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Adventskalender 2011

Eine Kurzgeschichtensammlung
von

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Türchen 19 - Der Fremde

Tanja sah zum Fenster hinaus. Wieder dieser Mann, der seit Tagen schon vor ihrem Gartenzaun stand und zu ihrem Haus hinüber sah. Die alte Frau wischte sich die Hände an der geblümten Schürze ab, die sie trug. Vielleicht wartete der Kerl nur darauf sie zu überfallen oder in ihrer Abwesenheit einzubrechen. Seit ihr Mann vor drei Jahren verstorben war, fühlte sich Tanja zunehmend unsicher. Nicht nur das. Die Arbeit mit dem Haus wuchs ihr langsam aber sicher über den Kopf. An Disziplin hatte ihr es nie gemangelt, es lag eher an der fortschreitenden Arthrose in den Knien und den Fingern, die es schwierig machte, den Haushalt zu schaffen. Geistesabwesend betastete sie den goldenen Ring an ihrem Finger, während ihr Blick hinaus in den Hof schweifte. Es schneite seit Tagen winzige Flöckchen, die es jedoch nie länger als einige Stunden schafften eine dünne Schneedecke zu bilden. Gestern hatte Tanja die Kerze für den vierten Advent angezündet, bald würde es Heiligabend sein.

Sie holte den Plätzchenteig aus dem Kühlschrank und mehlte die Arbeitsfläche ein, bevor sie selbigen dort gleichmäßig ausrollte. Den halben Nachmittag verbrachte die alte Dame damit Weihnachtsgebäck zu backen und mit viel Liebe zu verzieren. Wie jeden Abend trank sie dann noch eine Tasse Holunderpunsch und ging dann zeitig ins Bett.

Als sie am nächsten Morgen in die Küche kam fiel ihr sofort wieder der bärtige Mann vor ihrem Fenster auf. Ihr Unbehagen wuchs weiter, denn diesmal griff er nach der Klinke der Gartentür. Tausend Gedanken rasten der alten Frau durch den Kopf. Er wird herein kommen und mich ausrauben! Er wollte sicher nur wissen, ob ich alleine wohne und ob ich regelmäßig Besuch bekomme. Was mache ich nur?

Das Klingeln an der Haustür ließ Tanja zusammen zucken. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sollte sie aufmachen? War sie im Alter schon so hysterisch geworden, dass sie jeden für einen Verbrecher hielt? Die Alte beschloss, dass man trotzdem kein Risiko eingehen sollte, holte die schwarze, gusseiserne Bratpfanne hervor, schob sich das Hauskleid sowie den Dutt zurecht und schritt todesmutig zur Haustür. Mit fahrigen Händen schloss Tanja auf.
 

»Wer sind Sie?«, fragte die Alte skeptisch

»Ich heiße Thomas Klein. Sind Sie Tanja Jacob?«

»Ja das bin ich. Aber wieso haben Sie mich tagelang beobachtet, bevor Sie hier läuten?«

»Das tut mir Leid. Ich habe mich einfach nicht getraut«, verteidigte sich der Mann, der sich als Thomas vorgestellte hatte.

»Was gibt es sich da zu trauen? Was wollen Sie von mir?«, erwiderte die alte Dame ungerührt.

»Ich hab mich nicht getraut, weil ich nicht wusste wie ich es sagen soll – aber ich bin dein Sohn, den du vor vierzig Jahren zur Adoption freigeben musstest«
 

Tanja fiel die Pfanne aus der Hand. Thomas, ihr kleiner Tom, den sie damals auf Drängen ihrer Eltern abgeben hatte müssen. Sie hätte nie gedacht ihn jemals wieder zu sehen. Ihre Beine gaben unter ihr nach, doch Thomas fing sie auf. »Es tut mir Leid, ich wollte nicht so mit der Tür ins Haus fallen«, entschuldigte er sich. »Lass gut sein. Ich bin so froh, dass du mich gefunden hast. Wir haben uns viel zu erzählen und ich habe wahrscheinlich noch mehr zu erklären«, flüsterte Tanja.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Evilsmile
2011-12-19T16:31:05+00:00 19.12.2011 17:31
Rührend...Das ist nicht einfach wenn man seine leibliche Mutter nach 40 Jahren kennenlernt...
Die alte Frau und auch ihre Ängste hast du sehr gut beschrieben, so gut dass ich am Ende sehr positiv überrascht war.^^ Wobei sie fast älter wirkt ist als sie ist, oder mir kommts nur so vor...



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