Ohne jedes Wort
~ Ohne jedes Wort ~
Nun seit mehr als einer Woche hielt der Regen an, der sich auch in Naokos Herzen eingenistet hatte. Sie ging wie gewünscht zur Schule, wie ihre Eltern das von ihr verlangten und verfolgte den Unterricht mit halben Ohr. Sie kam pünktlich zum Unterricht, auch wenn nur Körperlich.
Naoko verschloss sich vor jedem, trug eine ausdruckslose Maske, zeigte kein Interesse an niemanden.
Immer wieder schweifte ihr Blick zu dem leeren Platz schräg gegenüber, an dem normalerweise immer Ryo gesessen hatte. Egal wie oft sie auch bei ihm zu Hause vorbei gekommen war, niemand wollte sie herein lassen, noch lies sich Ryo blicken, wenn sie stundenlang im Regen vor seiner Tür pausierte.
Wenn ein Lehrer sie ansprach, ignorierte sie es gekonnt und widmete sich sinnlosen Kritzeleien in ihrem Schulheft.
Ständig sah sie Ryo vor sich, wie er über sie gebeugt war und sein trauriges und enttäuschtes Gesicht, als er ihr sagte, ihre gemeinsame Zukunft sei vorbei.
Das Stundenklingeln riss sie wieder aus ihren Gedanken und wie mechanisch, erhob sie sich wie alle anderen von ihren Plätzen, um den Lehrer zu begrüßen. Sie war so in sich gekehrt, dass sie nicht einmal mehr mitbekam welchen Unterricht sie gerade hatten, doch es war ihr irgendwie auch egal.
Der Lehrer räusperte sich, um die Aufmerksamkeit zu erlangen und auch Naoko, die sonst so abwesend schien, spitzte die Ohren.
„Hört mal alle her, ich wollte euch mitteilen das euer Mitschüler Hasaki Ryo nicht mehr in unsere Klasse zurück kommen wird“, sprach er die Worte aus, die ihr im Gedächtnis hämmerten und in ihrem Herz einen stechenden Schmerz verursachte. Nun wandte sie sich ungläubig dem Lehrer zu. Allgemeine Unruhe herrschte in der Klasse, jeder redete mit jedem. Spekulationen endeten in Diskussionen, ein vollkommendes durcheinander.
Die Hände vom schwarzhaarigen Mädchen zitterten vor Anspannung und sie biss sich auf der Unterlippe herum. Wieso hatte er die Schule jetzt schon verlassen, auch ihretwegen? Sie konnte es nicht fassen, nicht nur das ihre gemeinsame Zukunft wie Seifenblasen zerplatzt waren, so konnte sie sich nicht einmal mehr von ihm verabschieden.
Das konnte und wollte sie nicht akzeptieren.
„Die Familie Hasaki wird heute noch nach Tamata in der Nähe der Küste ziehen. Ryo hat mit einer vorgezogenen Prüfung seinen Mittelschulabschluss schon bewältigt und wird ab nächster Woche auf die dortige Jungenoberschule gehen. Deshalb wird er auch zu unserer Abschlussfeier im März nicht mehr Anwesend sein“, erklärte der Lehrer.
Ohne noch auf irgendetwas zu achten, sprang Naoko von ihrem Platz auf, packte in Windeseile ihre Tasche zusammen und rannte aus dem Klassenzimmer. Das ihr Lehrer ihr noch hinterher rief, ignorierte sie einfach. Sie hatte nur noch ihr Ziel im Auge, sie musste Ryo erreichen, bevor er wegfahren konnten.
Tränen rangen ihr über die Wangen und vernebelten ihre Sicht. Sie stolperte nur so die Treppen runter, aus dem Schulhaus hinaus. Sie machte sich nicht einmal die Mühe ihre Hausschuhe auszuziehen.
Ohne eine Pause zu machen, ohne auf die ihr entgegenkommenden Leute oder den Verkehr zu achten, rannte sie die steile Bergstraße hinunter, an ihrem Zuhause vorbei, geradewegs zu dem Haus in dem Ryo mit seiner Familie immer gewohnt hatte.
Sie konnte nicht glauben, dass sie jetzt einfach wegziehen würden, ohne das sie die Chance bekam, sich zu verabschieden.
Außerdem verstand sie nicht, wieso er nicht hier auf die Jungenschule ging, so könnten sie sich wenigstens einmal die Woche sehen. Sie wischte sich mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht, um wenigstens etwas erkennen zu können, doch sie konnte einfach nicht aufhören zu weinen.
Sie wollte nicht wahrhaben ihn nicht mehr sehen zu dürfen. Das konnte und wollte sie einfach nicht akzeptieren.
Vollkommen Kaputt und ausgelaugt blieb sie keuchend nach Luft ringend vor dem Haus stehen, doch sie schien zu spät. Kein Auto stand mehr in der Einfahrt und das Haus schien auch an sich leer.
Sie hatte das Gefühl ihr Herz würde stehen bleiben, als die Tür zu dem Haus aufging. Kurz Überkam sie ein Hoffnungsschimmer, dass er noch da wäre und auf sie gewartet hätte. Doch es war nicht Ryo der aus der Tür kam, sondern seine Oma, die hinter sich die Tür schloss und dabei war, dass Grundstück zu verlassen.
Naoko beruhigte sich, wischte sich noch einmal die lästigen Tränen aus den Augen und ging eiligen Schrittes auf die alte Frau zu. Sie kannte diese herzensgute Frau, die schon damals als sie klein waren, immer ein leckeres Eis zu den warmen Sommertagen auf Lager hatte. Ryo und sie waren die Sommerferien über immer gerne in ihrem kleinen Landhaus am Stadtrand gewesen, und hatten in ihrem Garten gespielt.
Die alte Frau erblickte das schwarzhaarige Mädchen mit den verheulten Augen und kam langsam auf sie zu.
„Kindchen, alles okay mit dir?“, hinterfragte sie besorgt und drückte ihre Hände auf die Wangen von Naoko um ihr die Tränen wegzuwischen. Ihre raue, alte Stimme war wie ein Beruhigungsmittel und das schwarzhaarige Mädchen, umarmte die alte Frau, wie einen neu gewonnenen Schatz. Sie war ihr einziger Strohhalm in diesem Moment.
„Oma Chiyo, Ryo ist einfach weggezogen ohne sich zu verabschieden, er hat mich alleine gelassen“, schniefte Naoko in ihre Schulter.
Die Alte Frau tätschelt ihren Rücken und nahm dann wieder das Gesicht des schwarzhaarigen Mädchens in die Hände.
„Kindchen, möchtest du mit zu mir kommen? Bei einer Tasse Tee kannst du mir dann alles in Ruhe erzählen“, schlug die alte Chiyo vor und bekam ein Nicken.
Beide gingen schweigend zu dem alten Kleintransporter hinüber, der auf der anderen Straßenseite stand und die ganze Fahrt über war Naoko ganz in Gedanken versunken und sprach kein Wort.
Erst als sie sich in dem kleinen Wohnzimmer auf Tatamimatten setzen und Chiyo ihr eine heiße Tasse grünen Tee hinstellte, sprudelte alles aus ihr heraus. Sie erzählte von ihrer gemeinsam geplanten Zukunft auf einer gemischten Oberschule und von Ryos plötzlicher Umstimmung auf eine Jungenschule zu wollen. Dann, dass er einfach nicht mehr in die Schule kam und sie heute vom Lehrer erfahren hatte, dass er weggezogen war, ohne sich von ihr zu verabschieden. Ihre Tränen rangen unaufhaltsam über ihr Gesicht und in die bereit gelegten Taschentücher. Chiyo hörte ihr genau zu und trank aus ihrer Teetasse.
Naoko schlief mitten bei der Erzählung vor Erschöpfung ein und Chiyo legte ihr eine Decke über die Schultern.
Sie dachte lange darüber nach was die kleine Naoko ihr alles erzählte und wusste aus eigenen Erfahrung, wie sehr sie das mitnehmen musste, den wichtigsten Menschen im Leben ziehen zu lassen.
Langsam erwachte die Schwarzhaarige vom Geruch ihrer Lieblingsessens. Etwas aus der westlichen Welt, Nudeln mit Bolognese. Ihre Eltern zu Hause hielten nichts von dem Essen anderer Kulturen, doch sie selbst mochte diese seltsame Speise sehr gerne.
Besonders, wenn Oma Chiyo diese zubereitete.
Sie lies sich viel Zeit, um das Essen auf der Zunge zu genießen und doch konnte sie ihre Trauer kaum unterdrücken. Wie oft hatte sie mit Ryo an diesem runden Tisch Bolognese gegessen.
Nach dem Essen half sie ihrer Oma beim Abwasch und spielte schon mit dem Gedanken, heute erst gar nicht nach Hause zu gehen. Sie hatte keine Lust wider zu ihren Eltern zu müssen, da der Lehrer diese bestimmt schon wegen ihres unartigen Verhaltens unterrichtet hatte.
„Kindchen, es ist schon spät, ich werde deinen Eltern mitteilen, dass du heute bei mir bleibst“, meinte Chiyo zwinkernd und stellte das letzte Geschirr in die Schränke. Naoko sah sie mit glänzenden Augen und einer unendlichen Dankbarkeit an.
Ihre Oma, die eigentlich keine Blutsverwandte von ihr war, ist dennoch immer so führsorglich zu ihr. Wieder musste sie Chiyo dankend um den Hals fallen. Sie war einfach die Einzige die sie verstand.
Naoko setzte sich auf die Veranda und schaute in den Sonnenuntergang, in der Ferne funkelten schon die ersten Sterne durch die Wolken hindurch. „Deine Eltern haben nichts dagegen“, hörte sie Chiyos Stimme, die zu ihr hinaus auf die Veranda kam und sich zu ihr setzte.
Eine Weile saßen sie einfach nur schweigend nebeneinander und betrachteten die Natur, die sich vor ihnen bis zum Horizont ausbreitete. Das kleine Landhaus stand an einem Berghang und die Stadt befand sich zu deren Füßen und auf der Rückseite des Berges. So hatte man von hier einen guten Blick aufs Land und am Horizont erstreckten sich weitere Berghänge und das Meer glitzerte in der Sonne.
„Irgendwo dort hinten wird Ryo nun zur Schule gehen“, flüsterte Naoko zu sich selbst und wieder kam die Trauer in ihr auf, sich nicht von ihm verabschiedet haben zu können.
„Sag Kindchen, hast du dich denn schon entschieden auf welche Schule du gehen möchtest?“, fragte Chiyo und betrachtete das junge Mädchen neben sich. Naoko senkte den Blick und schüttelte den Kopf.
„Nein, jetzt nicht mehr. Eigentlich wollten Ryo und ich auf die gemischte Oberschule gehen, doch anscheinend haben meine Eltern Ryo einen Floh ins Ohr gesetzt und nun will er unbedingt auf eine Jungenschule und ich soll auf eine Mädchenschule. Was denken sie sich bloß dabei?“, erzählte sie und kniff die Augen zusammen. Ihre Hände krallten sich verärgert in ihren Rock, wenn ihre Eltern nicht wären, würde Ryo nicht verschwunden sein, dass würde sie ihnen auf ewig nachtragen.
„Meinst du nicht, du urteilst voreilig?“, hinterfragte Chiyo und Naoko sah ihr erstaunt ins Gesicht. „Wie meinst du dass?“, wollte sie wissen, sie wusste nicht was Chiyo meinen könnte.
„Deine Eltern wollen doch nur, das du etwas aus dir machst“, sprach sie weiter. „Ja schon, aber deshalb müssen sie doch Ryo nicht so einen Floh ins Ohr setzen!“, entgegnete Naoko eingeschnappt und sah wieder auf ihre Hände um besser zu Verstehen, was Chiyo ihr damit sagen wollte.
„Aber gib doch zu, dass du dich in deiner Mittelschulzeit nur mit Ryo und nicht mit deiner Mittelschulzeit auseinander gesetzt hast, oder? Vielleicht hatten sie nur Angst, dass es in der Oberschule so weiter gehen würde und ihr Beide euren Abschluss verpatzt und später keine Arbeit findet“, versuchte die alte Frau ihr klar zu machen.
Das schwarzhaarige Mädchen wurde hellhörig und dachte einen Augenblick über die Worte nach, die nun einen Sinn ergaben, worüber sie vorher noch nicht nachgedacht hatte.
„Du hast recht, ich habe mich wirklich nicht so gründlich um die Schule gekümmert, aber meine Noten sind aber auch nicht schlecht“, entgegnete Naoko, noch immer uneinsichtig sich einzugestehen, dass ihre Eltern richtig gehandelt hatten.
„Das stimmt schon, aber das reicht noch nicht, du musst mehr Verantwortung zu übernehmen lernen und dich weiterentwickeln“, machte die Oma darauf aufmerksam und Naoko nickte.
„Und meine Eltern sind der Meinung ich schaffe das nicht, wenn ich bei Ryo bleibe?“, hakte Naoko nach und bekam ein Nicken. Nun musste sie noch einmal gründlich nachdenken, doch irgendwie wollten ihre ganzen Gedankengänge sich nicht sortieren lassen.
„Oma, bitte sag, gibt es nicht eine Möglichkeit das ich weiterhin mit Ryo zusammen zur Schule gehen kann und dennoch einen guten Abschluss mache?“, wollte Sie unbedingt wissen und sah der Älteren erwartungsvoll in die Augen. Diese lachte nur und tätschelte ihr über den Kopf.
„Ach Kindchen, du kannst einfach nicht ohne ihn oder? Es gibt schon eine Möglichkeit, aber dafür müsstest du Opfer bringen“, schlug Chiyo ihr vor und die Schwarzhaarige nickte eifrig voller Erwartung.
~ Ende Kapitel 2 ~