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Juli 1970

Pathologie eines Philologen
von

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Das Omega und das Alpha

Schweißgebadet wachte Michael aus seinem Alptraum auf. Die Glocken der Michaeliskirche hatten ihn gnädig aus einem Dilemma gerettet, das ihn als Tourist doch gar nichts anging. Ein verschlafener Blick auf die Taschenuhr, die auf dem Nachttisch lag, machte ihn jedoch mit einem plötzlichen Adrenalinstoß munter. Er sprang auf, sammelte die achtlos über einen Stuhl geworfenen Kleidungsstücke ein und zog sich an. Er hatte die Verabredung mit Ashmody verschlafen und bis zum Beginn des Oratoriums bliebt ihm gerade noch eine Viertelstunde.
 

Aber hatte er nicht doch eine kurze Weile bei Ashmody in ihrem Turm verbracht? Nein, das war im Traum gewesen. Und ihm dämmerte, daß er jetzt schon damit begonnen hatte, die Anziehungskraft, die eine Frau auf ihn ausübte, damit zu erklären, daß sie gar keine Frau war. Na, da hatte Ginger offensichtlich ganze Arbeit geleistet. Aber jetzt war keine Zeit, sich selbstkasteienden Gedanken hinzugeben, nicht einmal Zeit, sich die verwuschelten Haare mit einem Kamm vor dem Spiegel zu ordnen. Er fuhr nur ein paar Mal mit den Fingern hindurch, zog sich an und verließ das Hotelzimmer.
 

Da es noch hell war und die Michaelis-Kirche sämtliche Gebäude der Merburger Innenstadt überragte, war es kein Problem, sich vom Erzengel auf dem Engelsturm leiten zu lassen. Michael brauchte etwa fünf Minuten für den Weg, doch als er die Kirche betrat, mußte er feststellen, daß die Bänke schon alle gefüllt waren. Dann erblickte er Hillers charakteristischen Haarschopf in einer der hinteren Reihen und sah, daß neben ihm noch ein Platz frei war. Er machte sich bemerkbar und Hiller winkte ihn neben sich.
 

"Das ist ja wirklich auf den letzten Drücker, Mike." Hiller feixte.
 

Michael grinste zurück. "Ich denke, mich hat die Schlafkrankheit erwischt." Er borgte sich Hillers Programm aus. Akt eins war der himmlischen Sphäre gewidmet, Akt zwei der irdischen Sphäre im Kloster Bannstedt und Akt drei spielte wiederum im himmlischen Jerusalem. Der zweite Teil des Mysterienspiels - das Erscheinen des Engels in Merburg, die Ankunft des Abgesandten des Abtes von Bannstedt und die Grundsteinlegung der Michaelis-Kirche - fanden erst am nächsten Morgen statt. Michael gab das Programm zurück und sah hinauf zum Ritterengel, der streng auf die Zuhörerschaft hinunterblickte. Nun hoben sich seine weißen Flügel deutlich vom dunkler gewordenen Himmel ab und das Flammenschwert brannte hell.
 

Hiller knuffte Michael in die Seite und deutete dann mit dem Kinn auf die Bankreihen jenseits des Mittelganges. "Hast du gesehen, wie der Coroner aussieht? Da hat wohl nicht viel gefehlt, daß er selbst auf einem seiner Seziertische endet."
 

Michael erhaschte einen Blick auf den Gerichtsmediziner. Auf dessen dunkler Haut leuchteten die Pflaster im Gesicht und an den Händen geradezu. Der Anblick verursachte ihm Übelkeit. "Entschuldige mich bitte", stieß er hervor und verließ die Kirche im Laufschritt. Der Gesang des Engelschores begann gerade, als Michael den Portalflügel von außen wieder ins Schloß drückte.
 

An der frischen Luft, im aufkommenden Wind, fühlte er sich viel besser. Er setzte sich auf eine der Bänke gegenüber der Südfassade der Kirche, gleich am Zaun des Michaelis-Kirchhofes. Der Engel auf dem Engelsturm lag jetzt zum Teil im Schatten der Kirchtürme, nur seine Flügel wurden noch von der tiefstehenden Sonne angestrahlt, waren dadurch fast bronzefarben. Gedämpft drang der Chorgesang aus der Kirche bis zu Michael. Vermutlich war nicht einmal sein Balanceakt auf dem geringelten Schwanz des toten Drachen zu Füßen jenes Michaels dort oben geträumt gewesen. Er mußte die Entscheidung also tatsächlich treffen. Und noch immer hatte er keine Vorstellung davon, was er selbst eigentlich wollte. Warum sollte es gerade seine Aufgabe sein, das Gleichgewicht der Macht in Merburg zu verschieben?
 

Es wurde dunkler, während der Wind Wolken am nordwestlichen Horizont sammelte. Aber der kräftige Luftzug war erfreulich erfrischend. Und erst jetzt merkte Michael, daß er den grünen Siegelring seines Großvaters am Finger trug, mit dem Daumen schon eine ganze Weile an der Innenseite des Goldreifes gerieben hatte. Er zog ihn ab, wollte ihn hinter sich in die Büsche des Friedhofes werfen, aber jemand rief: "Nein, tu' das nicht!"
 

Michael hielt inne und sah sich nach dem Rufer um. Es war Ginger, der vom östlichen Ende der Kirche her auf ihn zukam, ihn vielleicht schon eine Weile beobachtet hatte. Seine hellen Haare leuchteten, obwohl sich die Lichtverhältnisse zunehmend verschlechterten. "Wieso soll ich ihn nicht wegwerfen? Er ist die Ursache all' meiner Schwierigkeiten", antwortete Michael.
 

"Wenn du ihn wegwirfst, löst du damit deine 'Schwierigkeiten' aber nicht, ebensowenig wie es Polykrates gelang. Sie werden dich ereilen." Das kam vom westlichen Ende der Kirche, von Ashmody. Die Rundungen unter dem knappen, gelben Minikleid zeigten unzweifelhaft, daß sie eine Frau war - wie bisher bei jeder abendlichen Begegnung. Auch sie näherte sich Michaels Sitzplatz, kam aber keinen Schritt näher als Ginger. Beide standen sich einen Moment so feindlich gegenüber, wie der Leuchtturm und der Turm der Burgruine auf der Vogelschau im Touristen-Verführer.
 

"Was wollt ihr?" fragte Michael, ohne einen der beiden wirklich anzusehen. Nun fegten schon Sturmböen durch die Bäume des Friedhofes. Natürlich wußte er, was sie wollten, aber da es ihnen beiden nur um die Macht ging, keine Seite die offensichtlich bessere Wahl war, sollten sie sich zumindest noch einmal anstrengen um ihn für sich zu gewinnen. Allerdings ahnten sie sicher, was er vorhatte, denn Ashmody konnte seine Gedanken lesen, und Ginger war ein sehr guter Menschenkenner.
 

Doch Dämonenkind und Druidenenkel schwiegen, sahen einander und Michael abwechselnd an, als könnten sie mit seinem Verhalten nichts anfangen. "Du weißt, was wir wollen", sagte Ginger schließlich und Ashmody nickte dazu. "Für wen entscheidest du dich?" fragte Ashmody dann.
 

Die ersten Sterne mußten jenseits der Gewitterwolken über Merburg schon zu sehen sein. Michael spürte, wie das Feuer in seinen Adern zu erwachen begann. Die Verwandlung war fast vollendet.
 

"Du mußt dich jetzt entscheiden!" drängte Ashmody, die es spürte.
 

"Du weißt, daß ich dich liebe", versuchte Ginger sein Glück und sah trotz der dicken Lippe, die ihm Hawke wohl verpaßt hatte, aus wie die personifizierte Unschuld. Kein Wunder, daß sein Großvater ihn vorgeschickt hatte.
 

Vielleicht hatte er nun doch einen Ausweg gefunden. Michael lachte laut, und der erste Blitzschlag antwortete ihm. "Fangt mich, wenn ihr mich haben wollt", rief er, ohne die Absicht zu haben, das Gleichgewicht der Kräfte in Merburg zu beeinflussen. Und er legte die menschliche Gestalt ab. Das Feuer seiner Schwingen erreichte fast den Engel auf dem Turm. Und er schwang sich in die Luft, begleitet von dem verhaltenen "Sanctus, sanctus, sanctus", das der Engelschor in St.Michael gen Himmel schickte.
 

Michael verschwendete keinen Gedanken daran, ob Ashmody versuchen würde, ihm in das Gewitter hinein zu folgen oder ob Ginger sie aufhalten würde, um nicht den Kürzeren bei einer Verfolgung durch die Luft ziehen zu müssen. Er stellte fest, daß sein Flug kraftvoller war, als je zuvor. Die verdampfenden Regentropfen hüllten ihn in warmen Nebel, und ihn erfüllte das Hochgefühl, daß es ihm doch gelingen könnte, zu entkommen. Er flog hinauf in die Gewitterwolken, ein Blitz blendete ihn, der vom Boden widerhallende Donner traf ihn wie ein Schlag, aber er flog weiter. Jetzt konnte es weder Druide noch Dämon noch gelingen, ihn zu vernichten. Nun war er wirklich frei, zu entscheiden - und er wollte sterben: wie sein Vater und Großvater Dumeloille vom Blitz getroffen werden; so durchlöchert werden, wie der Engel in der mittelalterlichen Handschrift im Museum; vielleicht brennend wie eine Fackel zu Boden stürzen - der Ring zu einem unscheinbaren Klumpen Gold verschmolzen, vom Feuer gereinigt.
 

Und endlich traf ihn, über dem Meer, tatsächlich der Blitz, verbrannte ihn, riß ihm den linken Flügel ab. Michael schrie und er stürzte...
 

*
 

Tageslicht
 

Die Helligkeit blendete ihn, also kniff er die Augen wieder zu, auch wenn die Schmerzen, die das in seinem Gesicht verursachte, ihn dazu brachten, aufzustöhnen. Seine Wangen, seine Stirn, brannten wie Feuer, die Arme schmerzten...
 

"Sie befinden sich im britischen Militärhospital", erklärte eine sanfte Frauenstimme. Ihr Englisch klang merkwürdig eingefärbt, aber auch halbwegs vertraut.
 

"Was ist passiert?" fragte er, mühsam mit seinen geschundenen Lippen die Worte artikulierend.
 

"Ich hoffte, das könnten sie mir sagen", antwortete die Frau. Die Stimme klang so lieblich, daß er trotz des blendenden Sonnenlichtes die Augen vorsichtig wieder öffnete. Er erkannte jedoch nur einen unscharfen Schemen vor dem weißen Gleißen, das durch das Fenster drang. "Sie wurden vorgestern am Strand gefunden. Danken sie dem Ewigen, daß sie trotz ihrer schweren Verbrennungen und Brüche überlebt haben."
 

Seine Lippen fühlten sich unter der Zungenspitze so roh und zerschunden an, daß er die Hand zum Gesicht führen wollte, um es ebenfalls abzutasten. Der rechte Arm war jedoch mit Verbänden und Schienen ruhig gestellt, so daß er ihn kaum bewegen konnte. Der linke Arm war frei, aber er konnte sein Gesicht nicht finden. "Was ist los? Wo bin ich?" rief er in Panik, versuchte, sich aufzurichten.
 

Sanft drückte ihn der Schemen mit der altertümlich wirkenden, ausladenden Schwesternhaube wieder auf das Kissen. "Sie haben ihren linken Arm verloren. Wenn sie wollen, rufe ich ihnen Doktor Newman, damit er es ihnen genauer erklärt."
 

* * *
 



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