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Unleashed

Das Bekannte Unbekannte
von

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Emily stieß die Luft aus den Lungen. Warum hatte er sich nicht gleich etwas zum Anziehen mitgenommen? Vertieft wühlte sie in den Schubladen seines Kleiderschrankes, öffnete die Türen und erspähte im oberen Regal eine ausgewaschene, blaue Jeanshose.

Aus dem unteren Fach zog sie eine Boxershorts. Beides drückte sie Kostja wortlos zwischen die Finger. Er bedankte sich, dann schloss sich die Tür des Badezimmers wieder. Sie hörte ein Klappern, einen Fluch. Der Assistenzarzt kam herausgestolpert, wollte etwas sagen und verstummte bei ihrem Anblick.

„Ich wünsche einen guten Morgen“, rief sie verschmitzt.

Er nahm das Handtuch von seinem Kopf. „Was machst du hier?“, wollte er verwirrt blinzelnd von ihr wissen.

Als der Stoff verschwand, bekam sie seinen nackten Oberkörper zu Gesicht. Emily konnte ihn nur mit großen Augen anstarren, diesen vor Kraft und Vitalität strotzenden Mann mit den filigran definierten Muskeln. Obgleich der Assistenzarzt eher schmal gebaut war, fast zierlich auf sie wirkte - anders als Ian oder Nick - hatte Emily das Gefühl, das Herz sprang ihr aus der Brust.

Sie konnte kaum atmen.

„Alles in Ordnung?“

Warum brachte sie sein Anblick so durcheinander? Kostja war nicht der erste Mann, den sie nur halb bekleidet zu Gesicht bekam und sicherlich auch nicht der Letzte.

Emily hob den Kopf an.

Da war etwas in den Tiefen seiner eisblauen Augen, dass sie anzog und herausforderte, wie ein Rätsel, das darauf wartete, gelöst zu werden. Dieser verflixte Mann! Was wollte sie von ihm?

Mit zwei ausholenden Schritten überwand Kostja den zwischen ihnen liegenden Abstand. Ihr Blut kochte. Emily war gleichzeitig verwirrt, beschämt und voller Interesse.

Dabei hatte sie Ian und Nick des Öfteren ohne Hose gesehen. Unbeabsichtigt. Und es hatte ihr nie etwas ausgemacht. Niemals hatte sie diese Verlegenheit - Emily stutzte. Doch hatte sie und das war schon so lange her, dass sie sich kaum daran erinnerte.

Vielleicht hatte sie es aber auch mit Absicht aus ihrem Kopf verbannt. „Ich wollte meine Kleidung holen“, log sie, ihre Augen lagen auf seiner Hose, die ihm tief auf den Hüften hing. „Und meine Schuhe ... aber das gehört ja zum Begriff Kleidung dazu, oder? Also ich meine, eigentlich ist es unnötig, dass ich die Stiefel auch noch extra erwähne ...“ Sie stoppte sich mit Gewalt. „Tut mir leid.“

Kostja lachte auf. „Kein Problem.“

Der Assistenzarzt begann in seinem Kleiderschrank zu wühlen. Emily wippte auf den Füßen, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, die Augen peinlich genau von ihm abgewandt. Sie musste sich wieder beruhigen, die aufsteigenden Bilder verdrängen. Ihr Herz pochte so laut, dass er es mit Sicherheit hören konnte.

Frustriert stieß sie die Luft aus ihren Lungen. Sie sollte ihn nicht anstarren! Warum sah sie dann immer wieder zu seinem Hintern, den der Schnitt der Jeans reizvoll zur Geltung brachte?

„Möchtest du dich waschen?“, fragte Kostja und Emily fuhr zusammen, wie ein Kind, das er bei etwas Verbotenem ertappt hatte. „Du hast Schmieröl im Gesicht.“ Amüsiert drehte sich der Assistenzarzt um, in den Händen hielt er einen Stapel mit frisch gewaschener Kleidung. „Ich dachte, du würdest es vielleicht gerne wissen.“

Die Farbe in ihren Wangen nahm eine Nuance zu. Kostja hatte es geschafft, dass sie den Grund für ihre Verlegenheit vergessen hatte - wenn auch nur um einem anderen Platz zu machen.

„Warum hast du mir nichts gesagt?“

Er zuckte die Schultern. „Hab‘ ich doch jetzt“, gab er zurück. „Das bisschen Schmieröl ist doch kein Weltuntergang.“

Emily schnitt eine Grimasse. „Ich sollte nach Hause gehen. Deine Verlobte wird nicht begeistert sein, wenn sie mich in deiner Wohnung findet“, erklärte sie und rang sich ein Lächeln ab. „Ich weiß nicht mal selbst, was ich eigentlich von dir wollte ... Warte, doch ... ich ... meine Kleidung ...“

„Adrienn ist nicht hier“, war seine einzige Erwiderung.

Emily hielt ihre Augen auf die geschlossene Haustür gerichtet. „Das wird sie bald. Ich habe ihren Geruch schon seit fünf Minuten in der Nase.“

„Dann ist es wahr?“, fragte Kostja überrascht, warf einen Blick zu Jason, der sich unter seiner Bettdecke verkrochen hatte und senkte die Stimme zu einem Flüstern. „Dass Vampire einen ausgeprägten Geruchssinn haben?“

Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Möglich“, schmunzelte sie, ein Muskel in ihrer Wange zuckte.

„Jetzt wasch‘ dich endlich“, wiederholte sich Kostja, drehte sich um und trat zu seinem Kleiderschrank. Er zog ein schwarzes T-Shirt unter einem Stapel hervor. „Adrienn wird dich schon nicht auffressen.“

„Auf deine Verantwortung“, gab das Mädchen zurück, eilte ins Badezimmer und schlug die Tür lauter als nötig hinter sich zu.

Emily lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand, die Luft stieß sie mit einem Seufzen aus ihren Lungen. Konnte es sein, dass sie viel zu viel Zeit mit Kostja verbrachte? Seit ein paar Wochen verstand sie sich selbst immer weniger. Was waren das für Gefühle, die ihr Herz in Aufruhr versetzten? Sie mochte das nicht.

Seufzend trat sie an das Waschbecken heran, drehte den Kopf zur Seite und studierte den Fleck an ihrer Wange im Spiegel. Ohne Zweifel Schmieröl. Suchend sah sie sich um und entdeckte in einem kleinen Schrank für Putzutensilien ein Waschmittel unbekannter Marke.

Emily wusch sich das Gesicht, trocknete sich ab, wobei sie sich im Spiegel selbst in die Augen sah und wandte sich dann der Tür zu. Gedämpft drang die Stimme von Kostja durch das Holz. Er begrüßte Adrienn.

Die Beiden passten wunderbar zusammen. Sie verstanden sich gut und es gab kaum Differenzen. Im Grunde die perfekten Voraussetzungen für eine harmonische Partnerschaft.

Emily betrachtete ihre Hand, die sich zitternd auf die Türklinke legte. Es fühlte sich falsch an, dass sie sich in seiner Nähe aufhielt, mit einer Selbstverständlichkeit, die sie erschrecken sollte. Es war genauso wie bei Nick. Obwohl er andere Verpflichtungen hatte, kümmerte er sich unermüdlich um sie.

War sie eine Last? Sie fluchte so unflätig wie ein Taxifahrer im frühmorgendlichen Berufsverkehr. Nein, kein Drama, kein Selbstmitleid. Jeder Mensch und jedes Wesen auf diesem gottverdammten Planeten traf Entscheidungen aus eigenen Beweggründen.

Kostja wollte mit ihr befreundet sein und Adrienn schien sich nicht daran zu stören. Nick hatte schon Oft betont, dass er sich um seine leiblichen Geschwister genauso liebevoll gekümmert hätte. Warum fühlte sie sich dann so scheußlich, als stünde sie vor Gericht?

Emily fasste sich ein Herz, drückte die Klinke nach unten und begab sich mit einem aufgesetzten Lächeln ins Wohnzimmer. Zwei Augenpaare - blau und braun - wandten sich ihr zu.

„Ach, stimmt ja. Emily kam vor einer halben Stunde vorbei, um ihre Kleidung zu holen. Ich hatte dir doch neulich gesagt, dass wir uns vor ein paar Wochen durch Zufall getroffen haben, und an dem Tag hat es wie aus Kübeln geregnet“, erzählte Kostja seiner Verlobten, die der Geschichte aufmerksam folgte. „Ich habe ihr angeboten, dass sie bei mir duschen kann. Ihre Kleider habe ich gewaschen und irgendwie haben die bis jetzt bei mir rumgelegen.“

Während Kostja die Geschehnisse detailliert wiedergab, holte er Gläser, eine Flasche Saft und eine Tüte Chips, um seiner Verpflichtung als Gastgeber nachzukommen. Emily wollte sich leise an Adrienn vorbeistehlen, wurde von der Anwältin am Arm festgehalten und zu einem Stuhl in Fensternähe dirigiert.

Adrienn neigte den Kopf zur Seite. Ihr amüsiertes Lachen durchbrach die in der Luft liegende Anspannung. „Tut mir leid“, brachte sie hervor. „Das ist mir jetzt unangenehm. Ich habe tatsächlich vergessen, eifersüchtig zu werden.“ Sie wandte sich an Emily. „Entschuldige, aber du musst nicht weglaufen.“

Kostja holte ein Glas Wasser, in das er ein Aspirin fallen ließ. „Du bist unmöglich.“

Sie trat auf den Assistenzarzt zu und tätschelte ihm lachend den Kopf. „Du musst mir nicht erklären, warum du weiblichen Besuch hast. Vor allem nicht so genau, als würdest du eine Aussage bei der Polizei machen.“

Ein wissender Blick zu Emily folgte, die sich auf ihrem Stuhl verkrampfte und während sie Adrienn beobachtete, wurde ihr etwas eng in der Brust.

„Emily hatte dir gegenüber Bedenken“, wandte Kostja lachend ein. „Sie wollte nicht, dass du einen falschen Eindruck von unserer … Beziehung zueinander bekommst.“

Adrienn pendelte zwischen Kostja und Emily. „Ihr seid ja süß! Und anständig, das wollen wir nicht vergessen. Ich bin ohnehin der Meinung, dass die meisten Dramen nur durch zu wenig Kommunikation und Verständnis entstehen. Da fällt mir ein ...“

Adrienn redete und redete. Sie war wie ein Wasserfall, der kein Ende fand. Emily klinkte sich spätestens nach dem Thema mit den kuscheligen Elefanten im Zoo aus. Sie nahm sich ein Glas, goss sich etwas von dem Orangensaft ein und ließ ihre Überlegungen auf Wanderschaft gehen.

Diese Anwältin benahm sich nicht wie eine Frau, die in wenigen Monaten vor dem Traualter stand. Stattdessen schien Kostja mehr wie einer ihrer besten Freunde zu sein. Aus welchen Gründen heirateten sie? War das normal?

Unwillkürlich musste Emily an Nick und Ian denken. Dass sie ineinander verliebt waren, erkannte selbst ein Blinder. Doch wenn sich diese beiden Sturköpfe zusammen in einem Raum aufhielten, stand die Luft in Flammen.

Sie schrien, sie stritten und sie gingen sich verbal an die Kehle. Das war ein Kräftemessen, dessen Ausgang nur die beiden kannten. Sobald der erste Stuhl oder die erste Vase gegen die Wand donnerte, hielten selbst die Bediensteten wohlweislich Abstand.

War das normal?

Adrienn klatschte in die Hände. „Das hätte ich fast vergessen! Eigentlich wollte ich dir noch etwas erzählen, Kostja. Ich habe deinen Onkel zufällig in der Stadtmitte getroffen. Er hat mir gesagt, dass nächsten Monat ein neuer Arzt im Krankenhaus anfängt, der einen Assistenten haben will. Aber er hat sich nicht mit irgendjemandem zufriedengegeben. Du sollst die Stelle bekommen und wenn ihm der Wunsch verwehrt wird, dann soll Doktor Gerassimow bleiben, wo der Pfeffer wächst, um den Kerl zu zitieren. Vielleicht kennst du ihn, sein Name lautet Doktor Albert Grey. Scheint ein Engländer oder Amerikaner zu sein, aber mehr weiß ich auch nicht über ihn.“

Kostja ließ seinen Blick zu Emily gleiten. „Den Namen habe ich schon einmal gehört“, erwiderte er und leerte das Glas mit dem Aspirin in einem Zug. „Was hat mein Onkel dazu gesagt?“

„Dein Onkel hat zugestimmt. Er meinte, er könnte es sich nicht erlauben, dass Doktor Grey den Posten im Krankenhaus ausschlägt, weil er wohl zu den besten Ärzten im Bereich der Neurochirurgie gehört. Vermutlich hätte ich dir das etwas schonender beibringen sollen. Tut mir leid.“

Abwehrend hob Kostja die Hand. „Du musst dich nicht dafür entschuldigen“, erklärte er seiner Verlobten amüsiert. „Ich bin schon gespannt, was das für ein Kerl ist. Sollte er mir unsympathisch sein, kann er bleiben, wo der Pfeffer wächst.“

Emily verschluckte sich fast an ihrem Orangensaft. Doktor Grey war ein vampirischer Arzt, der von Ian während des Ersten Weltkriegs verwandelt wurde. Seitdem stand er in den Diensten der Familie Colquhoun.

Er kümmerte sich um alle Wesen, die seiner Hilfe bedurften und besaß eine eigene Praxis in der Innenstadt, die mit den modernsten Technologien ausgestattet war. Warum wollte er in einem Krankenhaus arbeiten?

Wahrscheinlich hatte Ian seine Finger im Spiel. Damit erklärte sich die völlig absurde Anordnung vor ein paar Wochen. Sie hatte ohnehin nicht verstanden, warum sie die Klinik von Doktor Gerassimow unter die Lupe nehmen, und Bericht erstatten sollte.

Ein Würgen riss sie aus ihren Überlegungen. In der nächsten Sekunde sprang Jason auf die Beine, stürmte durch den Raum und verschwand mit einem Hechtsprung im Badezimmer.

Kostja erhob sich auf die Füße. Er entschuldigte sich bei seinem Besuch, dann folgte er Jason und schob die Tür ins Schloss.

Adrienn lachte. „Kostja hat sich wirklich gefreut, Sie wiederzusehen, Miss Lyall. Er hat das nicht gesagt, aber es stand ihm ins Gesicht geschrieben.“ Sie schwenkte den Orangensaft in ihrem Glas. „Ich hatte immer das Gefühl, dass etwas Wichtiges in seinem Leben fehlt. Sie müssen ihm sehr viel bedeuten.“

Emily grub die Zähne in ihre Unterlippe, ihre Augen lagen auf ihren Händen. Sie wollte nicht mit Adrienn allein sein und sie wollte nicht über ihre Beziehung zu Kostja reden oder über diese seltsamen Gefühle, die sie in seiner Nähe überkamen.

Im Grunde wollte sie gar nichts sagen.

Als sie sich vor ein paar Wochen im Krankenhaus aufgehalten hatte, führte sie mit der Anwältin keinen lockeren Smalltalk. Sie hatte sich auf das Wesentliche konzentriert. Emily konnte sich schwach daran erinnern, dass sie manchmal mit Menschen gesprochen hatte, aber sie wusste nicht mehr worüber.

Nachdem sie im Alter von nicht einmal sieben Jahren zu Nick gekommen war, lebte sie isoliert in einer Burg in den schottischen Hochebenen. Sie war schon früh der Welt der Wesen begegnet, wuchs unter ihnen auf und lernte sie und ihre Lebensweise zu verstehen und zu lieben.

Mit 16 stand sie dann der alles entscheidenden Frage gegenüber, ob sie zu ihnen gehören wollte oder nicht.

Emily hatte sich für Nick entschieden - für die Familie, die sie in ihm gefunden hatte. Er war die einzige Person gewesen, zu der sie einen festen Bezug entwickelt hatte.

Ian hatte sie nicht nur zu einem Vampir gemacht, er schenkte ihr zudem ein Leben, das sie gemeinsam mit diesem Drachen führen konnte.

Sie hatte seit 931 Jahren nur selten mit Menschen geredet, denen die Welt der Unsterblichen verschlossen geblieben war. Und jetzt saß sie hier. Ihre Augen flogen zu der geschlossenen Badezimmertür, durch die gedämpfte Würgelaute und Flüche drangen.

„Er hat mir erzählt, dass ihr heiraten werdet. Glückwunsch“, wechselte Emily das Thema. Sie hatte den Eindruck, aus einem Manuskript vorzulesen „Gibt es schon ein konkretes Datum?“

Adrienn schien es nicht zu bemerken. „Ich möchte eine romantische Herbsthochzeit“, antwortete sie verträumt, ihre Augen glitten über Emily hinweg. „Willst du vielleicht meine Brautjungfer sein? Die Kleider bestehen aus gelbem Samt. Du wirst sicher hinreißend darin aussehen.“

„Warum gelb?“

„Spontaner Einfall. Ich mag Rothaarige in Gelb.“

Emily presste die Lippen zusammen, die Stirn in Falten gelegt. Was sollte bitte eine Brautjungfer sein?

Sie setzte ein Lächeln auf, um ihre eigene Unsicherheit zu kaschieren. „Das würde ich wirklich gerne“, erklärte sie mit gespielter Freude und hoffte, in ihrer Rolle authentisch zu wirkte. „Aber ist Kostja damit einverstanden?“

Zumindest nahm sie an, dass der Bräutigam ein Mitspracherecht hatte. Warum musste es so schwierig sein, sich mit Menschen zu unterhalten?

Adrienn winkte ab. „Er hat nichts zu melden und das weiß er“, erklärte sie belustigt, stand auf und ergriff die Hände des Mädchens. „Mach‘ dir keine Gedanken.“

Die Tür zum Badezimmer öffnete sich. Jason kam herausgetorkelt, weiß wie die Farbe an der Wand. Kostja folgte ihm, einen Putzlappen zwischen den Fingern. Emily runzelte die Stirn, befreite sich von Adrienn und stand auf.

Hart trommelte ihr das Herz gegen die Rippen. Warum konnte er nicht aussehen wie eine schleimige Kröte?

„Miss Becskei hat mich gefragt, ob ich ihre Brautjungfer sein möchte“, warf sie in den Raum und klang dabei nicht ganz so begeistert wie erhofft.

Kostja öffnete den Mund, klappte ihn wieder zu und sah mit starrer Miene zu Adrienn. Emily wusste nicht, was sie von der Reaktion halten sollte. Mochte er die Vorstellung nicht, dass er sie auf seiner Hochzeit zu Gesicht bekam? Es fiel ihr schwer, den Assistenzarzt einzuschätzen.

„Ich muss nach Hause“, erklärte Emily verkrampft lächelnd. „Mein Bruder wartet auf mich. Ich wünsche noch einen schönen Tag.“

Adrienn trat auf sie zu. „Warte.“

Das Mädchen drehte sich auf dem Absatz um und spürte einen Schmerz, der sie unerwartet heftig traf. Diese Frau war unglaublich schön. Hochgewachsen und gertenschlank, mit endlos langen Beinen, sanft gerundeten Hüften und einer üppigen Oberweite.

Emily ließ gedanklich den Kopf hängen. Mit 16 hatte sie nicht darüber nachgedacht, dass ihre körperliche Entwicklung durch die Verwandlung in einen Vampir gänzlich zum Stillstand kam.

„Die erste Anprobe findet nächsten Monat statt. Wenn das für dich in Ordnung ist, lasse ich mir von Kostja deine Handynummer geben und werde dich dann rechtzeitig informieren.“ Adrienn stieß ihrem Verlobten den Ellenbogen in die Rippen. „Bring‘ sie nach Hause. Es gibt einfach zu viele Kinder, die sich für Gangster halten.“

Kostja grinste. „Die gibt es auch hier drin.“

Der Assistenzarzt übergab seiner Verlobten den Putzlappen, drückte ihr einen Kuss auf die Wange und kämpfte sich in seine Schuhe. Er hatte die Haustür noch nicht ins Schloss gezogen, als mehrere Chipstüten schimpfend an ihm vorbeiflogen.

„Daneben“, rief Kostja grinsend.

„Ich verstehe nicht“, sagte Emily, als er nach ihrer Hand fasste.

Lachend lief er die Treppe runter, flüchtete über die Straße und versteckte sich in einer Gasse. Der sonst so ernste Assistenzarzt zeigte eine fast spitzbübische Kindlichkeit, ein Feuer, dass sie nicht erwartet hatte und dass sie fesselte, mitriss und in ihr loderte.

Er wartete einen Moment, dann setzte er seinen Weg fort. Wie zwei Teenager, die etwas angestellt hatten, liefen sie lachend durch die Straßen von Budapest, wichen ungeschickt entgegenkommenden Passanten aus und animierten ein paar Autofahrer zu einem wütenden Hupkonzert.

Emily war verwirrt, aber sie hatte schon seit einer sehr langen Zeit nicht mehr so viel Spaß gehabt.

Kostja blieb neben einem Restaurant stehen, schnappte nach Luft und sah keuchend zu dem Mädchen, das am liebsten niemals aufhören wollte zu rennen.

„Geschafft“, brachte er gut gelaunt hervor. „Jetzt hat sie Jason am Hals.“

Emily stimmte in sein Lachen ein. „Du spinnst doch.“

Seine Augen funkelten. „Auf jeden Fall.“

Weil er nicht länger auf der Flucht zu sein schien, schlenderte er mit Emily gemütlich durch die dunklen Straßen der Stadt und erzählte ihr nebenbei von Dingen, die ihn interessierten. Bis er unerwartet das Thema wechselte.

„Wie kommt es eigentlich, dass dich Adrienn als ihre Brautjungfer möchte?“

Emily errötete peinlich berührt. „Also, um ehrlich zu sein ...“, druckste sie und zerknautschte den Stoff ihrer Kleidung zwischen den Fingern. „... ich habe keine Ahnung, was eine Brautjungfer ist. Ich habe nur aus Höflichkeit zugesagt.“

Der Assistenzarzt blieb unvermittelt stehen. „Ohne Scheiß?“, hakte er verdattert nach.

Die Augen auf sein Gesicht gerichtet, schürzte Emily die Lippen. „Du bist gemein.“

Kostja tätschelte ihre Schulter. „Im Prinzip sind das die engsten Freundinnen der Braut. Adrienn hat bisher niemanden gefragt und dich kennt sie gar nicht, darum hat es mich überrascht.“

Die Zähne in ihrer Unterlippe vergraben, die Arme vor der Brust verschränkt, wog Emily nachdenklich den Kopf. Sie versuchte, sich vorzustellen, dass Adrienn eine Freundin in ihr sah, doch zu ihrem Leidwesen scheiterte sie kläglich.

Kostja betrat die menschenüberfüllte Metró am Ferenciek Platz. Während sie über die Stufen gingen, griff er nach ihrer Hand, zog sie hinter sich und kämpfte sich mit ihr durch die Masse von Pendlern. Gemeinsam traten sie auf den Bahnsteig, wobei sie haarscharf einem Dutzend Männern und Frauen auswichen, die mit Aktenkoffern, Regenschirmen und Taschen hantierten und über das verzögerte Eintreffen der blauen Linie M3 schimpften.

Emily stellte sich auf ihre Zehenspitzen, reckte den Hals und flüsterte Kostja ins Ohr. „Was muss ich machen?“, wollte sie von ihm wissen. „Ich meine, eine Brautjungfer muss doch für irgendwas gut sein.“

Er fing seine Begleiterin auf, nachdem sie von einer älteren Frau zur Seite gestoßen wurde, die sich mit den Ellenbogen einen Weg durch die Menschenmenge erkämpfte.

„Soweit ich weiß, bist du jetzt ein Helfer der Braut“, beantwortete er ihre Frage mit einem Lächeln. „Adrienn wird dich nach deiner Meinung fragen und dich bei sämtlichen Planungen zu Rate ziehen. Im Prinzip musst du dafür sorgen, dass sie sich ganz auf ihren großen Tag konzentrieren kann.“

Emily guckte schief. „Kann sie dafür nicht einen Partyplaner engagieren? Das macht Ian immer, damit er sich nicht um lästige Details kümmern muss.“

Der Assistenzarzt lachte abermals. „Mach dir keine Sorgen, ich kenne Adrienn. Dass sie etwas aus der Hand gibt, kann ich mir nicht vorstellen. Natürlich ist so eine Hochzeit eine riesengroße Belastung und allein kaum zu bewältigen. Mich hat sie aus ihren Plänen ausgeschlossen, weil ich es gewagt habe den Herbst-Aspekt unterschwellig zu kritisieren.“

Zwischen ihren Augenbrauen bildete sich eine steile Falte. „Toll“, sprudelte es aus Emily hervor. Hilflos warf sie die Arme in die Luft. „Ähm ... nicht, dass ich mich nicht geehrt fühle ... glaube ich jedenfalls. Nur ... ich bin wohl die letzte Person auf diesem Planeten, die auch nur den blassesten Schimmer davon hat, wie sie mit Menschen umgehen soll.“ Als Kostja sie zweifelnd ansah, fügte sie erklärend hinzu: „Ich habe den größten Teil meines Lebens isoliert gelebt und jetzt habe ich einfach kein Interesse mehr an Menschen.“

Kostja lächelte. „Keine Angst, du schaffst das. Adrienn und du, ihr werdet super miteinander auskommen“, versuchte er, die Sorgenfalten auf ihrer Stirn wieder zu glätten. „Ich kann mir nichts anderes vorstellen. Und wenn es dir wirklich zu viel wird, kannst du es ihr auch offen sagen. Sie schätzt Ehrlichkeit.“

Bevor Emily etwas erwidern konnte, rauschte ein blank polierter Zug in die Station ein, gefolgt von einem kalten Windstoß, der sie fast von den Füßen riss. Die Türen öffneten sich mit einem vernehmlichen Zischen. Kostja fasste nach ihren Schultern, zog sie von der über den Boden verlaufenden Markierung weg und schob das Mädchen hinter seinen Rücken.

 Die aussteigenden Menschen hätten sie in ihrer Ungeduld niedergetrampelt. Zeitgleich quetschten sich die auf dem Bahnsteig wartenden Pendler in die vollgestopften Waggons. Das führte dazu, dass innerhalb von Sekunden ein Gewirr von durcheinanderschreienden Stimmen die Metró am Ferenciek Platz durchzog.

Es war das gleiche Theater wie jeden Tag.

Kostja ergriff Emily an der Hand, nutzte den Moment, als sich eine Frau und ein Mann gegenseitig anbrüllten, und sprang in den Zug, der den beiden Streithähnen vor der Nase wegfuhr.

Er führte Emily zu einem freien Sitzplatz. „Vielleicht sollte ich mir die nächste Brautjungfer aussuchen“, nahm er das Gespräch wieder auf und grinste. „Einfach nur um sie zu ärgern.“

„Nimm‘ Jason“, schlug ihm Emily lachend vor. „Er würde in einem gelben Samtkleid sicher bezaubernd aussehen.“

Den Rest der Fahrt verbrachten sie damit, sich einen Plan nach dem anderen auszudenken, die sich in ihrer Idiotie stets mühelos überboten. Angefangen von Ring tragenden Ziegenböcken über Wildschweine im Jackett bis hin zu Flamingos, die die Bowle ausschenkten.

Kostja spielte mit dem spontanen Einfall, eine deutsche Rockband anzuheuern. Emily fand ein Hochzeitskleid in allen Regenbogenfarben mit pinken Einhorn-Schuhen eine gute Idee, ebenso, dass die Gäste eine Schweinemaske aus Pappmaschee trugen.

Offenbar fühlten sich die übrigen Passagiere durch die Unterhaltung gestört, denn nach drei Stationen hatten sich die Sitzplätze um sie herum geleert. Die beiden sahen einander spitzbübisch an, dann brachen sie in Gelächter aus. An der nächsten Haltestelle verließen sie den Zug.

„Emily, ich will dir schon länger etwas sagen“, murmelte Kostja, die Hände in den Hosentaschen. Seine Mundwinkel zuckten. „Du bist wirklich klein.“ Bevor sie sich auf ihn hätte stürzen können, die Fäuste erhoben, hielt er ihre Arme fest. „Damit wollte ich dich nicht beleidigen.“

Sie lachte unbeschwert. „Das weiß ich.“

„Es ist nur ... wenn ich dich ansehe, ohne daran zu denken, wie du dich gibst oder wie alt du tatsächlich bist, habe ich das Gefühl, dass ein Teenager vor mir steht.“ Er stieß die Luft aus seinen Lungen. „Heute Morgen habe ich von dir geträumt und was ich geträumt habe, dazu habe ich kein Recht. Du bist eine gute Freundin für mich, teilweise bist du wie eine kleine Schwester. Aber seit ich diesen Traum ... gottverdammt, irgendwas hat sich verändert. Als du mich heute so angestarrt hast, wusste ich, dass du ganz sicher kein Kind bist und ...“

Bevor er sich weiter um Kopf und Kragen reden konnte, fiel ihm das Mädchen ins Wort: „Kostja, atmen. Das war nur ein Traum. Du brauchst dich nicht schämen. Ich glaube, das ist völlig normal.“ Spielerisch schlug sie ihm gegen den Arm. „Außerdem wirst du bald heiraten. Du kriegst langsam kalte Füße. Alles in Ordnung.“

Kostja nahm Emily in den Schwitzkasten und zerzauste ihr die Haare. „Du bist ganz schön frech. Mach nicht plötzlich einen auf Erwachsen. Das ist unheimlich.“

Lachend klopfte sie ihm auf den Arm und er ließ sie los. Gemeinsam streiften sie durch einen etwas entlegeneren Teil der Stadt, der nach ein paar Querstraßen an den Városliget angrenzte. Die an den Straßenecken stehenden Lampen wurden flackernd in Betrieb genommen.

Emily dachte darüber nach, dass Kostja eine interessante Feststellung gemacht hatte. Ob das bewusst passiert war, konnte sie nicht sagen.

„Ich werde mich nicht mehr weiterentwickeln. Durch die Verwandlung in einen Vampir, werde ich bis in alle Ewigkeit 16 bleiben, Kostja. Nur mein Geist reift weiter.“ Sie seufzte auf. „Das ist eines der Dinge, um die ich Adrienn beneide.“

Kostja hüllte sich in Schweigen. „Darum steht in deiner Krankenakte das du 16 bist.“ Er sah sie an. „Wer hat dir das angetan?“

„Niemand. Ich wollte das ... dieses Leben.“

Damit war das Thema beendet. Nachdem sie ein schmiedeeisernes Tor erreicht hatten, versuchte Kostja, einen Blick auf das riesige Haus dahinter zu erhaschen. Er sah aber nur Bäume, Gras, einen Kiesweg und Schatten.

„Ich würde gerne sagen, dass du es ganz schön hier hast, aber das Ding gibt leider nicht viel her.“

Das Mädchen schmunzelte. „Du könntest auch nicht mehr sehen, wenn das Tor offenstehen würde“, erwiderte Emily gut gelaunt. „Der Garten ist wirklich riesig.“

Kostja stieß sie humorvoll zur Seite. „Gib nicht so an, du Snob“, zog er sie auf.

„Dafür hast du es gemütlich“, gab sie zurück, trat an das Tor heran und schlang ihre Finger um eine Stange. „Deine Wohnung ist zwar klein, aber das mag ich.“ Sie warf ihm einen rätselhaften Blick zu. „Ich möchte dich etwas fragen, aber versteh‘ mich bitte nicht falsch.“

Kostja nickte. „Schieß los.“

Sie drehte sich um, holte tief Luft und fühlte, wie ihr die Hitze über den Hals in die Wangen kroch. „Ich würde gerne wissen, ob du mich ...“ Beschämt spielte sie mit ihren Fingern. „Also ... findest du mich ... findest du mich attraktiv?“

Er riss die Augen auf. „Was?“

„Ich habe dir doch gesagt, du sollst es nicht falsch verstehen. Ich möchte nur, dass du mir eine ehrliche Antwort gibst. Ich habe dir erzählt, dass ich nicht mehr wachsen werde und auch, wenn es keinen Mann gibt, an dem ich ein besonderes Interesse habe, stelle ich mir doch die Frage, ob ich im Fall eines Falles überhaupt Chancen als Frau habe oder überhaupt als Frau durchgehe.“

Kostja kratzte sich am Hinterkopf. Emily hatte ihm ihre Frage ohne Gefühl gestellt. Sie empfand nichts Nennenswertes dabei. Sie hatte sich mit der Vorstellung, auf ewig diesen Körper zu besitzen angefreundet. Wenn sie einen Blick in den Spiegel warf, sah ihr dieses Gesicht daraus entgegen. Ein Gesicht, das sie eigentlich ganz gerne hatte und das seine Vorzüge besaß.

„Muss ich die Frage beantworten?“, wollte Kostja leidend wissen und als Emily nickte, sah er ein, dass er keine Wahl hatte. „Du entsprichst nicht ganz meinem Geschmack. Sorry. Du bist mir persönlich zu dünn und zu klein. Aber wenn wir uns als Fremde auf offener Straße über den Weg gelaufen wären, hätte ich mich definitiv nach dir umgedreht. Du hast etwas an dir, dem man sich nur schwer entziehen kann und du bist trotz deines jugendlichen Aussehens sehr attraktiv.“ Er wurde blass. „Gott, ich kann nicht glauben, wie falsch das klingt.“

Emily lachte. „Wenn ich dich richtig verstehe: Im Fall eines Falles hätte ich Chancen. Mach‘ es doch nicht so kompliziert.“

Der Assistenzarzt nickte. „Ich bin mir sicher, dass es viele Kerle in deinem Alter gibt, die …“

„Nein.“ Sie hob die Hände, ihre Wangen glühten im Licht der Straßenbeleuchtung wie eine Signalfackel. „Sag‘ es nicht. Die Vorstellung ist ekelhaft.“

Kostja breitete die Arme in einer auffordernden Geste aus. Auch wenn das Mädchen nicht verstand, kam sie näher und ließ sich von ihm an seine Brust ziehen.

„Mach’s gut.“

Sie löste sich wieder von ihm und trat einen Schritt zurück. „Pass auf dich auf.“

Als sie zum Tor ging, auf eine Klingel drückte und darauf wartete, dass ihr geöffnet wurde, fragte Kostja aus einem Impuls heraus: „Sag‘ mal, wer ist Nick eigentlich wirklich?“

Ihr Lächeln reichte von einem Ohr zum anderen. „Wir sind zusammen aufgewachsen“, erklärte sie und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. „Das macht uns wohl zu so etwas wie Geschwistern, aber eigentlich ist er mein Sponsor.“

Das Tor begann sich lautlos zu öffnen. „Was ist ein Sponsor in deiner Welt?“

„Willst du das wirklich wissen?“

Kostja dachte kurz nach. „Nein, eigentlich nicht.“ Er hob zum Gruß die Hand. „Bis Morgen.“

Er durfte noch nicht gehen. Emily musste ihm noch etwas Dringendes beichten.

„Kostja, die Flyer im Krankenhaus ...“

Sein Lächeln reicht von einem Ohr zum anderen. „Vergiss es einfach, Miss weiß nicht, was eine Brautjungfer ist.“



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