I'd Take You Away (Taichi)
gebatet byTweetl
~ Taichis POV ~
Blut.
Überall Blut.
Schockiert starrte ich hinunter zu Yamato, der benommen auf dem Boden saß, den Rücken gegen die Wand gelehnt. Sein ganzer Körper zitterte, aus den blauen, rot geschwollenen Augen, flossen die Tränen. Seine rechte Hand umklammerte eine glänzende Klinge. Im Gesicht klebte die rote Flüssigkeit, war in breiten Bahnen über Mund und Nase verteilt. Durchsichtiger Rotz durchbrach den roten Streifen.
Mein Herz pochte unglaublich laut. Wie betäubt starrte ich zu ihm hinunter. Meine Kehle kratzte, als ich seinen Namen sagte:
„Yamato?“
Er reagierte nicht. Vorsichtig ging ich auf ihn zu, wollte nicht, dass er sich unnötig erschreckte oder in Panik verfiel. Aber es passierte sowieso nichts, noch immer starrte er apathisch ins Nichts.
Gerade als ich mich vor ihm auf die Knie sinken ließ, flog die Türe zu den Toiletten mit einem lauten Knall auf und Shusuke rannte zu mir, kam schlitternd zu Stehen und atmete heftig. Er hob den Kopf, strich sich das wirre schwarze Haar aus der Stirn. Einen kurzen Moment war sein Blick ungläubig. Seine braune Augen wanderten über das Bild, das sich im bot. Sogen es auf.
Dann schrie er verspätet auf und wich zurück.
Yamato zuckte zusammen, atmete hektisch aus und ein und presste sich an die kalte Wand hinter ihm. Er sah umher, doch über seiner Iris lag ein milchiger Schleier und er nahm weder mich noch Shusuke wirklich wahr. Dieser kam zögernd zu mir und stellte sich neben mich, immer darauf bedacht, nicht in Berührung mit dem Blut zu kommen. Mir war es egal, mit einem Blick hinunter bemerkte ich, dass auf meiner Hose etliche rote Flecken zu sehen waren.
Egal.
„Was ist mit ihm?“, fragte Shusuke.
„Ich… er…“, unfähig mehr zu sagen, stockte ich und zu sah zu Yamato hinunter. Mein Engel, mit gebrochenen Flügeln, zerrissen und verzweifelt. Er wimmerte leise. Zaghaft rutschte ich näher, legte die Hände auf seine Schultern und schüttelte ihn sanft. Nach einem Augenblick der Regungslosigkeit, fing er unerwartet an sich zu winden und traf mit einem unbewussten, aber heftigen Tritt mein Schienenbein. Direkt unter der Kniescheibe. Sofort begann es zu schmerzen, aber ich ignorierte das heiße Pochen, packte Yamato fester. Seine Gegenwehr erstarb, er zog langsam die Beine an den Körper und presste die Stirn gegen die Knie. Die Hand, die die besudelte Klinge umklammerte, umfasste zitternd den zierlichen Knöchel, hinterließ rote Streifen.
Die blassen Lippen bewegten sich stumm, Tränen rannen über seine Wangen.
„O mein Gott, o mein Gott …“, wiederholte Shusuke neben mir seinen leisen Singsang, kniete sich letztendlich doch neben mich und schluckte hörbar. „Wir… wir müssen etwas tun!“
„… was?“, meine Stimme klang hohl. Tonlos. In meinem Innern tobte es, Verzweiflung, Angst und Panik schwammen an der Oberfläche und paddelten ans Ufer, packten mich und zogen mich in die dunkle Tiefe. Am liebsten hätte ich geschrieen, geweint und getobt, aber mein Gesicht schien eine schwere Maske zu sein, die ich nicht abnehmen konnte. Mein Verstand wehrte sich dagegen, mein Stolz versperrte den Ausweg.
„Die Krankenschwester, den Direktor, einen... einen Lehrer holen – irgendwas!“, sagte Shusuke aufgebracht und fuhr sich durch die Haare. Unter seinen Augen waren dunkle Ringe. „Er verblutet oder… oder sonst was! Jetzt komm schon, Tai!“
Ich sah hinunter zu Yamato und zog ihn vorsichtig an mich. Er wehrte sich nicht, einen Augenblick später merkte ich, dass er ohnmächtig war. Die Klinge rutschte aus seiner Hand und fiel mit einem scheppernden Geräusch zu Boden, störend und hoch klang der Ton in meinen Ohren nach. Ich wollte danach greifen, es an mich nehmen und wegschmeißen. Weit weg von Yamato, damit er nie wieder so etwas tun konnte.
Aber meine Hand regte sich nicht.
Stattdessen presste ich seinen regungslosen Körper an mich und sah wieder zu Shusuke. Er sah genauso verzweifelt aus, wie ich mich fühlte. Nervös kaute er auf seiner Unterlippe, die braunen Augen fuhren fiebrig im Raum umher, schienen nach einer passenden Lösung zu suchen.
„Die werden ihn in die Irrenanstalt stecken, wenn wir ihn zur Krankenschwester bringen“, sagte er nach ein paar Sekunden unruhig. „Das geht nicht. Wir… kann dein Dad nicht einen Arzt beschaffen?“ Fragend sah er zu mir, in meinem Innern ratterte es.
„Ja“, sagte ich dann monoton. Shusuke machte eine hektische Handbewegung und erhob sich, tigerte im Raum auf und ab, wartete, bis ich Yamato behutsam hochgehoben hatte, und schnappte sich seine Sachen. Yamatos Handgelenk rutschte gegen meine Brust und ich konnte das warme Blut spüren. In mir kam der Gedanke auf, dass wir eigentlich etwas machen mussten, um die Blutung zu stillen, aber mir fiel nicht ein, was. Panisch suchte ich in meinem Kopf nach der Antwort, aber ich fand keine.
Mein Blick huschte zu meinem Gegenüber, aber dieser schien völlig fertig mit den Nerven. Er bedeutete mir, ihm zu folgen und verließ rasch den Raum. Ich drückte Yamatos Körper an mich.
Ich hatte das Gefühl, ein Kind zu tragen, so leicht war er. Kurz musterte ich ihn, während ich Shusuke durch die verlassenen Gänge hinterher eilte. Sein Gesicht war blass, die Unterlippe leicht bläulich, das Blut glitzerte purpurrot auf seinem T-Shirt. Die Atmung wurde flach.
Und blieb aus.
…
„Tai!“
Erschrocken hob ich den Kopf und sah in das besorgte Gesicht meiner kleinen Schwester. Hikari saß neben mir auf dem Fußboden, zusammen mit Shusuke hatten wir uns vor dem Gästezimmer positioniert, indem sich ein Arzt um Yamato kümmerte. Shusuke hatte seit unserer Ankunft in unserem großen Haus kein Wort mehr gesagt, mit bleichem Gesicht und fest aufeinander gepressten Lippen starrte er zu Boden. Auf Hikaris Frage, ob er vielleicht etwas zu Trinken haben wolle, hatte er nicht geantwortet. Er war nur regungslos an der Wand zu Boden gerutscht und hatte in den drei Stunden, in denen wir hier schon saßen, kein einziges Mal seine Haltung geändert.
Ich hingegen rutschte immer wieder unruhig hin und her, konnte nicht still sitzen. In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken, ich konnte keinen von ihnen richtig fassen, und doch schwirrten die permanenten Bilder vor meinem inneren Auge umher. Das Blut. Yamatos blasses Gesicht. Die Klinge. All das, und noch so viel mehr. Ich konnte sie nicht abschalten, immer wieder suchten sie mich heim. Als ich eben gerade kurz eingenickt war, musste ich auch davon geträumt haben.
Ich warf meiner Schwester einen kurzen Blick zu, sie sah schon wieder an mir vorbei zur Tür.
„Du hast gezittert“, sagte sie nach einer Weile nur, wie als wollte sie erklären, weshalb sie mich so unsanft aus meinen Gedanken gerissen hatte. Ich war ihr dankbar dafür, aber das sagte ich ihr nicht. Sie wusste es selbst.
Ich glaubte, Schritte hinter der Türe zu hören und riss den Kopf herum. Auch Hikari starrte zur Tür. Die Stimmen dahinter wurden lauter, ich glaubte, einige Wörter verstehen zu können, aber dann verstummten sie, hinterließen die gleiche Stille, die schon davor zwischen uns geherrscht hatte.
Die kalte Unsicherheit umklammerte mich mit festem Griff, lieferte mich wehrlos der Panik und Verzweiflung aus.
Wieso hatte Yamato sich das nur angetan? Es hätte so viel schlimmer ausgehen können. Möglicherweise hätten wir ihn erst viel später gefunden. Oder wir hätten ihn überhaupt nicht gefunden. Wäre Shusuke nicht auf die Idee gekommen, Yamato doch noch zu suchen, um sich bei ihm zu entschuldigen, obwohl Yuri gesagt hatte, dass es zwecklos sei, hätte er Stunden dort gelegen. Bewusstlos, vergessen und allein. Elendig verblutet und niemand da, der ihn retten könnte.
Vielleicht hat er genau das gewollt.
Nein, nein. Das konnte nicht sein. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass das wirklich Yamatos Absicht gewesen war. Natürlich steckte dieses Motiv häufig hinter einem Selbstmordversuch, aber wer sagte denn, dass es auch einer gewesen war? Vielleicht war er mit der Selbstverletzung einfach nur zu weit gegangen. Vielleicht hatte er nicht an die Konsequenzen gedachte. Vielleicht… Aber er konnte das nicht gewollt haben.
Er durfte das nicht gewollt haben.
Ich hatte bemerkt, dass im Hause Ishida nicht alles so lief, wie es eigentlich sollte. Yamato fühlte sich sichtlich unterdrückt, hatte eine unausgesprochene hohe Wut gegenüber seinem Vater und Bruder in sich, welche schon seit Jahren heran wuchs, loderte und fauchte. Takeru bekam davon nichts mit, dazu war ein wenig zu naiv, aber dennoch schien auch er angespannt und unruhig. Aber niemand griff deswegen zu solchen Mitteln, ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass es so schlimm war. Die beiden waren nicht dumm, wenn es zu weit ginge, hätten sie schon miteinander darüber geredet.
Oder nicht?
Schließlich war Yamato vernünftig und intelligent, er würde es sich zwei Mal überlegen, ob er so etwas Leichtsinniges tat. Er hatte zwar gesagt, dass er sich damals selbst verletzt hatte, aber… ich hatte nie angenommen, dass es solche Ausnahme annehmen würde. Wieso sollte er solch einen Ausweg suchen? Es gab so viele andere Möglichkeiten, Probleme zu regeln. Darüber zu reden, Hilfe zu suchen, es aufzuschreiben. Irgendetwas – aber nicht das. War es eine Kurzschlussreaktion von Yamato gewesen, weil er einfach mit der Wut nicht mehr klargekommen war? Aber woher kam dann plötzlich die Klinge?
Er konnte sie unmöglich auf dem Schulhof oder im Gebäude gefunden haben, ich wusste, dass dort so etwas nicht herum lag, der Hausmeister gehörte zu meinen Freunden. Dennoch konnte ich mich nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass die Klinge wahrscheinlich schon die ganze Zeit bei Yamato in der Tasche gelegen hatte, auf der Lauer, wartend darauf, dass ihr Besitzer zusammen brach.
Und ihr Wunsch war in Erfüllung gegangen.
„Ich… ich hätte nie gedacht, dass so was mal passiert“, flüsterte Shusuke plötzlich. Er war noch immer unglaublich blass und wandte den Blick nicht vom Teppich ab. „Ich hab das immer im Fernsehen gesehen oder Freunde haben’s mir erzählt. Aber jetzt… ich dachte eigentlich, dass die tote Katze auf dem Bürgersteig das Schlimmste sein würde, was ich je sehen würde.“ Seine Mundwinkel hoben sich nach oben und er stieß ein trockenes Lachen aus. „Wer hätte gedacht, dass ich mich so irren konnte?“
Die braunen Augen richteten sich auf mich.
„Ja“, sagte ich lahm, wusste nicht, was ich sonst erwidern sollte und sah auf meine Hände.
„Es wird schon alles wieder gut werden“, sagte Hikari aufmunternd und stupste mich leicht an, aber ich reagierte nicht darauf. Sie hatte es schon öfters gesagt, immer in der Absicht, die unangenehme Spannung zwischen uns zu entladen, aber es war ihr nicht gelungen. Es war nur ein Standardsatz, sie wusste genauso wenig, wie es um Yamato stand wie wir.
Wahrscheinlich sogar noch weniger.
Sie war erst auf dem Parkplatz zu uns gestoßen. Ihr Unterricht begann heute erst eine Stunde später und zusammen mit ein paar Freundinnen hatte sie vor den Autos gesessen und gelacht. Die Stimmung aller fünf Mädchen hatte sich schlagartig geändert, als Shusuke und ich auftauchten.
Ich legte Yamato behutsam auf die Rückbank, während Shusuke unsanft die Mädchen abwehrte, auf meine Aufforderung hin, jedoch Hikari zu uns ins Auto ließ. Sie war kreidebleich geworden, als sie Yamatos blutbeschmiertes Hemd gesehen hatte, riss einen großen Streifen von ihrem T-Shirt ab und band es hektisch um sein Handgelenk, um die Blutung zu stillen. Da erst fiel mir wieder ein, dass wir das wohl als Erstes hätten tun sollen, als wir ihn fanden. Aber zu diesem Zeitpunkt war mir jegliches Denken schwer gefallen.
Ich wandte mich ab und fuhr nach Hause.
Unterwegs rief Hikari bei Mum an, informierte sie über die Situation und trug ihr auf, einen Arzt zu rufen. Danach schrieb sie Takeru eine SMS, dicke Tränen kullerten dabei über ihre Wangen. Es nahm sie sehr mit und fast beneidete ich sie dafür, dass sie ihre Emotionen so offen zeigen konnte. Mein Stolz stand vor verschlossenen Türen und ließ mich nicht hindurch, in meinem Magen begann es unangenehm zu zwicken. Erst als wir vor der Türe hielten und Dr. Desplat, unser Hausarzt, uns eilig ins Gästezimmer brachte, konnte ich es verdrängen. Der stämmige, braunhaarige Mann, Mitte vierzig, scheuchte uns sogleich wieder aus dem Raum hinaus und uns blieb nichts anderes übrig, als zu warten.
Und nun saßen wir hier.
Mein Steißbein schmerzte, mein Kopf pochte, der heiße Schmerz in meinem Schienenbein war zu neuem Leben erwacht. Ich wünschte mir eine Kopfschmerztablette, eine eiskalte Dusche, ein warmes Bett und ein sorgenfreies Dasein, aber nichts davon geschah. Die leise Hoffnung, dass Yamato unbeschadet wieder aufwachen würde, schwand von Sekunde zu Sekunde und erfüllte mich mit einer eigenartigen Leere, die ich nicht vertreiben konnte.
Wieder ertönten laute Schritte, diesmal von der Treppe.
Takeru kam auf uns zu gerannt, mit geröteten Wangen und verschwitzter Kleidung, stoppte schlitternd seinen Lauf und stützte die Hände auf die Knie. Während er nach Atem rang, sah er verständnislos von einem zum anderen, sein Blick blieb an mir hängen.
„Was…?“, war das Einzige, was nach einer halben Ewigkeit seinen Mund verließ, begleitet von einem lauten Keuchen. Ich blickte fragend zu Hikari, wusste nicht, wie viel sie Takeru offenbart hatte. Ich konnte nicht einfach so mit der Tür ins Haus fallen, Takeru würde vor Schreck und Sorge in Ohnmacht fallen. Glücklicherweise übernahm Hikari das Reden.
Sie strich sich elegant eine Haarsträhne hinters Ohr und setzte ihr gütigstes Lächeln auf, das wohl aufmunternd und fröhlich wirken sollte. Auf mich wirkte es gestellt, traurig und ratlos.
„Tai hat Yamato verletzt in der Schule gefunden“, sagte sie. „Wir haben ihn sofort hier her gebracht. Ein Arzt kümmert sich gerade um ihn.“
„Hier her?“, fragte er mit rasselndem Atem. „Wieso habt ihr ihn nicht in ein Kranken… O nein.“ Erkenntnis flackerte in den hellen Augen auf und mit einem entsetzen Gesichtsausdruck taumelte Takeru rückwärts, prallte gegen die gegenüberliegende Wand und rutschte kraftlos an ihr zu Boden. Er zog die Beine an, wie sein Bruder ein paar Stunden zu vor, und vergrub den Kopf in den Händen.
„TK, es ist alles gut. Es wird schon nicht so schlimm sein“, versicherte Hikari ihm, machte vorsichtig einen Schritt auf ihn zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Er schien es gar nicht zu bemerken. Aus geröteten Augen sah er zu mir auf und seine nächsten Worte waren direkt an mich gerichtet.
„Er hat es selbst getan, nicht? Er war nicht nur ´verletzt´.“
Ich nickte stumm.
Sofort zog Hikari scharf Luft ein und warf mir einen bösen Blick zu, aber ich wusste nicht, weshalb ich es ihm nicht sagen sollte. Wenn er schon von selbst darauf kam, konnte ihn ja nicht davon abbringen. Es schien ihn zwar zu schockieren, aber nach ein paar Minuten wurde mir klar, dass er damit gerechnet hatte. Irgendwann. Dennoch war die Tatsache, dass es so früh passierte, entsetzlich.
„Ich wusste es“, flüsterte Takeru wie zur Bestätigung meiner Gedanken. „Er kann es also doch nicht einfach so wegstecken.“ Er seufzte und rieb sich mit den Handballen über die Augen. Hikari tätschelte ihm tröstend die Schulter. Eine Geste, wie ich bemerkte, die nicht nur dazu dar war, um ihm zu helfen, sondern um Nähe zu schaffen, die sie wollte.
„Wann kann ich ihn sehen?“
„Keine Ahnung“, meldete Shusuke sich aus dem Hintergrund leise, seine Stimme klang ungewohnt tief und rau. Überrascht wandte ich mich ihm zu, aber sah mich nicht an. Wieder fixierte er den Boden. „Wir warten schon seit Stunden und der Arzt kommt immer noch nicht raus. Vielleicht gibt es auch gar keinen Grund dazu.“
„Shusuke!“, rief Hikari entrüstet, Takeru zuckte zusammen. Er krallte die Finger in die Ärmel seines Pullovers.
„Was? Glaubst du etwa ernsthaft daran, dass er jetzt noch lebt?“
Er klang gelassen, gleichgültig. Kalt.
„Natürlich“, erwiderte sie, aber sie schien nicht selbst von ihrer Aussage überzeugt.
Shusuke schnaubte verächtlich.
„Haltet endlich die Klappe!“, fuhr ich sie an, bevor Hikari zu einer bösen Erwiderung ansetzten konnte. „Er wird da drinnen nicht sterben, kapiert? Es gibt überhaupt keinen Grund dazu, hier jetzt so Trübsal zu blasen, Shusuke!“
Beide sahen mich ratlos an.
Ich biss mir auf die Unterlippe und sah weg.
Ich wollte jetzt nicht von ihnen hören, dass es zu spät war. Yamato war… er war das, was ich in meinem ganzen Leben immer gewollt hatte. Egal ob Junge oder Mädchen, egal ob ich schwul oder hetero gewesen wäre, ich hätte ihn genommen, so oder so. Er war das Bild in meinem Kopf, mit dem ich abends einschlief und morgens wieder aufwachte. Er war das leise Lachen in meinen Gedanken, dass ich hören konnte, wenn ich mich missgelaunt fühlte. Er war die Stimme in mir, die mir Mut machte, wenn ich an mir zweifelte. Selbst als ich noch nicht einmal seinen Namen gekannt hatte, hatte ich ihn verehrt und all seine beiläufigen Berührungen nach unserer Bekanntschaft, hatten ein unglaubliches Feuer in mir entfacht.
Es störte mich nicht mehr, dass er mich zappeln ließ. Es störte mich auch nicht, dass er meine Anmachversuche nicht einmal zu bemerken schien. Nicht einmal die Tatsache, dass er möglicherweise eine etwas labilere Psyche hatte, schreckte mich ab.
Ich war noch nie in meinem Leben so… so verknallt gewesen. Er konnte jetzt einfach nicht sterben!
Plötzlich schwang die Türe auf.
Ich zuckte zusammen, sah aus den Augenwinkeln, dass es meinen Freunden nicht anders erging und blickte hinauf zu dem Mann, der durch den Türrahmen schritt. Sein schütteres Haar fiel ihm strähnig in die Stirn, die Brille auf seiner Nase war verrutscht und zerkratzt. Der weiße Kittel wirkte lächerlich über der Jeans und den Turnschuhen. Dennoch verlieh ihm das Stethoskop und der kleine Koffer das nötige Aussehen, um Respekt einzuflößen.
Hinter meiner Mutter sah er jedoch schäbig aus. Sie trug ein champagnerfarbenes Kleid, das braune, lange Haar hatte sie kunstvoll nach oben gesteckt und ihre Augen waren in einem dezenten Rosa geschminkt, das auf abstruse Art zu ihrer Kleidung passte. Die goldenen Spangen in ihrem Haar harmonierten mit den Arm- und Ohrringen.
Hastig rappelte ich mich auf, fuhr mir durch das Haar und sah abwartend von ihm zu meiner Mutter. Sie lächelte freundlich, während das Gesicht von Dr. Desplat eine undurchdringliche Festung war.
„Es geht ihm gut“, sagte er schließlich, wie als hätte er erst just in diesem Moment entdeckt, dass eine Horde Jugendlicher ungeduldig vor ihm stand und ihn anstarrte. Ein allgemeines Aufseufzen hallte durch den Gang, die Erleichterung kam in einer riesigen Welle angerollt und spülte über uns alle hinweg. Mein Herz setzte einen Moment aus, bis es wieder regelmäßig zu schlagen begann. Yamato lebte. Es ging ihm gut.
O Gott, danke!
„Allerdings braucht er jetzt Ruhe und muss sich erholen. Wenn Sie ihn unbedingt sehen wollen, dann immer nur einer, höchstens zwei. Es wird so schon anstrengend genug für ihn sein.“
„Jetzt?“, fragte Takeru atemlos. Er verhakte nervös die Finger ineinander, trat von einem Fuß auf den anderen. Es war nur allzu offensichtlich, dass er auf der Stelle zu seinem Bruder rennen würde, egal ob mit oder ohne der Erlaubnis des Arztes.
„Was jetzt?“, wiederholte Dr. Desplat verwirrt.
„Können wir ihn jetzt schon sehen?“
Der Dr. sah Takeru nachdenklich an, musterte ihn von oben bis unten und nickte dann zögernd, bevor er sagte: „Aber nur, wenn Sie leise sind und Rücksicht auf ihn nehmen. Der arme Junge ist vollkommen fertig.“ Er lächelte noch einmal kurz Mum und Hikari an, dann verabschiedete er sich mit einer dezenten Handbewegung und schritt den Flur entlang, die Treppe hinunter und verschwand. Sofort waren alle Blicke auf Mum gerichtet.
Sie lachte nervös.
„Ich würde mal sagen, Takeru und Taichi gehen zuerst, was?“, sie sah Hikari und Shusuke an, beide schienen etwas niedergeschlagen. Aber sie sagten nichts dagegen und Mum trat einen Schritt beiseite. Augenblicklich war Takeru an ihr vorbei geschossen. Ich zögerte einen Moment, bis ich ihm folgte und leise die Türe hinter mir schloss. Ich hatte nicht erwartet, gerade mit Takeru bei Yamato zu sein. Jegliche Berührungen, die mehr bedeuten könnten, waren nun tabu.
Als ich den Raum durchquert und mich zu den beiden gesellt hatte, saß Takeru unruhig auf der Bettkante und hielt Yamatos Hand umklammert. Yamato selbst hatte die Augen geschlossen und machte den Anschein, als würde er schlafen. Das Bild wurde jedoch sogleich zerstört, als er langsam die Lider hob und die trüben, blauen Iriden von Takeru zu mir huschten. Er fixierte mich verwirrt und verzog den Mund, bis ihm wieder einzufallen schien, was vorgefallen war.
Sofort wurde er noch blasser.
„Hey“, sagte ich mit hohler Stimme und lächelte ihn an. Yamatos Gesicht blieb ausdruckslos. Er wandte sich ab und sah hinauf zu seinem Bruder, der überglücklich neben ihm saß, seine Hand hielt und grinste. Getrocknete Tränenspuren waren auf seinen Wangen zu sehen, bei ihrem Anblick verzog Yamato erneut den Mund.
„Wieso bist du hier?“, fragte er. Ich war etwas überrascht, dass dies seine erste Frage war und auch Takeru schien es nicht anders zu ergehen. Doch er fasste sich schneller als ich, rieb fahrig mit dem Daumen über Yamatos Handinnenfläche, das Lächeln in seinem Gesicht flackerte.
„Hikari hat mich angeschrieben. Ich hab dem Lehrer gesagt, mir geht’s nicht so gut und bin abgehauen. Es hat ´ne Ewigkeit gedauert, hier her zu rennen, aber ich hatte keine Zeit für den Bus“, erzählte er knapp. Seine Augen leuchteten.
„Du solltest wegen so etwas Lächerlichem nicht die Schule schwänzen“, rügte Yamato ihn leise und versuchte sich aufzurichten. Weder ich noch Takeru unternahmen einen Versuch, ihn davon abzuhalten, obwohl er seinen Arm sicherlich noch nicht so belasten durfte. Yamatos Worte hatte die Leere in mir zum Tosen gebracht, ich glaubte meinen Ohren nicht. Takeru zog neben mir scharf Luft durch die Zähne und ließ die Hand seines Bruders los. Stand ruckartig auf.
Verwirrt hob Yamato den Kopf.
„Was ist…?“
„Wegen so etwas Lächerlichem?“, wiederholte Takeru laut. „Meinst du das ernst, Yamato?“
Ich hatte noch nie gehört, dass Takeru den Namen seines Bruders ganz aussprach. Yamato selbst schien zu merken, dass er etwas Falsches gesagt hatte. Unbewusst zog er die Decke höher, sein Blick streifte meinen. Unsicherheit stand in den blauen Augen.
„Ich meinte doch nur, dass du…“, fing er an, aber erneut ließ ihn Takeru nicht ausreden.
„Hast du sie noch alle?“, rief er aufgebracht und Yamato zuckte zusammen. „Du hättest sterben können, verdammt noch mal! Da ist doch wohl nicht zu viel verlangt, wenn ich einmal bei dir sein will, oder? Ich hab mir Sorgen um dich gemacht und du willst mir ernsthaft sagen, dass das lächerlich war? Dass dein beschissener Selbstmordversuch lächerlich war?!“ Er rauchte vor Zorn. Seine Wangen waren gerötet, Blitze schossen aus den blauen Augen und erstachen ihr Ebenbild.
Diese starrten irritiert zurück, die blassen Lippen ungläubig geöffnet.
„Takeru, ich wollte doch nur…“
„Was?! Was wolltest du?“, fauchte Takeru zurück und trat einen Schritt auf ihn zu. Ich packte seinen Arm, wollte ihn zurück ziehen, aber er schüttelte mich ab. Das Ganze schien mir etwas zu Privat, als dass ich mit anhören dürfte, doch ich konnte einfach nicht gehen. Schließlich schrie eine leise Stimme in meinem Innern danach, den Grund für Yamatos Tat zu erfahren. „Wolltest endlich mit all dem Mist abschließen und einfach so Sang- und Klanglos verschwinden? Oder wolltest du doch eher ein bisschen Aufmerksamkeit erhaschen?“
„So war es nicht“, antwortete Yamato, die Lippen nun fest aufeinander gepresst. Auch er schien mit sich zu hadern, ich konnte die Wut in seinen glasigen Augen lodern sehen. Einen Moment verspürte ich das unbändige Verlangen, auf ihn zuzugehen und ihn in die Arme zu nehmen, doch ich widerstand ihm. Er hätte es nicht gewollt.
„Wie war es denn dann?“
„Das…“, Yamato stockte und sah grimmig zu Boden. „Das verstehst du nicht.“
„Wie soll ich es denn auch verstehen, wenn du mir nie etwas erzählst?!“, sagte Takeru aufgebracht und warf die Hände in die Luft. Mir wurde klar, dass er genau auf das die ganze Zeit hinaus gewollt hatte. „Verdammt noch mal, wieso hast du mir nicht einfach gesagt, dass du alleine damit nicht fertig wirst? Kannst du nicht einmal deinen scheiß Stolz überwinden? Ist es so schwer, mit anderen Menschen darüber zu reden? Ich bin dein Bruder, Yama, du hättest doch zu mir kommen können! Was hast du dir dabei gedacht? Ich meine… wieso?“ Seine letzten Worte waren nur noch ein leises Hauchen. Entkräftet ließ er sich wieder auf die Bettkante sinken und sah zu seinem Bruder.
Yamato erwiderte seinen Blick nicht. Kurz huschten die blauen Augen zu mir, fast hatte ich den Eindruck, er bat mich um Hilfe, aber er wandte sich zu schnell wieder ab. Vorsichtig setzte ich mich an sein Fußende, wollte nicht so verloren mitten im Raum herum stehen. Als Yamato die Bewegung der Matratze spürte, zog er die Beine an und schlang die Arme um die Knie. Umklammerte das linke Handgelenk, welches sich, eingebunden mit dem schneeweißen Verband, kaum von seiner blassen Haut abhob.
Er gab ein leises Wimmern von sich.
Takeru streckte die Hand nach ihm aus, zog sie jedoch unschlüssig wieder zurück und sah zu mir. Ich zuckte mit den Schultern.
Ein unangenehmes Schweigen breitete sich zwischen uns aus und auch wenn ich mir wünschte, dass es endlich aufhörte, wusste ich doch nichts, was ich hätte sagen können. Meine Zweifel lagen mir wie schwere Steine im Magen, ließen mich heftig schlucken. Yamato starrte regungslos auf seine Decke. Takeru seufzte ab und zu, sah zu seinem Bruder, zu mir und wieder zu seinem Bruder.
Und er war es letztendlich, der das Schweigen brach.
„Es ist wegen Mum, oder?“, sagte er leise.
Yamato schüttelte stumm den Kopf.
„Aber… weswegen dann?“, fragte Takeru verwirrt und richtete sich auf. Ich hatte ein ungutes Gefühl. Ich wollte nicht hören, was Yamato als nächstes sagte, aber ich konnte mein Gehör nicht abschalten.
„Das geht dich nichts an.“
Wie in Zeitlupe kam Takerus Reaktion.
Zuerst zuckte sein linker Mundwinkel, ungläubig, verwirrt. Dann weiteten sich die blauen Augen vor Schreck und er sprang auf, öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, und schloss ihn wieder. Unschlüssig stand er vor seinem Bruder, sah fassungslos auf ihn hinunter und raufte sich immer wieder die Haare.
„Du bist unglaublich“, sagte er schließlich und sah sauer zu Yamato hinunter. „Du bist einfach unglaublich!“
Yamato erwiderte nichts.
„Wie kannst du so was sagen? Ich bin dein Bruder, verdammt! Wenn es mich nichts angeht, wenn denn dann? Tai, weil er dir immer so schöne Augen macht?“, wutentbrannt deutete er auf mich und ich konnte ein leichtes Zusammenzucken nicht verbergen. Die ganze Zeit war ich aus ihrem Streit heraus gehalten worden, jetzt so plötzlich hinein gezogen zu werden, behagte mir nicht. Erst Recht nicht die Anspielung, die er auf meine Gefühle machte. „Ich kann einfach nicht glauben, dass du so… so dumm sein kannst! Du hättest sterben können! STERBEN, Yamato!“ Er ballte zitternde die Fäuste und sah zu seinem Bruder, ich konnte sehen, wie sehr er sich jetzt nach einer provozierenden Antwort sehnte. Er wollte den Streit, um endlich all das heraus zu lassen, was sich all die Jahre angestaut hatte.
Ich wollte nur noch hier weg.
Yamato hob langsam den Kopf und sah ihn gleichgültig an. Seine wortlose Antwort war provozierend, ja, aber offensichtlich nicht auf die Art und Weise, die Takeru sich erhofft hatte. Mit einem letzten lauten Schrei und einem wüsten Ausdruck gegen Yamato, drehte er sich auf den Absätzen um und stürmte aus dem Raum. Die Türe fiel krachend ins Schloss und Yamato zuckte zusammen.
Ich saß da, regungslos, angespannt, in der leisen Hoffnung, dass er mich einfach vergessen hatte und ich gehen konnte. Er rührte sich nicht, aber erst nach einer Weile wurde mir klar, dass er mich sehr wohl bemerkt hatte. Vorsichtig kletterte ich zu ihm ins Bett und krabbelte umständlich zu ihm nach vorne, er reagierte nicht. Auch nicht, als ich direkt neben ihm saß.
„Er hasst mich“, sagte er plötzlich und mein Herz blieb vor Schreck stehen.
„Wen meinst…?“
„Takeru“, unterbrach er mich aufgewühlt. „Ich hätte das nicht sagen sollen!“
„Wieso hast du es dann getan?“, fragte ich nach, schallte mich im nächsten Augenblick jedoch für diese dumme Frage. Yamato schien es mir glücklicherweise nicht übel zu nehmen.
Zum ersten Mal, seit ich bei ihm war, sah er mich wirklich an und sein Blick ging mir durch Mark und Bein. Die blauen Augen waren glasig, ob vor Tränen oder den Schmerzmitteln, die ihm Dr. Desplat gegeben hatte, wusste ich nicht. Auf den Wangen waren die letzten Blutspuren zu sehen, die blassen Lippen ein dünner Strich.
Ich schluckte trocken.
„Was hätte ich denn sagen sollen?“, erwiderte er und fuhr sich mit zitternden Händen durchs blonde Haar. Wirr stand es vom Kopf ab, an den Spitzen glitzerte es rot. „Es würde ihm nur noch mehr Sorgen bereiten.“
Ratlos sah ich zu ihm.
„Yama, ich hab keine Ahnung, wovon du sprichst“, gestand ich ehrlich und war froh, als seine Mundwinkel leicht zuckten. Ein trauriges Lächeln, aber es ließ ihn schon viel gesünder wirken.
„Er kam gestern zu mir und wollte etwas über Mum wissen“, erzählte er leise. „Ganz normale Dinge. Wie sie war und so, er kannte sie schließlich kaum. Ich wollte ihm eigentlich gar nichts sagen, aber ich hab’s doch getan. Aus Dummheit. Ich hätte wissen sollen, dass die Frage kommt.“
„Welche Frage?“
„Wie sie gestorben ist“, antwortete Yamato. „Dad kann sich an seine eigene Lüge nicht halten und erzählt manchmal, dass sie einen Gehirntumor hatte. An anderen Tagen ist sie allerdings auch bei der Fehlgeburt des dritten Kindes verblutet. Oder ein Herzinfarkt! Ich hab Takeru gesagt, dass es unwichtig ist, aber er hat keine Ruhe gegeben. Erst als ich ihn mit diesem dummen Fotoalbum abgelenkt habe, ist er gegangen. Ich wollte ihm sein Bild von Mum nicht zerstören, er… er liebt sie.“
Unbehaglich rutschte ich hin und her, wusste nicht, ob ich es wagen konnte, eine gewisse Frage zu stellen, oder nicht. Wenn Yamato sie schon seinem kleinen Bruder nicht beantwortet hatte, wieso sollte er es dann bei mir tun? Ich starrte auf seinen Kopf, wich erschrocken zurück, als er meinen Blick erwiderte. Die fein geschwungenen Augenbrauen trafen sich für einen Moment über der Nasenwurzel, dann seufzte er leise.
„Eine Kugel in den Kopf. Sofortiger Tod“, sagte er, in seiner Stimme ein undefinierbarer Unterton.
„Wa—?“
„So ist sie gestorben. Sie hat sich mit einer Pistole in den Kopf geschossen. Sie war sofort tot. Ich hab sie damals gefunden, weil ich den Knall gehört habe. Takeru wurde von Dad im Gang aufgehalten und hat nie das Zimmer betreten. Er kann sich kaum noch an diese Nacht erinnern“, sagte Yamato, aber zum Ende hin wurde er immer leiser. „Also weiß er es auch nicht. Und das ist gut so. Deshalb hab ich das zu ihm gesagt.“
Wortlos starrte ich ihn an.
Mir fiel nicht ein, was ich dazu hätte sagen können. Ich wollte ihm gerne mein Beileid aussprechen, aber dann erinnerte ich mich daran, wie dumm ich mich dabei immer fühlte und wie sehr ich es selbst hasste, wenn es jemand tat, und schwieg. Yamato schien das ebenfalls mehr zu gefallen, denn er entspannte sich sichtlich. Sein Blick glitt aus dem Fenster, streifte kurz mein Gesicht.
Meine Wangen glühten. Betont lässig sah ich an ihm vorbei, in meinem Kopf schwirrten die Gedanken unruhig umher. Ich konnte keinen von ihnen fangen, war mir nicht einmal so sicher, ob ich das überhaupt wollte. Jetzt über seine Worte nachzudenken, erschien mir falsch.
Ich blickte wieder zu Yamato und stellte bestürzt fest, dass er weinte.
Stumm rannen die Tränen über seine geröteten Wangen, während er die Lippen fest aufeinander presste und jegliche Laute unterdrückte. Erschrocken schnappte er nach Luft, als ich die Arme um ihn schlang und ihn an mich zog. Er wehrte sich nicht, aber er war steif wie ein Brett. Alles in mir schrie danach, ihn einfach wieder loszulassen und jetzt zu gehen. Die letzte Möglichkeit dazu am Schopf zu packen, bevor es zu spät war und ich mich so tief hinein geritten hatte, dass ich nicht mehr hinaus kam.
Aber ich hörte ihnen nicht zu.
Sanft streichelte ich ihm übers Haar, registrierte glücklich, wie sich seine dünnen Arme um meinen Hals legten und er sich an mich drückte. Heiß tropften seine Tränen auf mein T-Shirt, ich konnte spüren, wie sich der Stoff an meiner Haut festsaugte. Sein rasselnder Atem strich unregelmäßig über mein Schlüsselbein, jagte mir einen warmen Schauer nach dem nächsten über den Rücken. Vergessen waren die anderen, die wartend vor der Türe standen. Vergessen war der heftige Streit zwischen Takeru und Yamato.
Glücklich vergrub ich mein Gesicht in dem blonden Haar. Yamatos berauschender Eigenduft, gepaart mit dem beißenden Geruch von Schweiß, Desinfektionsmitteln und Blut. Obwohl es nicht die schönste Mischung war, schwebte ich auf Wolke sieben. Sein zitternder Körper schmiegte sich ergeben an mich und ohne groß darüber nachzudenken, zog ich ihn auf meinen Schoß und lehnte mich an das Kopfende.
Er seufzte leise auf und sein Atem entspannte sich, letztendlich stoppte der Tränenfluss und alles was die entstandene Stille durchbrach, war sein gelegentliches Schniefen.
„Taichi?“, fragte er nach einer Weile.
„Hm?“, machte ich schläfrig. Ich wollte die wunderbare Situation nicht durch unnötiges Gerede zerstören, war dabei, mir alles genau einzuprägen, falls es das letzte Mal gewesen sein sollte – was ich natürlich nicht hoffte. Ich fühlte mich so wohl wie noch nie zuvor in meinem Leben.
„Was meinte Takeru mit >weil er dir so schöne Augen macht<?“
„Also… hm“, ich stockte. Ehrlich gesagt war mir nie in den Sinn gekommen, dass Yamato sich das merken würde. Ich hatte angenommen, dass er von dem anderen viel zu mitgenommen war, um sich daran zu erinnern, aber ich hatte mich deutlich geirrt. Was sollte ich jetzt dazu sagen? „War… ist das nicht offensichtlich?“
Yamato löste sich vorsichtig von mir, viel zu schnell, wie es mir vorkam. Fragend sah er zu mir auf, die sinnlichen, blassen Lippen einen Spalt geöffnet.
Gott, wie gerne würde ich ihn jetzt küssen…
„Du… hm, magst mich?“, fragte er unsicher.
Ich lachte, erlag dem Impuls, ihm durch die Haare zu streichen. Er verfolgte jede Bewegung meiner Finger mit den Augen, aufmerksam und irritiert zugleich.
„Viel mehr als mögen, Yama“, sagte ich und fühlte mich plötzlich unglaublich erleichtert, als es gesagt war. Jetzt wusste er es und ich musste mich nicht mehr verstellen.
Endlich.
Yamato sah zu mir, kaute auf seiner Unterlippe herum und zuckte dann mit den Schultern.
„Okay“, sagte er.
„Was okay?“
„Es ist okay“, sagte er und lächelte mich an. Mein Herz schlug heftig gegen meinen Brustkorb. „Ich mag dich auch.“
Part XII
END
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Himmel, das letzte Update ist wirklich schon viel zu lange her. Es tut mir leid, aber irgendwie... momentan gibt's bei zu viel Fußball, zu viel sinnlosen Unterricht (der glücklicherweise bald zu Ende ist), zu viel Freundestress und schlechten Sommer (mal ehrlich, das ist doch kein Sommer!). Aber ich möchte mich hiermit seeeehr bei Tweetl bedanken, die das schon so schnell und schön gebatet hat und es lag allein an mir, dass es trotzdem so lange gedauert hat--Vergebung n.n
Ein riesiges Dankeschön an all die Leser und ein noch größeres an meine treuen Kommentatoren, ohne euch wäre das alles nur halb so schön ;) UndTaylor: der Parental Impact ist näher als du denkst! (da warte ich auch schon drauf <3)
Ich kann nur hoffen, dass es nicht zu schnulzig/kitschig/was auch immer an manchen Stellen war, denn bei diesem Kapitel... nun, ich arbeite auf mein persönliches Lieblingskapitel hin, deswegen :]
Als Überbrückung bis zum nächsten Mal lade ich wahrscheinlich einen OS von den beiden hoch (so schnell es geht ;]), wer will, kriegt Bescheid, wenn er da ist. Zwar über Taito, aber nicht in Zusammenhang mit AYW.
Vielen Dank fürs Lesen und Warten, hoffentlich auf Bald ;)
Alles Liebe
Nikolaus