff machten.

„Hört mir jetzt genau zu.“, fing Tabari leise an und wendete sich direkt an die alte Frau, die ihn ja als einzige zu verstehen schien. „Das sind Gegner, gegen die ihr nichts ausrichten könnt mit Speeren. Schnappt eure Frauen und Kinder und rennt, so schnell ihr könnt. Die sind nicht hinter euch her… die wollen uns, die wir die einzigen wirklichen Gegner der Zuyyaner waren. Wir können versuchen, sie so lange wie möglich aufzuhalten, aber das sind hunderte… das sind Massen, denen vielleicht selbst wir nicht gewachsen sind.“ Er erntete jetzt auch skeptische Blicke von Nalani und Meoran, als er langsam die Hände wieder hob und den Wind auffahren ließ, sodass die Rüstungen der Krieger klapperten und die langen Haare der Frauen empor wirbelten. „Also, rennt! JETZT!“ Im selben Moment, in dem Tabari schrie, griffen die Krieger sie an.
 

Ein mächtiger Flammenschlag stieß gegen Tabaris Windzauber, den er nach vorne schleuderte, die Arme herab reißend und damit den ganzen Zorn des Himmels auf die Meute werfend, die keine Ruhe geben würde, bis entweder ihre Gegner oder sie selbst erledigt waren. Mit einem ohrenbetäubenden Donnern krachten die beiden Zauber aufeinander und verursachten eine Explosion, die sowohl Tabari als auch den zuyyanischen Krieger von den Beinen riss. Gleichzeitig begannen die anderen Soldaten, Feuer und Eiszapfen auf das Plateau regnen zu lassen, und die Menschen versuchten schreiend auszuweichen oder sich in den Berg zurückzuziehen.

„Nicht in den Berg!“, schrie Ruja und hastete zur Seite, als ein heran fliegender Feuerball sie um ein Haar getroffen hätte, „Im Berg ist es nicht mehr sicher wegen des Erdbebens!“ Doch die Bergmenschen verstanden sie nicht und rannten trotz der Warnungen auch von Seiten der alten Geisterfrau hinein in der Hoffnung, sich so schützen zu können, blind und taub vor Panik. Ruja fuhr herum, als ihre Schwiegermutter sie keuchend zur Seite schubste und sie abermals einem Feuerball ausweichen konnte.

„Ruja!“, schrie die Heilerin, „Schnell, deine Barriere! Gib mir Saidah, rasch! Ohne die Barriere sind wir alle verloren! Rasch, kommt!“ Die Hälfte der Menschen, die in Reichweite waren, versammelte sich um die Frauen und die heulende Saidah, die jetzt auf den Armen ihrer Großmutter hing und nach ihrer Mutter schrie. Ruja breitete die Arme aus und bildete rasch die Barriere um sie alle, die den Feuerregen abfing und sie alle schützte. Allein Tabari, Puran, Meoran und Nalani blieben außerhalb der Lichtkugel, um die Feinde mit Zaubern zu zerschlagen. In dem Moment, in dem Nalani ihr Schattenschwert in den Himmel riss und die Wolken sich mit einem lauten Donnern verdunkelten, gab der Heerführer ein Zeichen, auf das hin die Männer hinter ihm ihre gigantisch großen Feuerzauber genau auf die große Barrierekugel und Ruja zu zu halten schienen. Meoran keuchte und riss die Augen auf, als Ruja in der Blase erstarrte.

„NICHT!“, schrie er noch vergeblich, da war es schon zu spät – aber die gewaltigen Feuerkugeln trafen gar nicht Ruja oder die Blase, sondern schlugen mit tosendem Donnern in den Berg direkt hinter ihnen ein.

Nalani riss Augen und Mund auf, als die ganze Welt von dem Tosen zu erbeben schien. Und der Berg bröckelte nach dem mächtigen Einschlag der Magie, bis vor den Augen aller der gesamte Oberteil des Berges, der ihnen Jahrelang als Behausung gedient hatte, abbrach und geradewegs auf sie zu stürzte.

„Verdammt – der Felsen wird uns alle zermalmen! RENNT!“
 

Die Barriere würde einen Steinschlag diesen Ausmaßes niemals überleben, ebenso wenig die Menschen darunter, so löste Ruja den Schild wieder auf und sie rannten schreiend um ihr Leben, als schon die ersten Brocken mit donnerndem Krachen auf die Erde fielen, die Menschen durch den Aufprall hoch schleuderten und von den Beinen warfen. Den Moment des Chaos’ nutzten die Zuyyaner, um sie zu Fuß anzugreifen. Der Befehlshaber brüllte auf zuyyanisch Befehle an die Armee, die Nalani selbst ohne Sprachbegabung als Tötet sie! hätte identifizieren können. Kaum hatte sie den Blick vom Heerführer abgewandt, stürzte sich einer der Soldaten auf sie, den sie mit einem Schwung ihres Dolches in Schach halten konnte. Seine Klinge kreuzte die ihre und sie erinnerte sich dumpf an Anthurien; zuyyanische Waffen verursachten Wunden, die Keisha nicht heilen könnte. Sie mussten höllisch aufpassen, damit sie nicht zu schwer getroffen wurden. Mit einem keuchen sprang sie zurück, riss Kadhúrem herum und trennte den Kopf ihres Gegners nicht mit dem Dolch, sondern mit einem messerscharfen Wasserstrahl aus ihrer freien Hand vom Körper. Als von der anderen Seite bereits der nächste Zuyyaner kam und mit Feuer nach ihr warf, duckte sie sich rechtzeitig; im selben Moment krachte mit einem gigantischen Donnern der nächste Felsen vom Berg direkt neben ihr auf die Erde. Er zerbrach dabei in zwei Stücke und das eine erschlug den Gegner, während Nalani rückwärts taumelte und durch das Beben der zornigen Erde umgeworfen wurde.

„Die anderen!“ keuchte sie, „Wir müssen hier verschwinden, wir können sie so niemals schlagen!“ Sie spürte, wie sie am Arm gepackt und hoch gezerrt wurde; als sie schon herum fuhr, um dem Gegner den Gar aus zu machen, erkannte sie den Sohn der Geisterfrau hinter sich, der ihr hoch geholfen hatte.

„Das Plateau ist verloren!“, rief er ihr durch das Tosen und beben hindurch zu, „Ich fürchte, wir müssen fliehen, um überhaupt überleben zu können – was sind das für Leute?! Das… sind keine Menschen, sondern Bestien!“

„Jetzt ist der Tag gekommen, mein Freund, an dem deine Prophezeiung sich erfüllen wird.“, erwiderte die Geisterjägerin kalt und sah ihn eine Weile an. „Der Tag, an dem du die Führung des Stammes übernehmen wirst.“
 

Leyya schrie und stolperte zur Seite, als die Felslawine auf die Erde herab donnerte und viele der Stammesmenschen unter sich begrub. Ein Brocken verfehlte sie um Haaresbreite und sie stürzte heulend vor Panik zu Boden, als der Himmel direkt über ihr in Flammen aufging. Sie hörte das Krachen und Donnern der Felsen und der Zauber, mit denen die anderen und die Zuyyaner sich bewarfen. Wo war Puran? Wo waren die anderen? Keuchend versuchte sie sich aufzurappeln, aber ein weiteres Beben warf sie wieder zu Boden und eine Wolke aus Asche und Staub legte sich über sie.

„Puran?!“, heulte sie aufgelöst, „Keisha! Nalani!“ Doch sie hörte keine Antworten, nur Schreie des Todes, als sie sich zusammenriss und aufstand, um zu rennen. Sie musste weg – irgendwohin! Ein Schwall aus tödlichen Flammen kam auf sie zu, als sie orientierungslos umher irrte, und das Mädchen schrie vor Angst auf, unfähig, sich zu rühren. Erst, als der Feuerball unmittelbar vor ihr einschlug und die Erde zum Dröhnen brachte, machte sie einen Satz. Funken trafen ihre Beine und verbrannten ihre Haut, aber vor Schreck nahm sie den Schmerz nicht einmal wahr. An ihr rannten Menschen des Stammes vorbei, Jäger, Frauen und sogar Kinder, ohne sie zu sehen, in wilder Panik wie Tiere auseinander stiebend. Da – da erkannte sie plötzlich ein bekanntes Gesicht. „Karana!“, schrie sie hysterisch den Namen ihres Freundes, und der Junge sah zu ihr herüber und kam herbei, um sie energisch auf seiner seltsamen Sprache auf sie einredend mit sich zu zerren, quer durch das Chaos der fliehenden Menschen, irgendwo in Sicherheit. „Bin ich froh, dass du wohlauf bist!“, jammerte die Heilerin, „D-du bist verwundet am Kopf!“ Sie deutete im Rennen mit der freien Hand auf eine Platzwunde an seinem Hinterkopf, die er aber zu ignorieren schien. Er zerrte sie weiter, bis ein weiteres Donnern die beiden zusammenfahren ließ und Karana keuchend den Kopf drehte. Von der Seite stürzte sich ein gewaltig großer zuyyanischer Krieger genau auf sie zu, in seinen Händen eine Lanze. Karana schnaubte, ehe er blitzschnell seinen Speer empor riss und damit tatsächlich die viel größere und kräftigere Lanze abblocken konnte. Leyya sah fassungslos zu, wie ein noch nicht mal ausgewachsener Junge sich gegen einen riesigen Soldaten behauptete, ohne jede Furcht und mit der Pflicht in seinem Geist, das Mädchen zu beschützen, mit dem er sich angefreundet hatte im Laufe ihrer Anwesenheit. Zorn auf die Angreifer packte sie, dass sie es wagten, selbst Kinder anzugreifen, die ihnen niemals etwas getan hatten, und sie keuchte, ehe sie Karana zur Hilfe kam und mit einem einzigen, gezielten Faustschlag gegen das Bein des Kriegers dafür sorgte, dass er zusammensank und fluchend aufschrie dank des grausamen Schmerzes, den sie ihm verschafft hatte durch die Zerstörung der Muskeln. Karana hatte keine Zeit, sich über die Kraft des Heilermädchens zu wundern, während er wütend mit dem Speer nach dem Kerl stach, der sie angriff; die Waffe wurde aber von der harten Rüstung abgeblockt und der Junge erstarrte, als der Krieger trotz des zerstörten Beines noch knien mit der freien Hand Karana den Speer aus den Händen riss.

„Karana!“, kreischte Leyya entsetzt, als der Junge jetzt wehrlos vor dem Mann stand und keuchend die Augen aufriss; der Zuyyaner fuhr wutentbrannt brüllend zu Leyya herum und wollte sie mit seiner Lanze erstechen – Karana war schneller als er und stieß den gesamten Mann zu Boden, indem er sich schreiend auf ihn stürzte und wild mit bloßen Fäusten auf ihn einschlug. Der Gegner schlug mit dem Kopf gegen einen Stein, bevor er den Arm mit der Lanze noch einmal empor riss und ihn dem Jungen mit aller Wucht durch den kleinen Körper rammte.

Leyya kreischte. Karana erstarrte, noch halb auf dem Krieger hängend, während er Blut spuckte und dann die Augen ungesund verdrehte, ehe er auf der Lanze zusammensackte, die ihn komplett durchbohrt und aufgespießt hatte. Leyya schrie wie am Spieß und kriegte sich gar nicht wieder ein, sie konnte nur starren und schreien, gefesselt von dem Grauen und der Unbarmherzigkeit dieses eiskalten Mannes, der das Kind getötet hatte, ohne Rücksicht auf irgendeinen Lebensgeist dieser Welt zu nehmen. So schreiend und heulend am Boden zusammen sinkend hätte es die Heilerin beinahe selbst das Leben gekostet, weil der Mann mit der freien Faust nach ihr packte, Karana samt Lanze zu Boden schleudernd. Und er drückte ihr die schreiende Kehle zu, ohne dass sie es wirklich registrierte – bis ihn plötzlich ein Blitz von der Seite traf und der Mann in Flammen aufging. Sofort ließ er das Mädchen fallen und Leyya spürte, dass sie unsanft empor gezerrt wurde. Dann sah sie Meorans Gesicht.

„Leyya! Um Himmels Willen, bist du verletzt?! – Leyya! Sieh mich an, hör auf zu schreien, was-…?! Oh mein Himmel…“ Er sah erst jetzt Karana und den Speer, während die Kleine hemmungslos heulend und wimmernd in seine Arme sank.

„Er hat ihn einfach so umgebracht!“, schrie sie, „Einfach so, e-er hat uns einfach angegriffen und… und Karana wollte mich beschützen und… e-es ging alles so schnell, ich weiß nicht, was ich tun soll…!“

„Gar nichts tust du, laufen höchstens!“, stöhnte er erschöpft und fuhr sich über das verschwitzte und vom Feuer rußige Gesicht, ehe er sie packte und mit ihr vor einem weiteren Feuerschlag der übrigen Krieger floh. Und ihr Schreien erstarb, als sie mit ihm rannte, so schnell ihre kurzen Beine sie trugen, obwohl ihr Herz vor Panik noch immer raste.

Dann kam Puran. Sie sah ihn von weitem und begann von neuem zu weinen, diesmal vor Erleichterung, dass er am Leben war. Sein rechts Bein war übelst verbrannt und auf seiner Schulter klaffte eine Schnittwunde, aber er war lebendig, als sein Lehrer und die Kleine ihn erreichten, und er heulte selbst beinahe auf vor Erleichterung.

„W-wo hast du sie gefunden?! Rasch, fort, vielleicht finden wir hinter dem Grat Schutz! Wir müssen zu den Booten und den Fluss hinunter, das ist die schnellste Lösung! W-wo sind die anderen, Meoran?!“ Meoran keuchte und stützte sich zitternd an seinen Knien ab, heftig atmend, nachdem er Leyya an Puran übergeben hatte.

„Bring sie weg!“, keuchte er, „Ich kann nicht… laufen… mein linkes Bein gehorcht mir plötzlich kaum mehr, ich weiß nicht, was passiert! Ruja ist mit Saidah und Keisha nach Westen geflohen, ich weiß… dass wir zu den Booten müssen! Nimm so viele mit, wie du kannst, ich suche deine Eltern! W-wo ist dein Mädchen?“

„Vogelstimme i-ist erschlagen worden…“, machte Puran und Leyya erbleichte. Sie war auch tot? Dass Puran sie jetzt auf seine Arme hob, brachte ihr nicht das Glücksgefühl, das sie sonst verspürte in seiner Nähe.

Jetzt ging die Welt unter. Hier gab es kein Glück.

„Geht es dir gut, Meo-… Meoran?!“, schrie der junge Mann dann panisch, als sein Lehrer vor ihm zusammenbrach und sich japsend an das äußerlich völlig unverletzte linke Bein fasste.

„Ich kann nicht, geh, rasch!“, fuhr der Ältere ihn an, „Bring Leyya weg! I-ich… kann nicht… s-sehen…“ Seine Artikulation wurde plötzlich grauenhaft schlecht, als würde er das Sprechen verlernen, und der Schüler erbleichte vor Angst. Was war denn das, das hatte aber nichts mit den Zuyyanern zu tun…

„Keisha!“, japste er, „Wo ist Keisha, verflucht! Leyya, kannst du gehen?! Rasch, ich kann nicht euch beide tragen!“ Sie heulte, als er sie von seinen Armen ließ und jetzt seinen Lehrmeister auf seinen Rücken hievte, der offenbar versuchte zu protestieren, aber gar kein richtiges Wort mehr über die Lippen brachte. „Halt durch!“, schrie Puran entsetzt, „I-ich suche Keisha, halte durch, bitte! Bitte stirb nicht, Meister! – Leyya, halt dich an meinem Hemd fest, oder dem, was davon übrig ist! Komm!“ Sie tat wie ihr geheißen, als er los rannte. Das Mädchen hatte es nicht leicht, Schritt zu halten, aber sie strengte sich an mit aller Kraft, die der Schock ihr noch ließ…
 

„Wenn ihr uns jagt, warum tötet ihr dann die Zivilisten, ihr Barbaren?!“ Tabari spuckte seinem Gegner ins Gesicht, während er mit einem Windmesser nach ihm schlug und ihn mit einer bloßen Handbewegung zurückschleuderte. Der Heerführer keuchte und war rasch wieder auf den Beinen, ehe er zum nächsten Schlag ansetzte. Seine Waffe klirrte gegen das Schwert, das Tabari gezogen hatte, und es gab ein grelles Blitzen, als beide Klingen sich trafen.

„Tötet so viele wie möglich, ist der Befehl.“, sagte der Zuyyaner und sprach dabei die Einheitssprache der drei Welten. „Aber besonders euch, die Mitglieder des Geisterjägerrates… nachdem mein Vorgänger zweimal versagt hat, euch zu vernichten, ist es… jetzt an mir.“ Vorgänger? Tabari fragte sich, ob damit der Blonde vom letzten Mal gemeint war, mit dem Puran sich tapfer herumgeschlagen hatte. „Ihr seid die Einzigen, die der Armee Kataris Kontra geboten haben… ihr seitdem Kaiser des Imperiums mehr als nur im Wege. Und ihr solltet dankbar sein, dass wir euch helfen, die Überbevölkerung auf Tharr zu bekämpfen…“

Dem Herrn der Geister platzte jetzt vor Zorn der Kragen. Er stieß ihn brüllend von sich und riss beide Arme wutentbrannt in den Himmel, worauf ein ohrenbetäubendes Donnern ertönte.

„Wie kannst du es wagen, du dreckige Made… es gut zu nennen, was ihr tut?! Ihr tötet unschuldige Menschen, die euch nie etwas getan haben… und dafür soll ich dir danken?! Danke mir besser für einen schmerzlosen Tod, Bastard… meine Frau wäre jetzt anders mit dir umgegangen.“

Der Gegner lachte höhnisch, als er sich aufrecht hinstellte und die Arme nach vorne riss, um die vernichtende Seelenkugel zwischen seinen Händen herauf zu beschwören; die stärkste und gefährlichste Waffe der Zuyyaner, mit der sie Geister von Menschen kontrollieren und unterwerfen konnten. Doch er kam nicht dazu, seine tödliche Seelenmagie anzuwenden, denn Tabari war schneller, als er aus dem Himmel gezielt einen sehr schmalen, aber mächtigen Wirbelsturm herab zog und ihn mit den Händen wie einen Bohrer auf den Mann schmetterte, der ihn ebenso in Stücke riss und nichts von ihm übrig ließ als Fleischreste, die am Boden verstreut lagen. Das Licht der Seelenkugel erlosch, als der Mann verschwunden war, und Tabari senkte stöhnend die Hände wieder, ehe er zum pechschwarzen, rußigen Himmel aufsah.

Vergib mir, Vater Himmel, für meine Grausamkeit… aber diese Leute lästern über die Lebensgeister, müssen wir sie deshalb nicht bestrafen…?

Etwas stieß gegen ihn und abrupt fuhr er herum und riss sein Schwert hoch – es war nur Nalani, die gegen ihn gestoßen war und gerade mit einer Flutwelle drei der Angreifer gegen den Grat spülte, wo sie zerschmettert wurden von den Wassermassen.

„Nalani!“, japste der Blonde, als sie zu ihm aufsah mit ernstem, aber schönem Gesicht. Er wollte sie umarmen und ihr sagen, wie froh er war, dass sie lebte, aber dafür war keine Zeit. Es donnerte immer noch und es waren noch hunderte von Zuyyanern am Leben, die versuchten, jeden zu töten, der ihnen in die Finger kam.

Bei seiner Frau war eine größere Gruppe von Überlebenden des Stammes. Unter ihnen waren die weise Frau, ihr Sohn und Rehkleid; der Häuptling war nicht zu sehen, ebenso wenig der beste Jäger, Schwarzspeer.

„Sind das alle?“, schnappte der Blonde fassungslos, und Nalani wandte sich an den Dolmetscher.

„Ab hier werden sich unsere Wege trennen, Ihr wisst, wohin ihr fliehen könnt?“ Der junge Mann nickte.

„Ja, es gibt einen befreundeten Stamm weiter im Nordwesten, wir werden dorthin fliehen. Was wird aus euch?“

„Wir fliehen nach Süden mit dem Fluss. Ab jetzt wirst du den Stamm führen… du musst stark sein und deinem Schicksal folgen.“ Dann tat sie so ziemlich das letzte, was Tabari jemals erwartet hatte.

Sie übergab dem jungen Mann ihr Kadhúrem.

„Was… was machst du da?!“, schrie er entsetzt, „Du kannst doch nicht…?! Die Waffe deines Clans-…?!“

„Schweig!“, zischte sie, „Es gibt für alles einen Grund!“ Ihre nächsten Worte galten wieder den Stammesmenschen. „Geht! Führe sie! Führe sie mit Kadhúrem, das ich dir schenke… als Andenken an uns, damit ihr uns nicht vergesst.“

„Aber… d-das kann ich nicht…?“, keuchte der Schwarzhaarige verdattert, doch die Frau blieb hartnäckig.

„Bewahre es gut auf… es ist ein Erbstück meines Clans. Mögen auch deine Kinder es eines Tages erben. Wenn es in ihren Händen auch nicht Schatten bringen wird, es wird seinen Dienst erfüllen, wenn die Zeit… gekommen ist.“

Tabari starrte sie ungläubig an über diese Tat; wenn es irgendein Dolch gewesen wäre, eine Sache. Aber Kadhúrem? Was war sie ohne Kadhúrem? Wie konnte sie ohne ihre stärkste Waffe überhaupt kämpfen?

Der Dolmetscher verneigte sich und nahm den Dolch an, ihn fest umklammernd.

„Ich danke Euch für die Ehre… Nalani vom Kandaya-Clan. Genau wie Eure Erinnerung werde ich Euer Schwert in Ehren halten.“ Die Schwarzhaarige verneigte sich auch. Hinter ihnen krachte es und die Erde zitterte.

„Rennt jetzt, rasch! Wenn wir uns trennen, werden sie hinter uns her sein. Beeilt euch! Und alles Gute!“

Das waren die letzten Worte, die sie mit den Bergmenschen wechselten. Als der Stamm unter der Führung des Dolmetschers davon rannte, liefen die beiden Geisterjäger nach Westen, in Richtung der Boote, in der Hoffnung, die anderen dort zu finden.
 

„Da sind Tabari und Nalani!“, keuchte Ruja und riss den Kopf hoch, während sie ihr vor Angst wimmerndes Kind auf den Armen hielt, das sich ängstlich gegen ihre Brust drückte. Im Schutze einiger hoher Felsen verharrten sie so lange, bis Keisha Meorans seltsames Leiden kuriert hatte, das so plötzlich gekommen war und das keiner kannte. Zum Glück hatte Puran die Heilerin und ihre Schwiegertochter samt Enkelin schnell gefunden, sodass Keisha jetzt dabei war, ihrem Sohn das Leben zu retten.

„Sieh mich an, Meoran!“, befahl sie ihm barsch, nachdem sie einen Zauber auf seine Stirn angewendet hatte, der in seinem Kopf verschwunden war, doch er konnte sie nur mit dem rechten Auge ansehen und stöhnte benommen.

„Der Himmel… grollt noch, Mutter, lauf weg!“

„Bist du denn des Wahnsinns, jetzt sieh mich an, wo ist dein linkes Auge?!“ Natürlich war es da; aber er konnte sie nicht ansehen, während sein rechtes Auge das normal tat, blickte das linke auf unnatürliche, kranke Weise nach außen.

„Ich kann nicht, ich versuche es ja…“

„Um Himmels Willen!“, hörte er dann die Stimme seines Freundes Tabari, der mit seiner Frau dazu stürzte, „Was ist dir denn geschehen?!“

„Wollt ihr eine medizinische Erklärung oder wollt ihr lieber dafür sorgen, dass uns die Zuyyaner vom Hals bleiben?“, war Keishas unverblümte Antwort, worauf der Herr der Geister wieder nach hinten blickte und mit einem lauten Schrei gerade noch einem Eiszapfen auswich, der auf ihn zugerast gekommen war.

„Verfluchter Himmel, weg hier!“

„Die Boote!“, schnappte Ruja, und während Nalani voraus rannte, schnappte Puran jetzt die aufgelöst heulende Leyya, um sie auf seine Arme zu heben und sie vor seiner Brust zu tragen wie ein kleines Kind, obwohl sie schon so groß war. Aber hinter ihnen waren die Angreifer, auf seinem Rücken war sie nur mehr in Gefahr… er würde lieber seinen Rücken opfern als das kleine Mädchen, schwor er sich verbittert.

„Kannst du aufstehen, Alter?“, japste Tabari und sah beunruhigt auf Meoran, der sich keuchend hinzusetzen versuchte und dabei vollkommen unmotorisch wirkte. Keisha sprang auf die Füße und schrie auch, als sie nach hinten sah – eine ganze Horde von Soldaten stürmte direkt auf sie zu.

„Wo sind die Bergleute, Tabari?! – Nimm Meoran hoch, das war ein verdammter Schlaganfall!“

„Wie bitte? – Und die Bergleute sind fort, wir haben uns getrennt, sie kommen klar! Zumindest mehr als wir!“ Mit diesen Worten packte der Blonde seinen Kameraden und hievte ihn sich über die Schulter, um ihn mit einem Arm festzuhalten und den anderen wenigstens frei zu haben für Zauber, um sie von hinten zu schützen.

Sie rannten hinunter vom Plateau in Richtung Fluss, die Zuyyaner verfolgten sie hartnäckig. Bald schon überließ Nalani Ruja die Führung und befahl ihrem Sohn, Leyya abzusetzen.

„Sie muss alleine laufen, Tabari mit einer Hand kann nicht die ganze Meute aufhalten und Meoran ist wohl am Verrecken, ich brauche dich jetzt!“

„I-ist gut… lauf, rasch!“ Letzteres galt Leyya, die sich nur widerwillig von ihm löste und plötzlich schrill aufkreischte, sobald sie auf eigenen Füßen stand. Puran wirbelte alarmiert wieder herum und mit bloßem Instinkt und einem Windmesser aus seiner Hand skalpierte er den Krieger, der aus dem Nichts direkt vor ihnen aufgetaucht war. Der Mann stolperte röchelnd rückwärts, bis Ruja ihn mit einem gezielten Telekinese-Schlag davon schmetterte.

„Sie kommen von allen Seiten?!“, schrie sie darauf auch und gab Leyya Saidah auf die Arme, um beide Hände für die Barriere frei zu haben.

„Tötet sie, macht sie weg, wir müssen zum Fluss!“, brüllte Tabari schnaubend hinter ihnen, „Macht irgendwas, der Weg muss frei sein!“ Dann riss er seinen Arm herum und schleuderte mit einem weiteren Windzauber eine Reihe von Gegnern um, einem Letzten auch eine Lanze aus den Händen, die dieser auf ihn hatte werfen wollen.

„Brauchst du dein Schwert gerade, Tabari?!“, fluchte Nalani neben ihm, „Ich leihe es mir kurz, wenn du erlaubst!“

„Ach, doch hilflos ohne Kadhúrem?“, spottete er, „Du bist echt weise, Weib! – Nun nimm es schon aus meinem Gürtel, Himmel!“ Sie zog die Waffe aus seinem Gürtel und fuhr herum, um damit einen der Zuyyaner aufzuspießen, der sich auf sie gestürzt hatte.

„Hier ist nur zu wenig Platz für Wasserzauber oder die Macht der Schatten, das ist alles!“, empörte sie sich, „Geht’s dir besser, Meoran?!“

„Na ja, mittelprächtig…“, stöhnte der Jüngere, kopfüber auf Tabaris Schulter hängend wie ein Mehlsack, „Mein linkes Auge ist hin, ist ja fürchterlich!“

„Der Weg ist frei!“, brüllte Tabari dann neben ihm und er fuhr zusammen, ebenso wie Nalani. „Los, rennt doch, rasch! Du zuerst, Ruja, und Keisha, Leyya, rennt!“

Sie zerschlugen die Umzingelung und schafften es mit einiger Mühe, weiter hinab zum Flusstal zu rennen, noch immer verfolgt von den Angreifern. Brennende Pfeile und Eiszapfen flogen ihnen um die Ohren, die Tabari entweder mit Wind abhielt oder die an Rujas Telekineseschlägen scheiterten. Ein Eiszapfen zerriss Nalanis Umhang und ein Pfeil bohrte sich in Rujas rechten Arm, sodass sie aufschrie und reflexartig inne hielt; Puran wäre beinahe in sie hinein gerannt und schubste sie gewaltsam voran, fluchend mit seinem Geisterschwert einen Krieger von der Seite abwimmelnd.

„Geh, rasch, Ruja!“, herrschte er sie an, „Verarzten können wir auf dem Boot! – Achtung, da ist einer links von euch, Mutter!“ Nalani fuhr herum, als ein neuer Mann von einem nahen Felsen gesprungen kam und mit seinem breiten Schwert nach ihnen hieb. Die Geisterjägerin sprang zurück und wich noch aus, aber der nächste Hieb traf Keisha und verpasste ihr einen grauenhaften Schlitz quer über den Oberkörper. Sie keuchte und stürzte zu Boden, überschlug sich auf den Felsen und wäre beinahe tief gestürzt, hätten Puran und Nalani sie nicht zeitgleich gepackt.

„Keisha!“, schrie Ruja von irgendwo panisch, doch die Heilerin hustete nur und fasste schmerzhaft nach der heftig blutenden Wunde.

„N-nur ein Kratzer, ich bin doch keine alte Großmutter!“, schnaufte sie, „Weiter, los, rennt!“

„Trag sie, Puran, sonst wird die Wunde tiefer!“, ordnete Nalani trotz Keishas Protesten an, sodass ihr Sohn sie folgsam hoch hob, ehe sie weiter rannten. Endlich erreichten sie die Boote, die sie in langer, mühsamer Arbeit vorsorglich gebaut hatten und die sie am Ufer des großen Flusses Yarmol verstreut hatten. Eigentlich waren sie nicht für die Flucht gedacht, es waren nur kleine Kanus und sie waren, was Schnelligkeit anging, auf die Strömung angewiesen. Es gab zwei Boote. Ruja stieß das erste sofort ins Wasser und half Leyya dabei, mit hinein zu klettern, ihr das kleine Kind abnehmend, das sie bisher getragen hatte. Während Puran ihnen samt Keisha hastig nacheilte, sprangen die letzten beiden mit Meoran in das zweite Boot und stießen beide vom Ufer ab. Die Strömung des Yarmol war stark und riss die kleinen Kanus sofort nach Süden; ein wildes Geschaukel begann. Am Ufer fluchten die Zuyyaner, die abgehängt worden waren – aber nur kurz, denn sie sprangen in die Luft und flogen ihnen nach über den reißenden Fluss.

„Verdammt, das gibt’s doch nicht!“, schrie Puran entsetzt, „Vater, tu doch was!“

„Nalani, denk an das Wasser!“, keuchte der Herr der Geister, ehe er sich schwankend im Boot erhob und dabei beinahe über Bord gegangen wäre. Er hielt sich aber erstaunlich gut, als er die Arme in den Himmel riss und den Wind herbei befahl. „Wind, Kind von Vater Himmel! Komm und schicke mir Zorn, den ich gegen jene richten kann, die dein Land angreifen!“ In seinen Händen entstand ein gewaltiger Wirbel, mit dessen Hilfe er alle Zuyyaner wieder zum Landen zwang, die ihnen nachgesetzt hatten. Manche fielen ins Wasser – die anderen beobachteten fasziniert, wie die Wassermassen des gewaltigen Flusses die Krieger verschlangen, als wären sie kleine Häppchen für Zwischendurch. Nalani breitete andächtig beide Arme zur Seite aus, um dem Strom zu befehlen, sie rascher zu tragen, rascher und gerader.

„Bring uns nach Süden, fort, Yarmol, großer Strom!“ Und zur Antwort gurgelte der Fluss und dröhnte unter den Booten, die er schnell von dannen trug. Bald waren die Zuyyaner weit zurück und nicht fähig, sie einzuholen dank Tabaris Zauber, der ihnen das Fliegen verbat.
 

„Wir haben es geschafft!“, keuchte Ruja fassungslos und starrte zurück nach Norden, während sie getrieben und gepeitscht wurden von den Wogen des Flusses.

„Die kommen zurück… wir müssen achtsam sein!“, murmelte Puran, „Wir sind ungleich verteilt, hier sind mehr Menschen als in dem anderen Boot…“ Er wurde von Keisha unterbrochen, die plötzlich stöhnend zusammensank und die Hände auf ihre tiefe Wunde presste. Ihre Schwiegertochter bemühte sich sofort um sie.

„Oh Himmel, d-das sieht schlimm aus! Zeig mal her…“

„Ich verliere so… v-viel Blut…“, stöhnte die blonde Heilerin und schnappte keuchend nach Luft. Puran erstarrte, als er einen Blick auf sie warf; ihre ganze Kleidung war rot vom Saft des Lebens, der aus ihrer Wunde austrat. Panisch warf er einen Blick auf Ruja, dann zum anderen Boot.

„Vater!“, schrie er, „Keisha ist stark verwundet, w-wir müssen anhalten!“

„Wie bitte?!“, rief Meoran von drüben, der sich offenbar erholte, aber dennoch ziemlich angeschlagen wirkte, „W-was ist mit Mutter…?“

„Leyya!“, japste sein Schüler dann auch schon und sah auf die kleine Heilerin, die leichenblass auf Keisha starrte und sich nicht rührte. „Leyya, versuch dein Bestes! Wir müssen doch wenigstens provisorisch die Wunde schließen können… - g-gib mir deinen Gürtel, Ruja, damit können wir es vielleicht zubinden!“

„Ach, n-nun macht nicht… so ein Theater…“, stöhnte Keisha, klang aber nicht halb so tapfer, wie sie es gerne gehabt hätte. Ruja schluchzte panisch, als sie sich selbst das Stoffband abband, das ihre Kleidung zusammenhielt. Puran zog seine Jacke und dann sein Hemd aus, letzteres missbrauchte er als Verband, um die Blutung irgendwie zu stillen, mit Rujas Gürtel banden sie das Ganze zusammen.

„Meinst du, damit hält sie durch, bis wir ein geeignetes Ufer finden?“, fragte Puran Ruja unsicher, und sie schüttelte den Kopf und fing plötzlich zu weinen an.

„Ich weiß es nicht! Ich weiß gar nichts, w-wieso muss sowas passieren?!“ Sie nahm Leyya in die Arme, die sich bewegt hatte und versuchte, zu ihrer Lehrerin zu gelangen, die jetzt stöhnend und noch immer heftig blutend in der Ecke des Kanus lag.

„Wir können nicht anhalten, die Zuyyaner sind viel zu dicht!“ schrie Nalani aus dem anderen Boot, „Was sollen wir machen?!“

„Verdammt, Keisha stirbt!“ brüllte ihr Sohn aufgelöst und fing jetzt aus Verzweiflung auch zu heulen an, „I-ich weiß doch auch nicht, Mutter! Wir müssen anhalten, jetzt sofort!“ Nalani weitete entsetzt die Augen bei seinem Gefühlsausbruch, während Tabari erbleichte.
 

Ein Stück weiter Flussabwärts war ein schmaler Streifen des Ufers geeignet zum Anhalten; sie stiegen auf der anderen Seite des Flusses aus, auf der nicht die Zuyyaner waren. Während Tabari die Boote an Land zerrte und sich um den Wind kümmerte, so weit er noch konnte nach der ganzen Anstrengung, hievten die anderen Keisha ans Ufer und versuchten, nachdem sie die provisorischen Verbände entfernt hatten, die Wunde zu versorgen.

Die kleine Leyya kniete neben ihrer Lehrerin und hielt beide Hände über die Wunde, mit aller Kraft versuchte sie, alle ihre Heilfähigkeiten einzusetzen, um den Riss zu schließen, aus dem unaufhörlich Blut rann. Doch so sehr sie sich bemühte, die Wunde wurde und wurde nicht kleiner… verzweifelt schrie sie auf und Keisha stöhnte.

„Überlaste… d-dich nicht, Leyya! Du bist noch… nicht groß genug für diese… Wunde.“

„Sag das nicht!“, schrie das Mädchen panisch, „Ich rette dich, Keisha! Ich brauche dich noch, ich schaffe das! Du wirst sehen, ich habe gut gelernt!“ Die Blonde hustete und spuckte Blut, worauf Leyya zusammenzuckte. Tränen rannen über ihre schmutzigen Wangen, als sie es wieder und wieder erfolglos probierte. Um sie herum hockten die anderen, allen voran Meoran und Ruja, ersterer noch immer benommen, letztere weinte bitterlich. Nalani trug die kleine Saidah, die nichts von dem verstand, was passierte.

„Das war eine… zuyyanische Waffe, nicht wahr…?“, erinnerte sie sich dabei dumpf und wippte das Kind auf ihren Armen. „Eine Waffe, deren Wunden… wir nicht heilen können.“
 

Die Nachricht saß ihnen tief in den Gliedern und einer nach dem anderen verstand, was das bedeutete.

Keisha würde sterben. Und sie konnten nichts dagegen tun.

Ruja brach vollends in Tränen aus und sank in sich zusammen, während Meoran nur am ganzen Leib zitterte und leichenblass wurde. Leyya gab nicht auf, schrie und versuchte, all ihre Kraft zu investieren, und wenn es sie umbringen würde; sie musste Keisha retten!

Die alte Frau war anderer Meinung. Stöhnend hob sie eine Hand und versuchte schwach, die Kleine wegzuschieben.

„Hilf mir alter Greisin nicht mehr…“, flüsterte sie und lächelte verzerrt. „Spare deine Kraft… du… musst doch noch eine Frau und eine gute Heilerin werden. Und eine gute Mutter… das möchtest du doch so gern?“ Die Kleine heulte.

„Ich gebe nicht auf! Ich schaffe es, bitte lass mich!“

„Nein… hör auf. Es ist… umsonst, Leyyachen. Sei nicht… t-trau…rig. Bitte…“ Flehend wandte die sterbende Frau den Blick von ihrer Schülerin ab, worauf Puran die Kleine mit sanfter Gewalt von ihr entfernte und sie auf den Arm nahm. Leyya schrie und strampelte und weinte, sie ließ sich nicht mal durch seine Anwesenheit beruhigen oder dadurch, dass er sie an sich drückte und sie zärtlich streichelte. Seine Hände zitterten… und er weinte auch, als er mit der Kleinen zurück trat. Keishas letzte Augenblicke sollten allein ihrem Sohn gehören… dem letzten der Chimalis-Familie, der geblieben war.

„Meoran…“ Der Angesprochene schauderte, als Keishas Hand nach seiner suchte, und er ließ zu, dass sie sie ergriff, ehe er seiner Mutter in das blutverschmierte Gesicht blickte. Sie war blass und ihre Hand eiskalt. „Mein… mein tapferer, großer Junge… m-mit deinem hässlichen Schiel-Auge, ehrlich…“

Ihm war nicht zum Scherzen zumute.

„Ich mache nur Ärger.“, murmelte er dann, sein rechtes Auge sah sie an, das linke starrte weiterhin ungesund nach außen. „Du hast mir vorhin… d-doch noch das Leben gerettet… vergib mir, dass ich… nicht nützlicher war, Mutter.“

„Nützlicher?“ Die Heilerin lächelte, ihn liebevoll ansehend, wie nur eine Mutter ihr Kind ansehen konnte. „W-wie könnte ich mehr verlangen? Du bist ein guter Mann geworden… und ein guter Vater. Du hast mich… immer stolz gemacht…“ Jetzt schluchzte er, während Ruja ihn von der Seite weinend umarmte und nicht wagte, sich einzumischen. Keisha seufzte leise und schloss die Augen, als sich Dunkelheit über ihren Geist zu legen begann. „Du siehst… deinem Vater so ähnlich… Meoran…“

Ihre letzten Worte sprach sie lächelnd.
 

Sie hatten keine Zeit für die fünftägige, traditionelle Totenwache. Meoran wollte bleiben und die anderen sollten mit dem einen Boot vorfahren, aber Tabari redete ihm das schnell wieder aus.

„Du hast deine Mutter verloren, das tut mir leid, ich kenne diesen Schmerz sehr gut, ich erfuhr ihn vor Jahren am eigenen Leibe. Aber du hast auch eine lebende Familie… eine Frau und vor allem eine sehr kleine Tochter, die dich beide noch brauchen. Wir können hier nicht länger verweilen, die Zuyyaner würden uns zu schnell wieder einholen. Also müssen wir aufbrechen nach Süden, mein Freund… wir werden ihren Körper verbrennen und zu den Geistern beten, sie mögen ihre Seele heil bei sich aufnehmen.“ Der Jüngere ließ zitternd den Kopf hängen, während seine Frau mit Saidah auf dem einen Arm mit der freien Hand nach seiner griff. Schließlich nickte Meoran beklommen und wandte den Blick zu seiner Mutter, die am Boden lag.

„Du… hast wohl recht, mein Freund. Wir… müssen weiter.“

Der Himmel war bezogen, als Puran hinauf blickte in die grollenden Berge aus Wolken. Er stand beim Boot mit den Schuhen im Flusswasser, in dem Gefährt neben ihm kauerte die leichenblasse, zitternde Leyya. Sie hatten der Kleinen Keishas Medizinbeutel gegeben, in dem ein Vorrat an Heilkräutern und Wurzeln war.

„Jetzt wirst du die Heilerin unserer Gruppe sein.“, sagte Puran dumpf zu dem Mädchen, und sie zuckte zusammen, leise wimmernd den Medizinbeutel an sich drückend.

„Ich bin unfähig.“, jammerte sie dann, „Keisha war eine viel… bessere Heilerin als ich!“ Sie weinte stumm und drehte beschämt den Kopf von ihm weg, um ihm ihre erbärmliche Schwäche nicht zeigen zu müssen; umso verblüffter war sie, als er sich plötzlich, ins Boot geklettert, zu ihr hockte und ihr Gesicht mit einer Hand sanft wieder zu sich drehte.

„Du hast dein Bestes gegeben!“, zischte er energisch. „Mehr konntest du nicht für sie tun, niemand ist dir böse, Leyya. Wunden, die von zuyyanischen Waffen geschlagen wurden, kann man eben nicht heilen. Das ist doch nicht deine Schuld…“ Sie schluchzte.

„Aber wie kannst du mich eine gute Heilerin nennen, wenn du weißt, dass es immer etwas geben wird, das ich nicht heilen kann?!“ Sie umklammerte bebend den Beutel in ihren Händen, ehe sie die Brauen senkte. Was jetzt in ihr Gesicht trat und die Verzweiflung verdrängte, hatte er zuvor nicht gesehen bei ihr. Es war ein mächtiger Trotz, gemischt mit Entschlossenheit, und ihr Blick duldete keinen Zweifel an dem, was sie jetzt sagte. „Ich werde etwas dagegen tun, Puran! Ich werde dafür kämpfen, ich werde all meine Kraft ausschöpfen, um irgendetwas zu entwickeln, das… auch Wunden von zuyyanischen Waffen heilen kann! Erst, wenn mir das gelungen ist, bin ich es überhaupt wert, als Heilerin bezeichnet zu werden.“

Er sagte nichts dazu und senkte den Kopf. Als ihre entschlossene Ader wieder versiegte und sie wieder in Tränen ausbrach, zog er sie seufzend in seine Arme und versuchte unbeholfen, sie zu trösten.

Am Himmel erhellte der Schein des Feuers die Welt, als Nalani die Leiche in Brand steckte und alle außer den beiden Jüngeren, die im Boot saßen, am Ufer standen und Keishas Geist eine gute Reise wünschten. Das Wasser des Flusses gurgelte unter dem Kanu, das halb ans Ufer gezogen da lag und bei den heran peitschenden Wellen schaukelte. Die Flammen der Bestattung wärmten Purans Gesicht, aber dennoch drang nichts Warmes zu ihm durch, als er die Augen schloss und sich die Gesichter all jener vorführte, die dieser Krieg bereits gefordert hatte. Er dachte an seine Cholena… an seinen Onkel Kiuk, an die vielen unschuldigen Menschen in Dokahsan, Anthurien und Kadoh, an Vogelstimme und an Keisha. Das einzige, was jetzt etwas Wärme verschaffte im eiskalten Wind des auftauenden Winters, war der Gedanke daran, dass er sie alle nicht zum letzten Mal gesehen hatte.

Eines Tages würde er sie wiedersehen im Reich der Geister… an dem Tag, an dem auch sein Körper zu Staub verbrannt würde und sein Geist mit den anderen im Wind würde wandern können.
 

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Yeah xD Keisha ist tot, Meoran schielt und alle fahrne Kanu <3 Etwa März 980, btw.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Kimiko93
2010-07-31T12:17:44+00:00 31.07.2010 14:17
Ugh...
Ein Kapitel, in dem sie mal wieder sterben wie die Fliegen. Yippieh!

"Mutter Erde würde Vater Himmel da auch den Vogel zeigen!"

Ich maaaag Puran wieder <3 Auch wenn er sich unmittelbar darauf an der kleinen Leyya vergreift, eeew ôo'
...Auch wenn die ja anscheinend gar nicht mehr so klein ist, hust...

Jetzt ist Keisha tot. Der nächste auf der Abschussliste wäre Tabari. Und danach Nalani. Hn. Irgendwie kamen die beiden einem in Fm1-3 poseriger vor XD aber so ist das wohl. So mag ich sie lieber ôô

Ianas Papa ist Anführer eines Stammes von Bergmenschen. Das... Passt so gar nicht zu ihr, ich weiß auch nicht ö.ö merkwürdig...


Und zum Schluss noch ein Yay! für den niedlichen, tapferen kleinen Karana .____. das fand ich viel trauriger als Keishas Tod, ich weiß auch nicht <<
Von:  Decken-Diebin
2010-03-13T18:35:14+00:00 13.03.2010 19:35
Keisha >.<
Hm ja, Izzy hat recht, plötzlich sind alle der etwas älteren Generation weg. Aber ja, du wechselst die Hauptcharaktere so unbemerkbar, dass es total toll ist, weil die Story ja schon nen längeren Zeitraum umfasst^^
Dass Nalani Ianas Vater einfach Khadúrem gibt, hätte ich nicht gedacht oô Ich dachte, dass sie noch irgendwo in Kadoh stirbt und er das Ding dann an sich nimmt XD
Irgendwie möchte ich mir Meoran gar nicht mit diesen Augen vorstellen, ehrlich gesagt... das ist so merkwürdig >.< Aber man merkt ihm seine Krankheit schon an D:
Ach ja, Klein-Karana ist ja auch süß, jahaaa^.^ Mutiger, kleiner Kerl :)
Die Anfangs-Szene war auch schnucklig... wobei ich nicht erwartet hätte, dass er sie küsst... wie süß <3
LG, Hina
Von:  -Izumi-
2010-03-13T15:59:01+00:00 13.03.2010 16:59
Q////Q
Das... war traurig...
Zuerst mal zum schönen Teil am Anfang. Okay, so schön war es nicht, Puran hat sich dann ja sehr dämlich angestellt, aber immerhin findet er sie geil XDD
Na ja, das Süße war ja leider schnell wieder vorbei.
Böse Zuyyaner und ich fand es doof, dass Simus Papa dieses Mal nicht da war, wobei es mir auch komisch vorgekommen wäre, wenn er einen so dramatischen Angriff geleitet hätte...
Aber ich mag den Kerl... na ja. Ianas Papa mag ich auch, mal random <3
Dann starb Karana...
Der Junge war echt mutig oô Voll süß, was er für Leyya gemacht hat. Ich hab mich als er tot war echt gefreut, dass Leyya ihren Sohn nach ihm benennt, das hat er echt verdient...
Wobei der andere Karana ja ein echter Penner ist, aber egal, ich hab ihn lieb XDD
Und dann Meoran... ach, dieser Penner! XD
Ich dachte auch so, na geil, das ist ja ein ganz tolles Timing, du Spinner o_o'
Als ob er was dafür könnte, jetzt guckt er immer psycho, na geil XD
Und dann... Keisha .__.
Dass sie jetzt tot ist, ist komisch... sie war die einzige, die von "alten Schlag" noch übrig war und jetzt ist sie weg...
In dieser Story vergeht so viel Zeit, das ist echt gruselig oô
Und vor allen Dingen so schleichend... ich meine, man liest und liest und merkt irgendwie gar nicht, dass mittlerweile eigentlich alle Hauptcharas ausgetauscht worden sind óo
Die, an die man sich am Anfang gewöhnt hat, sind fast alle tot o_o Ich frage mich, wie das sein wird, wenn jetzt auch noch Tabari und Nalani sterben... óo


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