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Unleashed

Das Bekannte Unbekannte
von

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Den Kopf zur Seite geneigt, sah ihn Emily an. „Hallo“, sagte sie heiter, mit einer Wasserflasche in der Hand. „Willst du nach Hause?“

Er blieb ihr eine Antwort schuldig. „Das war ein guter Moment, um zu verschwinden“, spielte er auf ihre überstürzte Flucht aus dem Untersuchungszimmer an. „Adrienn glaubt dir nicht, das ist dir bewusst?“

Das Mädchen malte mit der Schuhspitze Kreise auf den Boden. „Es tut mir leid“, entschuldigte sie sich und warf ihm unter den Strähnen ihrer Vorderhaare einen Blick zu. „Ich habe nicht nachgedacht.“

„Warum erzählst du sowas überhaupt?“, fragte er.

Adrienn hatte sicher Recht. Emily konnte ihn nicht seit seiner Kindheit kennen. Jedenfalls dann nicht, wenn die Daten in ihrer Akte stimmten.

Sie hob ruckartig den Kopf, in ihrem Gesicht standen tausend Fragen. „Es ist die Wahrheit“, protestierte sie leise. Offenbar verstand sie nicht, wo das Problem lag. „Wir kennen uns, seit du ein Kind warst.“

Es klang verrückt. Und genau darum hatte Kostja beschlossen, dass er noch mehr Informationen über Emily sammeln wollte, bevor er sich ein Urteil bildete.

„Wie alt bist du wirklich?“

Also glaubte er ihr. Vorerst.

Emily wippte auf den Füßen. „Ich bin 937 Jahre alt.“ Als sie seinen ungläubigen Blick bemerkte, zog sie den Mundwinkel auf der linken Seite in die Höhe. „Du könntest dir die 900 auch einfach wegdenken“, bot sie ihm großzügig an.

Kostja ließ sich auf eine Parkbank fallen, die unter einer Eiche stand und starrte mit blassen Wangen auf seine Füße, bevor er in Gelächter ausbrach. Ob aus Sorge um seine Zurechnungsfähigkeit, weil er für einen studierten Menschen nicht genug Zweifel aufbrachte oder auch nur angesichts dieser schier lächerlichen Situation, konnte er nicht mit Gewissheit sagen.

Aber das machte jetzt keinen Unterschied mehr.

Der Assistenzarzt lachte, bis ihm die Tränen kamen und sich die Augen der umstehenden Patienten und Besucher auf ihn richteten. Dann war das Geburtsdatum auf ihrer Krankenakte doch gefälscht. Verständlich.

Kostja sah wieder zu Emily und rang sich ein Lächeln ab. „Ich glaube, 37 würde ich dir auch nicht unbedingt abkaufen.“

Sie dachte kurz nach. „Dann vielleicht ... 20?“

„Ich fürchte, auch dafür siehst du nicht alt genug aus.“

Emily lächelte beschämt, den Kopf gesenkt. „Nein ... Nein. Vermutlich nicht.“

Kostja verwarf das Thema. „Was kannst du mir noch erzählen? Ich will alles wissen.“

Um sein Interesse zu untermauern, stützte er die Ellenbogen auf seine Knie, verschränkte die Finger ineinander und hielt Blickkontakt. Wissbegierde glänzte in seinen Augen.

Emily trat nervös von einem Fuß auf den anderen, ihre Wangen färbten sich tiefrot. „Was interessiert dich denn?“

Kostja überlegte. Im Grunde wollte er alles wissen, was er über Vampire in Erfahrung bringen konnte. Verstohlen sah er sich um. Kein Besucher oder Patient stand in ihrer Nähe und nachdem er sich wieder beruhigt hatte, schenkte ihnen niemand weitere Beachtung. Ihre Unterhaltung blieb unbelauscht.

„Ich werde dir sagen, was ich glaube zu wissen oder was ich glaube, herausgefunden zu haben.“

Emily nickte. „Und das innerhalb von einem Tag“, lachte sie, während sie an dem Verschluss der Wasserflasche spielte. „Das dürfte interessant werden.“

Kostja musste lächeln. „Ich vermute, dass euer Körper ähnlich wie der menschliche funktioniert. Das bedeutet, deine körperlichen Reaktionen unterscheiden sich nicht unbedingt von meinen.“ Seine Augen glitten über ihr Gesicht, der Mediziner brach an die Oberfläche. „Was mir aufgefallen ist: Du bewegst dich sehr auffällig, wenn die Sonne scheint, und du trägst einen ungewöhnlich großen Hut. Mir macht die Hitze zu schaffen, während deine Haut über und über mit Stoff bedeckt ist. Dir machen die Temperaturen also nichts aus, dafür scheinst du Sonnenlicht nicht so gut zu vertragen. Dass du in Flammen aufgehst oder zu Asche zerfällst, glaube ich nicht, sonst würdest du das Risiko erst gar nicht eingehen. Realistisch wäre für mich eine Art von Lichtempfindlichkeit. Vielleicht Porphyrie?“

„Durch und durch ein Arzt“, bemerkte das Mädchen vergnügt.

Kostja machte eine Pause, seine Augen wanderten über ihre reglose Gestalt. Selbst ihre Atmung schien verlangsamt.

Emily stand neben der Parkbank, der Wind zupfte an den Strähnen ihrer Haare, das Gesicht hielt sie dem Krankenhaus zugewandt.

Bevor sich Kostja umdrehen und ihrem Blick folgen konnte, erreichte ihn eine jugendliche, einfühlsame Stimme, die er schon einmal gehört hatte.

Zumindest glaubte er das.

„Darf ich bei der Stunde mitmachen?“

Kostja erhob sich auf die Füße, drehte sich um und stand einem jungen Mann mit blonden Haaren und brauen oder roten Augen gegenüber, wobei er Letzteres aus medizinischer Sicht für völlig unmöglich hielt.

Außer es handelte sich um Kontaktlinsen.

Der Fremde sprang mit Leichtigkeit über die Parkbank hinweg, trat an Emily heran und zog ihr Handschuhe an. „Mein Name ist Nick. Ich bin ihr Adoptivbruder“, erklärte er. „Ich passe auf, dass ihr charismatische Badboys wie du nicht an die Wäsche gehen.“

Kostja wusste sofort, dass es sich bei dem Mann um den Drachen handelte, den Emily tags zuvor erwähnt hatte.

Nick wirkte freundlich und offenherzig, doch seine Worte wurden von der dumpfen Ahnung echter Gefahr begleitet und lösten in dem Assistenzarzt leichtes Unbehagen aus.

Mit einem Beschützer wie diesem vor Selbstbewusstsein trotzenden Drachen im Rücken, gab es wahrscheinlich nichts auf der Welt, vor dem sich Emily fürchten musste.

„Mein Name ist Kostja“, stellte er sich vor, obgleich er den Eindruck hatte, dass ihn dieser Nick bereits kannte. „Und ich glaube, du schätzt mich komplett falsch ein, was meinen Ruf in der Frauenwelt angeht.“

Der Drache lachte und zuckte mit den Schultern. „Und wenn schon. Zählt doch eh‘ nur, was die Person über dich denkt, die dich mag.“

Sein Blick wanderte an Kostja vorbei. Bevor der Assistenzarzt darauf hätte reagieren können, mischte sich Emily ins Gespräch ein.

„Sollen wir dich vielleicht mitnehmen?“

Ohne auf eine Antwort zu warten, wirbelte das Mädchen auf dem Absatz herum, marschierte steif in Richtung Parkplatz und zog einen kleinen Gegenstand aus ihrer Tasche. In der nächsten Sekunde durchdrang ein Zwitschern die Stille.

Kostja folgte ihr.

Er hatte ohnehin kein Interesse daran, mit Dutzenden von fremden Menschen in einem überfüllten Zug zu stehen. Aber als er die schwarze Limousine entdeckte, der Emily wie selbstverständlich entgegenlief, schienen seine Schuhe am Boden festzukleben.

War das ein Witz?

Das Mädchen öffnete die Tür, kletterte auf die hinteren Sitze und zog sich den Sonnenhut vom Kopf. Den Schlüssel warf sie auf den Fahrersitz. Kostja quollen fast die Augen aus den Höhlen.

Also kein Witz.

Er hatte so ein Auto schon einmal gesehen. Es handelte sich um eines dieser Modelle, die so weit außerhalb seiner Gehaltsklasse lagen, dass sie gut und gerne im Buckingham Palace hätten stehen können.

Nick schlug ihm auf die Schulter. „Ich habe Ian gesagt, dass er so eine potthässliche Snob-Schaukel nicht kaufen soll“, erklärte der Drache grinsend und ging zu Emily. „Aber auf mich hört der Kerl ja nicht.“

Kostja fand blinzelnd aus seiner Starre. „Wer ist Ian?“, fragte er skeptisch, bevor er sich zu einem voreiligen Seitenhieb genötigt sah. „Versucht er, mit der Limousine irgendwas zu kompensieren?“

Der Drache lachte erneut, drehte sich um und ging rückwärts auf das Auto zu. „Du hast ja keine Ahnung.“

Nick fasste nach dem Schlüssel, den Emily durch den Wagen geworfen hatte, klemmte sich hinter das Steuer und warf ihr einen Blick durch den Rückspiegel zu.

Kostja sank auf den Beifahrersitz, der Rucksack lag auf seinem Schoss. Im kühlen Inneren der Limousine roch es nach Leder, klimatisierter Luft und Apfel. Der Assistenzarzt schloss die Tür. Er ließ den Sicherheitsgurt einrasten und kramte sein Smartphone hervor.

„Kostja … ich habe dir gestern doch gesagt, dass ich noch arbeiten muss“, begann Emily und hielt ihren Blick aus dem Fenster gerichtet. „Das war wegen Ian. Nick und ich arbeiten für ihn. So etwas wie Personenschutz und Kurier.“

Der Drache überprüfte den Rück- und die Seitenspiegel, dann erwachte der Motor zum Leben. „Ian Colquhoun gehört zu den einflussreichsten Personen in unseren Kreisen“, murmelte er, legte den Rückwärtsgang ein und manövrierte das Auto vom Parkplatz. „Aber der Kerl hat vielleicht ein Ego ...“

Sie redeten, als wüsste Kostja, worum es ging und was sie noch zu ihm sagten, bekam er nur am Rande mit. Während er seine Augen auf die Frontscheibe gerichtet hielt, die Menschen und Autos beobachtete, die an ihnen vorbeizogen, wurden seine Lider immer schwerer.

Dass sanfte Schaukeln der Limousine tat sein Übriges.

 

***

 

Das silbrig glitzernde Mondlicht ergoss sich wie flüssige Meeresopale durch das geöffnete Fenster, der laue Abendwind spielte mit den Vorhängen. Der Assistenzarzt rollte sich auf die Seite, das Gesicht vergrub er in den Stoff der Kissen.

In der Luft lag der Duft von frisch gefallenem Regen, der sich mit aufgelockerter Erde vermischte.

Kiefernadeln, Tannenzweige, Baumrinde. Es roch wie Emily. Was? Er riss die Augen auf, wandte den Kopf zur Seite und sah sich verschlafen um. Wie war er denn nach Hause gekommen?

Er stemmte sich hoch.

Vor wenigen Minuten saß er in einer Limousine - Emily auf dem Rücksitz, Nick hinter dem Steuer. Er musste im Auto eingeschlafen sein. Zumindest nahm er das an, doch wie konnte er dann in seinem Bett landen?

Kostja stand auf, tastete sich durch die dunkle Wohnung - dabei stieß er sich den Fuß am Bücherregal - und schaltete das Licht an. Ein abgerissenes Stück Papier, das auf dem Couchtisch lag, sprang ihm ins Auge.

Während er den Fetzen betrachtete, kochte eine böse Vorahnung in ihm hoch und er hoffte inständig, dass er sich irrte.

 

Kostja,

 

weil du im Auto eingeschlafen bist, hat dich Nick in deine Wohnung und in dein Bett gebracht. Du solltest dir vielleicht ein paar Tage Urlaub nehmen und ein bisschen ausspannen.

Überarbeite dich nicht und pass‘ auf dich auf.

 

Emily

 

Peinlich.

Kostja schnitt eine Grimasse, ließ den Brief in eine Schublade des Sideboards fallen und schlurfte in die Küche. Kurz sah er auf die Uhr. In weniger als drei Stunden musste er sich wieder im Krankenhaus einfinden. Ihm wurde einmal mehr die Nachtschicht aufs Auge gedrückt.

Er aß eine Kleinigkeit, dann hockte er mit angezogenen Knien auf dem Boden, ein Buch in den Händen. Kostja las sich ein Kapitel über Porphyrie durch.

Leise murmelnd ging er die aufgezählten Begriffe durch, bis er an einem Ausdruck hängen blieb.

Drakula-Symptome.

Erythrodontie oder Blutzähne genannt. Photophobie. Eine nettere Umschreibung für Tagschläfer und Anämie, die mit starker Blässe einherging. Konnte es sein, dass eine Erkrankung wie diese zu dem weit verbreiteten Vampir-Mythos geführt hatte?

Der Assistenzarzt schüttelte amüsiert den Kopf. Nein, vermutlich waren diese Wesen in früheren Zeiten einfach nur unvorsichtig gewesen.

Kostja legte das Buch zur Seite, seine Augen lagen erneut auf der Wanduhr.

Nachdem er Emily getroffen hatte, die entgegen jeglicher Vernunft sein Vertrauen besaß, konnte er die Ironie klar und deutlich erkennen. Vampire hatten die Menschen davon überzeugt, dass ihre Rasse auf einer Krankheit beruhte.

Kostja schürzte die Lippen, die Neugier fraß sich durch seinen Geist. So weit die trockene Theorie. Aber wie sah es in der Realität aus?

 

***

 

Die nachfolgenden Wochen vergingen wie im Flug, die Tage wurden länger und der ersehnte Sommeranfang hielt mit halsbrecherischem Tempo auf die Hauptstadt Ungarns zu.

Emily bemühte sich täglich ins Krankenhaus, um nach Kostja zu sehen. Ihre Ausreden überboten sich in ihrem Einfallsreichtum gegenseitig.

Wenn der Assistenzarzt etwas Zeit aufbrachte, blieb sie eine Weile und spielte mit ihm - so lächerlich es klang - in seinem Büro Karten. Jagte er dagegen von einer Station zur nächsten, ging sie schnell wieder.

Seinen Cousins machte es einen teuflischen Spaß, wenn sie den Adoptivsohn ihrer Tante mit nervenzerfetzenden Patienten quälen konnten. Kostja nahm die Streiche mit einer Engelsgeduld hin. Dabei fiel er nach diesen Tagen völlig erschöpft ins Bett.

Sie verstand sein Verhalten nicht, hatte jedoch aufgehört, diesbezüglich Fragen zu stellen.

Emily hielt sich oft im Krankenhaus auf, selbst wenn sie Kostja keinen Besuch abstattete. Sie saß meistens in der Cafeteria mit einem Buch, das den Titel Das erste Date trug, trank die Plörre, die als Kaffee betitelt wurde und wartete darauf, dass sie seine Cousins zu Gesicht bekam.

Pünktlich wie ein Uhrwerk konnte sie die Beiden immer um die Mittagszeit herum, in der Nähe des Raucherhofes erspähen. Sie hatte sich dazu entschlossen, dass diese Clowns ihre eigene Medizin zu schmecken bekamen.

Man sollte annehmen, dass sie für derartige Streiche schon viel zu alt wäre. Und doch fotografierte sie die beiden heimlich, erstellte am Computer einen Flyer und fügte ihre Handynummern hinzu, die sie im Internet gefunden hatte.

Den Aufruf druckte sie zwei Dutzend Mal.

Emily musste schmunzeln, als sie sich den Text noch einmal durchlas. Potenzprobleme? Du bist nicht allein. Komm‘ in unsere Selbsthilfegruppe. Dann brachte sie die Zettel in Umlauf, indem sie sie rund ums Krankenhaus verteilte.

Das Mädchen schob einige von den Flyern unter die Stapel von Zeitschriften in den Wartezimmern, andere landeten in der Schwesternstation und manche wurden an die Wand geklebt.

Mindestens einer musste den Weg in die Hände von Doktor Gerassimow gefunden haben.

Emily war zufällig in der Nähe, als die beiden Zielpersonen mit hochrotem Kopf das Büro ihres Vaters verließen. Sie konnte einen Teil des Gesprächs zwischen ihnen hören, als sie an dem Mädchen vorbeigingen.

„Beurlaubt? Ich kann nicht glauben, dass unser alter Herr das ernst meint. Ich bin mir sicher, dass Kostja dahintersteckt. Wenn er glaubt, dass er damit davonkommt, dann irrt er sich.“

Emily‘s Magen schien sich zu verknoten. Das war es nicht, was sie beabsichtigt hatte. Natürlich sollten beide Übeltäter beschämt werden, aber doch nicht so.

Wenn sie nicht mehr ins Krankenhaus kommen konnten, verschlechterte sich womöglich die Behandlung von Patienten und dann wollten sie auch noch versuchen, Kostja mit hineinzuziehen.

Das Mädchen erstickte eine Woche später fast an ihrem schlechten Gewissen. War sie zu weit gegangen?

Die beiden hatten einen Denkzettel verdient, das stand außer Frage. Aber als sie für unbestimmbare Zeit von ihrer Arbeit entbunden wurden, mit der Begründung, dass ein derartiger Unsinn dem Image des Krankenhauses schadete, raste ihr das Herz in der Brust.

Sie sollte sich entschuldigen, oder nicht?

Emily mochte es nicht, wenn sie sich in Bezug auf ihr eigenes Verhalten unsicher war. „Was denkst du?“, wollte sie von dem neben ihr sitzenden Drachen wissen. „War das falsch?“

Nick blätterte die Seite in seinem Buch um. „Bist du denn der Meinung, dass du dich falsch verhalten hast?“, fragte er ruhig, griff nach dem Lesezeichen, das auf dem Tisch lag und wandte sich dem Mädchen zu. „Ich habe es dir doch schon gesagt. Ich weiß, dass du es nicht magst, wenn diese ... wenn sie Kostja schikanieren, aber er muss den Mund aufmachen. Nicht du. Seine familiären Probleme gehen dich nichts an.“

Emily legte die Arme auf den Tisch, bettete ihren Kopf darauf und betrachtete den zum Anwesen gehörenden Garten. Sie saß mit Nick auf der Terrasse, beschützt von einem aufgespannten Sonnenschirm, ihrer Kleidung und dem großen Hut auf ihrem Kopf.

Während das Mädchen dem Abendwind lauschte, der leise raschelnd durch die Kronen der Bäume strich, legten sich ihre Wimpern auf ihre Wangen. Nick hatte Recht. Sie musste sich nicht darum kümmern, wenn Kostja von seinen Familienmitgliedern gepiesackt wurde.

Das war eine private Angelegenheit.

Sie brauchte sich keine Sorgen machen. Und warum hatte sie dann den gegenteiligen Eindruck? Sie fühlte sich hin- und hergerissen. Wie sollte sie damit umgehen?

Wenn sie an Kostja dachte, wollte sie ihn mehr als alles andere beschützen.

„Ich mag Ungerechtigkeiten nicht“, murmelte sie. „Du solltest sehen, wie sie ihn behandeln. Als wäre er ein Sklave.“

Nick schlug das Buch zu. Er legte seine Hand auf ihren Kopf. Sie wusste, dass sie still getadelt wurde. Emily machte sich um Kostja zu viele Gedanken.

Der Drache schob den Einzelband auf den Tisch, lehnte sich zurück und ließ seine Augen auf dem Mädchen ruhen.

„Ich wollte dir das eigentlich nicht sagen, aber auch Kostja wurde nach deiner Racheaktion vorläufig beurlaubt“, sagte er.

Emily wich das Blut aus den Wangen. „Was?“

Nick zuckte die Schultern. „Es war nur eine Frage der Zeit, bis ihm seine Cousins die Schuld in die Schuhe schieben. Die Beiden halten sich für unantastbar, weil sie die Söhne des Direktors sind. Natürlich glauben sie nicht, dass jemand anderes dafür verantwortlich ist … es war wirklich kindisch. Wie bist du eigentlich auf Potenzprobleme gekommen?“

Sie verkniff sich das Lachen. „Ich habe gegoogelt“, gab sie zu. „Und dabei bin ich auf eine Internetseite gestoßen, die 13 Racheaktionen für den Ex-Freund vorschlägt.“

„Okay, aber auch so eine Seite ist kindisch. Darum wirst du dich bei Doktor Gerassimow und seiner Familie entschuldigen“, trug er ihr auf. „Und ich weiß aus zuverlässiger Quelle, dass du die Vier morgen Früh bei der Matthiaskirche antriffst. Sie besuchen jeden Sonntag die Messe um kurz nach zehn Uhr.“

Emily schnitt eine Grimasse. „Warum muss es eine Kirche sein?“, brummelte sie säuerlich, stieß sich vom Tisch ab und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich hasse Kirchen. Selbst, wenn es einen Gott geben sollte ...“

Nick tätschelte ihre Hand. „Es gibt Menschen und Wesen, die an irgendwas glauben müssen, die daran glauben wollen. Dass du das nicht kannst, ist verständlich und auch dein gutes Recht.“ Seine Finger legten sich warm, fast tröstlich um ihre. Der Drache zog sie auf die Füße und trat mit ihr zu den Terrassentüren der Villa. „Und jetzt sei ein braves Mädchen und lass dich von Papa bekochen.“

Sie hob die Faust und der Drache nahm lachend die Beine in die Hand. „Lass das, du Trottel!“

Die aufs Abendessen folgende Nacht verbrachte Emily unruhig. Ihre Träume waren durchzogen von Kirchen, den Abbildern Gottes und gelegentlichen Einbrüchen zu zwei dümmlich lachenden Männern mit Potenzproblemen.

Am nächsten Morgen öffnete sie die Augen. Nur ein Albtraum. Emily seufzte erleichtert und sah zu Nick, der seit 500 Jahren jede Nacht neben ihr schlief. Sie drückte ihm einen Kuss auf die Stirn, dann ging sie unter die Dusche.

Sie beeilte sich mit dem Anziehen, dem Haare kämmen und Frühstücken. Dann putzte sie sich die Zähne. Es blieb ihr nicht viel Zeit bis zur Morgenmesse.

Gerade als Emily aus dem Haus stürmen wollte, hielt sie auf der Türschwelle inne.

Wenn sie an eine Kirche dachte, drehte sich ihr der Magen um. Sie schüttelte ihre Überlegungen ab. Es brachte ihr nichts, sich selbst zu bemitleiden.

Zehn Minuten später befand sie sich auf dem Weg zur Matthiaskirche. Weil sie keinen Führerschein für ein Auto besaß, griff Emily auf die Honda zurück, die sie im vergangenen Jahr zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte.

Sie blieb vor einer Kreuzung stehen, reihte sich in den frühmorgendlichen Verkehr ein und begab sich ins Buda Stadtviertel. Ihr Ziel lag im Herzen des Burgviertels.

Emily stellte die Maschine neben einem Schild ab, dass die Matthiaskirche als UNESCO-Weltkulturerbe auswies, ging zum Haupteingang und versuchte, in der Menschenmasse das bekannte Gesicht von Doktor Gerassimow zu finden.

Keine leichte Aufgabe bei ihrer Größe. Sie nahm im Schatten den Motorradhelm ab, ihre Augen flogen grübelnd über den Vorplatz. Und als sie die Holy Trinity Statue entdeckte, kam ihr ein Gedanke.

Sie stieg auf die höchsten Stufen, um einen besseren Überblick zu bekommen.

„Miss Lyall?“

Blinzelnd drehte sie sich um. „Doktor Gerassimow“, sagte sie erstaunt, sprang mit einem Satz von den Stufen der Statue und kam stolpernd vor dem Leiter des Krankenhauses zum Stehen. „Könnte ich kurz mit Ihnen reden?“

Behutsam legte er dem Mädchen die Hand in den Rücken und führte sie in den Schatten der Kirche zurück. „Sie sollten nicht auf die Statue klettern“, gab er ihr zu bedenken. Seine braunen Augen funkelten. „Was kann ich für Sie tun?“

Emily war so nervös, als würde sie vor Gericht stehen, den Strick des Henkers um den Hals.

Dieser Mann reichte mit seiner beeindruckenden Körpergröße, den breiten Schultern und den markanten Zügen an Ian heran. Und wirkte genauso einschüchternd. Die Beiden strahlten Autorität, Selbstbewusstsein und Disziplin aus.

Es waren Dinge, die Emily nicht besaß. „Doktor Gerassimow, ich wollte mich bei Ihnen entschuldigen“, brachte sie nur mit Mühe hervor. „Ich war es, die ... die ...“

Sie brach ab. Doktor Gerassimow fasste nach ihrer Schulter. „Ich weiß, dass die Flyer von Ihnen verteilt wurden, Miss Lyall“, half er ihr gutmütig weiter. „Und ich weiß auch, warum sie das gemacht haben.“

Emily hob mit großen Augen den Kopf. „Aber ... warum haben Sie dann ... ich meine ...?“

Er hob seine Hand. „Warum ich Kostja oder meine Söhne beurlaubt habe?“, führte er den Satz zu Ende. Doktor Gerassimow lehnte sich mit dem Rücken gegen die Außenmauer der Kirche. „Das ist einfach zu erklären: Die Drei würden sich den Kopf von den Schultern reißen. Das kann ich in einem Krankenhaus nicht zulassen.“

Unbehaglich fasste sich das Mädchen in den Nacken, die Augen gen Boden gerichtet. „Wie sollen Sie denn auch Kinder, die keine Kinder mehr sind, bestrafen?“, fragte sie nervös. „Sie können ihnen keinen Hausarrest aufbrummen oder ihnen den Fernseher verbieten.“

„Meine Söhne sind wirklich gute Ärzte, das kann ich nicht bestreiten und wenn Kostja das Krankenhaus nach meinem Tod übernimmt, wird er auf ihre Kooperation angewiesen sein.“

„Denken Sie, wenn Sie sich einmischen, könnten das ihre Beziehung zu Kostja noch weiter vergiften?“

Doktor Gerassimow lächelte. „Ich bin mir ehrlich gesagt nicht sicher, was für eine Gefahr die Beiden in Kostja sehen“, erklärte er, die Hände schob er in seine Hosentaschen. „Aber ich fürchte, dass ich alles schlimmer mache, wenn ich mich einmische.“

„Vermutlich. Es ist wie bei Kindern in der Schule ...“

Emily wurde unterbrochen, als das Läuten der Glocken wie eine Kavallerie über den Platz donnerte.

„Jetzt muss ich aber wirklich los. Es war schön, Sie wiederzusehen, Miss Lyall.“ Er hob einen Finger an die Lippen. „Und dieses Gespräch bleibt unser Geheimnis.“

Der Mediziner hastete durch die prächtigen Türen der Matthiaskirche. Emily blieb unschlüssig stehen. Warum sollte das Gespräch ein Geheimnis bleiben?

Sie hatte nicht erwartet, dass er ihr verzeihen wurde. Vor wenigen Stunden war ihr nicht einmal bewusst gewesen, dass Doktor Gerassimow den Übeltäter dieses idiotischen Streiches längst überführt hatte oder dass er ihr albernes Verhalten gut und richtig fand.

Leise seufzend zog sich das Mädchen den Motorradhelm wieder über den Kopf und begab sich zu ihrer Maschine. Ihre Augen verweilten länger als nötig auf der Kirche. In diesem Gebäude wurden Sissi und Franz zum Kaiser und zur Kaiserin von Ungarn gekrönt, wodurch es eine gewisse Berühmtheit erlangt hatte.

Emily wandte sich von dem Bildnis ab. Sie wollte bei Kostja vorbeifahren.

Sie saß auf, startete den Motor und fuhr los. Der Assistenzarzt wohnte auf der Pester Seite der Stadt, im zwanzigsten Bezirk nahe der Donau.

Das Mädchen schaltete einen Gang höher, die Straße fest im Blick. Geschickt schlängelte sie sich an den wartenden Fahrzeugen vorbei, die auf der Kettenbrücke zum Stillstand gekommen waren.

Kurz vor der Ausfahrt Széchenyi István tér in südlicher Richtung waren zwei PKWs zusammengeprallt und hatten sich ineinander verkeilt.

Sie machte einen Umweg, damit sie den Unfall großflächig umfahren konnte. Dadurch erreichte sie die Wohnung des Assistenzarztes erst nach knapp dreißig Minuten. Die Straßen von Budapest waren an diesem Tag eine Qual.

Ihre Maschine ließ sie auf dem Parkplatz vor dem Hochhaus ausrollen, stieg ab und verfrachtete den Motorradhelm im Stauraum unter der Sitzbank.

Kurz betrachtete sie sich selbst im Schaufenster eines Gemüsehändlers. Dieser verdammte Helm! Sie sah aus, als hätte sie sich die Haare an den Kopf gekleistert.

Emily stieß die Luft aus den Lungen und fuhr sich mit den Händen durch die unfreiwillig gebändigte Mähne, während sie auf die Eingangstüren zuschritt und aus einer Gewohnheit heraus nach dem Griff fasste. Dabei stellte sie verwundert fest, dass nicht abgeschlossen war.

Ungewöhnlich.

Sie warf einen Blick ins Treppenhaus, sah sich um und stieg über die Treppen in den vierten Stock. Nick hatte sie gefragt, ob sie selbst glaubte, ihr Verhalten sei falsch gewesen. Das konnte sie mit einem klaren Ja beantworten.

Doktor Gerassimow konnte diesen kindischen Streich belächeln. Er hatte ihr verziehen. Aber sie selbst hatte sich noch nie zuvor so geschämt.

Auf jeden Fall musste sie Kostja die Wahrheit sagen.

Und als sie schließlich mit erhobener Hand vor seiner Haustür stand, war ihr trotz gleichbleibender Körpertemperatur, unangenehm kalt. Emily holte nach Luft und drückte mit rasendem Herzen auf die Klingel.

Ob er zuhause war?

Sie sprang vor Schreck fast an die Decke, als die Tür nach einer gefühlten Ewigkeit aufgerissen wurde. Jason kniff die Augen zusammen, blinzelte und sah ihr ins Gesicht.

„Ich kenne dich doch“, lallte er mit schwerer Zunge, seine Wangen waren blutleer, seine Augen rot gerändert. „Du bist dieses komische Mädchen.“

Komisch?

Emily hielt die Luft an. Der Geruch von Alkohol drang ihr in die Nase. „Guten Morgen“, sagte sie höflich. „Könnte ich mit Mr. Gorodezki sprechen oder ist das gerade unmöglich?“

Jason zeigte hinter sich und gähnte. „Der hockt unter der Dusche“, meinte er verschlafen. Der Mediziner streckte sich, bevor er in die Wohnung zurück schlurfte. „Komm‘ rein.“

Mit den Zähnen in ihrer Unterlippe warf sie einen Blick ins Wohnzimmer. Als hätte eine Armee darin gewütet. Leere Flaschen kullerten über das Parkett, Chipstüten häuften sich auf dem Boden und dreckige Wäschestücke lagen überall verstreut.

Und dann war da dieser unerträgliche Geruch nach Alkohol, der ihre Nase zu erschlagen drohte.

Emily schloss die Wohnungstür hinter sich, durchquerte den Raum und riss die Fenster auf. Brummelnd versteckte sich Jason unter der Bettdecke.

Gleichzeitig öffnete sich die Tür zum Badezimmer. „Gib‘ mir mal eine Hose!“, rief Kostja, den Arm in den Flur gestreckt. „Und eine Shorts!“



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