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Juli 1970

Pathologie eines Philologen
von

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Die Erkenntnis von Richtig und Falsch

Während des kurzen Fluges über die Bucht sammelte Michael die Wolken um sich, aber es war ihm eigentlich egal, ob er gesehen wurde. Es war der Abend der Engelsnacht, und man würde ihn ohnehin für einen Einfall der Stadtverwaltung halten.
 

Gingers Balkon war leicht an den Glasscherben zu erkennen, die dort noch immer lagen, und er fühlte die Gegenwart des jungen Mannes noch bevor er landete. Doch die Glieder des nackten Körpers in dem großen, schwarzbezogenen Bett waren weit dunkler, als Michael sie von Ginger in Erinnerung hatte. Dieser Mann war gefesselt und geknebelt, und er drohte, an diesem Knebel, der zum Teil vor seine Nase gerutscht war, zu ersticken. Mit flehenden goldenen Augen schaute Anwar Hawke zu Michael, dessen Flügel die einzige Lichtquelle in dem durch dichte Gardinen verdunkelten Schlafzimmer waren. Vermutlich war der Coroner dahinter gekommen, daß David O'Sullivan und sein Großvater die Griechin ermordet hatten und hatte sie zur Unzeit mit diesem Wissen konfrontiert.
 

Michael legte seine Flügel ab und befreite Hawke von dem Knebel, so daß der Pathologe keuchend wieder zu Luft kam. Weniger erfolgreich war Michael bei dem Versuch, im Zwielicht die Fesseln zu lösen, die den Mann auch an das Bett banden.
 

"Allah ist groß", flüsterte Hawke heiser und seine fromme Großmutter wäre sicher stolz über die Inbrunst gewesen, mit der er diese Worte hervorstieß.
 

"Was ist passiert?" fragte Michael und fummelte weiter an den Knoten herum, ohne Fortschritte zu machen. Er brauchte zumindest Licht, noch besser auch eine Schere oder ein Messer, um der Nylon-Wäscheleine, mit der man Hawke gefesselt hatte, zuleibe rücken zu können. Er wollte zu der Kommode auf der anderen Seite des Bettes gehen, um die Lampe dort anzuschalten und zu sehen, ob er in den Schubfächern ein geeignetes Werkzeug fand, aber der Pathologe flehte fast unverständlich: "Laß mich nicht allein, ich bitte dich."
 

"Ich bleibe bei ihnen", versicherte Michael, ging um das Bett und machte Licht. Jetzt erkannte er, daß die dunkle Haut Hawkes an einigen Stellen durch frische Prellungen eine noch dunklere Farbe hatte, ein Auge begann zuzuschwellen und auch seine Lippe war aufgeplatzt. Ganz offensichtlich war er zusammengeschlagen worden. "Wer hat sie denn so zugerichtet?" wollte er wissen, obwohl er nicht Gingers gut sechzigjährigen Großvater in Verdacht hatte.
 

Hawke murmelte etwas Unverständliches und Michael bemühte sich noch einmal, die Knoten zu lockern und zu lösen, und wenig später hatte er den Pathologen tatsächlich befreit.
 

Zitternd setzte Hawke sich auf und raffte das glänzende schwarze Oberlaken um seinen nackten, malträtierten Körper. Er maß Michael, der sich in einigem Abstand auf die Bettkante gesetzt hatte, mit mißtrauischem Blick. "Wer sind sie?" fragte er undeutlich.
 

Michael seufzte ergeben. "Immer noch derselbe Michael Drake, nur...", er fuhr sich über das glatte Kinn, "...rasiert."
 

"Als sie hereinkamen, sahen sie aus, wie ein Engel", flüsterte Hawke.
 

"Ich schätze, das sagen sie zu allen, die sie aus einer Notlage befreien", konnte Michael sich nicht verkneifen, und er grinste.
 

"Ich... ich muß das PHQ anrufen, damit die Spuren gesichert werden. Nur so kann es gelingen, David O'Sullivan des Mordes zu überführen." Der Coroner streckte sich mühsam nach dem Telefon auf der dem Bett abgewandten Seite der Kommode.
 

Michael stand auf, war schon drauf und dran, ihm den Apparat herüberzureichen, hielt dann aber inne. Es war eine Sache, einen Polizeibeamten aus einer tödlichen Zwangslage zu befreien, aber eine ganz andere, ihn aktiv dabei zu unterstützen, Ginger vor Gericht oder vielleicht sogar an den Galgen zu bringen. "Wieso glauben sie, er sei dieses Mordes schuldig? Könnte es nicht auch sein Großvater gewesen sein?" fragte Michael kühl.
 

"Es war nicht Cedric... David hat es mir auf meine Frage bestätigt... mir sogar das Messer gezeigt, mit dem er der Frau ins Herz gestochen hat... mit dem ich ebenfalls getötet werden sollte. Da drüben liegt es." Hawke zeigte auf die niedrige Ablage vor dem großen Spiegel, der neben Gingers begehbaren Kleiderschrank an der Wand befestigt war.
 

Michael ging hin, um sich das Messer anzusehen. "Und hat er sie davor oder danach zusammengeschlagen?" wollte er wissen, während er das urtümliche Messer betrachtete. Es hatte eine etwa fünfzehn Zentimeter lange graue Feuersteinklinge und einen dunklen Holzgriff. Die O'Sullivans opferten ihren Göttern damit sicher schon seit Generationen.
 

"Nicht anfassen!" rief Hawke, als er sah, daß Michael das Messer in die Hand nahm. Aber Michael ignorierte das. Die Klinge war kühl, beide Schneiden scharf wie Rasiermesser. Das Abbild seiner selbst im Spiegel nahm Michael kaum wahr.
 

Hawke rappelte sich auf, humpelte unter offensichtlichen Schmerzen zu Michael. "Sie verwischen die Fingerabdrücke! Legen sie es wieder hin!" Er griff nach Michaels Arm.
 

Michael schüttelte die Hand des Pathologen ab, als sei sie eine lästige Fliege. Der Messergriff lag perfekt in der Hand.
 

Ginger hatte Recht gehabt, er durfte sich nicht seinen Willen nehmen lassen. Die geringsten Wesen durften frei handeln. Und er sollte Seinem Willen unterworfen sein? Er hatte diesem Mann das Leben gegeben, und ebenso leicht konnte er es ihm nun wieder nehmen, sich selbst ein Opfer darbringen, sich durch das Blut dieses Gefangenen erhöhen, sich auf den Platz setzen, der ihm gebührte. "Was meinen sie, ist passender?" fragte er Hawke, der in Gingers Bettlaken eingewickelt vor ihm stand. "Soll ich ihnen das Messer ins Herz stoßen oder ihnen die Schlagader an der Kehle durchschneiden, um sie ausbluten zu lassen?"
 

Nun war blanke Angst in den goldenen Augen des Pathologen zu erkennen. Hastig wich er vor Michael zurück, aber er verfing sich in dem Stoff des Lakens um seine Füße und stürzte rückwärts zu Boden.
 

Michael kniete sich neben ihn, stützte das Messer mit der Spitze abwärts neben sich auf den dicken, hellen Teppich. "Antworten sie, Hawke. Soweit ich kann, werde ich ihre Wünsche berücksichtigen."
 

"Sie sind wahnsinnig", stellte Hawke fest.
 

Michael dachte an sofia kai fronesis. "Nein... vergessen sie alles, was sie an Beweisen gegen David O'Sullivan haben, dann können sie unbehelligt gehen. Ich will nur den Geliebten schützen." Es konnte doch kein Zufall sein, daß Ginger 'David' hieß.
 

"Dafür wird er sie töten", behauptete der Pathologe.
 

Hawke sah Ginger also anscheinend als einen Mann, der hinter dem Rücken seines menschenfreundlichen und selbstlosen Großvaters seine düsteren Machenschaften betrieb, ja, geradezu als eine Verkörperung des Erzverführers und Verderbers aller aufrechten Menschen. Michael schüttelte den Kopf. "Ginger ist nur ein Mensch. Er kann mich nicht töten." Er stand auf und legte das Messer zurück an seinen Platz. Diesmal sah er seinem Spiegelbild in die Augen. Hinter dem menschlichen Äußeren war das Feuer zu erkennen.
 

Von Ginger fürchtete Michael tatsächlich nichts, aber Ashmody war er sicher nicht gewachsen, solange die Verwandlung nicht vollendet war. Sollte Ashmody zu der Überzeugung gelangen, Michael habe sich entgültig für die Seite des Druiden entschieden und wäre der Dämonenseite verloren, würde wohl seine Vernichtung ins Werk gesetzt werden. Und vielleicht hatte er auch Gingers mysteriösen Großvater Cedric zu fürchten. Dem war es immerhin gelungen, Michaels Träume zu manipulieren und Hawke völlig einzuwickeln. Ohne die Hilfe der Gegenseite wäre er der verschmähten Partei jetzt noch schutzlos ausgeliefert...
 

Es war zu vermuten, daß sich die Verwandlung an diesem Abend - während der Engelsnacht - vollendete, denn dann begann der Sabbat, der Tag über den nach Ansicht einiger Kabbalisten der Erzengel Michael gebot. In wenigen Stunden ging die Sonne unter, und spätestens bei Vollendung der Verwandung mußte er sich für einen der beiden Pole der Macht hier in Merburg entscheiden.
 

Wenn er wenigstens eine Vorstellung davon hätte, wie seine Entscheidung die Welt beeinflussen würde! So wie es aussah, wollten beide Parteien ihn und seine Beherrschung des Ringes auf ihre Seite ziehen, auf das Engste in ein System eingebunden oder - subtiler - durch Dankbarkeit verpflichtet. Offenbar konnte der Druide die Macht des Ringes überhaupt nicht nutzen, während der Dämon diese Macht fürchtete. Da stellte sich auch die Frage, wie der Ring überhaupt hier auftauchen konnte. In der anderen Wirklichkeit war er nie dauerhaft aus dem Besitz von Michael Drake senior verschwunden, in dieser Wirklichkeit jedoch war er erst im Jahre 1948 auf geheimnisvolle Weise in Merburg aufgetaucht. Cassandra hatte behauptet, er würde irgendwann wissen, was Großvater Dumeloille und sein Vater vor ihrem Tode unternommen hatten, doch es war kaum mehr als eine vage Ahnung, daß sie tatsächlich etwas mit dem Auftauchen des Ringes zu tun hatten - ohne daß er den geringsten Hinweis auf den tatsächlichen Hergang oder auch nur ihre Motivation hatte.
 

Michael wünschte sich für einen Moment, wieder einen Ratgeber wie Cassandra zu haben, dem er sein Dilemma zu schildern könnte, um aus dem Dialog eine Erkenntnis zu gewinnen. Vielleicht sollte er versuchen, sich selbst neu zu erschaffen - und dabei nicht vergessen, sich ein Ziel im Leben zu setzen!
 

In dem Moment blitzten im Spiegel die hellen Augen des Pathologen auf und fingen Michaels Blick ein. Eingehüllt in das schwarze Laken wie in einen antiken Mantel saß der dunkelhäutige Mann auf der Bettkante und fixierte Michaels Spiegelbild, betrachtete ihn mit den gelben Falkenaugen, die Michael so gut kannte, ohne sie mit einer konkreten Erinnerung verbinden zu können.
 

"Du machst immer denselben Fehler, Michael", sagte Hawke leise.
 

Michael drehte sich zu ihm um, um ihn direkt anzusehen, ihn für seine Worte zur Rede zu stellen. Die schattenhaften Schwingen, die Hawke gerade in dem Moment straffte, waren im Spiegel nicht zu sehen gewesen.
 

"Wer bist du?" fragte Michael, war für einen Moment versucht, die Sprache der Geflügelten zu benutzen, aber der Pathologe war nicht wirklich geflügelt - nur sein Schatten war es.
 

Hawke hielt seinem Blick stand. "Ich bin was du warst. Und in drei Jahren wird mir die Entscheidung bevorstehen, die du heute treffen mußt."
 

"Was für eine Entscheidung kann ich denn treffen?" rief Michael aus, erschrak über die Verzweiflung, die er selbst aus seiner Stimme heraushören konnte. "Mir ist doch gar nicht möglich, frei zu entscheiden. So oder so muß ich mich einem äußeren Zwang unterwerfen... ich bin einfach nicht mehr jung genug, um einem Ideal zu folgen, dessen Durchsetzung ich mit allen erforderlichen Mitteln und ohne Rücksicht auf die Konsequenzen verfolgen würde. Dann wäre es einfacher."
 

"Überlege doch, was du wirklich willst. Zweiundzwanzig Jahre hast du diese Entscheidung aufschieben können. Man sollte denken, das wäre genug Zeit um eine Vorstellung vom eigenen Willen zu bekommen, sich ein Ziel zu setzen. Und du hast genug Verstand um dann zu erkennen, wie du es durchsetzen kannst." Die Schattenflügel des Pathologen wurden um seinen Körper zusammengelegt und waren plötzlich mit dem schwarzen Laken verschmolzen, nicht mehr zu erkennen. "Ich kann nicht darauf hoffen, daß sich jemand für mich opfert und die Stunde der Entscheidung hinausschiebt... ich weiß, daß du dachtest, es würde dir die Entscheidung vereinfachen, wenn du mehr Zeit hättest, aber wie du nun siehst ist das keineswegs so. Es war nie so - aber es ist jedesmal das Gleiche mit dir. Die lange Zeit fördert nur das Vergessen und so fehlt dir auch noch die Erfahrung als Grundlage für die Entscheidung."
 

"Dann laß mich von deiner Erfahrung profitieren", verlangte Michael. "Nach all' den Rettungen bist du mir was schuldig." Er trat näher an Hawke heran, doch der plötzliche Schmerz, den der Ring durch seine rechte Hand, den rechten Arm schickte, ließ ihn wieder zurückweichen.
 

"Es ist deine Entscheidung, die hier zur Diskussion steht. Noch habe ich das Alter der Verwandlung nicht erreicht." Hawke lächelte schief, betastete vorsichtig sein wundes Kinn, musterte Michael eine Weile. "Aber einen Rat bin ich dir wohl schuldig... mir hat immer geholfen, meine Kraft zu erproben, wenn ich vor der Entscheidung stand. Vielleicht hilft dir das auch... und du hast Recht, David ist nur ein Mensch. Gelegentlich fallen solche Details unter den Tisch." Und Hawke erhob sich, raffte das Laken mit steifen Bewegungen um sich, ging aus dem Schafzimmer und verließ Gingers Wohnung.
 

Michael mußte wirklich Weisheit und Vernunft zu seinen Verbündeten machen und seine Gedanken ordnen. Sie drehten sich nur noch im Kreis, rissen ihn hin und her zwischen Selbstaufgabe durch Aufgehen im Ganzen und Selbsterhöhung durch blutige Opfer. Vielleicht fand er bis zum Abend eine Lösung, wenn er seine Flügel wieder anlegte und sich aufmachte, die Höhe des Himmels über dem Meer zu ermessen.
 

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