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Träume

von

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Farin schüttelte ungläubig den Kopf und konnte sich das Lächeln, das sowohl erleichtert als auch ungläubig hätte sein können, nicht verkneifen. Bela musterte ihn unsicher, und sie standen da, sahen einander an, und die tonnenschwere Last, die so plötzlich von ihm abfiel, konnte er nicht in Worte fassen. Endlich, endlich war es vorbei. Das große Ratespiel der letzten Tage, die ständige, ihn innerlich auffressende Unsicherheit hatten ein Ende.
 

Farin öffnete das Paket und holte die Kette heraus. Er hielt sie ins Licht und bewunderte ihren Glanz, ihre Feinheit. Im Hintergrund sah er Bela, der ihn wortlos ansah. So etwas schönes, vollkommenes, und doch so zerbrechlich...
 

Farin ließ seine Hand langsam wieder sinken, legte die Kette zurück in die Schachtel und legte diese behutsam auf den Tisch zurück. Bela senkte seinen Blick langsam. Farin konnte förmlich riechen, dass sich eine große Unsicherheit in seinem Freund breitgemacht hatte, und so ging er langsam und sachte ein paar Schritte auf ihn zu, bis er knapp vor ihm stand. Mit seinen herab hängenden Schultern wirkte Bela aus Farins Sicht noch ein Stück kleiner. Der Blonde seufzte.
 

„Es tut mir so Leid. Ich weiß nicht, wie ich das alles wieder gut machen soll. Bitte verzeih mir.“
 

Bela hob seinen Kopf, um Farin anzusehen.
 

„Ich hab so viel Scheiße gebaut die letzten Tage“, fuhr Farin mit leiser, gequälter Stimme fort. „Mein Gott, wenn ich das gewusst hätte… ich hab mich so in mir selbst verloren, dass ich meine Umgebung überhaupt nicht mehr wahrgenommen habe. Ständig habe ich mich gefragt, was mit mir los ist, und meine Gedanken kreisten nur um mich. Ich war so verunsichert, ich hab schon gedacht, ich hab völlig einen an der Klatsche… ich war so… verwirrt und hab so verzweifelt darüber nachgedacht, wie das so urplötzlich sein kann, dass ich dich…“
 

Farin holte Luft. Leicht schüttelte er den Kopf, fassungslos darüber, wie er so blind gewesen sein konnte. Er hätte sich am liebsten selbst in den Arsch getreten, wenn er es gekonnt hätte.
 

„Das kam so… plötzlich! Wir sitzen da, du erzählst mir von deiner Ex und dann… traf es mich wie der Blitz! Keine Ahnung wieso und weshalb, aber… tja, so ist es. Wenn man mich das mal gefragt hätte, ich hätte das nie für möglich gehalten! Ich meine, du warst immer für mich da und so und wir haben total viel miteinander erlebt, aber… mehr so platonisch halt! Verstehste was ick meine?“
 

„Ja ja, klar“, antwortete Bela knapp. Sein Blick war an Farins Brust geheftet.
 

„Und dann… dann… ist auf einmal alles anders. Du bist anders, ich bin anders. Wie hätte ich denn mit dir umgehen sollen?“
 

Bela musste leise lachen. „Tja, mein Lieber, was meinst du wie oft ich mir diese Frage in den letzten Wochen gestellt habe!“ Und er lachte erneut.
 

Farin stutzte. Hatte er sich verhört?
 

„Hast du grade Wochen gesagt?“ fragte er ungläubig.
 

„Ich denke schon! Aber setz dich doch endlich. Ich glaube, wir haben uns verdammt viel zu erzählen.“
 

Farin nahm auf der großen Dreisitzer-Couch Platz und fühlte sich weder richtig heimisch noch richtig fremd, während Bela in die Küche ging, um Teewasser aufzusetzen. Das gibt´ s nicht! Dachte er. Ich quäl mich hier einen ab und dem armen Kerl geht´ s noch länger so als mir? Warum hat er denn nichts gesagt? Haha, du Idiot. Wahrscheinlich aus dem selben Grund wie du, du Flitzpiepe.
 

Bela kam mit einer Tasse frisch gekochten Wassers auf einem Untersetzer mit einem Teebeutel darauf in der einen Hand und einer Cola in der anderen Hand wieder ins Wohnzimmer. Er setzte sich neben Farin auf die Couch, stellte die Getränke ab und schnaufte. Farin nahm den Tee dankend an sich und begutachtete den Teebeutel.
 

„Wats´ n dette?“ fragte er neugierig.
 

„Keene Ahnung“, gab Bela knapp zurück. „Lag noch so herum.“ Er zuckte mit den Schultern.
 

Normale Menschen bewahren so was ja in Kassetten oder zumindest in der Schachtel auf, dachte Farin leicht pikiert, da fliegt das nicht einfach so herum. Aber so Banausen wie Bela würden das eh nie verstehen. Er schnupperte an dem Beutel. Aha, Schwarzer Tee.
 

„Ja, denn erzähl doch mal!“ forderte Farin Bela auf, während er den Teebeutel in die Tasse tunkte.
 

„Hm, ja, also, wo fang ich an…“ überlegte Bela unsicher. Farin musterte ihn von der Seite. Bela war ziemlich nervös, so schuljungenmäßig. Irgendwie süß.
 

„Also…“ Bela holte nochmals Luft. „Wir waren im Urlaub. War echt super, Wetter war blendend, wir waren gut gelaunt, haben viel zusammen gemacht… Essen war gut… ist ja auch immer wichtig, so was. In Marokko übrigens. Und dann kamen wir auf einer Sightseeing-Tour dann an einem Palast vorbei, der mir so seltsam bekannt vorkam. Und dann überlegte ich, woher ich den kannte. Und dann fiel mir ein, dass du mir mal Fotos gezeigt hattest von einem Marokko-Urlaub.“
 

„Schönes Land“, warf Farin ein und grinste Bela an.
 

„Ja, auf jeden Fall“, gab Bela ihm recht und sah ihn kurz an, bevor er seinen Blick wieder an die Tischplatte heftete. „Na ja und da hab ich mich halt gefragt, was du eigentlich gerade so machst und wie´ s dir geht und alles. Und dann hab ich dir ´ne MMS geschickt.“
 

„Ah ja, ich erinner´ mich, mit dem Foto von dem Palast anbei!“ ereiferte Farin sich. „Da war ich grad Kuala Lumpur unsicher machen, der Scheiß war vielleicht teuer! Weltweit SMS versenden geht echt ins Geld!“ Sie lachten beide, dann fuhr Farin fort.
 

„Du hattest mir recht schnell geantwortet, das weiß ich noch. Normalerweise bleibt so was bei dir ja immer erst mal liegen“, bemerkte Bela leicht schnippisch.
 

„Ich hatte grad ´ne Pause eingelegt und war was futtern. Wie lange ist das eigentlich schon her? Zwei Monate?“
 

„Drei“, korrigierte Bela ihn. „Knapp drei. Wir haben uns ein paar SMS hin und her geschickt und später mal telefoniert. Und es… tat wirklich gut, nach all der Zeit deine Stimme zu hören. Nun ja, und dann hab ich irgendwie festgestellt, dass ich dich… irgendwie vermisse.“
 

Bela schwieg und senkte den Blick. Farin sah ihn an und fühlte sich gerührt. So etwas gab es bisher nie. Sie hatten schon öfter eine Weile nichts mehr voneinander gehört, da sie jeder eben ein eigenes Leben führten und ihre eigenen Projekte, Freunde und Familien hatten. Irgendeiner von ihnen meldete sich aber dennoch ab und an beim anderen, der Kontakt fiel dann aber eher kurz und knackig aus. Meist so lange, bis sie beschlossen, wieder mit die ärzte weiter zu machen. Farin gab ein leises „Hm“ von sich. Er war immer froh, seine Ruhe zu haben und als einsamer Eremit sein Dasein zu fristen. Nicht, dass er nicht gern unter Menschen war, im Gegenteil. Doch er brauchte die Einsamkeit nun einmal. Sie gab ihm Kraft, zurück zu sich selbst zu finden und sein Leben bewusst zu genießen.
 

„Und dann?“ Farin wollte wissen, wie es weiterging.
 

„Und dann… musste ich recht oft an dich denken. Der Urlaub rückte immer mehr in den Hintergrund, ohne dass ich es bemerkte. Als wir zurück zu Hause waren, kam es mir plötzlich eigenartig komisch vor. Ich redete mir ein, dass ich eben unsere Band vermisste und wieder Bock hatte, mich euch Musik zu machen. Aber ganz langsam, jeden Tag ein Stückchen mehr, merkte ich, dass es nicht das war, was ich wollte. Dass es nicht sie war, die ich wollte. Ich habe dagegen angekämpft, doch es hatte keinen Sinn. Ich hatte mich von ihr entfremdet, konnte aber nicht mit ihr darüber reden, weil ich sie nicht verletzen wollte. Sie hat mir so gut getan.“ Bela seufzte wieder. „Ich hab das kaputt gemacht, nicht sie. Aber ich habe ihr die Schuld daran gegeben, weil ich dachte, dass sie der Auslöser war für meine… Flucht, wie ich es lange Zeit nannte. Man lebt sich halt auseinander, das kann vorkommen, das weißt du selbst.“
 

Farin zog eine Augenbraue nach oben. „Ich nenne es ja eher aufs Maul fliegen, das kommt nämlich weitaus öfter vor“, kommentierte er Belas Feststellung sarkastisch.
 

„Ich glaube, sie hat was bemerkt“, fuhr Bela fort. „Ich glaube nicht, dass sie ´nen anderen Kerl hatte. Sie wollte nur nicht, dass ich sie verlasse. Daher hat sie eben mich verlassen.“
 

„Nicht für ´nen Kerl verlassen oder allgemein verlassen?“ wollte Farin wissen und grinste süffisant.
 

„Ist doch egal“, erwiderte Bela barsch. „Wen interessiert das schon.“
 

Farin schielte zu Bela hinüber. Der guckte leicht sauer. Dabei war doch eher er derjenige mit dem falschen Stolz und einer unverbesserlichen Sturheit. Fiel immer auf die komischsten Menschen herein. Farin brauchte immer länger, um jemanden an sich heran zu lassen, dies hatte er Bela voraus. In Kauf nehmend, dass dadurch die eine oder andere Freundschaft wahrscheinlich nie zu Stande kam. Aber immer noch besser, als andauernd verarscht zu werden. Er hatte seinen Frieden mit sich geschlossen. Bela nicht.
 

„Auf jeden Fall hat es mich getroffen. Eigentlich wollte ich das ja gar nicht.“
 

Er schnaubte. „Eigentlich wusste ich ja nicht mal, was ich überhaupt wollte.“
 

Farin lehnte sich zurück und atmete hörbar aus. Diese Thematik kannte er von sich selbst nur zu gut. Und wie scheiße es einem dabei ging, wenn man nicht mehr wusste, wer oder was man überhaupt war, konnte er die letzten Tage mehr als genug erleben. Wenn du aufwachst, darüber nachdenkst, was den vergangenen Tag über eigentlich passiert ist, deine Welt komplett aus dem Ruder läuft und du nicht mehr weißt, ob das du bist, den du im Spiegel betrachtest oder jemand anderes… Und du in Frage stellst, ob du zuvor jemals jemanden wirklich geliebt hast, da du das Gefühl, das du nun empfindest, noch nie zuvor für jemanden empfunden hast… obwohl du weißt, dass es absurd scheint, auf einmal jemanden zu lieben, mit dem dich jahrelang eine enge Freundschaft verband, jemanden, der auch noch ausgerechnet ein Mann war, und du Männer sexuell nie anziehend fandest… Und je mehr du versuchst, deine Gefühle zu ergründen, desto schwindliger wird dir, da du dich unaufhörlich im Kreis drehst und immer schneller wirst, bis du glaubst, das Karussell nie wieder anhalten zu können…Und du weißt, je schneller es wird, umso mehr liebst du ihn…
 

Er schielte zu Bela hinüber, der nachdenklich das Colaglas auf dem Tisch langsam um seine Achse drehte.
 

„Weißt du…“ meinte Farin leise, „ich denke nicht, dass wir uns so sehr verändert haben. Wir sind immer noch dieselben. Wir haben keinen Fehler.“
 

Bela drehte den Kopf.
 

„Wie meinst du das?“ wollte er wissen und sah Farin direkt in die Augen.
 

„Na ja, ich meine, dass… man kann doch nicht über Nacht ein völlig anderer Mensch werden. Aber man verändert sich halt. Guck, du magst doch zum Beispiel heute auch nicht mehr alles, was du früher mal toll gefunden hast. Bücher, Musik, Filme, Comics, was weiß ich.“
 

„Ach nein?“ erwiderte Bela und zog eine Augenbraue hoch. „Ich hab immer noch die selben Sachen in den Regalen stehen wie damals.“
 

„Aber du beschäftigst dich nicht mehr damit. Die erste Platte, die du dir jemals gekauft hast. Hörst du sie noch?“
 

Bela überlegte kurz, um dann zu verneinen.
 

„Siehst du! Und warum? Weil deine Interessen sich geändert haben. Das muss nicht einmal unbedingt heißen, dass du die Platte heute scheiße findest. Nur eben nicht mehr gut. Und du hast dich noch nicht von ihr getrennt, weil ein Teil deines Lebens, Erinnerungen daran hängen.“
 

„Und du willst damit jetzt worauf hinaus?“ fragte Bela ungeduldig und verstand kein Wort.
 

„Ich will damit sagen, dass man sich nicht verändern muss, um anders zu sein. Okay, ohne Umschweife: du stehst auf was? Frauen. Ich steh auf was? Frauen. Eigentlich.“
 

„Und nur, weil man so mir nichts, dir nichts plötzlich Gefühle für einen Mann entwickelt, obwohl man sein ganzes Leben lang mit Frauen verkehrt hat, muss das nicht heißen, dass man plötzlich schwul oder bi oder sonst was ist.“
 

„Genau!“ Farin grinste über beide Backen. „Nicht dass das schlimm wär´ . Aber du bist immer noch du und ich bin immer noch ich. Nur dass das „Wir“ jetzt eben anders ist.“
 

„Aha“, gab Bela skeptisch zurück. „Du hast das ziemlich kompliziert aufgebauscht, aber ich versteh ´s jetzt. Und warum hast du´ s so kompliziert aufgebauscht? Weil du dich nicht getraut hast, es direkt anzusprechen.“

Bela nippte an seiner Cola.
 

„Nein, um dir vor Augen zu halten, dass sich eigentlich nichts verändert hat. Dass deine Beziehung in die Brüche ging deswegen, ist natürlich beschissen-"
 

„Ist es das?“ fragte Bela schnell und wandte sich Farin zu, der ein bisschen erschrak. Belas Augen funkelten, was Farin ein wenig zurückweichen ließ. Er verstand nicht, was Bela auf einmal hatte. Also beschloss er, ihn zu fragen.
 

„Etwa nicht? Du sagst, sie hat dir gut getan. Was also ist daran nicht beschissen?“
 

„Weil sie deinetwegen ging!“ schrie Bela und schlug mit der Faust auf die Couch, stand ruckartig auf und wand Farin den Rücken zu. Der verstand die Welt nicht mehr. Behutsam stand er auf, ging um den Tisch herum und legte Bela sanft eine Hand um die Schulter. Bela drehte den Kopf in seine Richtung, ohne ihn anzusehen. Farin kniff die Augen leicht zusammen.
 

„Du weißt, dass das nicht wahr ist. Sie ging nicht meinetwegen. Sie ging, weil du sie hast gehen lassen… meinetwegen.“
 

Bela sah ihn mit leicht geöffnetem Mund an.
 

„Und ich finde, das ist etwas, das DU dir endlich eingestehen solltest."
 

Farin sah Bela einen Moment in die Augen, bevor er sich wieder auf die Couch setzte und seinen Tee trank. Bela stemmte die Hände in die Hüften und schien den Gedanken zu verarbeiten. Dann sah er Farin an.
 

„Hey, niemand hat behauptet, dass es einfach ist oder wird. Klar ist es komisch. Aber so ist es nun mal. Wir müssen ja… nichts überstürzen. Wir haben Zeit. Das alles ist für mich genau so fremd wie für dich. Aber wir kriegen das schon irgendwie hin. Wenn wir das wollen.“
 

Farins Worte beruhigten Bela sichtlich. Der dunkelhaarige atmete mehrmals tief durch, senkte kurz den Kopf, als wolle er seine Zweifel abschütteln und begab sich dann wieder neben Farin auf die Couch. Er sah Farin einige Male unsicher an, konnte dessen Augen jedoch nicht standhalten und drehte den Kopf zur Seite.

Die Hürde, die sie zu nehmen hatte, schien auf den ersten Blick unüberwindbar, doch Farin gab sich zuversichtlich, dass es ihnen gelingen würde, sie zu meistern. Er lächelte. Sie waren ein Team, ein unschlagbares Team. Und das würden sie auch immer bleiben. So vieles haben sie schon gemeinsam erlebt, so viele Höhen und Tiefen prägten und vertieften ihre Freundschaft. Sie hatten immer ein offenes Ohr füreinander, konnten sich alles erzählen, konnten so heftig miteinander lachen und streiten und sich wieder vertragen, dass ihre Freundschaft wie aus Stein gemeißelt erschien. Ihre Gegensätzlichkeit war ihre größte Stärke. Das unsichtbare Band, das sie verband, hielt allem stand, jedem Zwist, jeder Entfernung. Es war immer da. Alles, was sie tun brauchten, war, leicht daran zu ziehen, um sich in Erinnerung zu rufen, dass sie niemals ohne die andere Hälfte sein würden. Ihre Freundschaft war schon immer mehr als das, mit Worten nicht beschreiben, für andere nicht nachzuempfinden. Brüder im Geiste, Seelenverwandte, Spiegelbilder, nur ungespiegelt.
 

Die Sentimentalität des Augenblicks überrannte Farin und veranlasste ihn, Bela in den Arm zu nehmen und fest an sich drücken. Bela erwiderte die Umarmung nach einigem Zögern, den Überraschungsmoment überwindend und sich allmählich entspannend. Farin strich ihm langsam und sanft über den Rücken, so wie er es immer tat, wenn er Bela zu beruhigen oder trösten versuchte. In 99 % aller Fälle funktionierte das. Dann löste er die Umarmung behutsam und lächelt.
 

„Du warst noch nicht fertig mit erzählen. Wir haben uns hinreißen lassen.“
 

„Hast Recht“, stimmte Bela ihm zu und lächelte ebenfalls knapp, um dann fortzufahren.
 

„Jedenfalls war das Timing von ihr eh schon beschissen genug wegen den Aufnahmen, und ich war dementsprechend nervös. Und dann kam noch hinzu, dass ich dir nach all der Zeit wieder begegnen würde…“
 

Belas Blick wurde weich, sodass Farin kurzzeitig der Atem stockte. Diesen Blick hatte er so sehr vermisst. Nach all den Auseinandersetzungen der letzten Zeit, in denen sie nur bösartige Blicke tauschten, aller Gefühle zum Trotz, wirkte jener Blick Belas wie Pattex auf Farin, und er hing an den hellen Augen des Älteren fest, als ob er sich nie wieder von ihnen lösen wollte. Er könnte versinken in diesen Augen, in ihnen baden wie im offenen Meer, bis zum Ende aller Tage…
 

„Hallo!!“ rief Bela und winkte mit der Hand direkt vor Farins Gesicht herum. Dieser zuckte leicht zusammen. „´schuldige“ nuschelte er knapp und bat Bela, fortzufahren.
 

Bela errötete leicht. „Ich will´s gar nicht wissen“, gab er zu verstehen und setzte erneut an.
 

„Jedenfalls, der Moment, dich wiederzusehen… ich hatte ein bisschen Angst davor. Ich mein, wie sollte ich regieren? Was sollte ich sagen? Zum Glück war alles ganz normal, bis wir dann abends nach dem Essen noch spazieren gingen. Aber ich genoss diese Vertrautheit so.“
 

„Ja, ich auch“, stimmte Farin ihm zu und schwelgte in seinen eigenen Erinnerungen an jenen Abend. Wie sie einfach nur stumm nebeneinander her gingen, die Nähe und Anwesenheit des anderen genießend.
 

„Und dann das mit der Kette.“
 

Farin schluckte. Es war genau dieser Moment, der ihm seine Gefühle für Bela offenbarte. Er erinnerte sich daran, als sei es eben erst geschehen. Wie die Kette im Licht der Scheinwerfer des Parks glänzte, wie Bela seine Hand auf Farins legte. Er versetzte sich ganz tief in diesen Augenblick hinein. Wie sonderbar angenehm diese Berührung doch war, wie warm und vertraut Belas Hand. Wie sein Herz aufgeregt zu schlagen begann, wie er sich innerlich zusehends verkrampfte, sein Blut in den Ohren rauschen hören konnte. Und wie er bei der Feststellung all jener Tatsachen erschrak, Belas Hand von sich stieß und nur noch weg wollte, da sein Körper verrückt zu spielen schien. Doch da war es bereits zu spät. Alles hatte sich mit einem Mal verändert. Seine Flucht war zwecklos, denn egal wie oft oder wohin er floh, seine Gefühle für Bela holten ihn ein und ließen ihn nicht entkommen, bis er eine erneute Gelegenheit zur Flucht bekam. Er wusste noch, wie er nur noch nach Hause wollte, bloß weg von Bela, in der Hoffnung, es würde wieder aufhören. Doch das tat es nicht. Ganz im Gegenteil.
 

Er fand sich in einem Flashback wieder, als er Belas Hand auf seiner spürte. Diesmal aber hielt sie sie umklammert, sodass er sie nicht wieder einfach zurückziehen konnte. Farin sah Bela an, die Entschlossenheit in seinem Blick hatte etwas Unheilvolles an sich, doch Farin hielt wie gebannt den Atem an.
 

„Ich wollte es dir sagen. Ich hatte all meinen Mut aufgebracht und war entschlossen, es zu tun. Aber du bist einfach abgehauen.“
 

Farin senkte schuldbewusst den Blick. Es hätte also alles ganz anders verlaufen können. Mit dem Unterschied, dass dann Bela derjenige gewesen wäre, der sich zuerst offenbart hätte. Vielleicht aber auch nicht, denn Farins Gefühle waren in jenem Moment noch ganz frisch. Farin wünschte sich in ein Parallel-Universum, wo er den alternativen Verlauf des Geschehens hätte mit ansehen können. Aber nur von außerhalb. Noch mal das alles durchmachen – nee!
 

Bela hatte es verdient, dass er jetzt auch ehrlich war. Also war er es. Seelenstriptease-like. Er hasste solche Momente. Da fühlte er sich immer blank bis auf die Knochen, komplett gläsern. Es gab kaum Schlimmeres für ihn. Aber da musste er jetzt durch, seufzte er.
 

„Ja, wie soll ich sagen… also das war eigentlich der Moment, wo es Klick gemacht hat. Aber ich weiß nicht, woher das auf einmal kam! Es überrannte mich förmlich, so plötzlich wie das alles war… war es die Berührung oder die zurückkehrte Vertrautheit oder alles von dem oder was ganz anderes… ich weiß es einfach nicht. Aber ich erschrak vor mir selbst, ich war so überfordert mit der ganzen Situation… ich musste einfach weg.“
 

Bela nickte abschätzig und verzog die Mundwinkel. Jetzt hält er mich bestimmt für einen Feigling, dachte Farin. Was ja auch stimmte, irgendwie. Aber den Fluchtinstinkt konnte er nicht unterdrücken, er musste dem erst einmal auf den Grund gehen, was ja auch lang genug dauerte. Oh, die Besuche von Hallu-Bela. Die musste er unbedingt für sich behalten. Das geht gar nicht. Das war ja Klapsmühlen-reif. Wie „Fear and Loathing in Las Vegas“ – nur ohne die Drogen.
 

Aber dann nickte Bela, leicht, aber bestimmt. „Ich glaub, ich verstehe das. Ich war aber trotzdem sauer. Du Arsch hast den ganzen Abend kaputt gemacht.“
 

Farin seufze. „Ick weeß, ick weeß. Es tut mir ja Leid. Ich hab auch kaum geschlafen in der Nacht.“
 

„Ich weiß, du hast diesen Song geschrieben.“
 

Farin erstarrte. „Du… du hast ihn gelesen?“ fragte er ungläubig. Bela schmunzelte.
 

„Selbstverständlich hab ich das! Ich fand ja die ersten Zeilen schon so schön, die ich bei dir zu Hause gelesen habe. Und, ehrlich gesagt, hab ich insgeheim gehofft, dass das mir galt. Irgendwas hat nicht mehr gestimmt mit dir, just ab diesem Moment im Park. Hältst mich für blöde, was?“
 

„Du hast es gewusst?!!“ rief Farin erstaunt aus, während Bela grinste. „Ja, aber ich wollt´s von dir hören. Was heißt gewusst, ich hab es… geahnt. Vielleicht aber auch nur gehofft.“ Geheimnisvoll wie immer, der Gute. Farin konnte es nicht fassen. War er tatsächlich so leicht zu durchschauen? Er kämpfte diesen langen, erbitterten Kampf mit sich, und Bela wusste die ganze Zeit, wie er ausgehen würde?
 

„Solange du dir selbst gegenüber nicht eingestehen konntest, dass es so ist, hätte es keinen Sinn gemacht, dich damit zu konfrontieren“, gab Bela knapp zur Antwort. Und Farin musste ihm Recht geben.
 

„Wie ist es dir eigentlich ergangen? Hattest du auch so ´nen inneren Zwiespalt?“ fragte Farin schnell, weil er keine Lust hatte, näher auf sein Gefühlschaos einzugehen.
 

„Klar hatte ich den. Aber ich war viel ruhiger dabei. Ich war viel spazieren, um nachzudenken. Ich hab niemanden zusammengebrüllt oder so.“ Bela hob die Brauen leicht und nippte an der Cola, während er ein wenig zu Farin hinüber schielte. Der musste sein.
 

Farin konnte sich ein Augenrollen nicht verkneifen. „Ich weiß, das war nicht grad die feine englische. Aber ich konnte nichts dagegen machen.“
 

„Und da blieb dir nichts anderes übrig, als mich zum Teufel zu wünschen.“
 

Farin spürte einen Kloß im Hals, als er sich an diesen Moment zurückerinnerte. Wie konnte er nur…? Wie konnte er zulassen, dass sein Mund diese Worte jemals aussprach? Er hasste sich so sehr für diesen Moment. Noch nie zuvor hatte er jemals etwas derartiges zu Bela gesagt. Und Bela war daraufhin so verletzt, dass er Farins Haus fluchtartig verließ und ihm per Mailbox die Freundschaft kündigte.
 

„Das… war natürlich…“ druckste Farin herum, auf der Suche nach den passenden Worten. Doch Bela kam ihm zuvor.
 

„Ist schon okay“, beschwichtigte er, „vergeben und vergessen. Du hast in dem Moment wahrscheinlich einfach nicht gewusst, was du da sagst.“
 

„Wie jetzt, einfach so…?“ fragte Farin mit ungläubigem Staunen. Er schrie Bela entgegen, dass er ihn nie wieder sehen wollte, er aus seinem Leben verschwinden sollte und er nie wieder etwas mit ihm zu tun haben wollte – abgesehen davon, dass das natürlich überhaupt nicht stimmte – und er verzieh ihm das einfach so? Farin schüttelte den Kopf. Oh Mann Bela. Du bist echt viel zu gut für diese Welt.
 

„Ach, es bringt doch nichts, sich jetzt an so was aufzuhängen“, tat Bela die

Situation leichtmütig ab. „Ich hab mich ja auch nicht grad vorbildlich verhalten und auch fiese Sachen gesagt. Also was soll´ s. Einigen wir uns auf ein unentschieden.“
 

Farin zuckte mit den Schultern. „Wenn du meinst“, sagte er und beließ es dabei. Die Albumaufnahmen jedoch waren seitdem von fortwährenden Streitereien begleitet, über deren Ursache sie jeden im Unklaren ließen.
 

„Und dann wurde es richtig mies“, begann Bela schnell ein neues Thema, um das Gespräch nicht abebben zu lassen und um zu verhindern, dass sie erneut begonnen, sich im Kreis zu drehen.
 

Die Stimmung zwischen ihnen sank in bodenlose Abgründe, und sie konnten nicht anders, als sich gegenseitig anzugiften, selbst wenn ihre Freunde und Arbeitskollegen dabei waren, auch wenn sie darauf achteten, ihre Attacken gut zu tarnen. Diese Gefühlskälte, die zwischen ihnen herrschte, zwei Menschen, die sich im Grunde ihres Herzens liebten, doch nun nicht mehr gewillt waren, ihren Gefühlen freien Lauf zu geben, da sie die Hoffung aufgegeben hatten, begraben in einem eisernen, kalten Sarg tief unter der Erde, wo kein Licht und keine Wärme hin drang, und wo man sie schnell vergessen sollte. Doch sie konnte sich befreien, als Farin sich überreden ließ, mit seinen Freunden auszugehen und sie in dieser Rockerkneipe abstürzten. Sie kroch hervor, blinzelte im Sonnenlicht, das sie wärmte und das sie nicht mehr gewohnt war, und beschloss sich auf den Weg zurück zu Bela zu machen. Farin wollte sie aufhalten, doch er vermochte es nicht, zu groß war die Sehnsucht, zu groß war die Qual, direkt neben seinem besten Freund zu stehen und doch entfernter von ihm zu sein als jemals zuvor. Farin konnte diesen Zustand nicht ertragen, er hasste sich dafür, was er Bela angetan hatte, selbst wenn dieser darauf beharrte, dass dies nicht mehr von Belang sei. Sein gequälter Gesichtsausdruck war Bela nicht entgangen.
 

„Du wolltest diesem Typen echt eine aufs Maul hauen, oder?“ fragte er neugierig und lehnte sich zu Farin hinüber, seine Augen suchten die des blonden Gitarristen.
 

Dieser erschrak leicht, da er so abrupt aus seinen Gedanken gerissen wurde, sah Bela an und versuchte schnell, den Gesprächsfaden wieder aufzunehmen.
 

„Ich… keine Ahnung. Kann sein. Wahrscheinlich hätt´ ich ´s gemacht. Der hat mich eh angekotzt. So ein Pisser. Ich musste das alles mal irgendwie rauslassen, und da kam er mir irgendwie recht. Auch wenn er nichts für mein Dilemma konnte.“
 

„Er hat dich dumm angemacht“, ergriff Bela für Farin Partei und sein Blick wurde ernst. „Da wäre ich nicht so lang ruhig geblieben. Der Typ hat es verdient.“
 

„Du hattest recht viel Alk intus, dass deine Hemmschwelle gesunken war, ist ja klar“, entgegnete Farin leicht von oben herab. Er hatte nie die Erfahrung gemacht, was der Alkohol oder Drogen mit Menschen machen konnte, wenn sie zu viel davon konsumiert hatten. Er konnte auch so partyschwul sein, wenn er es wollte. Da brauchte er keinen Blockadenbrecher, die Selbstsicherheit wohnte ihm einfach inne. Aber er hatte Achtung davor, wie Bela mitten in einer Rockerkneipe, umgeben von beinharten Typen, die mit Sicherheit die eine oder andere Kerbe in den Kühler ihres Motorrades geritzt hatten, einem großen bärigen Kerl in Lederkluft eine einschenkte. Ob er das auch gemacht hätte, wenn er nüchtern gewesen wäre?, fragte Farin sich, war sich der Antwort jedoch ziemlich sicher. Auch Bela hatte an jenem Abend einen Sandsack gebraucht, an dem er seinen Frust abbauen konnte, soviel stand fest. Und er hat den Preis dafür bezahlt: eine Platzwunde, die medizinisch versorgt werden musste. Farin konnte erneut seine Samariter-Fähigkeiten unter Beweis stellen, wenn auch gegen Belas Willen. Zumindest anfänglich. Später nicht mehr. Im Gegenteil.
 

Farin wurde warm. Er merkte, wie er leicht zu schwitzen begann und schielte aus den Augenwinkeln zu Bela hinüber, der immer noch rechts neben ihm saß und ihn musterte. Und als ob er Gedanken lesen könne, fasste Bela sich leicht an die Stirn, an die Stelle, wo er die (scheiße verdammt noch mal harte) Kopfnuss abbekam. Er wendete seinen verlegenen Blick von Farin ab und schwieg.
 

Farin sah ihn nun offen an. Wie er dort saß, den Kopf von Farin abgewandt, die Hände verkrampft ineinander gelegt, der Adamsapfel hüpfte aufgeregt auf und ab.
 

„Wieso?“ fragte Farin leise, eine gewisse Heiserkeit lag in seiner Stimme, und er schluckte den Rest der Frage hinunter. Bela wusste sicher auch so, was er meinte. „Ich dachte, du…“
 

Bela drehte seinen Kopf zu ihm hinüber. „Du dachtest, ich was?“
 

„Ich dachte, du wolltest, dass ich verschwinde“, antwortete Farin noch leiser, und die Achterbahn in seinem Kopf setzte sich wieder in Gang. Er spürte, wie heftig sein Herz klopfte, als er an diesen einen ganz bestimmten Moment zurück dachte, als er Belas Handgelenke umklammerte, ihn aufs Bett warf und über ihm gebeugt war. Er erinnerte sich an Belas schnellen, heißen Atem, daran, wie er dessen Alkoholgeruch ignorierte, weil es ihm scheißegal war, und er nicht einmal genau wusste, was er da eigentlich tat. Er entsann sich Belas Nervosität, seiner Unruhe, und doch war er gespannt auf das, was passierte. Farin musste schlucken, als der Moment in seinem Kopf auftauchte, wie er sich dabei ertappte, dass er Bela unentwegt auf den Mund starrte, der leicht geöffnet war und doch nicht sprach. Und als die Gedanken ihren Höhepunkt annahmen, wo Farin sich so weit zu Bela hinunter geneigt hatte, dass er dessen Atem auf seinem Gesicht spüren konnte, ihre Gesichter sich beinahe berührten und sie sich, nach einem allerletzten zaghaften Zögern, endlich küssten, verlor er beinnahe die Beherrschung, als er in einem harten Kampf den Impuls unterdrückte, jenen Moment zu wiederholen. Ruckartig zog er sich zurück, atmete tief ein und aus, zwang seinen gesamten Körper zur Beruhigung und starrte an einen von ihm bestimmten Punkt an die Decke. Das war knapp. Noch einmal würde das sicher nicht funktionieren.
 

Bela übergang Farins inneren Zwist kommentarlos und versuchte die Schamesröte in seinem Gesicht rückgängig zu machen. „Wollte ich… doch gar nicht“, stotterte er schließlich, und seine Augen jagten hin und her, bis sie an Farin hängen blieben. „Das heißt, ich wollte schon… aber… eigentlich auch nicht…“
 

Sie schwiegen. Obwohl sie sich einander offenbart hatten, taten sie sich mit der Umsetzung ihrer … Beziehung?... noch sichtlich schwer. Dies alles kam so… unerwartet, beide waren sie nicht darauf vorbereitet, und nie im Leben hätten sie es sich träumen lassen, dass man trotz lebenslanger heterosexueller Neigung nach 30 Jahren Freundschaft Liebe für einen Mann empfinden kann. Und wie oft hatte Farin versucht, diese plötzliche 180-Grad-Drehung zu verstehen. Warum erst jetzt? Warum ein Mann? Warum in diesem Moment? Warum nicht schon früher? Fragen, Fragen, Fragen, die seinen Kopf beinahe zum Zerbersten brachten, als ob man zu viel Luft in einen Luftballon bläst. Er hatte noch nicht die geringste Ahnung, wie das künftig ablaufen sollte. Wie würden sie einander künftig begegnen? Begrüßung per Handschlag, Umarmung oder Kuss? Händchen haltend nebeneinander her laufen oder nicht? Süßholzgeraspel oder neutrale Unterhaltungen? Lang und tief in die Augen sehen, sich berühren, einander sagen, wie viel er einem bedeutet? Dass man nie wieder ohne ihn sein will? Dass man den Rest seines Lebens mit ihm verbringen will?
 

Farin wedelte die Gedanken innerlich mit einem großen Fächer beiseite und tat sie als zu frisch ab. Haut ab, ihr komischen Fragen, woher zum Geier soll ich das denn wissen? Es kommt sowieso wie es kommt. Das wichtigste jetzt war Zeit. Sich Zeit nehmen, sich Zeit geben. Bloß nichts überstützen. Ruhig angehen.
 

Farin schnaufte. Mann, dass solche Gefühlssachen auch immer so kompliziert sein mussten. Mach ich was falsch, warum mach ich was falsch, was ist überhaupt falsch, bla bla. Abhauen jetzt. Bela redet sich grad alles von der Seele und ich häng hier meinen Monologen nach. Los, zisch ab. Mann ey.
 

„Äh, was hast du gesagt?“ fragte Farin dann, als er zurück in der Gegenwart war, weil er völlig den Faden verloren hatte. Er ertappte sich dabei, dass ihm das peinlich war und sein Gesicht leicht erhitzte. Bela guckte böse.
 

„Jetzt hör mal auf mit dem Scheiß und hör mir zu, Alter! Mir ist das verdammt wichtig!“ schalt er den Größeren und atmete empört laut aus. „Normalerweise laberst du einem immer die Ohren ab, du kannst mir jetzt ruhig auch mal zuhören.“
 

„Hör DU uff mir zusamm´zuscheißen, Mann, ick hab´s ja kapiert!“ nölte Farin noch empörter.
 

Kurze Stille, kleines Augen-Duell. Die alten Kabbeleien halt. Ein kurzer angriffslustiger Blick. Dann Frieden.
 

„Weißt du…“ druckste Bela herum, „eigentlich… wollt´ ich´ s dir echt schon früher sagen. Aber… irgendwie hatte ich dann trotzdem etwas Angst. Ich hab im Nachhinein nochmal drüber nachgedacht, und ich wusste einfach nicht, welche Auswirkungen das haben würde. Das war mir zuvor auch irgendwie gar nicht bewusst. Die Aufnahmen zum Album, unsere ganzen Freunde herum… das war irgendwie ´ne Scheiß-Atmosphäre für so was. Vielleicht war´s besser so.“
 

Farin erinnerte sich an ihre Streitereien damals auf der Toilette und im Gang des Studios. Gott, was sie sich da für Sachen an den Kopf geworfen hatten! Farin musste aus einem Impuls heraus den Kopf schütteln. Aber gleichzeitig kamen viele Fragen in ihm auf.
 

„Aber du hast du nich´ die janze Zeit jesacht, dass du nur… befreundet sein willst? Und dass du befürchtest, wir könnten keine Freund mehr sein und so weiter?“ hakte Farin nach und war schon sehr auf die Antwort gespannt. Er beobachtete, wie Bela tief Luft holte und den Blick ein wenig senkte. Der Drummer musste schlucken und schien sich seine Antwort gut zu überlegen. Nun war quasi der Moment der Wahrheit hereingebrochen, aus dem es kein Entrinnen mehr gab. Farin verkniff sich den Zusatz, dass er auf Belas unstete Verhaltensweise genauso gut hätte verzichten können wie anders herum, ließ es aber sein, da er Sticheleien in jenem Moment für nicht sehr angebracht hielt.
 

Bela atmete noch einmal tief durch, bevor er langsam und zögerlich antwortete:

„Mir ist bewusst, dass mein Verhalten die letzten Tage dir gegenüber auch nicht sehr fair gewesen ist. Um nicht zu sagen, absolut scheiße. Aber ich wusste selbst nicht mit dieser neuen Situation umzugehen. Ich wollte unbedingt genauso mit dir befreundet sein wie früher, aber ich hatte Angst davor, dass sich alles grundsätzlich ändern würde, wenn wir… ein Paar würden oder so was.“
 

Farin nickte stumm. Diese Überlegung kannte er von sich selbst nur zu gut. Wieder einmal hatte er den Beweis dafür, dass sie genau gleich tickten, zumindest in vielerlei Hinsicht. Sie hatten sich über die Jahre etwas aufgebaut, das einem Bollwerk glich, ein Bollwerk namens Freundschaft. Und dieses Bollwerk wollte keiner von ihnen gefährden. Die Befürchtung, dass sich ihre Beziehung zueinander ändern würde, bereitete ihnen beide große Sorgen (Farin schüttelte es innerlich bei dem Gedanken, dass er und Bela dauerturtelnd und Händchen haltend durch den Park schlendern würden, sich immer wieder verträumt ansehend, küssend, keine guten Gespräche mehr führend… uärks. Und dann dieses ganze Pärchengelaber. Also mein Schatz ist ja total süß. Wirklich. Ich verstehe gar nicht, wie ihr das nicht nachvollziehen könnt. *knutsch* Gott, ich hab schon wieder eklige Tagträume) und daher überlegten sie genau und intensiv, ob es das wert sei, ob sie dieses Risiko eingehen wollten, dass das Bollwerk Risse bekommen oder gar einstürzen könnte.
 

Auch wenn sie beide nicht wussten, was nun aus diesem Bollwerk werden würde, sie wagten den Schritt, den Sprung ins kalte Wasser. Zu groß war ihre Sehnsucht nacheinander, und wer weiß wie sehr ihre Freundschaft vielleicht darunter gelitten hätte, dass sie sich ein Leben lang nachtrauern würden. Möglicherweise hätten sie einander gemieden, um den Schmerz nicht noch zu vergrößern. Oder zumindest den Kontakt nur aufs Allernötigste beschränkt. Frohes Neues, Happy Birthday, fröhliche Weihnachten. Drei SMS im Jahr. Klar wäre das unweigerlich das Aus für DDBDW gewesen. Die Frage nach dem „Warum“ wäre für alle Zeiten unbeantwortet oder aus einer Notlüge heraus frei erfunden gewesen.
 

Je länger Farin darüber nachdachte, desto mehr war er davon überzeugt, das richtige getan zu haben. Er konnte spüren, wie eine tonnenschwere Last einfach von ihm abgefallen war, wie sein Gemütszustand sich besserte, und das war ein gutes Zeichen. Wenn er die Augen schloss und in sich hinein hörte und fragte „Hab ich alles richtig gemacht?“ konnte er ruhigen Gewissens „Ja, hast du“ darauf antworten. Naja, nicht immer und nicht von Anfang an, aber so insgesamt betrachtet auf jeden Fall. Eine wunderbare Zeit stand ihnen bevor, das wusste er. Und er wollte sie genießen, sie auskosten bis zum allerletzten Moment. Bis er sterben würde. War es das? Bis zum Ende aller Tage mit diesem einen Menschen? Aller möglichen Entbehrungen zum Trotz? Nie gemeinsame Kinder? Oder Enkel? Immer mit Vorurteilen konfrontiert werden, schief angeguckt werden, sich verteidigen, erklären, ja sogar rechtfertigen müssen? Die Reaktionen von Familie, Freunde, Fans (sollte jemand irgendwie davon erfahren)ungewiss?
 

Farin würde sich ihnen allen am liebsten gegenüberstellen und ihnen laut und deutlich ins Gesicht sagen: „Wisst ihr was? Mir scheißegal, was ihr davon haltet oder wie ihr darüber denkt. Interessiert mich nicht. Hat es nie. Wer jetzt nicht zu mir oder zu uns stehen kann, tat es nie aus voller Überzeugung. In solchen Momenten zeigen sich erst die wahren Freunde.“
 

Bela blickte geistesabwesend vor sich hin, seine Miene drückte Besorgnis und auch ein klein wenig Furcht aus. Ihn schienen dieselben Gedanken zu quälen, doch Farin lächelte und drehte Belas Kopf mit dem Zeigefinger sanft in seine Richtung, bis sie einander ansahen.
 

„Mach dir keine Gedanken“ sagte Farin sanft und lächelte. „Es wird endlich alles gut werden.“
 

Bela rang sich ebenfalls ein Lächeln ab, senkte dann aber wieder den Blick und blickte wieder nachdenklich drein. „Das sagst du so einfach. Aber wie wir nun unseren Freunden und Familien gegenüber agieren sollen, wissen wir immer noch nicht.“
 

„Erst mal gar nicht“, erwiderte Farin und blickte ein wenig ernster drein. „Ich hab nicht vor, dass sofort jedem unter die Nase zu reiben. Das geht niemanden was an.“
 

„Die, die uns gut kennen, werden es merken. Und dann werden sie fragen. Ist es nicht besser, damit gleich reinen Tisch zu machen? Damit das Gerede gar nicht erst aufkommt? Wir stecken immer noch mitten in Albumaufnahmen.“
 

Farin konnte Belas Argumente verstehen, war aber nicht derselben Meinung. „Ich stell mich doch nicht dahin und schrei, Heeey, wir sind jetzt zusammen, nur damit ihr´s wisst.“
 

„Du bist ´ne Knalltüte“, kommentierte Bela Farins Ausbruch. „Auf die Art hätte ich das sicher nicht vorgehabt. Mehr so… die wichtigsten zur Seite nehmen, ruhig und sachlich mit ihnen reden und gut ist.“
 

Farin staunte nicht schlecht über Belas Vorschlag. „Ähm… dein Ernst? Oh, Rod, sorry dass wir´ s dir nicht zuerst gesagt haben, aber das war Belas Idee.“
 

„Fick dich doch!“, rief Bela empört, was Farin zum Lachen brachte. „Na schön, sagen wir´ s ihm zuerst. Wann? Wo? Wie? Wir müssen weitermachen mit dem Album.“
 

„Heute nich“, antwortete Farin. „Ick finde, wir ham heute genug gequatscht. Das war jetzt anstrengend genug. Ich brauch ne Pause“. Er ließ sich in die Lehne der Couch hinein sinken und schloss erschöpft die Augen. Sofort schaltete sein gesamter Körper einige Gänge herunter und er fühlte sich sogar ein wenig ermattet. Klar, der Schlafmangel der letzten Tage, die Aufregung, der ewige Streit mit Bela... und nun saß er hier und konnte das erste Mal seit Tagen wieder völlig entspannen. Er fühlte sich wohl, war glücklich. Der Albtraum war endlich beendet. Sein Kopf war völlig leer, seine Gedanken schliefen, er hörte nur auf das monotone, ruhige Pochen seines Herzens und fühlte, wie bei jedem Ein- und Ausatmen sich sein Brustkorb hob und senkte. Und dann fühlte er noch etwas und zuckte ein wenig zusammen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  poisonsis
2012-09-12T17:50:41+00:00 12.09.2012 19:50
Ich habe deine Geschichte gerade eben entdeckt und finde sie absolut klasse! Besonders gefällt mir, dass du das ganze Gefühlschaos der beiden so deutlich machst und welche Auswirkungen dieses auf ihre Freundschaft hat. Sehr realistisch! Freu mich schon auf mehr :)
Von:  Yuki-chii
2012-09-07T00:47:40+00:00 07.09.2012 02:47
Wow, das war mal ein langes Kapitel :D
Ich bin nun erleichtert, dass die beiden sich wieder vertragen haben.
Auch bin ich jetzt ziemlich gespannt, wie es weitergehen wird *o*
Ich werde bestimmt auch mal bei FF.de wieder reviewen. Denn ich könnte deine Story tausendmal durchlesen und mir würde es nicht langweilig werden. Es macht einfach so viel Spaß diese FF zu lesen, da sie so schön realistisch geschrieben ist :)

lg Yuki


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