Zum Inhalt der Seite

Schrei der verlorenen Kinder

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Prolog

Prolog

Ein dunkler, düsterer Raum wurde nur mit Kerzenlicht erhellt. Das Licht flackerte und verlieh dem Ort eine unheimliche Note. Dies wurde von dem Mädchen im Zentrum des Raumes noch unterstrichen. Ganz in Schwarz gehüllt sprach ihre Körperhaltung die Sprache von Zorn und Hass. Ihre sonst so hellen Haare wirkten dunkel und die Augen blickten kalt und entschlossen auf das Messer, welches sie in ihren Händen wog. Sie wandte ihren Kopf zur Seite und blickte in ein altes, vergilbtes Buch. Seltsame Zeichen waren darin abgebildet und verhießen nichts Gutes. Ein dünnes Lächeln umspielte den Mund des Mädchens, welches eigentlich kein Mädchen mehr war, doch eine Frau war sie auch nicht. „Jetzt mache ich dich fertig, Schwesterlein.“ flüsterte sie noch und griff nach etwas, was außerhalb des Lichtkegels befand.
 

Ein zitterndes Kaninchen kam zum Vorschein. „Du wirst ihnen sicherlich gefallen, mein Kleiner. Aber vor allen Dingen werden sie dein Blut lieben!“ Mit diesen Worten nahm sie das Messer und schnitt dem Kaninchen entschlossen die Kehle durch. Das Blut, das aus der Wunde quoll, ließ sie in einen goldenen Kelch fließen. Als das Kaninchen kein Blut mehr hergab, warf sie es wie eine Dose achtlos über ihre Schulter. Das Mädchen legte das Messer beiseite und begann eine Formel, die sie aus dem Buch zu haben schien, zu sprechen. Die Worte, die sie sprach, verstand man nicht, denn die Sprache schien sehr alt zu sein. Mit einem Mal flackerten die Flammen unruhig auf, als würde ein nichtvorhandener Luftzug durch den Raum gehen. Ungeachtet dessen, sprach das Mädchen weiter. Die Kerzen flackerten immer mehr, bis sie ausgingen. Der Raum wurde in Dunkelheit getaucht, die alles schluckte. Noch immer sprach das Mädchen ihre Formel und tat, als bemerke sie die Dunkelheit nicht. Sie merkte, dass sie nicht mehr alleine war. Ein bestialischer Geruch nach verbranntem Fleisch breitete sich aus.
 

Ein grässliches Knacken war zu hören und eine Stimme begann zu sprechen: „Was will so ein kleines, unbedeutenes Geschöpf, wie du es bist, von einem Dämon aus den Tiefsten der Hölle?“ Die Stimme war nicht mehr als ein Brennen und Zischen, wie die Höllenfeuer selbst. Das Mädchen beendete ihre Formeln und sprach entschlossen. „Ich will einen Pakt mit dir schließen. Mach mich schöner, beliebter und besser als meine kleine Schwester!“ Während sie sprach, schwang Wut und Hass mit jedem Wort mit. Der Dämon gab ein zischendes Geräusch von sich. Ein Lachen, auch wenn man es nicht als solches erkannte. „Ein Pakt? Und was bietest du mir dafür? Komm nicht auf die Idee, mir deinen Teddybären dafür geben zu wollen. Für solche Kindereien habe ich keine Zeit!“ Der Dämon bewegte sich. Ein leichtes Scharren war zu hören. Das Mädchen stieß ärgerlich Luft aus. „Du bist kein Dämon aus der Hölle. Sonst würdest du nicht so reden! Also verarsch mich nicht und bring mir einen echten Dämon her.“ verlangte sie. Wieder zischende Geräusche. Wieder lachte der Dämon. „Du dummes Gör! Was weisst du schon von Dämonen? Gar nichts! Du findest ein altes Buch, das dir das Blaue vom Himmel verspricht und du bist auch noch so naiv und glaubst den Quatsch darin. Wir leben unter Euch, mit Euch, um Euch herum! Warum sollten wir unten in der Hölle sitzen, wenn wir Euch doch auch so quälen können? Warum warten, bis ihr tot seid? Also! Was bietest du?“ Das Mädchen schluckte.
 

Es schien, als wolle sie noch mal überlegen, aber dann sprach sie entschlossen: „Die Seele meiner Schwester. Wenn es stimmt, was in dem Buch steht, dann kannst du dir in zehn Jahren die Seele meiner Schwester holen. Unter der Voraussetzung, dass ich erfolgreicher bin als sie!“ Jedes einzelne Wort war genau abgeschätzt. Sie betonte den Preis mit jeder Silbe, die die Worte hergaben. Der Dämon bewegte sich wieder. „Du hasst sie wirklich sehr, dass du sie als Preis anbietest. Doch was gibt mir die Sicherheit, dass ich sie wirklich bekomme? Ausserdem hat dieser Pakt keinerlei Reiz für mich. Für diese Art des Paktes würde ein zweitklassiger Handlanger auch reichen. Also? Warum gerade ich?“
 

„Wenn dir an diesem Pakt der Reiz fehlt, dann nenn mir doch etwas, was ihn interessanter gestalten würde?“ „Hey, ich bin ein Dämon! Schon mal in Betracht gezogen, dass ich auch meinen Spass haben will? Ich will Leid, Schreie, Qualen! Noch nie einen guten Horrorfilm gesehen?“ Das Mädchen seufzte. „Also wenn du Schreie willst, dann bist du bei meiner Schwester an der richtigen Adresse. Die fürchtet sich sogar vor ihrem eigenen Schatten. Also, der Pakt sieht wie folgt aus: Du machst mich besser als meine kleine Schwester. Das heißt, schöner, beliebter, klüger und besser als sie. Und das OHNE negative Nebenwirkungen für mich! Und dafür darfst du meine Schwester quälen, hetzen, zum Schreien bringen und so weiter. Als Sahnehäubchen bekommst du in zehn Jahren ihre Seele. Und wie du sie dir holst, ist mir auch egal. Ist das so zu deiner Zufriedenheit?“ Man hörte die Ungeduld in ihrer Stimme. Der Dämon lachte wieder sein zischendes Lachen.
 

„Ein interessanter Pakt, der Spass verspricht. Gibt es irgendwelche Einschränkungen bei der Art der Quälungen?“ Das Mädchen knirschte mit den Zähnen. „Nur eine! Sie darf erst in zehn Jahren den Löffel abgeben. Bis dahin darfst du mit ihr verfahren, wie es dir beliebt. Ist jetzt alles geklärt?“ „Deine Ungeduld wird dir dein Grab schaufeln. Nur ein kleines Wort der Warnung.“ Wieder war ein Scharren zu hören. Dann plötzlich Feuer. Überall Feuer. Der Raum war ein einziges Meer aus Flammen.
 

Einzig in der Mitte des Raumes gab es einen Ring, den die Flammen mieden. In diesem Ring saß das Mädchen und blickte kreidebleich auf die Gestalt vor sich. Ein verzerrtes Etwas mit dem toten Kaninchen im Mund stand auf vier stelzenähnlichen Beinen. Es wirkte sehr insektenähnlich. Das Wesen richtete sich langsam und unter schier großem Kraftaufwand auf, bis es auf zwei Beinen stand. Dann begann es seine Form zu verändern. Das Kaninchen fiel zu Boden, während die Beine dicker wurden. Die oberen Beine wurden kürzer und am Anfang bildeten sich Hände, aus denen jeweils 5 Finger spreizten. Der längliche Kopf wurde kleiner und rundlicher, bis er die Form eines Menschenkopfs hatte. Zwei Augen, eine Nase und ein Mund zeichneten sich ab und auch der Rest des Körpers nahm endgültig menschliche Züge an. Nun stand ein gutaussehender, junger Mann im Designeranzug mitten in den Flammen vor dem Mädchen.
 

„Es tut gut, wieder diese Gestalt zu haben. Also, junge Miss. Pakt geschlossen?“ Er hielt ihr die Hand hin, zum Zeichen, dass sie einschlagen sollte. Unsicher rappelte diese sich auf. Kurz entschlossen schlug sie ein. „Pakt geschlossen.“ Im nächsten Moment zuckte sie vor Schmerz zurück und ein Schrei entwich aus ihrem Mund. Der Dämon grinste. „Du hättest das Buch aufmerksamer lesen sollen. Regel Nummer 2: Berühre niemals einen Dämon. Sei Froh, dass ich dir nur das Zeichen unseres Paktes ins Fleisch brenne. Einige andere meiner Zunft pflegen, den ganzen Körper zu verbrennen, um diese zu entstellen. Und weisst du, was das Beste ist? Ausser dir und mir wird keiner die Verbrennungen sehen.“ Mit diesen Worten ließ der Dämon das Mädchen los. Diese sank zusammen und hielt sich das schmerzende Handgelenk. Dann blickte sie auf. In ihren Augen spiegelte sich der Hass. „Das ist mir egal. Hauptsache, Mai leidet Höllenqualen. Sie verdient es nicht, geliebt zu werden!“

Der Traum

Der Traum
 

Eine Stadt lag im Dunkeln. Umgeben von Wald und Bergen, führte einzig eine Straße zu der Stadt. Eine richtige Stadt war es nicht. Eher ein verschlafenes Städtchen am Rande eines Gebirges. Wie ausgestorben waren die Straßen. Keine Menschenseele war zu sehen. Kein Licht brannte in den Häusern. Auch die Straßenlaternen waren erloschen. Wolken schoben sich vor den Vollmond. Das Städtchen lag im Dunkeln.
 

An einer Seitenstraße regte sich etwas. Vier Gestalten tauchten aus den Schatten auf. Zwei waren größer als die anderen beiden. Die kleineren Gestalten klammerten sich aneinander, sodass es schien, als könne sie nichts trennen. Der Vollmond kam hinter den Wolken hervor und warf sein fahles Licht auf das Städtchen und somit auch auf die Gestalten. Nun erkannte man, dass es Menschen waren. Zwei Erwachsene, in Begleitung von zwei Kindern, die sich angstvoll aneinander geklammert hatten. In den Händen der Erwachsenen glänzten Revolver im Mondlicht. Vorsichtig und mit gehobenen Waffen suchten sie die Straßen ab. Es waren eine Frau und ein Mann, während beide Kinder Mädchen im Alter von 7 oder auch 8 Jahren waren. Der Mann winkte die Frau und die Mädchen weiter. Hastig überquerten sie die Straßen und nahmen den Weg zwischen zwei Gebäuden. Am Ende des Weges würden sie auf die Hauptstraße des Städtchens kommen.
 

Die Frau blieb stehen und lauschte angestrengt. Dann winkte sie den Mann zu sich. Er ging an den Mädchen vorbei. „Wir müssen es schaffen, bis zum Morgen zu überleben. Dann können wir mit den beiden fliehen.“ flüsterte die Frau auf den Mann ein. Dieser nickte. „Aber wir können nicht zusammen bleiben. Wenn wir uns trennen, dann erhöhen sich unsere Überlebenschancen!“ Die Frau griff nach dem Arm es Mannes. „Gavin, nein! Das lasse ich nicht zu. Was soll ich den ohne dich machen?“ Die Stimme der Frau klang panisch und zittrig. Der Mann, Gavin, schüttelte den Kopf. „Hayley, es gibt keine andere Möglichkeit. Wenn wir zusammenbleiben und entdeckt werden, sind wir alle tot. Wenn wir uns trennen, dann besteht wenigstens die Chance, dass einer von uns fliehen kann. Bitte, es gibt keine andere Möglichkeit! Wir müssen die Welt irgendwie warnen! Sonst ist alles verloren!“ Hayley schluchzte. „Wäre ich doch nie hierher gezogen…“ Verbitterung war deutlich in ihrer Stimme zu hören. Gavin legte seine Hand auf ihre Schultern. „Hayley, mach dir keine Vorwürfe, du kannst es sowieso nicht mehr rückgängig machen. Komm, wir gehen jetzt in unsere Häuser und gehen in die Zimmer der Kinder. Dort machen wir das Licht an. Du weißt, unsere Häuser liegen genau gegenüber. Von den Kinderzimmern aus können wir über die Fenster in Kontakt bleiben.“
 

Hayley nickte und beruhigte sich. „In Ordnung. Die Luft ist rein. Schnell!“ Sie griff nach der Hand des einen Kindes und zog beide somit auseinander. Bevor die Mädchen etwas dagegen tun konnten, griff Gavin nach der anderen und zog sie auf die Straße. Schnell rannte Hayley mit dem Mädchen, das anfing leise zu schluchzen, über die Straße zu einem der vielen Reihenhäuser. Gavin verschwand mit dem anderen Mädchen im Reihenhaus genau gegenüber. Hayley suchte mit zitternder Hand etwas in ihrer Tasche, während sie mit der anderen Hand sowohl Revolver als auch das Kind festhielt. Das Mädchen starrte mit großen, vor Angst geweiteten Augen auf die Waffe. Man hörte etwas klirren. Hayley hatte einen Schlüsselbund aus der Tasche gefischt, der ihr im nächsten Moment aus der Hand gefallen war. Das Geräusch hallte durch das menschenleere Städtchen. Hayley schluckte und hob rasch den Schüsselbund auf. Mit fliegender Hast nahm sie einen Schlüssel und steckte ihn ins Schlüsselloch. Wieder zitterte ihre Hand derart stark, dass sie den Schlitz nicht traf. Nach dem dritten Anlauf klappte es endlich. Kaum war die Tür aufgeschlossen und offen, schob sie das Kind panisch in Haus. Den Schlüssel ließ sie stecken.
 

Mit eiligen Schritten jagte Hayley, das Kind hinter sich her ziehend, die Treppen und einen dunklen Flur entlang. Unterwegs machte sie alle Lichter an, an dessen Schalter sie vorbeikam. Sie stürmte in ein Zimmer rein, als wäre der Teufel persönlich hinter ihr her. Im Zimmer ließ sie das Mädchen endlich los und eilte zum Fenster. Ein Blick aus dem Fenster reichte, um zu sehen, dass das Haus gegenüber auch hell erleuchtet war. Am Fenster des anderen Hauses erschien Gavin und winkte ihr aufmunternd zu. Erleichterung spiegelte sich in Hayleys Gesicht, als sie zurückwinkte. Sie drehte sich um und sah nach dem Kind. Das Mädchen hatte sich eins seiner Kuscheltiere genommen und in eine Ecke gesetzt. Von dort starrte das Kind fast panisch unter das Bett. Hayleys Stirn runzelte sich. Sie bückte sich und kniff die Augen zusammen und wurde mit einem Mal kreidebleich.
 

Bevor sie etwas tun konnte glitt langsam und quietschend die Schranktür auf. Eine scharrende Stimme war zu hören, als sie flüsterte: „Kleines, gutes Mädchen, hab keine Angst. Wir tun dir nichts. Hier, trink das und alles wird gut werden.“ Ein kleines Fläschchen mit einer klaren Flüssigkeit darin fiel aus dem Schrank und rollte auf das Mädchen zu. Diese vergrub sich noch mehr in ihr Kuscheltier. Hayley erwachte aus ihrer Starre und griff nach dem Fläschchen. Mit einer raschen Handbewegung warf sie es zurück in den Schrank und warf sich mit all ihrem Gewicht gegen die Schranktür, die knallend zukrachte. „Sie wird euer todbringendes Gesöff nicht trinken!!!!! Merkt Euch das!! “ schrie sie dabei. Sie hob schnell das Springseil, welches auf dem Boden lag, auf und wickelte es um die Knäufe des Schrankes. Was auch immer im Schrank war, es kam nicht mehr heraus, sosehr es das auch versuchte.
 

Hayley, die sich dem Bett zugewandt hatte, erschrak, als ein Schuss die Stille der Stadt zerriss. Das Kind schrie. Hayley sprintete zum Fenster. Das Haus gegenüber hatte sich nicht verändert. Doch noch während Sie hinschaute, erloschen die Lichter wie von Geisterhand. Einzig im Zimmer genau gegenüber brannte noch licht. Durch das geöffnete Fenster sah man nichts. Nur das Bett des Kindes, in dem es für gewöhnlich schlief. Doch nun war es leer. Hayley öffnete das Fenster. „Gavin!!“ schrie sie in die Nacht. Doch es kam keine Antwort. Das Kind hinter ihr begann zu wimmern. Die Schranktür war noch immer geschlossen, doch klapperte immer noch unter den Versuchen, von innen geöffnet zu werden. Unter dem Bett war eine Hand erschienen. Diese Hand glich einer Klaue. Knochig und sehnig hielt sie eins dieser Fläschchen dem Kind hin, das versuchte noch weiter in die Ecke zu kriechen. Hayley rannte mit großen Schritten durch den Raum und trat gegen die Hand, sodass das Fläschchen gegen die nächste Wand geschleudert wurde. Mit einen klirrenden Geräusch ging die Flasche zu Bruch und der Inhalt ergoss sich über den Boden, wo es mit einen Zischen den Boden verätzte. Hayley zog das Mädchen an sich und brachte sie zum Fenster. Dort hörte man die Stimmen, die aus dem anderen Haus kamen.
 

„NEIN! Trink das nicht!“ Gavins Stimme glich einem atemlosen Schrei. Doch es war zu spät. Man hörte nur noch ein Wimmern. „Es tut so weh... Mama, bitte mach, dass es aufhört. Bitte!!!“ Man hörte deutlich die tränenerstickte Stimme des anderen Mädchens. Hayley hielt dem Kind in ihren Armen die Ohren zu. Doch es brachte nichts. Mit einem Mal erstarb die Stimme des Kindes. „Großer Gott, nein!“ sagte Gavin und man hörte deutlich die Hilflosigkeit und die Erschöpfung heraus. Dann plötzlich ein lang gezogener, unmenschlicher Schrei, der das Blut in den Adern gefrieren ließ.
 

Das Haus lag nun vollkommen im Dunkeln. Nichts war zu hören. Nicht das kleinste Geräusch kam mehr von dort. Im anderen Haus drückte Hayley das weinende Mädchen an sich. Sie hatte selber Tränen in den Augen. Sie war unter das Fenster gesunken und blickte zur offenen Tür. „Was ist mit Gavin?“ fragte die dünne Stimme des Kindes. „Er ist tot. Wenn ein Kind so schreit, dann tötet es alles um sich herum.“ Hayleys Stimme brach ab. Sie wurde von den Tränen übermannt.
 

Plötzlich ging im Flur das Licht aus. Panisch sah sie, wie auch dort eine Klauenhand erschien und ein kleines Fläschchen ins Zimmer rollen ließ. „Hier, Trink, Kind. Deine Freundin hat sich auch getraut. Wenn du trinkst, werdet ihr für immer zusammen sein.“ Die scharrende Stimme war zurück. Das Kind in Hayleys Armen machte Anstalten, sich das Fläschchen nehmen zu wollen. Doch diese ließ es nicht zu. Sie blickte erst zum Revolver in ihrer Hand, dann zum Kind. Ein seltsamer, verzweifelter Ausdruck erschien in ihrem Gesicht.
 

„MAI!!!!“ Erst ein Flüstern in der Ferne. „MAI!!! JETZT STEH ENDLICH AUF, SONST KOMMST DU ZU SPÄT ZUR SCHULE!!!!“ Ein Mädchen schreckte schweißgebadet aus dem Schlaf. Nach Luft schnappend blickte sie zur Uhr auf dem Nachttischchen neben ihrem Bett. Mit einen unterdrückten Fluch sprang sie aus dem Bett.

Ein Tag voller Pech

Ein Tag voller Pech
 

„Warum hast du meinen Wecker abgestellt?“ Die Wut in der Stimme war kaum zu überhören. Ein schwarzhaariges Mädchen, halb angezogen, halb noch im Pyjama, hatte sich vor einem blonden Mädchen, welches in Seelenruhe frühstückte, aufgebaut. Mit hochmütigem Blick hob es den Kopf und sah das Mädchen vor sich herablassend an. „Was regst du dich so auf, Mai? Glaubst du wirklich, ich würde mitten in der Nacht meinen Schönheitsschlaf unterbrechen, nur um deinen dummen Wecker abzustellen? Für wie primitiv hältst du mich?“ Mit geballten Fäusten drehte sich Mai abrupt um und rannte aus dem Raum. „Das zahle ich dir heim, Dina! Verlass dich drauf!“ rief sie über die Schulter. Das blonde Mädchen zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder ihrem Frühstück zu. „Du wirst zahlen, Mai. Du wirst zahlen…“ murmelte sie.
 

Mai rannte in ihr Zimmer und schnappte sich ihre Hose und ihre Bürste. In Hast rannte sie zur geschlossen Tür des Badezimmers. „Sara! Bitte mach etwas schneller! Ich komme sonst zu spät…“ flehte sie zur Tür. Die Tür antwortete prompt. „Selbst Schuld, Mai. Musst du früher aufstehen. Du kennst die Regeln. Erst du, dann Dina und danach ich. Wenn du verschläfst, dann können wir auch nichts für.“ Mai war den Tränen nahe. „Ich weiß, Sara! Bitte, ich schreibe heute einen Test! Du weißt doch, wie die Dämisch ist. Sie lässt mich nachsitzen und schreibt mir direkt eine Sechs auf. Bitte! Gerade heute kann ich das nicht gebrauchen!“ Die Tür öffnete sich ein wenig und ein Kopf mit einem Schwall dunkelbrauner Wellen kam zum Vorschein. „Mai, du bist ein Dussel! Du weißt, dass ich den Namen dieser Lehrerin nicht dulde! Diese Frau hat mein Leben zerstört!“ Mai schlug sich die Hand vor die Stirn. „Sorry, Sara. Es war nicht mit Absicht!“ Sara schüttelte den Kopf, sodass die brauen Wellen sanft zitterten. „Schon gut. Das Bad ist jetzt frei. Na los. Beeil dich. Wenn du schnell bist, dann fahr ich dich zur Schule.“ Sara öffnete die Tür nun ganz und trat in den Flur. Dort wurde sie von Mai stürmisch umarmt. „Danke, Sara!!!! Ich mache ganz schnell. In 5 Minuten bin ich fertig!“ Mit diesen Worten ließ Mai Sara los und eilte ins Bad. Sara blickte dem schwarzhaarigen Mädchen lachend nach. Dann ging sie runter und betrat die Küche.
 

„Dina! Solltest du nicht auch langsam los?“ fragte sie das noch immer frühstückende Mädchen. Diese blickte missmutig auf. „Ich hab heute erst zur dritten, Schwesterherz. Musst du Mai wieder eine Sonderbehandlung zukommen lassen? Die hat sie nicht verdient.“ Die Augen der Braunhaarigen wurden schmal. „Diese ‚Sonderbehandlung’ ist auf deinem Mist gewachsen, Dina. Du hast schließlich ihren Wecker abgestellt. Also wundere dich nicht darüber. Und jetzt mach, dass du zur Schule kommst. Der alte Heppenmeier wird sicher erfreut sein, dich wieder in Englisch begrüßen zu dürfen. Ich bin nicht so leicht zu täuschen, wie Mama.“ Dina erhob sich knurrend und verließ den Raum.
 

Im nächsten Moment hörte man, wie jemand die Treppe runterpolterte und schon stürzte Mai atemlos in die Küche. „Fertig. Können fahren.“ stieß sie zwischen zwei Atemzügen hervor. Sara drehte sich zu ihr um und begann zu lachen. „Schwesterherz, barfuss nehme ich dich aber nicht mit.“ Mai wurde rot und blickte auf ihre nackten Füße. „Entschuldigung.“ murmelte sie und rannte noch einmal in ihre Zimmer. Schnell zog sie ein paar Stümpfe über ihre Füße und schnappte sich ihre Schuhe. Auf dem Weg nach unten rannte sie an einer halb geöffneten Tür vorbei. Im nächsten Moment sprang sie erschrocken zurück. Vor Schreck nach Luft schnappend spähte sie in den Raum. Doch er war leer. „Mai! Beeil dich. Sonst fahr ich ohne dich!“ ertönte Saras Stimme von unten. „Komme!“ rief Mai schnell zurück. Sie warf noch einen letzten unruhigen Blick in den Raum, dann rannte sie die Treppe runter und folgte ihrer Schwester zu deren Auto. Was beide nicht sahen: Aus einem der Fenster blickte ein junger Mann grinsend auf sie herab. Ein junger Mann im Designeranzug…
 

Im Auto war Mai still. Sara schaltete das Radio an. Eine lustige Melodie erfüllte das Auto. Mehrere Augenblicke sagte niemand etwas. „Mai, was ist los? Warum bist du so still?“ Ohne aufzublicken antwortete Mai monoton: „Da war jemand in Dinas Zimmer.“ Auf Saras Stirn bildeten sich Sorgenfalten. „Das hast du dir sicherlich eingebildet. Deine Phantasie ist da mit dir durchgegangen.“ versuchte sie Mai abzulenken. Diese schüttelte den Kopf. „Ich hab ihn deutlich gespürt, Sara! Bitte glaub mir. Du bist die einzige, die mich je damit ernst genommen hat. Selbst Mama und Papa lachen mich deshalb aus. Weil ich Angst vor Geistern und so etwas habe!“ Saras Blick galt dem Verkehr, doch die Sorgenfalten auf ihrer Stirn galten einzig ihrer Schwester. „Mai, ich glaub dir ja, wenn Geister und so in der Nähe sind. Aber da war niemand in unserem Haus. Ich hätte ihn doch auch gespürt. Du weißt, ich kann so was auch erspüren. Da war nichts!“ sagte sie mit Nachdruck. Doch Mai schüttelte wieder den Kopf. „Und was, wenn das Ding mächtig genug ist, um seine Anwesenheit vor dir zu verbergen? Du weiß, so etwas gibt es.“ Sara lachte freudlos auf. „Und warum kann er sich nicht vor dir verbergen? Mai, du bist meine jüngste Schwester! Ich weiß, dass du wieder diesen Traum hattest. Ich mache mir Sorgen um dich! Seit ich denken kann, scheinst du solche Dinge anzuziehen. Ich weiß, du machst es nicht mit Absicht, aber du solltest auf Mama hören und zu diesem komischen Wahrsager gehen. Dina hat es schließlich auch getan.“ Wut und Abscheu spiegelten sich in Mais Gesicht wider. „Ich geh bestimmt nicht zu diesem Scharlatan! Seit Dina bei ihm war, ist sie wie ausgewechselt. Ständig sucht sie Wege, dass ich Ärger kriege. Als würde sie mich hassen! Er kann mir nicht helfen! Eher bringt er mich um, weil ich mächtiger bin als er.“ Mai schlug sich erschrocken die Hand vor dem Mund. Sara fuhr auf den Seitenstreifen und blickte ihre kleine Schwester mit funkelnden Augen an. „Sorry… Ich … ich weiß nicht, warum ich das gesagt hab. Es ist so rausgerutscht.“ Mai war kreidebleich und blickte ihre Schwester ängstlich an. „Mai, hier wird niemand umgebracht! Weder du, noch sonst wer. Du bist auch nicht mächtiger wie er, hast du verstanden! Du bist einfach nur eine einfache 15-Jährige, die eine blühende Phantasie hat. Ist das bei dir angekommen?“ Saras Miene verriet nichts von den Gefühlen, die in ihr wüteten. Mai nickte schnell. „Ja… Ich hab… verstanden.“ Sara nickte aufatmend und reihte sich wieder in den Verkehr ein. Bis zur Schule sprachen sie kein Wort mehr. Und auch der Abschied fiel sehr karg aus.
 

Der Klassenraum war gefüllt mit Schülern, die mit rauchenden Köpfen über weißen Blättern brüteten. Einer dieser Schüler war Mai. Auf ihrem Test stand bloß ihr Name. Nicht eine Aufgabe war gelöst. Draußen vor der Tür stand gut versteckt der Dämon in seinem schicken Designeranzug und grinste. „Tja, Mai, versuch mal Aufgaben zu lösen, auf die es keine Lösung gibt. Sicherlich ein Heidenspaß für dich.“ Mit diesen Worten verschwand er plötzlich. Im Klassenzimmer hatte niemand etwas bemerkt. Die Zeit verging, ohne dass Mai eine einzige Lösung fand. Verzweifelt kritzelte sie ihre Blätter voll, in der Hoffnung, doch noch auf eine Antwort zu stoßen. Mit einem Mal klingelte die Schulglocke. Die Schüler erschraken und gaben zerknirscht ihre Teste ab. Auch Mai gab ab und verließ mit Tränen in den Augen den Raum.
 

Der Rest des Schultages war sehr turbulent. Der Englischunterricht musste für einige Zeit unterbrochen werden, weil sich Schlangen in den Klassenraum verirrt hatten. Die Schüler verließen fluchtartig den Raum. Allen voran eine schreiende Mai. Im Kunstunterricht blieb Mai, die gerade einen offenen Farbtopf in der Hand hielt, an einer Tasche hängen und vergoss die Farbe auf ihre Mitschüler und deren fast fertigen Bilder. Den Religionsunterricht, den sie eigentlich immer mochte, verbrachte sie damit, die Farbe vom Boden aufzuwischen. Als sie endlich fertig war, hatte sie Sportunterricht. Ihre Sportsachen zu Hause liegen lassend, musste sie mit Jeans und auf Socken mitmachen. Ständig rutschte sie aus und verwickelte ihre Mitschüler in Stürze. Am Ende hatten alle mehrere blaue Flecken und eine Wut auf Mai, dass diese sich ganz klein machte und schnell zum Bus floh.
 

Der Schulbus war wie immer nach Schulschluss überfüllt. Mai stand zwischen mehreren Schülern eingequetscht. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt und rot. Mit Tränen in den Augen versuchte sie sich einen Weg aus dem Bus zu Bahnen, doch ihr Pech hielt an. Der Bus fuhr einfach an ihrer Haltestelle vorbei und keinen schien das zu stören. Nachdem sie den ganzen Weg hatte zurücklaufen müssen, kam Mai mit einem müden und schmerzverzerrten Ausdruck im Gesicht nach Hause. Zu Hause begrüßte sie eine hämisch grinsende Dina.
 

„Du kommst spät heute. Was war denn?“ fragte sie schnippisch. Mais Augen funkelten vor Zorn. „Ich weiß nicht, wie du es geschafft hast, aber ich weiß, dass du dahinter steckst! Du brauchst es nicht zu leugnen. Du warst das!“ Dina gähnte gelangweilt. „Wie soll ich etwas getan haben, wenn ich noch nicht mal weiß, was? Außerdem war ich den ganzen Tag hier.“ Mai ballte die Fäuste und trat einen Schritt vor. Ihre Augen funkelten nun gefährlich. „Hör mit deinen Spielchen auf! Du hast deine Finger da im Spiel, als gib es wenigstens zu!“ Mai wollte noch mehr sagen, doch eine Bewegung im Augenwinkel ließ sie vor Schreck nach hinten springen. An der Tür lehnte ein Mann. Ein junger Mann im Designeranzug. Seine Augen blickten spöttisch auf Mai herab. Diese fuhr ihn wütend an. „Was machen sie hier im Haus? Sie haben hier nichts zu suchen!“ Ein Zittern nach dem anderen jagte durch ihren Körper. Der junge Mann lachte kaltherzig, dass es Mai eiskalt über den Rücken lief. „Ich besuche meine Freundin Dina. Ist das den verboten?“ Seine Augen glühten, dass Mai den Blick abwandte und hoch zu ihrem Zimmer rannte. Dort schlug sie mit einem lauten Knall die Tür hinter sich zu.

Flucht und Verrat

Verrat und Flucht
 

Mai ging in ihrem Zimmer auf und ab. Mit zitternden Fingern hantierte sie auf ihrem Handy rum. Mehrmals vertippte sie sich und stieß jedes Mal einen leisen Fluch aus. Mit rastlosem Gesichtsausdruck hielt sie das Handy ans Ohr und wartete, bis die Verbindung aufgebaut war. Unruhig setzte sie sich auf ihr Bett, nur um im nächsten Moment wieder aufzustehen und weiter durchs Zimmer zu wandern. Auf der anderen Seite der Leitung ging eine Mailbox los. "Guten Tag! Der gewünschte Teilnehmer…“ Mai unterbrach die Verbindung und schleuderte das Handy auf ihr Bett. „Sara, du…“ Sie unterdrückte den Fluch und ging zu ihrem Kleiderschrank. Sie schob die Tür auf und begann ihren Schrank zu durchwühlen. Dabei warf sie viele Sachen über ihre Schultern hinweg auf den Boden.
 

Währendessen standen ihre Schwester Dina und der Dämon in der Küche. Ein leises, kaltes Lachen durchbrach die Stille. „Du hast gar nicht erwähnt, dass deine Schwester über solche Kräfte verfügt.“ Das blonde Mädchen erschrak. „Ist das den so wichtig?“ fragte sie vorsichtig. Der Dämon lachte wieder. „Oh nein! Das gestaltet das Ganze nur noch interessanter. Einen solchen Spass hatte ich schon seit Jahrhunderten nicht mehr! Sag, junge Miss, hast du noch ein Kaninchen?“ Dina runzelte die Stirn. Diese Frage schien sie zu beunruhigen. „Nein. Aber ich weiß, woher ich eins kriege. Wieso?“ „Ich werde meine Helfer zu mir rufen. Die kleine Mai wird bald vor lauter Angst nicht mehr wissen, wie ihr geschieht.“ Wieder drang ein kaltes, unmenschliches Lachen aus seiner Kehle. Dina funkelte ihn böse an. „Vergiss den Pakt nicht! Erst in zehn Jahren darfst du ihre Seele haben. Nicht vorher!“ Ein Schnauben ertönte. „Keine Sorge, junge Miss. Ich weiß, was ich tue. Ich will ihr nur zeigen, wer hier am längeren Hebel sitzt. Also? Was ist nun mit meinem Kaninchen?“ Das Mädchen nickte. „In Ordnung. In einer Stunde hast du es.“ Ein Nicken. Dann blickte der Dämon nach oben. „Oh, unser Spielzeug will uns übers Fenster verlassen. Hach, sie kann laufen, wohin sie will, sie kann sich verstecken, wo sie will, ich werde sie immer finden!!!!!!“ Die Augen glühten so stark, dass Dina sich mit Schaudern vom Dämon abwandte und etwas von Kaninchen murmelte. Sein Lachen begleitete sie noch lange, nachdem sie das Haus verlassen hatte.
 

Mai hatte sich komplett umgezogen. Ihre Kleidung war nun bequem und funktional. Die Taschen mit ein wenig Geld und etwas zu Essen gefüllt, war sie über das Fenster auf dem Baum vor ihrem Zimmer geklettert. Unten auf dem Boden angelangt, nahm sie die Beine in die Hand. Sie rannte die Straßen entlang und traf nur wenige Nachbarn und Bekannte. Für alle hatte sie keine Zeit. Mehrmals blieb sie zum Luftholen stehen und blickte sich suchend um. Es dauerte lange, bis sie an ihrem Ziel angekommen war. Als sie an ein kleines Modegeschäft, das auf der Hauptstraße lag, ankam, dämmerte es bereits. Verwirrt blickte Mai zum Himmel. „Es wird schon dunkel…“ Ungläubig schüttelte sie den Kopf und betrat das Geschäft.
 

Sara blickte überrascht auf. „Mai, was machst du den hier? Du bist ja völlig außer Atem!“ Mai ließ den Blick durch den Laden kreisen. „Bist du alleine?“ fragte sie vorsichtig. Ihre Schwester nickte. „Ja, meine Chefin ist schon vor Stunden gegangen. Und Kundschaft kommt um die Zeit sehr selten. Mai, was ist los?“ Sie war auf Mai zugegangen und hatte sie an den Armen gepackt. Diese wandte sich an ihre Schwester und begann mit fester Stimme zu erzählen. „Dina hat mit etwas anscheinend einen Pakt geschlossen, um mich leiden zu sehen. Dieses Ding hat die Gestalt eines jungen Mannes angenommen und er ist sogar bei uns zu Hause! Er gibt sich als ihr Freund aus! Sara, ich bin mir sicher!!! Bitte glaub mir!“ Ja länger sie sprach, umso lauter wurde sie. Ihre Schwester hatte ihr mit offenem Mund zugehört. „Mai, das bildest du dir sicher ein! Niemand will dich leiden sehen! Schon gar nicht Dina!!!! Mai, du musst damit aufhören, Dina für alles zu beschuldigen, wenn etwas nicht so läuft, wie es soll.“ Mais Gesicht wurde rot. In ihren Augen funkelte der Zorn. „Klar! Nimm sie in Schutz! Ich bin ja die Böse. Ich sehe bestimmt wieder Geister und Gespenst! Willst du mich jetzt auch zu diesem Scharlatan schicken? Komm, sag’s ruhig!“ Sara war blass geworden. „Mai, das sind alles nur Hirngespinste!!!“ Mai schnappte empört nach Luft. „Hirngespinste? Du selbst hast doch auch die Gabe!!! Wieso leugnest du es jetzt?“ Mai riss sich los. Sie hatte Tränen in den Augen.
 

Mit einem Mal weiteten sich ihre Augen. „Du warst bei ihm, nicht wahr? Du warst bei diesem Scharlatan. Mama hat es endlich geschafft, auch dich hinzuschleifen…“ Leise und kraftlos hörte sich ihre Stimme an, als sie diese Erkenntnis aussprach. Sie wich vor Sara zurück. Diese streckte ihre Arme nach ihr aus. „Mai, er ist kein Scharlatan. Er ist weise. Er hat mir die Augen geöffnet. Und er wird auch deine öffnen. Du brauchst keine Angst zu haben. Komm, er kann dich von deinen bösen Träumen befreien!“ Mai war blass geworden. Atemlos wich sie immer weiter vor ihrer Schwester zurück. „Du hast ihm … davon erzählt?“ Sara nickte und schloss die Arme um ihre Schwester. „Er wird dich von deinen Qualen erlösen. Danach kannst du in Ruhe und Frieden leben.“ Bevor Sara ihre Arme ganz um Mai schließen konnte, stieß diese sie zurück. Tränen rannen über ihre Wangen. „Ich entscheide selber, wann ich in Ruhe und Frieden leben will! Ich habe dir vertraut!!!“ schrie sie. Mit diesen Worten machte Mai kehrt und ließ den Laden hinter sich. Blind vor lauter Tränen stolperte sie durch die Straßen ihrer Heimatstadt.
 

Es war schnell dunkel und kalt geworden. Mai stand in irgendeiner Seitenstraße unter einer Laterne und rieb sich die Arme. Noch immer suchten Tränen ihren Weg über ihre Wangen und hatten deutliche Spuren hinterlassen. Ihre Augen waren rot und leicht angeschwollen. Beim kleinsten Geräusch zuckte sie zusammen und blickte um sich herum. Immer weiter rieb sie sich die Arme. Hinter ihr begann das Licht einer Laterne zu flackern. Mit einem leisen elektrischen Knistern erlosch es. Mai drehte sich erschrocken um. Ihr Gesicht nahm den Ausdruck höchster Konzentration an. Ihre Blicke sprangen zwischen den Schatten hin und her. Die Straße lag in vollkommener Stille. Die nächste Laterne flackerte. Mai kniff die Augen zusammen. Auch diese Laterne erlosch mit einem elektrischen Knistern. Mai begann zu zittern, als noch eine Laterne zu flackern begann. Mit einem Mal war in den Schatten Bewegung zu erkennen. Mais Atem stockte. Das Licht erlosch. Ein seltsames scharrendes Geräusch war zu hören. Die Nackenhaare stellten sich auf, als es ertönte. Das Licht der Laterne, unter der Mai stand, begann nun zu flackern. Erschrocken blickte diese auf. Das Licht flackerte mehrmals auf, bevor es ganz erlosch. Mai schrie auf und drehte sich zum Licht hin. Mit dem scharrenden Geräusch im Ohr begann sie zu rennen. Während Mai die beleuchtete Straße panisch entlanglief, erlosch jede Laterne, die sie passierte. Die scharrenden Geräusche klangen schaurig in der Stille der Nacht. Angstschweiß glitzerte auf Mais Stirn, als sie eine Kreuzung überquerte. Auf Autos achtete sie nicht. Getrieben von einem namenlosen Grauen jagte sie weiter die Straßen entlang, während hinter ihr die Laternen erloschen und die Dunkelheit obsiegte. Keine Menschenseele sah das Mädchen auf seiner panischen Flucht. Im keinem Haus brannte Licht und auch hörte man nicht den kleinsten Ton. Es war, als sei die Stadt wie tot. Mai rannte weiter.
 

Die Hauptstraße kam in Sicht. Mais Gesicht war rot vor Anstrengung und sie rang nach Luft. Gehetzt von Angst und Panik rannte sie über die Straße. Ein helles Licht von rechts, gefolgt von einem lauten quietschenden Geräusch ließ Mai erschrocken zur Seite springen. Ein Auto kam wenige Meter vor ihr zum Stehen. Mai sank atemlos zu Boden, während eine wütende Männerstimme aus dem Wagen kam. Das Zuschlagen der Autotür war zu hören. Der Mann kam laut fluchend zu ihr. Er stockte, als er das völlig erschöpfte und panische Mädchen vor sich sah. Mai stammelte etwas und versuchte sich aufzurappeln. Mit wirrem Blick sah sie in die Richtung, aus der sie gekommen war. Die Laternen brannten alle wieder. Ein Auto fuhr dort gerade entlang und in den Häusern brannte überall Licht. Der Mann hatte die Stirn gerunzelt und trat noch einen Schritt näher an Mai heran. „Alles in Ordnung?“ fragte er. Erschrocken drehte sich Mai zu ihm um. In dem Moment brach sie zusammen. Mit einem schnellen Schritt nach vorne konnte der Mann das bewusstlose Mädchen auffangen, bevor es auf dem Boden aufschlug.

Der Fremde

Der Fremde
 

Als Mai die Augen aufschlug, lag sie auf einer Rückbank eines Autos. Sie war mit einer Decke zugedeckt worden und ein Pullover diente als Kopfstütze. Sie war alleine im Wagen und durch die Fenster drangen die ersten Sonnenstrahlen des Tages. Langsam und unter Stöhnen richtete sie sich auf. Mehrmals blinzelte sie ins Sonnenlicht. Sie drehte ihren Kopf mehrmals herum. Das Auto stand auf einem Parkplatz einer Tankstelle. Diese Tankstelle war vor der Stadt, in der Mai lebte.
 

In einiger Entfernung saß ein Mann auf einem Baumstamm, der am Rande des Parkplatzes lag. Es war der Mann, dem Mai beinahe vors Auto gelaufen war. Mai schälte sich aus der Decke und suchte im Fußraum etwas. Sie holte ihre Schuhe hervor, in die sie reinschlüpfte. Kurz blickte sie zu beiden Seiten, dann stieg sie aus und ging zu dem Mann hin. Der Mann war schon etwas älter, irgendwas zwischen 40 und 50 mochte er sein. Seine dunklen Haare ergrauten schon an vielen Stellen und ein leichter Dreitagebart war zu erkennen.
 

Als Mai sich näherte, blickte er auf. Seine Augen waren wachsam und nachdenklich. „Guten Morgen, junge Dame! Wieder unter den Lebenden?“ Seine Stimme war tief und rauchig, aber trotzdem angenehm. Die gesamte Erscheinung des Mannes strahlte etwas Wissendes aus. Mai nickte, trotzdem schwieg sie. „Setz dich zu mir. Keine Sorge, ich beiße nicht. Hier. Ich hoffe, du magst Müsliriegel zum Frühstück. Etwas anderes kann ich dir leider nicht anbieten.“ Er wies auf das andere Ende des Baumstammes und hielt ihr einen verpackten Riegel hin. Mai zögerte nicht, sondern nahm ihn und setzte sich hin. „Danke“ murmelte sie leise. Danach schwieg sie wieder. Sie starrte vor sich hin, während sie gedankenverloren auf dem Riegel kaute.
 

Eine Zeit lang sprach niemand. Dann ergriff wieder der Mann das Wort. „Wie heißt du? Du kannst mich einfach Joe nennen, wenn du willst.“ Mai blickte auf und sah den Mann an. „Mai“ antwortete sie kurz und bündig. Joe seufzte. „Nun, Mai, ich kann verstehen, dass du nicht reden willst, aber ich bin nicht dumm. Ich habe schon viele ähnliche Fälle erlebt. Du wurdest verfolgt, nicht wahr? Von etwas, wofür dich alle für verrückt erklären würden, oder?“ Mai kniff die Augen zusammen. „Würden Sie es denn?“ Joe lachte kurz auf. „Wenn ich dich dafür für verrückt halten würde, dann müsste ich mich selbst in die geschlossene Anstalt einweisen lassen. Mädel, hör mir mal gut zu. Ich weiß nicht, was dein Problem ist, oder wie du daran gekommen bist. Aber Fakt ist, dass ich dir nicht helfen kann, wenn du nicht redest. Mir sind ohnehin schon die Hände gebunden. Wahrscheinlich werde ich in der Stadt schon als Kidnapper gesucht, nur weil ich dir unangenehme Fragen ersparen wollte. Ich kenne die. Sie sind überall gleich. Hätte ich dich ins Krankenhaus gebracht, dann hätten sie dich solange mit ihren Fragen gequält, bis du gesagt hättest, was passiert ist. Sie würden dich für verrückt erklären und mit Psychopharmaka voll pumpen, womit du ein leichtes Ziel für die Dämonen wärst. Wenn sie dich dann eines Morgens tot auffinden würden, würden sie es als Selbstmord werten und den Fall abschließen. Ne, das hab ich schon oft genug miterlebt!“ Mais Mund klappte auf, während sie Joe zuhörte.
 

„Wer sind sie? Woher wissen sie das alles?“ fragte sie erstaunt. Joe zuckte mit den Schultern. „Wenn man die Augen offen hält, dann kriegt man mehr mit, als die meisten glauben.“ Mehr sagte er nicht mehr dazu. Mai senkte sie den Kopf und starrte auf ihren Riegel. „Meine Schwester hat mir irgendein Ding an den Hals gehetzt, was mächtig genug ist, um seine Anwesenheit zu verbergen und noch Helfer unter sich stehen hat. Reicht das als Erklärung?“ Ihre Stimme war leise und dünn. Joe nickte. „Ja, das ist ein Anfang. Das, was du da beschreibst, hört sich ganz stark nach einem Dämon an. Er scheint ja einen sehr hohen Preis zu bekommen, wenn er sich derart ins Zeug legt. Ein ganzes Stadtviertel lahm legen, nur um dich durch die halbe Stadt zu jagen…“ Er schüttelte den Kopf. Mai blickte auf und sah ihn mit großen Augen an. „Dann war es also wirklich so? Kein anderer hat was mitbekommen? Ich verstehe es nicht!!!! Wieso tut er so etwas? Was könnte so wertvoll sein, dass er so etwas tut?“ Mit verzweifelter Miene stützte sie den Kopf auf die Hände.
 

„Die Seele eines Menschen. Das wertvollste, was ein Mensch besitzt. Die Seele eines Menschen ist das, was Dämonen am meisten begehren. Dafür tun sie alles.“ Mai hatte die Stirn gerunzelt. „Und warum nehmen sie sich die nicht einfach?“ Joe lachte. „Wenn das so einfach wäre, dann gäbe es kein Leben mehr. Die Seele ist etwas, dass man sich nicht einfach nehmen kann! Wenn ein Dämon versucht, sich einfach so eine Seele zu nehmen, ohne das er Anspruch darauf hat, wird er sofort in Flammen aufgehen.“ Die Stirn von Mai runzelte sich noch mehr. „In Flammen aufgehen? Aber das macht denen doch nichts. Sie sind schließlich in den Höllenfeuern zu Hause.“ Sie zuckte mit den Achseln. Joe schüttelte den Kopf. „Das mag vielleicht sein, aber gegen das heilige Fegefeuer Gottes haben selbst die Höllenfeuer nichts entgegenzubringen.“ Mai sah den Mann verwirrt an.
 

„Fegefeuer Gottes? Sind wir jetzt im Religionsunterricht? Wollen sie mir jetzt auch noch erklären, das Erzengel Michael ihr Bruder ist, oder was?“ Wieder lachte Joe. „Bestimmt nicht! Ich bin froh, dass ich den Engeln selten begegne. Unangenehmes Volk, das sag ich dir. Einen Hinweis: Lass dich niemals, aber auch niemals in eine Diskussion mit einem Engel ein! Egal, was es ist. Selbst wenn du Recht HAST, du wirst nie gewinnen. Merk dir das.“ Mai sah Joe verständnislos an. „Aber wenn ich doch Recht habe… Das können die doch nicht einfach übergehen.“ Joe hob nur die Augenbraue. „Doch, können sie. Und sogar noch mehr. Aber lassen wir das. Jetzt sollte ich dich besser nach Hause bringen. Sonst werde ich wirklich wegen Entführung angezeigt.“
 

Mai sprang auf. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen und ihre Miene verriet die Angst und die Panik, die in ihr zu herrschen schien. „Nein! Ich will nicht nach Haus!“ Joe blickte sie mit forschendem Blick an. „Ich kann verstehen, dass du Angst vor dem Dämon hast, aber…“ Mai unterbrach ihn. „Es geht mir nicht um den Dämon! Meine Familie selber ist das Problem! Meine Eltern wollen mich zu einem Scharlatan schleifen, der meinen Schwestern komplett den Verstand geraubt hat! Meine älteste Schwester, der ich immer vertraut habe, hat mich sogar an ihn verraten!!!“ Mai war aufgebracht und brachte dies mit ihren geballten Fäusten und ihrem Gesichtsausdruck zum Ausdruck.
 

Joe runzelte die Stirn. „Scharlatan???“ „Ein Typ, der sich als Wahrsager ausgibt. Er hat meiner Schwester irgendwie eingeredet, dass es Geister und Gespenster nicht gibt. Und das, obwohl sie die sehen und spüren kann! Oder sollte ich sagen, konnte?“ Joe hob beschwichtigend die Arme. „Beruhige dich, Mai. Wer einmal die Gabe hat, der verliert sie auch nicht. Mach dir nicht so viele Gedanken. Wahrsager helfen den Menschen. Und überhaupt, keine schlechte Idee. Geh zu ihm und erzähl ihm von dem Dämon, der dich verfolgt.“ Mais Kinnlade klappte wieder herunter. Doch schnell hatte sie sich gefangen. Sie spannte ihre Muskeln an und blickte entschlossen auf Joe. „Dann mache ich mich mal auf den Weg. Ich danke Euch, dass ihr euch Meiner angenommen habt. Ich möchte Euch nicht weiter zur Last fallen. Macht Euch auch keine Sorgen um mich. Ich schaffe das schon. Noch mal danke.“
 

Mit diesen Worten drehte sie sich um und wollte gehen. Doch Joe war schneller. Im Bruchteil eines Momentes war er aufgesprungen und hatte sie eingeholt, bevor sie einen Schritt machen konnte. Nun baute er sich vor ihr auf. „Du gehst nirgendwohin. Ich werde dich nach Hause bringen. Erst wenn du wieder sicher zu Hause bist, werde ich gehen.“ In seiner Stimme schwang eine solche Entschiedenheit mit, dass Mai zurückschreckte. „Aber…“ Joe unterbrach sie. „Kein Aber. Du bist zurzeit in meiner Obhut und ich werde dich erst gehen lassen, wenn du bei deinen Eltern bist.“ Das erschrockene Gesicht von Mai schlug zu einer Grimasse um. „Klar. Dann viel Vergnügen mit der Polizei. Ich bin gespannt, welche Story sie denen erzählen wollen. Etwa die vom verfolgtem Mädchen?“ Die Reaktion Joes war ein bedachter Gesichtsausdruck. „Lass das meine Sorge sein. Ich hab genug Erfahrungen mit der Polizei gesammelt, um zu wissen, was ich sagen muss.“ Mai verschränkte die Arme. „Dann wünsche ich viel Spass dabei. Sehen sie mal dort.“ Mai nickte in die Richtung der Stadt. Da Joe mit dem Rücken zur Stadt stand, musste er sich umdrehen. Mai nutzte diesen Moment aus und rannte wie gehetzt von ihm weg. Sie hörte den überraschten Ausruf Joes, doch sie lief weiter.
 

Erschöpft und müde ging sie durch die Straßen ihrer Heimatstadt, ohne zu wissen, wohin sie sollte. Ihre schwarzen Haare waren zerzaust und ihre Kleidung war über und über mit Dreck und Schmutz bedeckt. Sie bog um eine Ecke und fand sich auf einer Nebenstraße wieder, wo ein Haus besonders hervorstach. Im Gegensatz zu den anderen Häusern war es rot angestrichen worden. Blutrot. Als Kontrast zu dem Rot war eine Platte in schwarz neben der Tür gehängt. Auf der Platte stand mit gelber Farbe ‚Wahrsager Imenigo’. Das Gelb brannte richtig in den Augen des Betrachters. Die Fenster waren verhangen und geschlossen. Keine Regung war von drinnen zu sehen. Mai ballte die Fäuste und ging entschlossen auf das Haus des Wahrsagers zu. Vor der Tür blieb sie stehen. Sie holte tief Luft und klingelte.
 

Ein hagerer Mann um die 30 öffnete die Tür. Als er Mai sah, weiteten sich seine Augen überrascht. „Na sowas! Wenn das nicht Mai ist… Das überrascht mich, dass du an meiner Tür klingelst. Und überhaupt… Wie siehst du aus?“ Mai ballte erneut die Fäuste. „Das geht sie nichts an! Ich will Antworten! Von ihnen! Sofort!“ presste sie mit rotem Gesicht hervor. Das Gesicht des Wahrsagers schlug um. Ein Lächeln huschte darüber. Er trat zurück um Mai einzulassen. „Na sowas! Dann tritt ein, meine Liebe.“ Mai biss die Zähne zusammen, dies sah man ihr deutlich an. Sie schritt durch die Türe. „Na sowas, geh ruhig durch. Darf ich dir etwas anbieten?“ Während er sprach, schloss er die Tür hinter sich und drehte den Schlüssel um. Der Schlüssel verschwand in seiner Hosentasche.

Der Scharlatan

Der Scharlatan
 

Im Haus des Wahrsagers war es düster und unheimlich eingerichtet. Es war viel mit verstecktem Licht gearbeitet worden. Das indirekte Licht beschien Totenköpfe, Pentagramme und andere unheimlich wirkende Abbilder. Mai sah sich um. Sie schnaubte, als der Wahrsager, den sie immer als Scharlatan titelte, in einer weiten Robe eintrat. Das fließende Gewand reichte bis zum Boden und war rot. Blutrot. Der Wahrsager trug ein Tablett mit zwei Gläsern, zwei Flaschen Wasser und etwas Gebäck. Vorsichtig setzte er es auf einem kleinen Tischchen, welches an der Seite von einem Sofa stand, ab. „Na sowas! Setz dich ruhig! Du siehst erschöpft aus.“ meinte er. Mai wandte ihm den Rücken zu.
 

„Na sowas!“ äffte sie ihn nach. „Können sie ihr Haus nicht wie jeder andere Vernünftige Mensch einrichten? Das ist ja scheußlich!!“ Der Wahrsager überging Mais beißende Bemerkungen einfach. „Na sowas! Was führt dich zu mir? Deine Familie teilte mir mit, dass du dich beharrlich weigern würdest, mich aufzusuchen. Und nun stehst du hier. Das ist doch recht seltsam.“ Mai versuchte erneut, den Wahrsager mit Worten bloßzustellen. „Nicht so seltsam, wie ihr dämlicher Aufzug! Eben sahen sie mit ihrer Hose noch normal aus. Jetzt sehen wirklich wie der Scharlatan aus, der sie auch sind.“ Diesmal trafen die Worte. „Na sowas! Jetzt werde nicht frech! Du bist schließlich zu mir gekommen. Außerdem wollen die Menschen so etwas sehen, wenn sie zu einem Wahrsager gehen.“ rechtfertigte er sich. Wieder schnaubte Mai. „Klar… Jeder denkt an einen Grufti, wenn er einen Wahrsager sieht. Sicher…“ Der Sarkasmus war in jedem Wort deutlich herauszuhören. Mit verschränkten Armen ging sie zum Sofa und ließ sich darauf nieder. „Na so was, bedien dich ruhig.“ Mai überging diese Aufforderung.
 

„Ich bin nicht hier, um ein entspannten Plausch zu halten. Ich will jetzt endlich wissen, was hier gespielt wird!“ Der Wahrsager runzelte die Stirn. „Na sowas! Wie kommst du dazu, so etwas zu sagen?“ Mai sah ihn schief an. „Sara, der ich immer vertraut habe, war gestern hier, nicht wahr?“ Der Wahrsager nickte. „Na sowas! Ja, sie war hier. Und sie hat mir viele beunruhigende Dinge erzählt. Beunruhigende Dinge über dich. Deine Träume, die immer wieder kehren, den Glauben, Dinge zu sehen und zu spüren, die gar nicht da sind… Mai, ich mache mir große Sorgen um dich! Du verrennst dich da in etwas. Man könnte fast meinen, du wärst… du wärst verrückt!“ Mai sprang in die Höhe. Ihr Gesicht war eine Maske der Wut und des Hasses. „Ich BIN nicht VERRÜCKT!!!! Ich bilde mir überhaupt nichts ein! Und Sara auch nicht! Sie konnte diese Dinge genauso sehen und spüren, wie ich! Außerdem: Was haben sie mit Dina gemacht???“ Der Wahrsager war über Mai Ausbruch nicht im Geringsten überrascht. Ruhig blickte er zu dem Mädchen, welches wutschnaubend auf ihn herabsah. „Na sowas! Ich habe gar nichts gemacht. Dina war bei mir, weil sie sich einbildete, Stimmen zu hören. Ich habe nur gesagt, dass die Stimmen ihrer Phantasie entspringen. Mehr nicht.“ Mais Blick wurde eisig. „Und warum hasst sie mich jetzt so sehr, dass sie einen Dämon auf mich hetzt und damit ihre Seele verkauft?“
 

Dies brachte den Wahrsager aus der Fassung. Er wurde kreidebleich und begann zu stammeln. „Aber… das … kann… sein! So war das nicht geplant gewesen!“ Mais Wut kannte keine Grenzen mehr. Sie packte den Wahrsager an den Armen und schüttelte ihn. „Was war nicht so geplant gewesen? Können sie endlich mal Klartext reden?“ herrschte sie ihn an. Doch er reagierte nicht darauf. Er stammelte weiter etwas, was Mai nicht verstand. „Dies war nie geplant. Irgendwas muss schief gelaufen sein… Aber was?“ Mai riss der Geduldsfaden. „HALLO?! Sie elender Scharlatan! Ich will jetzt endlich Antworten! Was haben sie mit meiner Familie gemacht?“ Die glasigen Augen des Wahrsagers wurden plötzlich klar und glänzten entschlossen. Bevor Mai reagieren konnte, lag sie mit dem Rücken auf dem Boden. Der Wahrsager hatte sich auf sie gestürzt und hielt sie mit seinem ganzen Gewicht auf dem Boden. Sie schrie und schlug um sich, doch er wehrte ihre Versuche einfach ab. Er packte ihre Handgelenke und drückte diese zu Boden. Ihm völlig ausgeliefert, versuchte Mai verzweifelt, sich aus seinem Griff zu winden. Der Wahrsager beugte sich vor.
 

„Du willst Antworten? Die kannst du haben.“ Aus dem hageren, „Na sowas“ sagendem Wahrsager war binnen weniger Augenblicke ein starker und gefährlicher Gegner geworden. Mai schrie. „Lassen sie mich los!!!!!“ Der Wahrsager lachte. „Ja, schrei ruhig. Es wird dich niemand hören. Dafür habe ich gesorgt, als ich hier einzog. Es haben schon viele vor dir hier um ihr Leben geschrieen. Und keiner hat’s je gehört.“ Wieder versuchte Mai sich aus seiner Umklammerung zu retten. „Deine Eltern waren früher Jäger. Wusstest du das? Sogar sehr gute Jäger. Sie haben sich zurückgezogen, um ihre Kinder großzuziehen. Um sie in Ruhe auf die Welt der Jäger vorzubereiten. Tja, es hat nicht geklappt. Ich hab es verhindert. Ich habe mit meiner Gehirnwäsche ihre Erinnerung so verändert, dass sie vergessen haben, was sie wirklich sind. Und als sich bei dir und deinen Geschwistern zeigte, dass ihr die Talente eurer Eltern geerbt hattet, habe ich mich an euch versucht. Es war gar nicht so leicht, an Euch heranzukommen. Eure Eltern haben euch gut beschützt. Sie wussten zwar nicht, warum, aber so sind Eltern nun mal. Dagegen hilft keine Gehirnwäsche. Zuerst war Dina hier. Bei ihr war’s einfach. Allerdings scheint etwas schief gelaufen zu sein, wenn das stimmt, was du sagst. Bei Sara war es etwas schwieriger. Ihre Gabe ist ausgeprägter. Doch du… Du bist die schwierigste von all meinen Fällen. Nicht nur deine unglaubliche Gabe ist daran schuld! Da ist noch etwas. Etwas, was dich beschützt.“
 

Mai hatte mit fassungslosem Gesichtsausdruck zugehört. Atemlos versuchte sie etwas zu sagen. „Etwas… beschützt mich?“ Der Wahrsager lachte. „Ja, aber selbst das kann dir nicht mehr helfen!“ Mit diesen Worten legte er eine Hand auf ihre Stirn. Ein Ausdruck tiefer Konzentration und Anstrengung erschien auf seinem Gesicht. Ein Schmerzschrei drang aus Mais Mund. Sie versuchte erneut sich gegen ihn zu wehren und ihn von sich runter zu stoßen. „NEEEEEIIIIIN!!!!“ Sie bäumte sich unter großer Anstrengung auf und schaffte es so, dass der Wahrsager von ihr runterrutschte. Dabei verlor er den Halt. Seine Hand wurde von ihrer Stirn gerissen und er landete neben dem Tisch mit dem Tablett. Mai nutzte sofort ihre Chance. Sie versuchte sich aufzurappeln, doch im nächsten Moment gaben ihre Beine nach und sie versuchte sich auf allen Vieren fortzubewegen. Orientierungslos irrte sie durch den Raum. Statt zur Tür zu robben, gelangte sie hinter das Sofa. Stöhnend griff Mai sich den Kopf. An dem Sofa festhaltend versuchte sie erneut sich aufzurichten. Als sie auf wackligen Beinen stand, hatte sich auch der Wahrsager aufgerichtet. Mit wutverzerrtem Gesicht fixierte er Mai. Diese warf einen schnellen Blick zur Tür. Im nächsten Moment sprintete sie der Tür entgegen. Der Wahrsager setzte ihr nach und verfehlte sie um wenige Zentimeter. Mai erreichte die Tür und öffnete sie. Dabei schlug sie dem Wahrsager die Tür ins Gesicht.
 

Ohne darauf zu achten, lief sie in den Flur zur Tür, die sie noch von der Freiheit trennte. Doch die Tür öffnete sich nicht. Mai schrie und hämmerte gegen die Türe. Der Wahrsager betrat den Flur. Aus einer Stelle der Lippe floss Blut. „Du kannst nicht entkommen, Mai. Ich habe vorgesorgt! Niemand wird dich hören. Niemand wird dir zur Rettung eilen. Absolut niemand!“ Verzweiflung und nackte Angst blickten aus Mais Augen. Mit zitternder Stimme suchte sie einen Weg, der Rettung versprach. „Meine Eltern wissen, dass ich hier bin! Sie werden kommen und nach mir sehen!“ Der Bluff wurde mit einem Lachen zerstört. „Sie wissen gar nichts! Du vergisst, ich habe sie in meiner Hand! Selbst wenn sie kommen würden, sie würden dich sogar festhalten, damit ich mein Werk verrichten kann.“ Mai hatte sich an die Tür gepresst, nach einem anderen Weg umgesehen. Sie hatte die Treppe zu dem oberen Stockwerk entdeckt. Nun hechtete sie auf diese zu. Doch der Wahrsager war schneller. Noch auf der Hälfte der Strecke fing er sie ab und drückte sie diesmal mit dem Bauch zu Boden. „Wohin des Weges, meine Liebe…“ meinte er spöttisch. Er legte die Handfläche auf ihren Hinterkopf. „Wehre dich nicht zu sehr. Sonst wird es nur noch schmerzhafter für dich!“ flüsterte er ihr ins Ohr. Wieder erschien der Ausdruck der Anstrengung und Konzentration auf seinem Gesicht. Und wieder begann Mai unter Schmerzen zu schreien.
 

„Aufhören!“ Mit einem Mal war ein weiterer Mann im Flur, der den Wahrsager gegen die nächste Wand schleuderte. Der Mann, gerade mal um die zwanzig, ging in die Hocke und nahm die besinnungslose Mai in seine Arme. Diese wehrte sich nicht und auch sagte sie kein Wort. Sie ließ es geschehen, ohne zu wissen, ob der junge Mann Freund oder gar Feind war. Der Wahrsager richtete sich stöhnend auf. Mit irrem Blick sah er hasserfüllt zu dem Jungen Mann. „DU?!“ Die Stimme des jungen Mannes war ruhig und von einer Stärke, die den Wahrsager zurückschrecken ließ. „Ja, ich, du Verräter! Ich habe dir gesagt, du kannst hingehen, wohin du willst, ich werde dich immer finden und dich zur Rechenschaft ziehen, für das was du getan hast.“ Der Wahrsager fing wieder an zu stammeln. „Na sowas! Robin, dass ist so lange her… Bitte, mir blieb nichts anderes übrig…“ Panik und Angst waren in der Stimme des Wahrsagers zu hören. Er nahm „die Beine in die Hand“. Ohne auf die Antwort Robins zu warten sprintete er zurück in den Raum, wo er mit Mai gewesen war. Er knallte die Tür hinter sich zu und man hörte, wie er sie zuschloss. Robin fluchte. „Verflucht! Er wird wieder abhauen!“ Er wandte sich Mai zu. Ein Seufzen war zu hören. „Dir hat er wohl übel mitgespielt. Komm, verlassen wir dieses Haus. Ich bringe dich in Sicherheit.“ Mit diesen Worten richtete er sich mit Mai in den Armen auf.

Teamwork?

Teamwork?
 

Robin trug die halb weggetretene Mai durch die Küche zum Hinterausgang, durch die er ging. Er wurde erwartet. „Hast du deinen Job endlich erledigt?“ Ein Schatten lehnte ungeduldig an der Hauswand. Robin würdigte ihm keinen Blick und antwortete beiläufig mit Gegenfragen. „Wolltest du nicht eigentlich im Auto warten? Oder hat Joe dich rausgeschmissen?“ Der Schatten trat vor. Ein Mann mit schulternlangen, ungepflegten Haaren kam ins Licht. Seine Augen glänzten hochmütig und gefährlich. „Pass mal auf, du Grünschnabel. Ich lasse mir weder von dir noch von dem altem Opa im Wagen etwas sagen. Hast du das verstanden?“ Robin hob den Blick und funkelte den Mann wütend an. Als er zu sprechen begann, trat er mit Mai in den Armen ins Mondlicht. „Stan, jetzt hörst du mal MIR zu. Es ist mir scheißegal, was du von Joe oder mir hältst, das bekundest du sowieso alle 5 Minuten. Aber hier ist jemand, der meine, wenn nicht sogar UNSERE Hilfe braucht. Also reiß dich am Riemen!“ Ohne auf eine Reaktion zu warten, ging Robin Richtung Straße.
 

Am Straßenrand stand Joes Auto. Er selber lehnte sich gegen das Auto und begrüßte Robin, als dieser näher kam. „Hast du deine Rache bekommen? Oh, was bringst du uns den da mit?“ Als Robin beim Auto ankam, hörte man Joe überrascht Luftholen. „Aber… Das ist doch Mai…“ Robin runzelte die Stirn. Hinter ihm tauchte Stan auf und sein Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse. „Du kennst sie?“ fragte Robin stirnrunzelnd. „Was heißt kennen? Ich bin ihr gestern Nacht zum ersten Mal begegnet. Sie wäre mir fast vors Auto gelaufen!“ „Die scheint ja sehr lebensmüde zu sein. Erst rennt sie vor deine Rostlaube und dann findet sie Robin auch noch bewusstlos in einem Haus.“ Joe knirschte mit den Zähnen. „Ich würde es nicht lebensmüde nennen, wenn ich vorher von einem Dämon durch die halbe Stadt gejagt worden wäre.“ knurrte er. Auch Robin wies Stan zurecht. „Und ich würde es auch nicht als lebensmüde bezeichnen, wenn man versucht hätte, mich gewaltsam mit einer schmerzhaften Gehirnwäsche zu manipulieren.“ Joe öffnete die Tür zur Rückbank, um Robin mit Mai einsteigen zu lassen. Er wandte sich noch mal Stan zu. „Du hast jetzt die Wahl. Entweder lässt du deine bescheuerten Sprüche und steigst ein, oder du gehst zu Fuss. Es ist deine Entscheidung.“ Stan knirschte mit den Zähnen. „Ich hab verstanden, Opa. Wir helfen der Kleinen. Gut, damit kann ich leben. Aber hört auf, mir Vorschriften zu machen! Du bist hier nicht der Anführer. Und Robin ist nur ein kleiner Wichtigtuer.“ Wenn Joe wütend über Stans Worte war, dann zeigte er es nicht.
 

Im Raum des Motels, den die drei gemietet hatten, war es zu viert etwas eng. Mai war auf das Bett neben dem von Robin gebetet worden, während Joe es sich im Sessel gemütlich gemacht hatte. Stan hatte sich im Sofa breit gemacht. Sowohl Joe als auch Stan schienen zu schlafen. Nur Robin saß an der Bettkante von Mais Bett und wischte ihr die feuchte Stirn ab. Diese schien unruhig zu schlafen. Ständig warf sie sich hin und her und weinte sie. Doch kein Laut drang aus ihrem Mund.
 

Das menschenleere Städtchen im Mondschein… Ein Weinen war zu hören. Ein Wimmern. „Chloe! Bitte! Sag nichts meinem Papa…“ Die Stimmen schienen nicht zum Bild zu passen. Plötzlich eine andere Stimme. „Chloe! Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du dein Zimmer aufräumen sollst!“ Es war eindeutig die Stimme von Hayley. Dann sprach sie wieder. Der vorwurfsvolle Unterton war verschwunden. Sie hatte einen lachenden Nachklang. „Chloe, Schatz!“. Es waren wie Fetzen mehrere Gespräche, die in einer Erinnerung durcheinander geraten waren. Mit einem Mal änderte sich das Bild. Das Städtchen wurde in Sonnenlicht getaucht. Auf den Straßen fuhren Autos und Menschen unterhielten sich lachend. Zwei kleine Mädchen gingen Hand in Hand durch das Städtchen. „Chloe, ich bin froh, dass du meine beste Freundin bist! Bevor du kamst, war es hier so langweilig!“ sagte die eine zur anderen. Sie kamen zu den Reihenhäusern, die sich gegenüber lagen. Von oben rief eine Stimme: „Chloe! Hier oben!“ Beide Mädchen blickten auf. Sie sahen Hayley, wie diese lachend Fenster putzte. „Mama, darf meine neue Freundin zum Essen bleiben?“ fragte das Mädchen, welches Chloe gerufen wurde. Hayley lachte. „Wenn ihre Eltern es erlauben, gerne!“ Eine Stimme von der anderen Straßenseite schaltete sich ein. „Ich gebe meine Erlaubnis gerne.“ lachte Gavin. Das andere Mädchen begann über beide Ohren zu strahlen. „Wirklich, Papa? Danke!!! Chloe, ist das nicht toll? Wir wohnen genau gegenüber.“ Wieder änderte sich das Bild. Die Sonne verschwand. Das Städtchen lag wieder im Mondlicht. Alles war wie tot. Nur in einem Reihenhaus brannte noch Licht. Sonst leuchtete nur der Vollmond. Das Schluchzen eines Kindes war zu hören. Dann, Hayleys kraftlose, Tränen erstickte Stimme. „Bitte vergib mir, Chloe.“
 

Mai fuhr mit einem Schrei aus ihrem Traum. Joe und Stan sprangen gleichzeitig aus ihren Nachtlagern. Joe mit einem Dolch und Stan mit einem Revolver in der Hand. Beide blickten Mai erschrocken und verwirrt an. Robin versuchte indes, das vollkommen aufgelöste Mädchen zu beruhigen. Er hatte beide Arme um sie gelegt und sprach beruhigend auf sie ein. Mai zitterte am ganzen Körper und blickte ängstlich um sich. Als sie Joe und Stan mit ihren Waffen sah, begann sie zu wimmern. Robin sah beide vorwurfsvoll an, während er die weinende Mai in seinen Armen wiegte. Peinlich gerührt streckten beide ihre Waffen weg und blickten sich fragend an. Joe ergriff als Erster das Wort. „Kann ich irgendwie helfen?“ fragte er den müde aussehenden Robin. Dieser nickte. „Ich brauche ein Glas Wasser für sie. Dann kann ich ihr ein Beruhigungsmittel verabreichen. Die Gehirnwäsche scheint sie sehr mitgenommen zu haben…“ Joe nickte. „Bin gleich wieder da.“ Er verließ das Zimmer. Stan blickte ihm nach. Dann wandte er sich an Robin. „Das war dann wohl kein normaler Alptraum, oder?“ Robin schüttelte den Kopf. „Nein, höchstwahrscheinlich eine Erinnerung, die sie vergessen hat. Oder irgendetwas, was sie ihr mal sehr emotional mitgenommen hat. Mir sind Fälle bekannt, da haben welche geträumt, wie sie von Schuhen oder anderen Dingen verfolgt wurden.“ Robin schüttelte leicht den Kopf. „Schuhe???“ Stan blickte Robin fassungslos an. Doch bevor dieser Antworten konnte, winkte Stan ab. „Okay, ich will’s nicht wissen. Kann ich irgendetwas für die Kleine tun? Oder dir irgendwie helfen?“ „Dort in meiner Tasche müsste ein Fläschchen mit einer gelblichen Flüssigkeit sein. Wenn Joe mit dem Glas Wasser wiederkommt, könntest du dann bitte 3 Tropfen rein tun?“ Stan nickte und folgte den Anweisungen. Joe kam mit dem Glas Wasser wieder. „Keiner hat was mitgekriegt. Selbst der von nebenan nicht. Entweder schläft er wie ein Stein, oder sie hat so leise geschrieen, dass nur wir es mit unseren geübten Ohren gehört haben.“ Joe reichte Robin das Glas und Stan träufelte das Mittel rein. Mit sanfter Gewalt versuchte er Mai dazu zu bewegen, es zu trinken. „Komm, trink. Danach wird es dir gleich besser gehen.“ Mai schüttelte den Kopf und versuchte unter die Bettdecke zu flüchten.
 

„Nein… Ihr haltet mich alle für verrückt.“ Die Decke dämpfte Mais Stimme, doch trotzdem hörte man die Verzweiflung in ihrer Stimme. „Mai… Bitte…“ Robins Stimme klang sanft, als er versuchte sie wieder hervorzulocken. Mai kam unter der Decke hervor. Ihr Gesichtsausdruck sprach die Sprache der Verwirrung. „Mai? Wer ist das? Ich bin doch Chloe, oder?“ Unsicher blickte sie zu den drei Männern auf. Diese blickten sich nur mit großen Augen an. Robin warf einen vielsagenden Blick zu Joe hin, bevor er Mai antwortete. „Nun, DU bist Mai. Du bist 15 Jahre alt und lebst mit deinen Eltern und deinen beiden älteren Schwestern hier in der Stadt. Erinnerst du dich? Sara und Dina! Wer Chloe ist, können wir dir leider nicht sagen. Nun, komm. Trink das. Du bist nach der Gehirnwäsche verwirrt. Das ist normal. Es wird vergehen. Du wirst sehen. Wenn du es getrunken hast, wird es dir besser gehen und auch deine Kopfschmerzen werden weniger werden.“ Irritiert ließ Mai es zu, dass Robin ihr das Beruhigungsmittel einflößte. Sie schien über das Gehörte nachzudenken. Sie hatte gerade den letzten Schluck getrunken, da bestürmte sie die überforderten Männer mit ihren Fragen. „Wenn ich nicht Chloe bin, warum bin ich dann ständig in meinen Traum so genannt worden? Und heißt meine Mutter Hayley? Wer ist der Mann? Gavin heißt er… Er und die Frau scheinen sich sehr zu mögen… Was ist mit seiner Tochter? Ist sie nicht meine beste Freundin?“ Robin hatte Schwierigkeiten, die in ihrem Eifer zu bremsen. „Mai… Mai, darauf können wir dir leider keine Antworten geben. Jetzt beruhige dich erstmal und ruh dich aus. Das ist es, was du jetzt brauchst. Vielleicht findest du die Antworten selber, wenn du ausgeruhter bist.“ Mai wollte etwas erwidern, doch es kam nicht dazu. Stattdessen gähnte sie. Das Beruhigungsmittel schien zu wirken. Robin erkannte sie Zeichen und senkte seine Stimme. „So ist gut, Mai. Schlaf noch ein wenig. Du wirst sehen, wenn du nachher aufwachst, wird es dir besser gehen.“ Er drückte Mai in die Kissen und deckte sie zu. Mai ließ es mit immer schwerer werdenden Augenlidern zu. Wenige Augenblicke später war sie eingeschlafen und man hörte das erleichterte Seufzen der drei Männer. Robin rieb sich die müden Augen. „Sie wird mindestens bis Mittag durchschlafen. Ich hätte nicht gedacht, dass die Gehirnwäsche bei ihr derartige Auswirkungen hätte.“ Joe gähnte. „Heißt das, dass ist nicht normal? Wird sie etwa immer so bleiben? Wenn ja, dann haben wir ein echtes Problem am Hals.“ Robin schüttelte ratlos den Kopf. „Ein solcher Fall ist mir noch nie untergekommen. Dabei bin ich dem Verräter schon länger auf der Spur und habe viele seiner Opfer miterlebt. Ich muss wirklich sagen, selbst mit den Wissen meiner Familie vermag ich nicht sagen zu können, ob sie je wieder ein normaler Teenager wird. Jetzt heißt es abwarten…“
 

Die Sonne schien durch das Fenster auf das Bett, in dem Mai lag. Die Vorhänge waren zur Seite gezogen worden, weswegen die Sonne ungehindert auf Mais Gesicht scheinen konnte. Die drei Männer standen an der Tür und waren in ein Streitgespräch vertieft. So vertieft, dass sie nicht bemerkten, wie Mai aufwachte. Verwirrt blinzelte sie in die Sonne. Sie richtete sich ein wenig auf, um der Sonne zu entkommen. Dann sah sie zu den Männern. Stan redete wild gestikulierend auf die beiden anderen ein. „Ich habe keine Lust, Babysitter für eine Halbverrückte zu spielen!“ „Mai ist nicht verrückt. Sie ist nur verwirrt. Du würdest an ihrer Stelle auch Blödsinn von dir geben.“ antwortete Robin scharf. „Oh, der Experte hat gesprochen, oder was? Hör mal, du Grünschnabel, du bist 21 und führst dich wie der Prinz der Jäger auf, nur weil du aus einer Jägerfamilie stammst, deren Tradition weiter reicht, als eurer IQ. Du bist so lachhaft, kleines Prinzchen!“ Robin knirschte mit den Zähnen. „Wenigstens sehe ich besser aus als du. Schon mal ein Bad von innen gesehen? Wohl eher nicht, wenn ich dich so ansehe.“ Stan öffnete empört seinen Mund, um etwas zu entgegnen, doch Joe kam ihn zuvor. „Schluss jetzt! Wir sind nicht hier, um zu streiten.“ „Oh, der alte Opa hat gesprochen. Aber sag, Opa, wo ist den dein Krückstock? Ohne den darfst du doch nicht aus dem Haus gehen…“ Joe bedachte Stan mit einem finsteren Blick. „Ja, ich bin der älteste von uns, aber senil bin ich noch lange nicht. Ich habe vor Jahren etwas geschworen. Ich hab geschworen, erst mit meinem Tode meine Tätigkeit als Jäger zu beenden. So lange werde ich weitermachen, um unschuldige Menschenleben zu retten. Aber sag, wofür kämpfst du?“ Stan zog mit einer schnellen Handbewegung seinen Revolver. „Wegen des Nervenkitzels. Und das Gefühl, jemanden eine Kugel in den Schädel jagen zu dürfen, ohne dafür in den Knast gehen zu müssen.“ „Du bist so ein kranker, widerwärtiger Freak! Weißt du das?“ Robin wich vor Abscheu zurück. Stan lachte. „Tja, kann ja nicht jeder ein Moralapostel wie unser alter Herr hier sein. Oder ein rachsüchtiger, Medizinbesessener Geist, wie du, Prinzchen.“ Robin wollte wütend auf Stan losgehen, doch Joe hielt ihn zurück. „Nicht, wir sind auf ihn angewiesen!“ Wieder lachte Stan auf. „Ha, ihr seid auf mich angewiesen! Tja, ich aber nicht auf Euch. Ich geh alleine in die Stadt der verlorenen Kinder. Ich brauche Euch nicht.“ Joe hob nur die Augenbraue. „Sicher. Wir reden dann später an DEINEM Grab noch mal drüber. Ach ja, stimmt ja, das wird es ja nicht geben. Schließlich werden sie nichts von dir ÜBRIG lassen, was man beerdigen könnte!“ Stan wollte etwas erwidern, doch wieder wurde er unterbrochen. Doch nicht von Joe oder Robin.
 

„Stadt.. Stadt der verlorenen Kinder?“ fragte Mai stockend. Sie war kreidebleich und starrte die erschrockenen Männer an. Diese waren beim Klang ihrer Stimme zusammengezuckt und blickten sich peinlich gerührt an. Robin kam zu ihr und befühlte ihren Puls. „Alles in Ordnung, Mai?“ Wirsch entzog Mai ihm ihr Handgelenk und kletterte aus dem Bett. „Nein, natürlich ist nichts in Ordnung! Ich habe Kopfschmerzen, mein ganzer Körper schmerzt, als sei ich 10 Stockwerke die Treppe runtergekullert und ihr steht hier und streitet euch so laut, dass man meinen könnte, ihr wolltet das Haus niederreißen. Außerdem werft ihr hier mit Dingen um Euch, dass jeder normale Mensch euch sofort für verrückt und krank erklären würde. Was soll das?“ Während ihrer wütenden Ansage hatte sie alle drei mit ihren Blicken durchbohrt. Robin war der erste, der die Sprache wieder fand. „Nun, du scheinst wieder die Alte zu sein, auch wenn ich das nicht beurteilen kann. Immerhin etwas.“ Er seufzte. „Mai, wir sind Jäger. Wir jagen … Dinge. Dinge, von denen andere Menschen nichts wissen. Böse Geister, Dämonen, alles Mögliche, was für Normaldenkende irreal erscheint.“

Eifersucht

Eifersucht
 

Der Tag neigte sich dem Ende zu. Die Sonne versank langsam und schickte ihre letzten, wärmenden Strahlen durch die Stadt. Die Straßen waren bis auf wenige Autos leer. Mai ging alleine durch die ihr bekannten Straßen. Ihre Kleidung war an mehreren Stellen zerrissen und sie selbst sah aus, als wäre sie durch den schlimmsten Dreck gewatet. Nun lag ihr Elternhaus vor ihr, auf das sie zielstrebig zusteuerte. „Mai!“ rief sie eine männliche Stimme von hinten nach ihr. Sie drehte sich um. Robin kam auf sie zugerannt und blieb vor ihr stehen. Sorge sprach aus seinem Gesicht. „Mai, warum bist du abgehauen? Warum gehst du freiwillig zu deiner Familie zurück, obwohl du weißt, das dort ein Dämon auf dich wartet?“ Mai zog ihre Jacke enger, als ein kalter Windstoß sie erreichte. „Weil es mein Zuhause ist! Deshalb. Außerdem kann ich sie nicht mit einem Dämon alleine lassen! Ich habe keine Angst!“ Ihre Stimme klang entschlossen und doch ein wenig unsicher. Robin seufzte hörbar. „Deshalb brauchst du doch nicht abzuhauen! Wir hätten dich doch nicht zurückgehalten. Wir hätten dir geholfen!“ Mai machte einen Schmollmund. „Ich wollte Euch nicht länger zur Last fallen. Ich komme allein zurecht. Das bin ich bisher immer!“ Robin schnitt eine leidvolle Grimasse. „Mai! Du bist noch immer nicht ganz auf der Höhe. Dich jetzt einem Dämon zu stellen, wäre Irrsinn! Die Gehirnwäsche ist noch immer nicht ganz abgeklungen. Das ist viel zu gefährlich für dich! Du verrennst dich da in etwas. Deine Eltern mögen ja einst gute Jäger gewesen sein, aber sie erinnern sich nicht daran! Und du weißt nicht eine einzige Art, einen Dämon zurück in die Hölle zu schicken! Wie stellst du dir das vor?“ In seiner Stimme schwang Sorge, Verzweiflung und Unglaube mit.
 

Mai wich mit wütendem Gesichtsausdruck zurück. „Ach ja! Und du oder deine Freunde wissen es besser, oder was? Hallo? Das ist meine Familie! Ich kann sie nicht einfach so im Stich lassen, nur weil ich die Hosen voll hab!“ Robin hob beschwichtigend die Arme. „Das will und verlangt auch niemand, Mai! Bitte. Beruhige dich! Aber gibt es nicht jemanden, wo du für kurze Zeit unterkommen kannst?“ Nach dieser Frage blickte Mai betreten zu Boden. Tränen brannten in ihren Augen. Robin sah diese und nahm Mai in den Arm. „Ist schon okay, Mai. Alles wird gut. Wenn du zu deiner Familie willst, dann kannst du zu ihnen gehen. Doch bitte, sag zu deiner eigenen Sicherheit nicht, wo du warst, oder was dir passiert ist. Wir wissen nicht, wie stark die Gehirnwäsche bei deiner Familie ist und welchen Einfluss der Dämon hat. Hab keine Angst! Wir werden da sein, wenn du uns brauchst. Joe, Stan und ich werden über dich wachen!“ Mai schluchzte und vergrub ihr Gesicht in seiner Jacke. Robin drückte sie an sich und streichelte ihr sanft über den Kopf. „Alles wird gut!“ flüsterte er immer wieder in ihr Ohr.
 

„Mai!“ Saras Stimme hallte vom Haus zu Robin und Mai hinüber. Beide zuckten erschrocken zusammen und drehten sich zu ihr um. Sara rannte auf die Beiden zu und schloss Mai weinend in ihre Arme. „Mai! Wo warst du nur? Wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht! Wie konntest du nur einfach so verschwinden? Bitte tu so etwas nie wieder!“ Mai, die sich inzwischen beruhigt hatte, schloss die Arme um ihre große Schwester, doch erwiderte sie Umarmung halbherzig. Auch sagte sie kein Wort. Robin nutzte die Gelegenheit, um zu gehen. „Nun, Mai, jetzt, wo du wieder sicher bei deiner Familie bist, kann ich beruhigt nach Hause gehen.“ Sara ließ Mai los und blickte Robin mit großen Augen an. Mai nickte. „Danke für die Hilfe. Und bitte entschuldige noch mal die Umstände, die ich dir gemacht habe.“ Robin schüttelte den Kopf. „Wenn du das nächste Mal jemanden zum Reden brauchst, dann komm lieber direkt zu mir, statt durch den Wald zu irren.“ Robin schien solche Gespräche schon öfter geführt zu haben. Er sagte es mit solchen Ernst, als wäre es wirklich so gewesen. Mai nickte. Sara, die es schweigend beobachtet hatte, ergriff das Wort. „Sie haben meiner Schwester geholfen? Oh, ich danke ihnen vielmals! Bitte kommen sie doch kurz rein und lassen sie meine Eltern und mich ihnen erkenntlich zeigen.“ Robin schüttelte den Kopf. „Das ist wirklich sehr freundlich, aber bitte machen sie sich keine Umstände. Passen sie einfach gut auf ihre Schwester auf.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und ging. Mai sah ihm nach. Sara drückte sie wieder an sich. „Ein wirklich netter, junger Mann. Und bescheiden obendrein…“ sagte sie nachdenklich. Dann zuckte sie mit den Schultern. „Egal. Komm, gehen wir ins Haus. Hier wird’s langsam kalt.“ Mit diesen Worten wandten sich beide Schwestern dem Haus zu. Mai blieb stehen. An der Haustür stand Dina und starrte Mai hasserfüllt an. Sie wirkte irgendwie verändert. Ihre blonden Haare waren länger und wirkten fülliger. Mai runzelte die Stirn, als Dina sich umdrehte und ins Haus ging. Sara schien nichts bemerkt zu haben. „Mai, was ist los?“ fragte sie verwirrt. Diese schüttelte den Kopf. „Nichts. Gar nichts.“ Dann folgte sie ihrer Schwester.
 

Es war spät in der Nacht. Mai lag wach in ihrem Bett und beobachtete die Schatten, die auf der Decke tanzten. Es war spät geworden, als sich die Familie nach langen Gesprächen zu Bett gegangen war. Die Polizei war da gewesen und hatte Mai ermahnt, nicht noch einmal anzuhauen, da sich alle große Sorgen gemacht hätten. Robins Namen hatten sie auch wissen wollen, aber Mai hatte einen falschen Namen genannt. Auch hatte sie, dass ihr wirklich passiert war, verschwiegen. Jetzt stand im Bericht der Polizei, dass Mai nach dem Streit mit Sara, stundenlang durch die Gegend gewandert war, bis sie schließlich im Wald gelandet war. Dort war sie herumgeirrt und nach Stunden schließlich Robin, den sie als Gavin ausgeben hatte, begegnet. Er hat sich Ihrer angenommen und sie mit zu sich nach Hause genommen, wo sie erst stundenlang geredet hatten und danach habe sie stundenlang geschlafen. Kaum war die Polizei weg gewesen, haben sie Sara und ihre Eltern mit Fragen bestürmt, wie viel sie Robin/Gavin erzählt hätte. Mai hatte immer wieder den Kopf geschüttelt und gesagt, sie habe ihm nichts verraten.
 

Nun lag sie wach in ihrem Bett und fand anscheinend keinen Schlaf. Irgendwann stand sie auf und machte das Licht in ihrem Zimmer an. Sie schaute zum Fenster hinaus. Draußen war nichts zu sehen. Nur das Wiegen des Baumes, wenn ein Windstoß durch seine Äste strich. Mai lehnte sich an die Wand neben ihrem Fenster. Noch immer war ihr Blick nach draußen gerichtet. Ein Geräusch von der Tür her ließ sie herumfahren. Dina schlüpfte ins Zimmer. Sie drehte sich um und ihre Augen glänzten voller Hass und Wut. In ihrem figurbetonten Nachthemd trat sie in die Mitte des Raumes. Mai verzog keine Miene. Sie blickte einfach unbewegt auf ihre ältere Schwester. Lang wurde kein Wort gesprochen. Die Blicke sprachen für sich. Wut, Hass, Respektlosigkeit, Niedertracht, Enttäuschung, Traurigkeit, Unglaube, Einsamkeit. Diese Gefühle erfüllten den Raum. „Was ist passiert? Warum hat die Gehirnwäsche des Scharlatans dich in eine solche Bestie verwandelt?“ Mais Stimme war leise, doch nicht minder scharf und schneidend, wie die Stimmung im Raum. Dina lachte kalt auf. „Die Gehirnwäsche hat mich nicht verwandelt. Sie hat mir nur die Augen geöffnet! Dieser Idiot von einem Wahrsager merkte gar nicht, was er da anrichtete. Mit einem Mal wurde mir klar, dass die Stimmen, die ich hörte, keine Einbildung war, sondern Stimmen, die versuchten, mich zu befreien! Sie zeigten mir, was für eine falsche Schlange du bist und das du es nicht verdienst zu leben. Du hast dir das Recht, hier zu leben, nur erschlichen! Eigentlich hätte ich einen Bruder bekommen sollen. Aber deine verdammte Seele hat die seine verjagt und seinen Platz eingenommen! Du brauchst es gar nicht abzustreiten! Ich weiß es! Du verdienst die größten Qualen, die es auf Erden gibt! Und nach deinem Tode soll es noch schlimmer kommen! Du wirst nie wieder unschuldige Seelen ihres Lebens berauben.“ Mai starrte ihre Schwester mit offenem Mund an. „Das ist alles? Du hasst mich, weil ich angeblich die Seele deines eigentlichen Bruders vertrieben haben soll? Bist du sicher, dass du noch alle Tassen im Schrank hast? Wenn ich wirklich das getan haben sollte, was du da behauptest, dann bist du verdammt niederträchtig und nachtragend. Warum sollte ich den Platz deines angeblichen Bruders einnehmen?“
 

„Weil du ein widerwärtiges Monster bist! Du hast ihm nicht gegönnt, in dieser wundervollen Familie, die du zerstörst, aufzuwachsen! Wahrscheinlich wurde er als Waisenjunge geboren, der sein Leben lang auf der Straße leben wird und dort zu Grunde gerichtet wird. Und alles wegen dir!!!“ „Du bist verrückt…“ Diese atemlose Feststellung Mias ließ Dina zusammenzucken. Sie trat einen Schritt auf Mai zu. „Ja… Vielleicht bin ich verrückt. Aber ich bin besser wie du. Ich war es schon immer und nun können es alle sehen. Ich habe bereits 3 Heiratsanträge bekommen. Meine Lehrer geben mir Einser, ohne das ich etwas dafür tun muss. Ich habe Freundinnen, die sich nach MIR richten. Endlich bekomme ich auch hier die Anerkennung, die ich verdiene.“ Mit jedem Satz kam Dina näher an Mai heran. Diese konnte nicht zurückweichen, da sie mit dem Rücken schon zum Fenster stand. Mai schluckte. „Aber zu einem hohen Preis, Dina! Deine Seele wird niemals Frieden finden! Du wirst auf ewig in den Höllenfeuern schmoren!“ Dina lachte kalt auf. „Du hast mir wohl nicht richtig zugehört, meine Liebe. Wer spricht hier von mir?“ Dina stand nun genau vor Mai. Der spöttische Blick sprach Bände. Mai stockte der Atem. „Du…du …du hast…“ stammelte sie mit geschockter Miene. Mit einem Mal hob Mai die Hand und gab Dina eine saftige Ohrfeige. Wut und Verzweiflung spiegelten sich in ihrem Gesicht wieder. Der Knall der Ohrfeige hallte noch lange im Raum wider. Tränen suchten sich einen Weg über Mais Wangen, während sich Dina einfach nur die rote Wange hielt. „Du hast meine Seele verkauft! Meine Seele! Einfach so, als wäre es ein Gegenstand, den man nicht mehr braucht… Wie kommst du nur dazu? Meine Seele gehört MIR! ICH entscheide, was mit ihr geschieht! Du hast kein Recht dazu…“ Halb aufgelöst, halb außer sich vor Wut zitterte sie am ganzen Körper. Dinas hasserfüllter Blick loderte regelrecht, als sie Mai anblickte. „Doch, habe ich! Mai, sag, wer war der junge süße Junge vorhin? Dieser Gavin? Etwa dein Freund? Der, der eigentlich für mich bestimmt ist?“ Dina beugte sich drohend vor. Mai stieß sie zurück. Dabei schrie sie: „Robin ist nicht für dich bestimmt! Er kann selbst entscheiden, wenn er liebt! Aber dich wird er niemals lieben! Jemand wie dich kann man nicht lieben!“ Dina war durch den halben Raum zurückgeworfen worden und rappelte sich auf. „Das wirst du büssen!“ Mit diesen Worten verließ sie das Zimmer.
 

Im Zimmer von Dina war es dunkel. Nur eine Kerze brannte. Im fahlen Kerzenlicht wirkte Dinas Gesicht bedrohlich. Hinter ihr regte sich der Dämon. „Ich habe dafür gesorgt, dass niemand eure Auseinandersetzung mitbekommen hat.“ Dina nickte. Sie schien sichtlich um Beherrschung zu kämpfen. „Dämon, du darfst sie dir holen. Unter einer Bedingung! Ich will das dieser Robin mich liebt!“ Der Dämon zischte leise sein Lachen. „Das ist Musik in meinen Ohren. Du bekommst diesen Robin. Aber erst, nachdem ich Mai sicher in den Höllenfeuern untergebracht habe. Wir wollen ja schließlich nicht, dass sie uns entwischt.“ Dina nickte. „Wie du meinst. Aber ich will diesen Robin!“

Ticket zur Hölle

Ticket zur Hölle
 

Mai hatte sich wieder ins Bett gelegt und weinte in ihre Kissen. Das Gespräch mit Dina hatte sie sehr aufgewühlt. Das Licht hatte sie an gelassen. Im Haus herrschte Stille. Kein Geräusch war zu hören. Mit einem Mal schreckte Mai auf. Mit verweinten Augen konzentrierte sie sich und schien in die Nacht zu horchen. Mit einem Mal sprang sie aus dem Bett und sprintete zum Fenster. Doch dort kam sie nicht an. Noch auf der Hälfte des Weges erlosch das Licht in ihrem Zimmer und man hörte Mai schreien, als sie zu Boden stürzte. „Loslassen!“ schrie sie in die Nacht. Überall war ein mehrstimmiges Scharren und Keifen zu hören. Die Tür öffnete sich knarrend. An der Tür stand der Dämon mit seinem Designeranzug. Hinter ihm war ein seltsames flackerndes Licht zu sehen. Ein kaltes Lächeln umspielte seine Lippen, während die Augen blutrot aufleuchteten. „Ja, schrei ruhig. Es wird dich sowieso keiner hören…“ Er gab einen Wink. Mai schrie auf. „Ah!!!“ Etwas hatte sie am rechten Knöchel festgebissen und begann sie mit sich zu ziehen. Mai schrie und wandte sich. Sie griff nach allem, woran sie sich festhalten konnte. Doch kaum hatte sie etwas gefunden, schrie sie vor Schmerz auf. „Nein!!! Lasst mich!!! Lasst mich in Ruhe! Ihr könnt mir nichts tun!“ Das zischende Lachen des Dämons war zu hören. „Du hast vergessen, deine Schwester hat mir deine Seele verkauft! Du gehörst MIR!!!“ „Nein!!! Ich selbst bestimme über meine Seele! Ich gebe sie euch niemals!!“ Wieder griff sie nach etwas und versuchte ihren Knöchel zu befreien. Doch wieder ließ sie unter großen Schmerzen los. Die Helfer des Dämons leisteten ganze Arbeit. Einer hielt Mais Knöchel fest im Griff, während zwei andere verhinderten, dass sie sich irgendwo festhielt. Gelang es ihr doch, Halt zu finden, biss man ihr in die Hand und in die Handgelenke. Immer wieder hörte man das zischende Lachen des Dämons. „Deine Seele gehört dir. Wie süß! Ein Irrglaube. Die Seelen der Menschen sind unser Spielzeug, dass wir uns einfach so nehmen können.“ Mai gab nicht auf. „Das stimmt nicht! Wen ihr euch einfach eine Seele nehmt, die euch nicht zusteht, werdet ihr durch die heiligen Fegefeuer Gottes gerichtet!“
 

Beim Erwähnen des Fegefeuers ließen die Helfer Mai überraschend los und flohen. Mai zögerte keinen Moment und versuchte sich aufzurappeln. Sie knickte unter den starken Schmerzen wieder ein. Mit Tränen in den Augen versuchte sie zurück in ihr Zimmer zu robben. Weit kam sie nicht. Der Dämon stand mit einem Mal vor ihr. Erschrocken versuchte sie zurückzuweichen. Plötzlich überall Flammen. Die Flammen schlugen besonders um den Dämon herum. Dieser begann seine Form zu verändern. Die menschlichen Züge verschwanden und es stand ein Insektenähnliches Wesen auf Stelzenbeinen vor Mai. Diese robbte panisch nach hinten. Der Dämon kam näher. „Tja, so sehe ich in Wirklichkeit aus. Deine Drohung vom heiligen Fegefeuer mag zwar meine Helfer vertrieben haben, doch mich kannst du damit nicht einschüchtern!“ Mit diesen Worten sprang er vor und vertiefte sein Beißwerkzeug in Mais rechten Knöchel. Diese schrie gequält auf. Flammen züngelten an der Wunde. Ohne auf Mais Protestschrei zu achten, zog er sie den Flur entlang, die Treppe runter. Wieder versuchte Mai sich verzweifelt überall festzuhalten, wo sie nur konnte, doch der Dämon war stärker. „Ja, wehre dich ruhig weiter. Es wird dir alles nichts nützen. Ich werde dich in die Höllenfeuer ziehen und nichts und niemand kann dir helfen!“
 

Wieder schrie Mai auf. „Nein!!! MAMA!!! PAPA!!! SARA!!!! Bitte helft mir!“ Sie schluchzte, bevor sie erneut schrie. „ROBIN! STAN! JOE! Bitte!!!! Haltet Eurer Versprechen und helft mir!“ Mai griff nach dem Geländer der Treppe. Mit aller Kraft hielt sie sich fest. Wieder lachte der Dämon sein zischendes Lachen. „Dummes Gör! Sie können dich nicht hören! Niemand! Weder hier im Haus, noch draußen! Also gib auf!“ Mai klammerte sich noch mehr an dem Geländer und schüttelte weinend den Kopf. „Niemals!!! Ich gebe nicht auf!“ Den Dämon schien die Geduld zu verlassen. „Typisch, dummes Gör! Glaubt an die Hoffnung, obwohl es keine Rettung mehr gibt. Jetzt KOMM endlich!“ Er zog kräftig an ihrem Knöchel. Daraufhin brach das Geländer durch. Mit einem lauten Schrei fiel Mai mehrere Stufen hinunter. Dabei knallte sie auf dem Rücken. Die Luft wurde aus ihren Lungen gepresst, denn sie schnappte im selben Moment verzweifelt Luft. Doch ihre Lungen schienen den rettenden Sauerstoff nicht aufzunehmen können. Während der Dämon sie weiter die restliche Stufen runterzerrte, rang sie sichtlich nach Atem. Ihr Gesicht nahm eine leichte bläuliche Färbung an. Unten an der letzten Stufe angekommen, schien sie wieder atmen zu können. Mehrmals hustend, griff sie sich an den Hals. Dabei versuchte sie eine andere Art, um sich vom Dämon zu befreien.
 

Mit dem freien Fuß versuchte sie den Kopf zu treffen. Dies gelang ihr zwar, allerdings interessierte es ihn wenig. Unbeirrt zog er sie weiter durch den Flur, durch die Küche zur Kellertreppe. Mai versuchte erneut sich irgendwo festzuhalten. „Wirst du dieses Spiel niemals müde? Du wärst doch eben deswegen fast gestorben! Glaubst du, wenn du vorher stirbst, wird das deine Seele retten? Vergiss es! Deine Seele gehört mir! Sie steht mir rechtmäßig zu! Da kann selbst das Fegefeuer nichts dagegen ändern.“ Mai griff nach dem Stuhl und schmiss ihn dem Dämon an den Kopf. „Du hast KEIN Anrecht auf meine Seele! Merk dir das! Das einzige, was du für dich beanspruchen könntest, wäre Dinas Seele, weil sie den Pakt mit dir geschlossen hat! Ich hab meine niemals als Preis angeboten!“ Die Attacke mit dem Stuhl ließ den Dämon genauso unbeeindruckt, wie die Tritte davor. Auch hörte man nur sein zischendes Lachen.
 

Stan, Joe und Robin rannten durch die Nacht zum Elternhaus von Mai. Sie schienen ihre Hilferufe gehört zu haben. Ohne auf irgendetwas zu achten, versuchten sie ins Haus zu kommen. Die Schatten gerieten in Bewegung. Des Dämons Helfer waren da und fauchte die Jäger wütend an. Stan hob seinen Revolver und fauchte zurück, während er zielte und mehrmals schoss. Die Helfer hatten keine Zeit zurückzuweichen. Die Kugeln trafen alle sauber ihr Ziel. Während die Helfer unter Zischen und Fauchen zusammensanken und zu Brei wurden, sahen sich Joe und Robin vielsagend an. Stan öffnete die Tür und machte eine einladende Geste. „Bitte nach Euch!“ Joe nickte. „Dies lassen wir uns nicht zweimal sagen!“
 

Im Keller herrschte das Feuer. Die Höllenfeuer leckten an den Wänden am Boden. Einzig da, wo jemand stand, in Mais Fall geschleift wurde, machte das Feuer Platz. In der Mitte des Raumes war ein Art Feuerstrudel, der direkt in die Tiefen der Hölle zu führen schien. Darauf steuerte der Dämon zu, während er Mai am Knöchel festgebissen mit sich zog. Die Stelle war inzwischen stark verbrannt. Mai schrie wie am Spieß. „NEIN!!! ROBIN!! JOE!!!!! STAN!!! SARA!!!!“ Dann erblickte sie Dina. Verzweifelt wandte sie sich an sie. „Dina! Bitte! Hilf mir!“ Doch es kam nur ein spitzes, selbstgefälliges Grinsen.
 

Oben in der Küche herrschte Aufruhe. Joe, Stan und Robin standen an der Tür zum Keller und versuchten die Tür irgendwie aufzubekommen. „Verdammt! Scheiß Dämon! Er hat die Tür versiegelt, als er sie runterzerrte!“ fluchte Stan, während er gegen die Tür trat. Joe verhinderte einen zweiten Tritt. „Nicht! Wenn du dir jetzt den Fuß brichst, dann kann du Mai auch nicht helfen.“ „Verdammt! Prinzchen! Weißt du nicht eine Lösung?“ Robin schüttelte ratlos den Kopf. „Er hat die Höllenfeuer schon gerufen. Damit ist dieser Mistdämon stärker als wir! Verdammter Mist! Ich hätte sie nicht gehen lassen dürfen!“ Joe schüttelte den Kopf. „Er hätte sie sich sowieso geholt. Allerdings wären ihre Überlebungschancen bei uns um ganze 70% gestiegen. Jetzt liegt sie gleich Null!“
 

Mai war schon halb in den Strudel aus Flammen gezogen worden. Immer wieder versuchte sie, etwas zu finden, was sie retten konnte. Dina stand da und beobachtete das Spektakel aus sicherer Entfernung. Mai schrie erneut. „Nein!! Das ist meine Seele! Die gebe ich nicht her! NEIN!!!“ In ihrem letzten Schrei entlud sich all ihre Verzweiflung. Mit einem Mal blickte sie überrascht auf. Auch der Dämon hielt inne. Vor Mai stand ein kleines Mädchen. Ihre Kleidung war zerrissen und ihre Haare wirr und zerzaust. Die Höllenfeuer schienen ihr nichts auszumachen. Es sah so aus, als sei sie in einer eigenen Welt. Ihre Umrisse flackerten. Einmal blickte sie zu Dina hinüber, im nächsten Moment blickte sie zu Mai hinunter. Diese blickte ungläubig zu ihr auf. „Aber… Du bist doch…“ Mai konnte ihren Satz nicht beenden. Das Mädchen blickte sie aus unendlich traurigen Augen an. ~Chloe!~ Die Stimme wich wie ein schwaches Hauchen. Dann legte das Mädchen den Kopf in den Nacken und hob die Hände zum Gesicht. Der Schrei, der nun folgte, war nicht von dieser Welt. Ein lang gezogener, unmenschlicher Schrei entwich ihrem Mund. Das Höllenfeuer reagierte darauf. Es brach ein Feuersturm los, der über alle hinwegfegte. Als er vorbei war, war der Feuerstrudel verschwunden. Mai lag der Länge nach ausgesteckt auf dem Boden. Aus der Bisswunde am rechten Knöchel floss Blut. Der Dämon lag in der Ecke des Kellers und richtete sich langsam und auf wackligen Stelzenbeinen wieder auf. Sowohl vom Mädchen, als auch von Dina fehlte jede Spur.
 

Ein Poltern war zu hören. Robin, Joe und Stan rannten die Treppe hinunter und stellen sich schützend zwischen Dämon und Mai. Robin beugte sich zu ihr runter und befühlte ihren Puls. „Sie... sie lebt.“ Ein Ausdruck der maßloser Verwunderung erschien auf den Gesichtern der Männer. „Aber… aber das… das war doch eindeutig der Schrei…der Schrei eines verlorenen Kindes gewesen! Und er war von hier gekommen! Daran besteht doch kein Zweifel…“ Stan brach ab. Joe schüttelte den Kopf. „Kümmern wir uns später drum. Hier wartet jemand darauf, wieder zurück in die Höllenfeuer gestoßen zu werden.“ Mit festen, entschlossen Blick trat er dem Dämon entgegen. Robin und Stan taten es ihm gleich.

Chloes Erinnerungen

Chloes Erinnerungen
 

Laute Kinderstimmen waren zu hören. Sie lachten, schrieen und kreischten vergnügt, dass man sie durch die Gänge des Gebäudes hörte. Am Eingang des Gebäudes verwies ein Schild darauf, dass es um eine Schule handelte. In einem Raum saßen mehrere Jungen und Mädchen und spielten. Eine junge Frau betrat in Begleitung eines weiteren Mädchens den Raum. Die Kinder sahen neugierig auf, als sie beide bemerkten. Die junge Frau klatschte in die Hände, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. „Morgen, ihr Rabauken! Wie ich sehe, seid ihr wieder voller Energie!“ lachte sie. Sie wies auf das junge Mädchen neben sich, welches schüchtern in die Runde blickte. „Ich hab euch eine neue Mitschülerin mitgebracht. Sie ist gerade in unser schönes Städtchen gezogen. Ihr Name ist Chloe. Heißt sie willkommen und seid nett zu ihr.“ Die junge Lehrerin schob Chloe zu den Kindern. Diese nahmen sie begeistert in Empfang.
 

~~~
 

„Ich muss mich wirklich für meine Tochter entschuldigen. Es war alles sehr viel für sie. Erst die Trennung von meinem Mann und mir und jetzt der Umzug hierher. Sie ist eigentlich so ein liebes Mädchen, aber sie vermisst ihren Vater.“ Hayley seufzte. Die junge Lehrerin schüttelte sanft den Kopf. „Machen sie sich keine Sorgen. Chloe wird sich sicherlich bald eingelebt haben. Glauben sie mir, Kinder können so etwas recht schnell wegstecken. Wenn sie erst einmal jemanden gefunden hat, mit dem sie sich versteht, wird sich alles wieder einrenken. Glauben sie mir.“
 


 

~~~
 

Im Schulhof stand Chloe alleine in einer Ecke und blickte zu Boden. Wenige Meter von ihr entfernt wurde ein Mädchen in ihrem Alter von älteren Kindern geärgert. Sie schubsten sie, sodass sie hinfiel. „Aua! Ihr seid gemein!“ schrie sie auf. Chloe blickte auf und blickte zu ihnen hinüber. „Aua! Ihr seid so gemein!“ äffte eins der älteren Kinder. Chloe ging zu ihnen hin und half dem Mädchen auf. Diese blickte sie verwirrt an. „Danke…“ bedankte sie sich. Den älteren Kindern schien das nicht zu gefallen. „Was willst du den? Willst du auch paar auf die Nase?“ Chloe drehte sich zum Sprecher um. „Tu’s doch! Was anderes könnt ihr doch sowieso nicht! Warum sucht ihr Euch nicht Gegner, die es mit euch aufnehmen können, statt sich an Schwächeren zu vergreifen!“ Die Augen von Chloe glitzerten entschlossen. Das andere Mädchen sah sie bewundernd an. Die älteren Kinder blickten sie verblüfft an. Die junge Lehrerin kam dazu. „Na, was ist den hier los? Werdet ihr von den großen geärgert, Mädchen?“ Chloe schüttelte den Kopf. „Ich nicht, aber sie.“ Sie zeigte auf das andere Mädchen. Diese nickte. „Sie haben mich zu Boden geschubst. Chloe hat mir aufgeholfen.“ Die älteren Schüler machten sich aus dem Staub. Die Lehrerin blickte ihnen nach. „Typisch, wenn es Ärger gibt, sind sie schnell weg. Aber macht Euch keine Sorgen. Sie werden ihre Strafe bekommen. Hast du dir wehgetan, Heather?“ Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Dank Chloe nicht.“ „Da bin ich aber froh. Chloe, du bist sehr mutig, wenn du dich einer Gruppe älterer Schüler stellst, um deiner Kameradin zu helfen.“
 


 

~~~
 

„Heather, Chloe! Wie seht ihr den aus? Seid ihr in diesem Regen etwa im Dreck rum gesprungen?“ Beide Mädchen blickten sich triefendnass und mit schmutziger Kleidung grinsend an. Die Lehrerin schlug die Hände über den Kopf zusammen, während der Rest der Klasse kicherte. „Ihr raubt mir noch den letzten Nerv, ihr Zwei!“ Heather blickte auf. „Das wollen wir wirklich nicht, Frau Lehrerin, aber es macht soviel Spass, im Regen zu spielen. Oder, Chloe?“ Chloe nickte und grinste noch mehr.
 


 

~~~
 

„Ach, wen haben wir den da? Unser unzertrennliches Duo aus der 2. Klasse. Immer noch so frech?“ Die älteren Schüler lauerten ihnen auf. Heather und Chloe blieben erschrocken stehen und sahen sich an. Bevor sie reagieren konnten, wurden sie zu Boden geschupst. „Oh, seid ihr gestolpert? Kommt, wir helfen Euch auf.“ Mit diesen Worten wurden beide an den Füssen gepackt und Kopf über gehalten. Heather schrie auf. „Hey! Lasst uns runter! Sonst…“ Weiter kam sie nicht. „Sonst was? Sonst sagt ihrs eurer Lehrerin? Oder Euren Eltern? Oh, da haben wir aber Angst!“ Sie lachten. „Ihr Feiglinge! Fühlt ihr Euch so toll, nur weil ihr es uns Jüngeren jetzt gezeigt habt? Oh, wie toll! Ihr seid ja so gut! Das nenn ich Stärke! Jüngere fertig machen! Ihr seid ja so mutig! Das ich nicht lache, ihr Witzfiguren!“ Chloes Gesicht war rot vor Wut. Die Älteren wussten nichts darauf zu erwidern und ließen beide Mädchen los. Beide rappelten sich langsam auf. Die Älteren liefen weg. Heather begann zu schluchzen. Chloe nahm sie in den Arm. „Chloe! Bitte! Sag nichts meinem Papa…“ „Keine Angst! Ich werde nichts verraten. Das ist jetzt unser Geheimnis! Wir sagen es keinem. Wenn die Feiglinge es noch mal versuchen, dann werden wir mit ihnen schon fertig.“
 

~~~
 

„So, Kinder! Ruhe! Jetzt seid bitte ruhig! Ich weiß nicht, ob ihr alle es schon wisst, aber es werden einige Familien vermisst. Es fehlt jede Spur von ihnen. Wenn jemand etwas gehört, oder gesehen hat, soll es bitte sagen.“ Die Lehrerin sah mitgenommen aus. Ein Mädchen hob zögerlich den Kopf. Ihr standen Tränen in den Augen. „M…Meine beste Freundin gehört zu ihnen. Wir wohnen nebeneinander. A…als sie verschwand…. Da… da war da ein Schrei zu hören. S…seit dem… ist… ist sie weg.“ Das Mädchen brach in Tränen aus. Die Lehrerin ging zu ihr und nahm sie in den Arm. Ein Junge lachte. „Ein Schrei, dass ich nicht lache! Du glaubst doch nicht wirklich, dass dieser Schrei Schuld an ihrem Verschwinden ist.“ Die Lehrerin wollte etwas sagen, doch das Mädchen in ihren Armen meldete sich empört zu Wort. „Natürlich war es der Schrei! Ich hab’s gesehen! Als der Schrei ertönte, wurde alles dunkel im Haus! Und seit dem sind sie weg! Einfach so!“ Chloe und Heather sahen sich an. Wieder meldete sich der Junge zu Wort. „Du lügst doch! Das hast du sicher nur erfunden.“ „Ich lüge nicht! Es war wirklich so!“ Die Lehrerin griff ein. „Stopp! Aufhören, alle beide! Michael, hör auf, sie eine Lügnerin zu beschimpfen.“
 

~~~
 

Die Lehrerin stand vor der Klasse und sprach kein Wort. Sie war blass. Fast bleich. Ein Mädchen weinte. „Es tut mir leid, Kinder. Wieder hat sich die Liste der Vermissten vergrößert. Dieses Mal gehört Michael auch dazu. Die… die Nachbarn sprachen von einem Schrei…“ Die Lehrerin brach ab. Ein Mädchen erhob sich. „Ich hab’s doch gesagt!!! Es war der Schrei! Der Schrei hat sie verschwinden lassen!“ Chloe und Heather hielten sich die Hände. Sie blickten zu Boden. Ein Junge in der Klasse hob zögerlich die Hand. Die Lehrerin nickte ihm zu. „Frau Lehrerin, was… was ist mit alljährlichen Nachtwanderung? Wird... wird sie dieses Jahr gemacht?“ Die Lehrerin nickt. „Nach langen Gesprächen haben wir uns entschlossen, die Wanderung zu machen. Viele Eltern werden sicher dagegen sein, deshalb sagt mir bitte rechtzeitig bescheid, ob ihr mitgehen werdet oder nicht.“
 


 

~~~
 

„Stellt Euch in Zweireihen auf. Und bleibt zusammen!“ Die Lehrerin blickte auf ihre Schüler. Die Nacht hatte sich über das Städtchen gelegt. Alle Kinder waren in Begleitung ihrer Eltern zur Nachtwanderung erschienen. Die Kinder folgten dem Geheiß der Lehrerin. Schon wenig später wanderten sie durch den dunklen Wald. Chloe und Heather hielten sich einander die Hände. „Ich hab Angst. Du auch, Chloe?“ Die Angesprochene nickte. „Ja. Aber das ist ja auch der Sinn einer Nachtwanderung.“ Heather nickte. „Ja, aber das macht mir nicht so viel Angst, wie die Sache mit dem Schrei.“ Chloe schluckte hörbar. „Zum Glück sind meine Mama und dein Papa mitgekommen. Sonst wäre ich zu Hause geblieben.“ Heather klammerte sich noch mehr an ihre Freundin. „Ich wäre jetzt am Liebsten in meinem Bett. In meinem schönen, warmen Bett und würde meine Kuscheltiere an mich drücken.“ Sowohl Chloe, als auch Heather sahen sich immer wieder um. „Ja, das wäre mir auch viel lieber…“ murmelte Chloe leise.
 

Die Nacht war schon sehr weit fortgeschritten, als sie alle um ein großes Lagerfeuer auf einer Lichtung herumsaßen. Die Stimmung war angespannt und erdrückend. Niemand sprach ein Wort. Nur das Knistern des Feuers war zu hören. Heather und Chloe saßen dicht aneinander gedrängt zwischen Hayley und Gavin. Plötzlich begann das Feuer in sich zusammenzufallen und nahm eine leicht bläuliche Farbe an. Einige Kinder schrieen auf. Mitten in den nun kleinen Flammen stand jemand. Chloe und Heather wurden von ihren Elternteilen auf die Füße gezerrt. Blass starrten sie auf die Gestalt im Feuer. Chloe wurde unruhig. „Wir müssen hier weg.“ wimmerte sie. Auch Heather zog an der Hand von Gavin. „Bitte! Ich hab Angst! Lasst uns von weg hier gehen!“ Hayley und Gavin sahen sich an und nickten. Sie bewegten sich vom Feuer weg. Einige waren neugierig geworden und traten näher an das Feuer heran. Man hörte die Lehrerin überrascht aufkeuchen. „Aber… Michael!! Wie kommst du ins Feuer?!“ Einige eilten zum Feuer, um dem Jungen zu helfen. Chloe und Heather entfernten sich mit ihren Eltern immer mehr vom Feuer und waren schon am Rand der Lichtung angekommen.
 

Viele Kinder entfernten vom Feuer, während die Erwachsenen versuchten Michael aus den Flammen zu befreien. Im Schatten der Bäume angelangt, blieben alle Flüchtenden irritiert stehen. In der Dunkelheit waren seltsame Geräusche zu hören. Scharrende Geräusche. Am Feuer waren die Erwachsenen erschrocken zurückgewichen. Einige liefen rücklings stolpernd vom Feuer fort. Dann, plötzlich, sah man deutlich den Jungen in den Flammen. Seine Umrisse flackerten stark. Er legte den Kopf in den Nacken. Alle blickten zu ihm hin. Hayley und Gavin handelten. Sie nahmen ihre Kinder und drückten sie an sich. Chloe und Heather wurden so in die Kleidung gedrückt, dass sie nichts mehr sahen. Beide Erwachsenen rannten in den Wald. Weg vom Feuer. Weg vom Jungen, der einst Michael genannt worden war. Weg vom Schrei, den er nun ausstieß. Ein Schrei, lang gezogen und unmenschlich. Wie nicht von dieser Welt. Viele hatten die Flucht ergriffen, als der Schrei ertönte. Doch wer hinsah, der sah, dass sie nicht sehr weit kam. Die Flammen des Lagerfeuers stießen empor und griffen nach jedem, den sie erreichen konnten. Jene, die sie nicht erreichten, zerfielen zu Staub, als wären sie aus Sand.
 

Nur wenige waren der Hölle am Lagerfeuer lebend entkommen. Diese sammelten sich in der Schule. Viele Kinder gehörten zu den Überlebenden, doch hatten sie ihre Eltern verloren. Auch waren sie nicht wirklich da. In ihren Augen spiegelte sich das Erlebte immer wieder von neuem ab. Chloe und Heather saßen aneinandergeklammert vor ihren Eltern. Hayley und Gavin sahen sich an. In ihren Händen glänzten Revolver. Sie nickten sich zu.
 

„Mai! MAI! Wach auf!“ Robin hielt Mais Hand fest im Griff, als diese sich krampfartig aufbäumte. Joe und Stan hielten sie jeweils an den Beinen und dem anderen Arm fest. Wieder versuchte Robin die schweißgebadete Mai aus ihrem Alptraum zu befreien. „Mai! Wach auf! MAI!“ Dieses Mal schienen die Worte zu ihr durchzudringen. Kraftlos sank sie zurück ins Bett und schlug flackernd die Augen auf. Die Männer ließen sie erleichtert los. Stan und Joe ließen sich erschöpft auf dem Sofa ihres gemieteten Zimmers sinken. Robin beugte sich besorgt über Mai. „Hey… Alles in Ordnung?“ Mai brach in Tränen aus. Robin nahm sie in den Arm. Schluchzend begann Mai zu sprechen. „Wer ist diese Chloe, das ich ständig von ihr träume? Ich kenne sie nicht! Ich bin ihr noch nie begegnet! Dies weiß ich! Und trotzdem träume ich von ihr, als würde ich in ihr Leben sehen. Was ist das?“ Die völlig aufgelöste Mai klammerte sich Halt suchend an Robin. Dieser strich ihr beruhigend über den Kopf. „Du siehst ihr Leben?“ Mai nickte. „Ja. Nicht alles. Aber vieles. Ich sehe ihre Mutter Hayley. Ihre beste Freundin, Heather mit ihrem Vater, Gavin. Ich versteh das alles nicht!“
 

Robin reichte ihr ein Glas mit Wasser. „Hier, trink. Das wird dir gut tun. Ich glaub, ich weiß, was das ist. Du träumst von Chloe, weil es ihre Erinnerungen sind.“ Mai nahm ein Schluck. „Und warum träume ich ihre Erinnerungen? Ich kenne sie nicht!!“ Robin schüttelte den Kopf. „Du musst sie nicht kennen, um ihre Erinnerungen zu träumen. Dies kann viele Gründe haben. Vielleicht bist du ihre Wiedergeburt. Oder aber es gibt etwas, was euch verbindet. Oder, und das vermute ich eher, ist es deine Gabe. Deine Gabe zeigt dir die Erinnerungen von jemanden, um ihm zu helfen.“ Mai sah ihn skeptisch an. „Um ihn zu helfen?“ Robin nickte. „Ja, das gibt es häufiger. Mit der Gabe bist du in der Lage, dich in die Person hineinzuversetzen und kannst die Person retten. Entweder um ihn vor Dämonen zu retten, oder um ihn die Reise ins Jenseits zu ermöglichen.“ Mai schüttelte den Kopf. Robin seufzte. „Diese Frage sollten wir klären, wenn du ausgeschlafen bist. Ruh dich jetzt.“ Mai nickte und gab Robin das Glas zurück. Dann legte sie sich hin und schloss die Augen. Die Männer erhoben sich und verließen den Raum. Robin blieb an der Tür stehen. „Wenn etwas sein sollte, wir sind unten vor dem Empfang.“ Dann schloss er die Tür. „Ich glaube nicht, dass Chloe Hilfe braucht.“ murmelte Mai, bevor sie einschlief.

Mai's Wunsch

Mai’s Wunsch
 

Die Sonne stand hoch am Himmel. Im Motelzimmer der Männer herrschte Stille. Joe und Stan hatten es sich in ihren Nachtlagern bequem gemacht und schienen zu schlafen. Auch Mai lag im Bett und schlief, während Robin auf seinem Bett lag und in einem Buch las. Mai begann sich zu regen und setzte sich auf. Sie griff stöhnend nach ihrem rechten Knöchel, der bandagiert war. Robin blickte von seinem Buch auf und legte es weg. Er setzte sich zu Mai auf die Bettkante. „Schmerzt der Knöchel?“ fragte er flüsternd. Mai nickte. Robin reichte ihr ein Glas mit Wasser, welches auf dem Nachttisch gestanden hatte. „Hier, trink. Es ist ein leichtes Schmerzmittel darin. Damit werden die Schmerzen erträglicher werden.“ Mai nahm das Glas und trank ein wenig. Mit dem Glas in der Hand starrte sie vor sich hin. Sie schien ganz in Gedanken versunken zu sein. „Möchtest du noch etwas trinken? Sonst sollten wir das Glas besser wieder auf den Nachttisch stellen.“ Mai hob ertappt den Blick und gab Robin das Glas zurück. Dieser stellte es lächelnd zurück. Dann wandte er sich wieder Mai zu. „Du solltest dich noch etwas ausruhen.“
 

Mai schüttelte leicht den Kopf. „Nein. Ich möchte nicht mehr schlafen. Ich bin hellwach.“ Robin nickte. „Okay. Dann kann ich Gelegenheit nutzen und nach deinem Knöchel sehen.“ Mai nickte. Robin machte sich sogleich daran, den Verband zu lösen. Mai schaute ihm interessiert dabei zu. Die Wunde war sehr tief, doch war es schon soweit verheilt, dass sich Schorf gebildet hatte. Mit fachmännischen Handgriffen begann er die Wunde zu untersuchen. Die Haut um die Wunde herum, war rot. Zu Rot. Robin begann mit einem Lappen eine klare Flüssigkeit auf die Wunde zu träufeln, was Mai die Tränen in die Augen trieb. Sie unterdrückte jeden Schmerzlaut, während Robin wieder begann, den Knöchel zu bandagieren. Als er fertig war, reichte er Mai ein Taschentuch. „Sieht doch schon gut aus. Es verheilt sehr gut.“ Mai wischte die Tränen weg. Dann sah sie Robin an. „Woher kannst du das? Und was war das für eine Flüssigkeit, die du drauf getan hast?“ Robin hob das Fläschchen mit der Flüssigkeit hoch. „Das ist einfaches Weihwasser.“
 

„Weih…wasser?“ Mai blickte ihn irritiert an. Robin lachte leise. „Bei Verletzungen, die dir ein Dämon zufügt, ist Weihwasser das einzige Heilmittel. Es brennt zwar ungeheuer, aber es verhindert die typischen Folgen einer solchen Verletzung. Auch Verbrennungen, die durch das Höllenfeuer entstanden sind, kann Weihwasser heilen. Und noch viel mehr.“ „Ich verstehe… Okay, ich kapiere überhaupt nichts. Also, Weihwasser. Das gleiche, womit kleine Babys getauft werden? Das ist das einzige Heilmittel gegen Verletzungen, die von Dämonen und dem Höllenfeuer stammen?“ Robin nickte leise lachend. „Ja. Wie schon gesagt, Weihwasser ist sehr vielseitig.“ Mai nickte nachdenklich. „Gehört das zum Grundwissen eines guten Jägers?“ Robin schüttelte den Kopf. „Nein, dies habe ich vor Jahren festgestellt, als ein Mann von einem Dämon angefallen worden war. Dieser hat sich schwer verletzt zu einer Kirche geschleppt und versehentlich eine Schale mit Weihwasser umgestoßen. Die Wunden, an denen so Weihwasser gelangt waren, verursachten zwar zusätzliche Schmerzen, aber dafür schlossen sie sich und man erkannte einen Heilungsprozess.“ Mai runzelte die Stirn. „Verstehe ich das richtig? Wenn man von einem Dämon verletzt wird, dann heilen die Wunden nicht?“ Robin nickte. „Ja. Man hat es schon mit allem versucht. Warum man nie auf Weihwasser gekommen ist, weiß ich auch nicht. Dabei ist das so nahe liegend…“
 

„Und woher weißt du soviel über so etwas?“ Robin lächelte. „Eigentlich wollte ich Medizin studieren und Arzt werden. Allerdings kam alles anders. Meine Familie hat schon immer Geister, Dämonen und paranormale Phänomene untersucht und gejagt. Inzwischen ist es Tradition, dass jede Generation einen Jäger hervorbringt. Dies hat den Vorteil, dass ich auf ein ungeheures Wissen zurückgreifen kann. Es hat aber auch Nachteile. Die Dämonen wissen um uns und fürchten uns. Deshalb haben sie immer wieder versucht, uns zu vernichten. Dies wäre ihnen ein paar Mal sogar fast gelungen. Tja, der letzte Anschlag ist jetzt 10 Jahre her. Da war ich elf. Meine Mutter war schwanger gewesen. Sie war so glücklich gewesen. Nach drei Söhnen sollte das vierte Kind nun endlich ihr ersehntes Prinzesschen werden.“ Robin lächelte kurz. „Meine Eltern waren in der Küche, wir Kinder schliefen schon. Ich weiß noch, dass ich vom Meer träumte, als mich der Schrei meiner Mutter aus dem Schlaf riss. Ich weiß nicht, was passiert ist, aber als ich in die Küche kam, lag da meine Mutter… Alles war voller Blut. Mein Vater kämpfte mit einem Dämon… Ich weiß nicht wie, aber ich schaffte es, meinem Vater zu helfen und gemeinsam schickten wir ihn zurück die Hölle.“ Robin brach mit glasigen Augen ab. Mai rutsche näher an ihn heran und griff nach seiner Hand. Er blickte dankbar auf.
 

„Es stellte sich heraus, dass uns ein Jäger verraten hatte. In dieser Nacht verlor ich nicht nur meine Mutter und meine ungeborene Schwester. Auch meine beiden Brüder fanden wir tot in ihren Betten. Ich hab überlebt, weil ich in der Bibliothek über ein Buch eingeschlafen war. Seit diesem Tag habe ich mir geschworen, jeden, der für diese Nacht verantwortlich ist, zu jagen und eigenhändig dafür büssen zu lassen.“ Er wandte den Kopf zur Seite. Mai drückte seine Hand. „Dieser Verräter… Ist das…“ Ein Nicken. „Ja, der Wahrsager.“ Mai senkte den Kopf. „Dann manipuliert er nicht nur die Leute, sondern ist auch noch ein Mörder. Dieser elende Scharlatan!“ Robin sah sie belustigt an. „Scharlatan? Das ist mal ein passender Name für diesen Verräter.“ Mai lächelte. „Jetzt weiß ich auch, warum Stan dich einen Rachsüchtigen, Medizinbesessenen Geist genannt hat.“ Robin nickte. „Ja. Ich muss zugeben, damit hat er wirklich Recht gehabt. Aber besser leiden kann ich dich dadurch trotzdem nicht, du Stinkstiefel.“ Robin hob die Stimme.
 

„Das beruht auf Gegenseitigkeit, Prinzchen.“ Stan erhob sich von Sofa und streckte sich. „Wie ich sehe, ist unser Dornröschen auch erwacht. Fehlt nur noch der alte Opa.“ „Lass deine dämlichen Spitznamen, Stan. Zufälligerweise haben wir Namen, auf die wir auch hören.“ Joe schälte sich aus seinen Decken. Stan schnaubte. „Klar, so etwas haben wir alle. Aber so schöne Spitznamen nicht.“ antwortete er grinsend. Mai verzog das Gesicht. „Dann geben wir dir jetzt auch einen. Wie wäre es mit Ekelpaket? Oder wandelnde Leiche? Oh, besser nicht. Sonst verwechselt man dich am Ende wirklich noch mit einem Untoten.“ Robin und Joe gaben seltsame Geräusche von sich, als sie versuchten, sich das Lachen zu verkneifen. Stan funkelte Mai finster an. „Hey, Kleine, sei lieber etwas freundlicher, schließlich haben wir dich vor dem Dämon gerettet.“ Mai ließ sich nicht beeindrucken. „Die Kleine hat einen Namen. Solange du mich nicht bei meinem Namen nennst, werde ich sicherlich nicht freundlicher zu dir sein.“ Mai verschränkte die Arme und blickte Stan entschlossen an. Dieser wandte sich ab und verließ das Zimmer. Joe und Robin begannen zu lachen. „Das war mal klasse. Aber ein Rat, Mai: Treib es nicht zu weit. Stan kann richtig ungemütlich werden.“ Mai nickte. „Danke, ich werde es beherzigen.“
 

Die Sonne versank am Horizont. Im Zimmer der Männer herrschte Schweigen. Niemand sagte ein Wort. Stan lehnte an der Tür und blickte finster in die Runde. Joe und Robin saßen an der Kante von Robins Bett, während Mai aufrecht sitzend in ihrem Bett lag. „Mai, deine Schwester Dina ist verschwunden. Weißt du, wo sie sein könnte?“ Mai blickte auf. „Dina? Sie war im Keller.“ Joe stöhnte auf. „Auch das noch…“ Mais Gesicht war erst irritiert, doch dann wandelte sich ihr Gesichtausdruck und sie wurde kreidebleich. „Der Schrei…“ sagte sie atemlos. Robin nickte. „Wenn ein verlorenes Kind schreit, reißt es alles Lebende um sich herum in den Tod.“ „Und warum lebe ich dann noch? Ich hab sie doch gesehen! Sie stand genau vor mir!“ Joe schüttelte den Kopf. „Diese Frage beschäftigt uns, seit wir dich gerettet haben. Den Schrei hat bisher noch niemand überlebt! Er schwächt Dämonen, kann sogar Geister auslöschen! Nichts ist tödlicher als dieser Schrei.“ Daraufhin wurde wieder geschwiegen. Die Sonne versank ganz und machte der Nacht Platz.
 

Dann brach Mai das Schweigen. „Ich will mitkommen.“ Die Männer starrten sie erst irritiert an. Doch dann schnappte Robin hörbar nach Luft. „Mai, nein! Die Stadt der verlorenen Kinder ist kein Ort für dich! Selbst die erfahrensten Jäger meiden ihn! Dort gibt es nicht nur die verlorenen Kinder. In fast jedem Haus haust ein Poltergeist, der es sich zum Ziel gemacht hat, Eindringlinge zu töten. Dämonen beherrschen die Nacht. Wenn du dort 5 Minuten überlebst, hast du schon gewonnen.“ Mai schüttelte den Kopf. „Das interessiert mich nicht! Ich muss dorthin! Wenn ihr mich nicht mitnehmt, dann geh ich eben alleine!“ Nun ergriff Joe das Wort. „Mai, egal, was du dort willst, es würde deinen Tod bedeuten! Willst du deinen Eltern das wirklich antun? Sie würden innerhalb weniger Tage zwei ihrer Kinder verlieren. Und sie hätten noch nicht einmal etwas, was sie beerdigen könnten! Ist es das, was du willst?“ Mai kletterte wutentbrannt aus dem Bett. „Ihr versteht das nicht! Ich MUSS dahin! Dort liegen alle Antworten auf meine Fragen! Ich kann nicht länger untätig sein. Es gibt keinen anderen Weg.“ Sie wollte zur Tür gehen, doch ihr verletzter Knöchel hielt der Belastung nicht stand und sie knickte ein. Stan griff nach ihrem Arm und zog sie hoch. Als sie halbwegs sicher stand, beugte er sich vor. „Dann erklär es uns, Kleine. Wir sind nicht dumm. Wenn du uns den Grund nennst, werden wir es sicherlich verstehen. Also? Welche Antworten sind dir so wichtig, dass du dein Leben einfach so wegwerfen willst, MAI?“ Stan betonte ihren Namen so stark, dass sie ihn mit offenem Mund anstarrte. Dann senkte sie den Kopf.
 

„Es ist wegen Chloe. Das verlorene Kind, welches ich im Keller gesehen hab, war…“ Mai brach ab. Joe half ihr auf die Sprünge. „War Chloe selbst?“ Mai schüttelte den Kopf. „Nein. Es war ihre beste Freundin. Heather. Sie… sie hat mich Chloe genannt.“ Schweigen. Keiner der Männer wagte auch nur zu atmen. „Bist du sicher?“ fragte Stan überflüssigerweise. Mai nickte und ließ sich auf das Bett sinken. Tränen sammelten sich in ihren Augen. „Ich…ich hatte am Anfang immer wieder diesen Traum. Wo zwei Erwachsene in Begleitung von zwei Mädchen durch eine Menschenleere Stadt schleichen. Sie trennen sich und gehen in zwei Reihenhäuser, die sich genau gegenüberliegen. Die Frau, die Hayley genannt wird, versucht zu verhindern, dass das Mädchen etwas trinkt, was ihr Gestalten in der Dunkelheit anbieten. Dann hören sie, wie im anderen Haus das andere Mädchen diese Flüssigkeit trinkt. Sie wimmert und bettelt um Hilfe. Dann ist da plötzlich dieser Schrei.“ Mai brach in Tränen aus. Robin kam um das Bett herum und schloss sie in seine Arme.
 

„Inzwischen weiß ich, dass das Mädchen bei Hayley, Chloe war. Und das andere Heather, ihre beste Freundin. Heather hat diese komische, klare Flüssigkeit getrunken und wurde zum verlorenen Kind. So ist es doch, nicht wahr?“ Mai brach schluchzend ab. Robin drückte sie an sich. Joe und Stan ließen die Köpfe hängen. „Es ist nicht viel darüber bekannt, wie ein Kind zu einem verlorenen Kind wird, doch deine Träume könnten die Antwort darauf haben.“ Mai blickte Joe flehend an. „Bitte! Bitte, ich muss zur Stadt der verlorenen Kinder! Nur dort finde ich die Antworten. Warum ich diese Träume habe. Was mit Chloe und ihrer Mutter passiert ist. Vielleicht gibt sogar eine Möglichkeit, die verlorenen Kinder zu retten. Bitte!“ Joe sah zu Stan. Dieser zuckte mit den Schultern. Joes Blick wanderte zu Robin. Dieser schien mit sich zu kämpfen. Er seufzte und nickte. Auch Joe nickte. „Gut, Mai, du darfst mit. Aber nur unter einer Bedingung! Du wirst dort genau das tun, was wir dir sagen! Wie Robin schon treffend beschrieben hat, ist es ein Ort des Todes.“

Die Stadt der verlorenen Kinder

Die Stadt der verlorenen Kinder
 

Die Nacht war klar. Das Licht des Mondes beleuchtete geisterhaft die Welt. Diese Welt war einsam, unwirklich und ganz in Stille getaucht. Das einzige, was diese Einsamkeit und Stille störte, war ein Auto. Ein einzelnes Auto, das durch die einsamen Straßen durch diese unwirkliche Gegend fuhr. Im Auto saßen 4 Insassen, drei Männer und ein Mädchen. Der Fahrer, der älteste, starrte regelrecht auf die Straße, als könne jeden Moment etwas Unvorhergesehenes vorm Auto auftauchen. Die anderen blickten aus den Fenstern. Es herrschte bedrückende Stille. Die Straße führte an dunklen Wäldern vorbei und die Stille im Auto wurde immer schwerer. Das Mädchen veränderte seine Haltung. Ihre Mimik verzog sich zu einer Grimasse des Schmerzes, während sie nach ihrem verbundenen Knöchel griff. Mit Tränen in den Augen blickte sie wieder aus dem Fenster.
 

„Mai, bist du sicher, dass du in diese Stadt willst?“ Stans Stimme durchschnitt die Stille, wie ein messerscharfes Schwert. Die Angesprochene zuckte zusammen. Mit großen Augen blickte sie zum Beifahrersitz. Dann wandte sie sich wieder der vorbeiziehenden Welt zu. „Ja, ich bin mir sicher. Wie oft willst du es noch hören?“ Stan stieß einen Seufzer aus. „So oft, wie ich will. Es gibt viele Weiber, die kurz vor dem Ziel noch den Schwanz eingezogen haben.“ Mai blickte wütend zu Stan. °Ich bin kein Weib! Außerdem hab ich keinen Schwanz, den ich einziehen könnte. Das ich ja wohl eher dein Gebiet.“ Sowohl Joe, als auch Robin hielten sich aus dem Gespräch raus. Sie starrten raus und taten, als hörten sie nichts. Stan schnaubte. „Wie oft willst du mich jetzt eigentlich beleidigen? Ich wollte bloss eine ernste Antwort auf meine ernste Frage.“ Mai blickte kopfschüttelnd aus dem Fenster. „Klar, als ob du jemals ernst sein könntest. Der einzige Augenblick, an dem du es wirklich ernst meinst, ist es, wenn du etwas erschießt.“ Nach dieser Aussage herrschte wieder Stille. Erneut sagte niemand ein Wort und die erdrückende Stille hielt wieder Einzug.
 

Lange hatten sie kein Wort gewechselt, bis Joe das Auto vor einer Straßensperre zum Halten brachte. „So, Endstation. Ab hier müssen wir zu Fuss weiter.“ Hinter der Absperrung war eine Brücke zu sehen, die über einen ruhigen Fluss führte. Alle stiegen aus. Mai hatte durch ihren verletzten Knöchel einige Schwierigkeiten, doch ließ sie sich von niemandem helfen. Sie blickte über die Absperrung hin zur anderen Seite des Flusses. Kein Licht war auf der anderen Seite zu erkennen. Man sah nur die Dunkelheit. „Direkt hinter der Brücke fängt die Hauptstraße an. Ungefähr 5 Minuten später gelangt man zu den ersten Häusern. Im Städtchen gab es Strom, doch kann man nicht sagen, ob es dort noch welches gibt. Die Stromwerke aus der Region werden es sicher abgeschaltet haben.“ Joe trat zur Absperrung. Er drehte sich zu den anderen um. „Ich will nicht lange um den heißen Brei herumreden. Ich war schon mal hier, als ich noch jung und dumm war. In dieser Stadt des Todes haben ich viele gute Jäger sterben sehen. Sobald wir dort drinnen sind, heißt es, jeder ist sich selbst der nächste. Doch es ist genauso eine Tatsache, dass wir alleine dort nicht überleben können. Regeln gibt es dort keine. Deshalb müssen wir uns auf unser Urteilsvermögen und unseren Instinkt vertrauen. Mein einziger Rat für uns alle: Passt auf die Schatten auf!“ Nach seiner Ansprache herrschte wieder erdrückende Stille.
 

„Was ist die offizielle Ursache für die Unbewohnbarkeit des Städtchens?“ Alle blickte Mai überrascht an. Diese zuckte mit den Schultern. „Was denn? In den Berichten wird sicher nichts von irgendwelchen Geistern und verlorenen Kindern erwähnt.“ Joe nickte. „Da hast du Recht. Als offizielle Ursache wurde eine Explosion im Bergwerk aufgeführt. Der Boden soll durch die Erschütterung derart instabil sein, dass die Stadt jederzeit einstürzen kann.“ „Haben die einen zu viel gebechert? Das glaubt doch kein Idiot!“ Stan hatte seine Waffe gezogen und tippte sich damit gegen die Schläfe. Joe seufzte. „Ja, sie hatte schon mal bessere Lügenberichte, die wesentlich sinniger waren. Aber du kennst doch die Leute. Sie wollen verarscht werden, so wie du es ausdrücken würdest. Vor allem, wenn es um abnormale Dinge wie Geister und Gespenster geht.“ Stan nickte. „Ja, da ist was dran…“
 

Die vier gingen schweigend und leise über die Brücke. Jeder hatte eine Waffe. Joe und Robin hatten jeweils ein Schwert, während Stan und Mai einen Revolver in den Händen hielten. Der Mond war hinter den Wolken hervorgekommen und beschien den Vieren den Weg. Joe bildete die Spitze, dicht gefolgt von Robin. Stan war ein wenig dahinter und drehte sich immer wieder nach Mai um. Diese war durch ihren Knöchel etwas zurückgefallen. Das Ende der Brücke kam mit jedem Schritt näher. Die gezückten Waffen glänzten im Mondlicht.
 

Die Straße lag im Dunkeln und auch der Mond hatte sich hinter Wolken verstecken. Man sah die Hand vor Augen nicht. Joe und Robin hatten das erste Haus erreicht. Vorsichtig gingen sie weiter. Als Stan das Haus erreichte, blieb er stehen. Er drehte sich nach Mai um, die er nicht sehen konnte. „Mai… Beeil dich mal ein bisschen. Wir haben nicht alle Zeit der Welt.“ zischte er leise. Die Antwort kam prompt zurück. „Oh, echt? Wer hätte das gedacht. Nur zur Information: Es ist Stockfinster und ich habe einen verletzten Knöchel. Beides sind nicht gerade die besten Voraussetzungen für einen Abstecher in einer Geisterstadt. Ein wenig Licht wäre hilfreich.“ In diesem Moment erreichte sie Stan.
 

Plötzlich gab es ein knisterndes Geräusch, die alle erschrocken zusammenzucken ließ. Dann flackerte mit einem Mal die alte Straßenbeleuchtung auf. Das Licht war so stark, dass alle geblendet wurden. Alle verdeckten die schmerzenden Augen, während im Städtchen eine Lampe nach der nächsten flackernd aufleuchtete. Auch die Häuser waren hell erleuchtet, als hätten die Bewohner es gerade angemacht. Die Augen der Vier hatten sich an das Licht gewöhnt und blickten sich staunend an. Stan starrte Mai mit offenem Mund an. „Ich weiß nicht, wie du das gemacht hast, doch das war jetzt nicht sehr clever. Nun weiß wirklich jedes Wesen, dass wir hier sind.“ Mai schüttelte kreidebleich den Kopf. „Ich habe nichts gemacht. Wirklich nicht!“ Joe und Robin kamen zurück zu den beiden. „Was ist los?“ fragte Joe. „Unsere Kleine hier hat es irgendwie geschafft, dass Licht einzuschalten.“ Robin blickte sie ungläubig an. „Das stimmt nicht! Das Licht ist von alleine angegangen!“ „Ja, nachdem DU dir Licht gewünscht hast…“ Mai öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch Joe deutete ihr, zu schweigen. „Hört auf, ihr Zwei. Es lässt sich jetzt eh nicht mehr ändern. Wir sollten das Licht zu unserem Vorteil nutzen.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und gab Robin ein Zeichen. Dieser nickte. Stan schnaubte, doch sagte er nichts. Er schloss sich den Beiden an und beachtete Mai nicht mehr.
 

Im hell erleuchteten Städtchen regte sich kein Lüftchen und kein einziges Geräusch drang zu den Vieren. Die drei Männer folgten mit gezogenen Waffen der Hauptstraße und erreichten die ersten Reihenhäuser, die dicht gedrängt aneinander gebaut waren, als wollten sie sich so schützen. Mai war wieder etwas zurückgefallen, doch mit einen verbissenem Gesichtsausdruck kämpfte sie sich weiter. Robin drehte sich zu ihr um und wartete auf sie. „Geht es?“ fragte er mit einem besorgten Unterton. Sie nickte, sprach aber kein Wort. „Erkennst du hier etwas aus deinen Träumen wieder?“ Joe und Stan blieben stehen und drehten sich erwartungsvoll zu ihr um. Mai blickte sich um. Dann zeigte sie zum Ende der Hauptstraße, auf die sie zusteuerten. „Dort liegt die Schule, auf die Chloe und Heather gegangen sind.“ Sie setzte sich wieder in Bewegung und ging an Joe und Stan vorbei. Die Männer folgten ihr schweigend. Vor einem Reihenhaus blieb sie stehen und blickte zu beiden Seiten der Straße. „Hier haben sie gewohnt. Es ist genau wie in meinem Traum. Seht, hier an der Haustür zu Chloes Zuhause steckt sogar Hayleys Schlüsselbund.“ Sie deutete auf die Ansammlung verschiedenster Schlüssel, während einer von ihnen im Schlüsselloch steckten. Die Männer sahen sich an. „Willst du reingehen?“ fragte Joe. Mai nickte. „Ich muss. Hier werde ich sicherlich einige Antworten finden. Ich weiß, was mit Heather und ihrem Vater passiert ist. Doch was ist mit Chloe und ihrer Mutter? Darauf habe ich bisher keine Antwort.“ Joe und Stan traten vor. „Warte hier kurz. Wir schauen, was in dem Haus alles haust.“ Mit diesen Worten waren sie auch schon durch die Haustür rein.
 

Mai stand unruhig hampelnd neben Robin und blickte immer wieder ins Haus. Auch drehte sie sich öfter zum Haus gegenüber um. „Was ist los?“ fragte Robin. „Ich hab das Gefühl, beobachtet zu werden. Aber das sollte in einer verfluchten Stadt meine kleinste Sorge sein, nicht wahr?“ Robin sah sich prüfend um. „Nun, auf den ersten Blick kann ich nichts erkennen. Aber du hast Recht. In jedem Haus könnte ein Poltergeist, oder Dämon sein, der uns beobachtet. Bereust du deine Entscheidung, hierher gekommen zu sein?“ Mai schüttelte den Kopf. „Nein. Ich spüre genau, dass ich hier wichtige Antworten finden werde. Aber was wollt ihr eigentlich hier? Sucht ihr auch Antworten?“ Robin nickte, ohne seine Umgebung außer Acht zu lassen. Immer wieder blickte er sich aufmerksam um. „Ja, wir hoffen hier Antworten zu finden. Allerdings auf die Frage, warum immer mehr verlorene Kinder auftauchen. Eigentlich verlassen sie nicht gerne ihre vertraute Umgebung. Aber in den letzten Monaten wurden immer mehr gesichtet und einige Male haben sie Unschuldige mit in den Tod gerissen. Wir glauben nicht, dass es die Kinder dieser Stadt sind, aber wir hoffen hier die Ursache zu finden. Und eine Möglichkeit, wie man sie vernichten kann.“ Daraufhin schwiegen beide.
 

„Alles klar. Ihr könnt reinkommen. Wir haben weder Anzeichen für einen Poltergeist, noch für einen Dämon oder ein verlorenes Kind gefunden. Was allerdings nicht zu bedeuten hat. Seid vorsichtig. Hinter jedem Schatten kann etwas lauern.“ Joes Stimme kam vom Fenster über Mais und Robins Kopf her. Sie blickten auf. Robin nahm Mais Hand und zog sie ins Haus. Vorsichtig bewegte er sich mit erhobener Waffe fort. „Du kannst die Waffe sinken lassen!“ Robin drehte sich überrascht zu Mai um. Diese stand an der Treppe und hatte nach dem Treppengeländer gegriffen. Von oben erschienen die Köpfe von Joe und Stan. „Was redest du da für einen Unsinn?“ herrschte sie Stan an. Mai blickte mit festem Blick nach oben. „Hier ist weder ein Geist, noch ein Dämon. Dies spüre ich genau. Der letzte Dämon war vor 20 Jahren hier. Und dieser hat Chloe und ihre Mutter bedrängt. Aber seitdem war nichts mehr hier.“ Stan lachte spöttisch. „Ja, klar! Das Medium hat gesprochen. Und was ist, wenn es nicht so ist? Wenn nun doch ein Dämon hier ist? Der lacht sich gerade schlapp über dich.“ „Stan! Lass es. Dies können wir ausdiskutieren, wenn wir sicher aus der Stadt sind.“ Joe drehte sich genervt weg. Stan wollte protestieren, doch er ließ es bleiben. Mai ging ins obere Stockwerk. Robin folgte ihr. Mai strich sanft über Wände, während sie über die Flure ging. Sie schloss die Augen. Vor der Tür zum Kinderzimmer blieb sie stehen.
 

„Hier… Hier ist das Fläschchen mit der Flüssigkeit gegen die Wand geschleudert worden. Seht, die Verätzungen, die sie hinterlassen hat.“ Mai deutete auf eine dunkle Stelle an der Wand und am Boden. Der Boden, der am meisten abgekriegt hatte, wies eine undefinierbare Färbung auf. Der Teppich und das Holz darunter hatte Blasen geworfen. Joe und Robin gingen interessiert in die Hocke und begutachteten die Stelle. Stan stand daneben und sah es sich von oben an. Mai betrat das Zimmer, welches einst Chloe bewohnt hatte. Ihre Blicke wanderten. Sie sah sich an den Schrank an, dessen Türen mit einen Springseil zugeknotet waren. Sie wandte sich dem Fenster zu. Es war geöffnet und darunter sah man deutliche Spuren der Witterung. Doch konnte es nicht die Spuren verwischen, die vor 20 Jahren dort hinterlassen worden waren. Mai begann zu zittern. Tränen suchten sich ihren Weg über ihre Wangen. „Sie hat es getan…“ schluchzte sie kraftlos. Joe und Robin sahen auf und blickten sie fragend an. Auch Stan runzelte die Stirn.
 

Plötzlich versteiften sich alle. Mai drehte sich langsam und kreidebleich um. Halb im Flur und halb im Kinderzimmer stand ein verlorenes Kind und blickte die Männer hasserfüllt an. Es stand mit dem Rücken zu Mai. Man sah wie das Kind, welches einst ein Junge gewesen war, den Mund öffnete, um zu schreien. Mais Augen weiteten sich vor Angst und sie versuchten den Jungen zu erreichen. Dabei schrie sie aus Leibeskräften:

„Michael! NEIN!“

Chloes Tod

Chloes Tod
 

Die Gefahr war greifbar. Das verlorene Kind, ein Junge, der einst Michael getauft worden war, stand noch immer zu den Männern gewandt. Immer noch bereit zu schreien, und somit das Leben der drei zu beenden. Mai blickte den Jungen panisch und eindringlich an. Oder besser seinen Hinterkopf. Seine Umrisse flackerten stark. Mit einem Mal sah er Mai direkt an. Diese wich erschrocken zurück. Sein Blick war nicht mehr hasserfüllt, doch konnte man es nicht einordnen. Joe, Stan und Robin starrten den Jungen an und wussten, dass er ihren Tod bedeuten konnte. Und dass sie nichts dagegen tun konnten. Der Junge blickte immer noch ernst zu Mai. Plötzlich stand er direkt vor ihr und wisperte mit seiner Geisterstimme: „Du bist eine von uns.“
 

Mit diesen Worten war er verschwunden. Mai blickte geschockt auf die Stelle, an der er zuletzt gestanden hatte. Sie rang nach Luft, während Tränen über ihre Wangen kullerten. Auch den Männern erging es nicht anders. Joe hatte sich an die Brust gefasst und blickte kreidebleich zu Mai. Stan lehnte an der Wand und starrte mit glasigen Augen auf seine Waffe. Robin sah aus, als würde er die Decke besonders interessant finden. Niemand sprach ein Wort. Ein kalter Luftzug kam vom Fenster her und ließ alle zittern. Stan starrte noch immer auf seine Waffe, als er das Wort ergriff. „Das war das erste Mal in meinem Leben, an dem ich mich wirklich schutzlos gefühlt hab.“ Alle sahen ihn an. Robin legte seine Hand auf Stans Schulter. „Ja, das haben wir alle. Ich bin noch nie einem verlorenem Kind begegnet.“ Stan sah auf und nickte. Mai schluchzte.
 

„Es tut mir leid. Es ist alles meine Schuld…“ Sie brach ab. Joe kam zu ihr und nahm sie in seine Arme. „Es ist nicht deine Schuld. Wir wären auch ohne dich hierher gekommen. Und hätten mit dem Leben bezahlt.“ Stan richtete sich auf. „Du hast uns soeben das Leben gerettet. Damit wären wir wohl quitt.“ Meinte er in seiner üblichen Überheblichkeit. Robin stieß ihn an und schüttelte den Kopf. Mai schluchzte erneut in Joes Armen. „Ich wollte nicht, dass ihr sterbt. Ich wollte es einfach nicht.“ „Der Junge muss es gespürt haben. Du bist in irgendeiner Form mit ihnen verbunden.“ Robin stand nachdenklich in der Tür zum Zimmer. Stan schnaubte. „Ach ne, du Schlauberger. Das hat er ja wohl deutlich zum Ausdruck gebracht. Du hast doch gehört: Sie ist eine von ihnen.“ Er ging an Robin vorbei ins Zimmer und sah sich um.
 

„Ach, du heilige…?!“ Er brach ab, als er sich die Stelle unter dem Fenster ansah. Mai löste sich von Joe und wischte sich die Tränen mit ihrem Jackenärmel weg. „Das war Hayley. Wenn ich es richtig deute, dann wollte sie Chloe dasselbe Schicksal wie Heather ersparen.“ Stan drehte sich zu Mai um. „Du meinst… Sie hat ihr eigenes Kind ERSCHOSSEN?!“ Robin trat an Fenster und nickte. „Ja, hier, seht. Die Kugel steckt hier in der Wand. Das würde das Blut erklären.“ Joe trat heran. „Okay, ich fasse noch mal zusammen. Wir sind hier im Zimmer der kleinen Chloe. Das Fenster ist geöffnet und darunter steckt eine Kugel in der Wand und überall ist Blut. Auf dem Teppich, an der Wand… Aber eine Frage: Wenn Chloe wirklich von ihrer eigenen Mutter erschossen wurde, wo ist dann die Leiche?“ Alle vier sahen sich ratlos an. Dann blickten die Männer Mai an. Diese blickte fragend zurück. „Was ist?“ fragte sie vorsichtig. „Das fragen wir dich! Du bist doch hier das Medium. Du hast uns hergeführt. Du träumst von ihr. Hat dir eins deiner Träume verraten, wohin Hayley die Leiche gebracht hat?“ Stan sah sie herausfordernd an, doch Mai wich kopfschüttelnd zurück. „N..Nein…“ antwortet sie mit schwacher Stimme. Joe machte einen Schritt auf sie zu. „Mai, bitte, es könnte wichtig sein!“ Wieder wich Mai einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf. Robin hob beschwichtigend den Kopf.
 

„Hey, lasst sie. Sie weiß es wirklich nicht. Hayley wird sie irgendwohin gebracht haben. Dabei muss es Spuren geben haben. Bei der Menge Blut, die wir hier schon sehen…“ Er deutete auf die Stelle unter dem Fenster. Stan schnaubte. „Wenn du meinst, du allwissendes Prinzchen! Dann sehe ich mich noch mal im Haus um. Vielleicht finde ich ja eine Spur…“ Mit diesen Worten verließ er das Zimmer. Auch Joe regte sich. „Das werde ich auch machen. Ich werde ins Haus nebenan gehen. Vielleicht finde ich da einen Hinweis.“ Mai blickte ihnen mit Tränen in den Augen nach. Robin nahm sie in den Arm. „Mach dir keine Sorgen. Es wird ihnen nichts geschehen. Komm, wir sehen uns hier im Obergeschoss um.“ Sie nickte. Gemeinsam gingen sie ins andere Zimmer, Hayleys Schlafzimmer. Das Bett war gemacht und sah ungerührt aus. Auf dem Nachttischchen standen einige Bilder. Robin ging zu ihnen hin und sah sie sich an. Er runzelte die Stirn. „Mai! Sieh dir das an!“ Mai, die aus dem Fenster gesehen hatte, kam heran. Als sie das Bild sah, stockte ihr der Atem. „Wer hat das gemacht?“ fragte sie atemlos. Robin schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht. Aber komisch ist es schon. Weißt du, wer die auf dem Foto sind?“ Mai nickte. „Ja. Die Frau ist Hayley. Der Mann ist Gavin und das Mädchen unter ihm ist Heather, seine Tochter. Dann würde Chloe fehlen. Aber wieso ist da nur eine weiße Stelle?“ Ratlos sahen sich beide an.
 

„Robin, Mai! Kommt runter! Ich hab was entdeckt.“ Stans Stimme erreichte sie. Mit dem Bild in der Hand gingen beide runter ins Wohnzimmer, zu dem Stan sie winkte. Im Wohnzimmer bot sich ihnen ein Bild der Verwüstung. Die Möbel waren durcheinander geworfen und in Stücke gerissen worden. Der Teppich war an vielen Stellen verbrannt und aufgerissen, sodass man in den Keller gucken konnte. Stan winkte sie zu einer Wand. „Hier. Das habe ich beim ersten Mal übersehen.“ „Übersehen? Stan, hast du Tomaten auf dem Augen gehabt, oder was? Sowas KANN man nicht übersehen!“ Alle drei starrten auf die Wand. Mit großer, krakeliger Schrift war eine Botschaft eingebrannt worden. ‚Deine Seele gehört uns, Chloe!’ Mai begann zu Zittern. „Was hat das zu bedeuten?“ fragte sie.
 

„Ich erkläre es mal so, wie ich das verstehe: Irgendjemand in dieser Stadt hat einen Pakt geschlossen. Preis waren die Seelen der Kinder. Um diese Seelen zu bekommen, mussten die Kinder diese klare Flüssigkeit trinken, von der Mai uns schon erzählt hat. Daraufhin wurden diese zu verlorenen Kindern, die jeden in den Tod rissen, die ihren Schrei hörten bzw. in der Nähe waren. Das einzige Kind, welches nicht zu einem verlorenen Kind wurde, war Chloe! Ihre Seele wurde durch das Eingreifen ihrer Mutter gerettet. Drüber sehr erzürnt legen die verantwortlichen Dämonen dieses Wohnzimmer in Schutt und Asche und hinterlassen eine deutliche Nachricht für Chloe. So, Prinzchen, war das bis hierhin richtig?“ Stan sah Robin angriffslustig an. Statt seiner, antwortete Joe. „Dies würde auch erklären, warum Chloe auf allen Bildern verschwunden ist. Die Dämonen wollten so an ihre Seele kommen.“ Er hielt ein Bild hoch, auf dem Chloe stand. Doch an der Stelle, an der sie hätte zu sehen sein sollen, war nur weiß. Mai schüttelte sich.
 

„Geht das denn?“ fragte sie mit zittriger Stimme. Robin zuckte mit den Schultern. „Es ist bekannt, dass sich Seelen in Bildern oder anderen Gegenständen festsetzen. Wahrscheinlich haben sie gedacht, da Chloe eines gewaltsamen Todes gestorben ist, dass sie sich einen Gegenstand aus dem Haus genommen hat und ihre Mutter so heimsuchen wollte. Allerdings hat eine Seele immer die Wahl. Chloe muss sich entschieden haben, wiedergeboren zu werden.“ Joe und Stan sahen ihn an und nickten. „Ja, das ist sehr wahrscheinlich. Ich habe draußen auf der Straße eine Blutspur entdeckt. Sie führt hoch zur Schule. Wir sollten ihr folgen, um zu sehen, was Hayley mit Chloes Leiche gemacht hat.“ Joe wollte sich schon umdrehen und gehen, als Mai nach seiner Jacke griff und ihn daran hinderte, zu gehen.
 

„Was ist, wenn nicht Hayley, sondern die Dämonen Chloes Leiche hier weggeschafft haben? Wenn ihr sagt, dass sie hinters Chloes Seele her waren, dann könnten sie auch etwas mit ihrem Körper gemacht haben.“ Joe runzelte die Stirn. Auch Robin blickte sie nachdenklich an. „Da könnte was dran sein…“ nickte er. „Aber Hayley hätte das niemals zugelassen.“ unterbrach Stan die Überlegungen. „Stan, sie war ein Mensch. Die Dämonen hätten sie einfach ausschalten können.“ wies Robin ihn zurecht. „Ja, allerdings ein Mensch mit einer Dämontötenden Waffe.“ Joe hielt einen Revolver hoch. „Aber… Das ist doch die Waffe, die Gavin in meinem Traum hatte.“ stieß Mia überrascht aus. Joe nickte. „Ich habe diese Waffe unter dem Fenster im anderen Kinderzimmer gefunden. Ich habe mich dort etwas umgesehen. Die Mutter der kleinen Heather war eine Jägerin. Daher hatte Gavin die Revolver. Er hat sie von seiner verstorbenen Frau bekommen.“
 

Die Vier gingen die Straße hoch, die zur Schule führte. Mitten auf dem Weg war hier und da ein Flecken Blut zu erkennen. Mai hatte sich an Robin geklammert, der immer wieder besorgt zu ihr blickte. „Alles in Ordnung, Mai?“ Diese schüttelte den Kopf. „Ich hab das Gefühl, je näher ich der Schule komme, umso schlechter geht’s mir. Mir ist richtig übel.“ Robin blieb stehen. „Soll ich dich zum Auto bringen? Ist dir das lieber?“ Mai schüttelte den Kopf. „Nein. Ich will wissen, was hier passiert ist.“ Robin seufzte und ging weiter. „In Ordnung. Aber wenn es nicht mehr geht, dann bring ich dich zum Auto.“ Mai nickte, während sie sich umsah. Stan und Joe waren schon an der Schule angekommen und warteten auf die beiden. „Jetzt trödelt nicht rum. Wir haben nicht die ganze Nacht Zeit.“ hörte man von Stan. Man sah Mai an, dass sie etwas sagen wollte, doch im nächsten Moment wurde sie blass und sie schrie aus Leibeskräften.

Antworten

Antworten
 

Mai hatte sich weinend an Robin geklammert. Dieser blickte geschockt auf das, was da vor ihm lag bzw. hing. In einem Klassenzimmer, welches zur Straße hin zeigte, hatte jemand oder etwas einen menschlichen Körper an Ketten befestigt. Die Art, wie der Körper dort hing, erinnerte sehr an ein Kreuz. Unter dem Körper war ein großes, klaffendes Loch und der ganze Raum war schwarz, als hätten mehrere Feuer gewütet. Joe und Stan, die sich im Raum genau umsahen, kamen zu den beiden. „Tja, also Chloe ist das nicht. Dafür ist der Körper zu groß. Also kann das nur Hayley sein…“ eröffnete Joe das Gespräch. „Wie machst du das? Wir waren vor dir da und haben es nicht gesehen. Und du siehst es direkt. Das ist nicht normal! Du bist nicht normal!“ „Stan!“ zischte Robin wütend. Mai schluchzte. „Ich hab es gespürt. Ich kann nichts dafür. Ich spürte, dass etwas hier ist und habe beinahe automatisch hingeguckt. Ich… ich mach das doch nicht mit Absicht!“ Mai vergrub ihr verweintes Gesicht in Robins Jacke. Dieser drückte sie an sich und strich ihr beruhigend über den Rücken. Joe stieß Stan an.
 

„Es reicht, Stan. Nun wissen wir, was mit Hayley passiert ist. Nachdem sie Chloe gerettet hat, wurde sie von den Dämonen überwältigt und hier verbrannt. Wahrscheinlich haben sie dafür sogar das Höllenfeuer gerufen. Die Arme muss sehr gelitten haben. Und sie leidet immer noch…“ Er brach ab. Auch Stan und Robin blickten betreten zu Boden. Mai schluchzte noch mehr. Man schwieg einige Zeit, doch dann ergriff Stan das Wort. „Nun, wenn Hayley hier ist, dann ist Chloes Körper auch hier irgendwo im Gebäude. Mai, ich weiß, du wirst mich dafür hassen, aber du solltest zum Auto zurückgehen. Ich habe ein ungutes Gefühl dabei, wenn ich bedenke, dass du hier bist.“ Mai blickte Stan fassungslos an. „Was soll das heißen? Ich werde nicht zum Auto zurückgehen! Ich bin hier, weil ich hier die Antworten finden will!“ Bevor sich Joe oder Robin in das Gespräch einmischen konnte, holte Stan zum Gegenschlag aus.
 

„Sag mal, merkst du es nicht? Egal, welche Verbindung du zu Chloe und dieser Stadt haben magst, etwas hier WILL, dass du hierher kommst. Dass du all diese Dinge findest! Oder glaubst du, es ist Zufall, dass DU Hayleys Leiche als Erste siehst? Oder dass du uns vor dem verlorenen Kind gerettet hast?! Die Botschaft im Wohnzimmer… Die Bilder ohne Chloe! Das alles ist deinetwegen! Deine Träume von Chloe. Jemand oder etwas wollte dich herlocken! Oder hast du eine bessere Erklärung?“ Mai zuckte zusammen. „Ach ja! Siehst du Gespenster? Mich hat nichts hierher gelockt! Das hätte ich ja wohl gespürt!“ Wütend funkelte sie ihn an. Robin zog sie etwas von ihm weg.
 

„Mai! Beruhige dich! Ich kann verstehen, dass dich Stans Worte wütend machen, aber er hat Recht! Auch wenn ich es nicht gerne zugebe. Erinnere dich! Kaum hast du die Stadt betreten, da gingen überall die Lichter an, als würde sie zum Leben erwachen. Und seit wir hier sind, haben wir kein einzigen Poltergeist oder Dämon gesehen, obwohl die Stadt nur so davon wimmelt.“ Robin redete eindringlich auf sie ein. Neue Tränen sammelten sich in ihren Augen, als Joe das Wort ergriff. „Mai, ich war vor Jahren schon mal hier, es spricht alles für Stans These. Damals sind wir nicht mal in die Nähe der Schule gelangt. Auch Chloes und Heathers Haus war nicht zu erreichen. Es hat mich schon die ganze Zeit über gewundert, doch nun sehe ich klarer. Du musst diese Stadt sofort verlassen. Sonst könnte es zu spät sein.“ Mit großen Augen hatte Mai Joes Worte verfolgt. Nun senkte sie den Kopf und nickte. „Ihr habt Recht. Aber ich verstehe das alles nicht. Warum ich? Warum nicht jemand anderes?“ Robin drückte sie wieder an sich. „Es tut uns Leid. Aber du musst so schnell wie möglich hier weg.“ Bevor sich jemand rühren konnte, drang ein anderes Geräusch zu ihnen.
 

„Ccccchhhhh-eeeeee….“ Die Ketten raschelten und klirrten, während alle sich wie erstarrt umdrehten. Hayley, die halb verkohlt in den Ketten hing, streckte einen Arm in Mais Richtung. „Cchhlloee!“ Ihre Stimme wisperte kraftlos und mit einem Unterton, der das Blut in den Adern gefrieren ließ. Mai wich zurück und schüttelte dabei den Kopf. „Ich bin NICHT Chloe! Ich bin MAI!“ Mit diesem Ausruf rannte sie durch die Tür in den Flur. Doch sie kam nicht weit. Vor dem Ausgang blieb sie schreiend und schlitternd stehen. Ein stelzenbeiniger Dämon hatte sich vor der Tür postiert. „Schön dich wieder zu sehen, Mai. Oder sollte ich besser, kleine Chloe sagen?“ Mai machte kehrt und rannte weinend den Flur entlang. Das zischende Lachen des Dämons verfolgte sie. Immer wieder änderte sie schreiend die Richtung, da ihr unterschiedlichste Kreaturen den Weg versperrten.
 

Währenddessen hatten die drei Jäger alle Hände voll zu tun, Hayleys wütenden Geist im Zaum zu halten. Sie hatte sich von den Ketten gelöst und sich über das Loch im Boden hinweggesetzt. Nun schritt sie langsam und als drohende Gefahr auf die Männer zu, die mit gezückten Waffen jeden ihrer Bewegungen verfolgten. „Ihr seid Schuld!“ wisperte sie immer wieder. Stan verlor die Geduld und schoss zweimal auf sie. Beide Kugeln trafen sie an der Brust, dort, wo eigentlich das Herz war. Hayley wurde zurückgestoßen und zu Boden gerissen. Die Männer nutzten die Gelegenheit, um durch die Tür zu fliehen. Doch im Flur erwartete sie eine böse Überraschung. Robin blieb geschockt stehen, während Stan und Joe gegen ihn knallten. „Was…“ begann Stan wütend, doch ihm blieben die Worte im Halse stecken. Vor ihnen stand der Dämon und versperrte ihnen mit seinen Helfern den Weg. „Das kann nicht sein! Wir haben dich zurück in die Hölle geschickt!“ stieß Joe aus. Der Dämon zischte sein kaltes Lachen. „Wie man sieht, hat es nichts gebracht. Mais Seele gehört mir. In mehrerer Hinsicht. Und ich werde nicht zulassen, dass ihr mir da wieder zwischen funkt!“ Hinter ihnen erschien Hayley an der Tür.
 

Mai war inzwischen im Keller angelangt. Vor einer großen eisernen Flügeltür war sie Luft schnappend stehen geblieben. Sie hielt sich den Bauch und im nächsten Moment übergab sie sich. Hustend und erschöpft blieb sie auf dem Boden sitzen. Sie war blass und schweißgebadet. Sie lehnte sich an der Wand und versuchte sich zu beruhigen. Doch im nächsten Moment war ein scharrendes Geräusch zu hören und die Türen öffneten sich langsam und quietschend. Mai schrie erschrocken auf und robbte von der Tür weg. Weit kam sie nicht, da sie sich erneut übergab. Das Licht im Kellerraum begann zu flackern. „Chloe, wir haben dich bereits erwartet!“ hörte man eine scharrende Stimme von der Tür her. Mai wich vor der Stimme zurück. „Ich bin nicht Chloe! Merkt Euch das!“ Ein dunkler Schatten bewegte sich auf Mai zu. Sie schlug schreiend um sich, als dieser sie erreichte und nach ihr griff. Mit Tränen in den Augen versuchte sie dem namenlosen Schatten zu entkommen. Doch der Schatten war schneller und wickelte sich um ihr Handgelenk. Mai schrie erneut auf und versuchte den Schatten abzuschütteln. Doch ihr Protest erstarb schnell, als ihr Gesicht eine grünliche Färbung annahm. Der Schatten lachte. „Dein Körper reagiert also auf deinen anderen Körper. Sehr interessant.“ Mit diesen Worten zog er sie in Richtung Kellerraum mit den Flügeltüren.
 

Ein Stockwerk höher sah es für Joe, Stan und Robin ganz schlecht aus. Von allen Seiten her drohte Gefahr. Mit ihren Waffen versuchten sie, sich ihre Feinde vom Leib zu halten. Der Dämon selber war abgezogen, doch hatte er genügend Helfer zurückgelassen, um die Drei in Schach zu halten. Ein zusätzliches Problem war Hayley. Die Mutter Chloes stand wütend vor den Männern und hatte schon mehrmals versucht sie anzugreifen. Stan hatte sie inzwischen mit mehreren Kugeln ‚durchlöchert’, doch zeigte sie sich wenig beeindruckt davon. „Ihr seid Schuld!“ murmelte sie immer wieder. „Scheiße! Was sollen wir machen? Wir müssen Mai retten. Wenn der Dämon sie in seine Klauen kriegt, dann möchte ich nicht wissen, was geschieht.“ Robin knurrte. „Das brauchst du uns nicht zu erzählen, Stan. Wie konnten wir nur so dumm sein und Mai’s Bitten nachgeben! Wir hätten ahnen sollen, dass das alles geplant war!“ Stan wollte etwas erwidern, doch Joe brachte ihn mit einer raschen Bewegung zum Schweigen. „Hört auf. Jetzt ist nicht die Zeit für Streitgespräche.“ Stan und Robin schwiegen betreten und blickten sich aufmerksam um. Robin richtete sich erstaunt auf.
 

Mai war in den Kellerraum gezogen worden und blickte nun mit verweinten und erstaunten Augen um. Überall waren Abbilder eines Mädchens zu sehen. „Aber… aber das bin ja ich! Nur jünger…“ Ihr stockte der Atem. „Falsch… Das bist nicht du. Verstehst du immer noch nicht, du dummes Gör?“ Der stelzenbeinige Dämon tauchte aus dem Schatten auf. Mai wich zurück. „Was soll das! Das ist alles nur ein gemeiner Trick!“ Der Dämon lachte. „Ganz sicher nicht. Du wolltest doch Antworten, nicht wahr? Nun, die sollst du kriegen. Sollst ja schließlich wissen, wofür du stirbst.“ Mai hielt sich krampfhaft die Ohren zu. „Versuch es doch, aber ich werde nicht auf deine Tricks hereinfallen. Ich werde dir einfach nicht zuhören!“ Wieder lachte der Dämon. „Wenn du meinst… Du bist die Wiedergeburt der kleinen Chloe! Nachdem ihre Mutter unsere Pläne durchkreuzt hat, haben wir versucht, deine Seele auf andere Weise zu beschaffen, doch da hattest du dich schon entschieden, wiedergeboren zu werden. Dummes Ding. Glaubt ihr Menschen wirklich, der Tod könnte Eure Seele vor uns retten?“ Mit weit aufgerissen Augen starrte Mai den Dämon geschockt an. „Das ist nicht wahr… Das darf nicht wahr sein! Sag mir, dass das eine Lüge ist! Ich bin nicht Chloe! Das hätte ich ja wohl in meinen Träumen sehen müssen!“ Der Dämon machte einen Schritt in ihre Richtung. „Nein, das hat nichts zu sagen. Viele träumen von ihren vergangenen Leben. Deshalb ist es so gemacht worden, dass man sich selbst in den Träumen nicht erkennt. Aber sieh dir die Bilder an! Das bist eindeutig du. Als Chloe!“ Mai hielt sich den Kopf und machte sich klein. „NEIN!“ schrie sie, als wollte sie aus einem schrecklichen Alptraum erwachen. Wieder näherte sich der Dämon um einen Schritt.
 

„Sieh es ein, Chloe. Du gehörst mir. Vor zwanzig Jahren ist mir deine Seele versprochen worden. Vom Schuldirektor dieser Schule. Er wollte der neue Bürgermeister werden. Doch die Bewohner waren gegen ihn. Also wollte er sie durch mich dazu zwingen. Als Preis bot er mir die Seelen der Kinder DEINER Klasse an. Tja, ich willigte ein. Allerdings hat er den Pakt nicht so präzise erläutert, wie deine Schwester. Somit hatte ich genug Freiraum, um mich über seine Bedingungen hinwegzusetzen. Ich gab ihm das erste Fläschchen, welches er dem ersten Kind zu trinken gab. Und wo er in die Höllenfeuer gerissen wurde.“ Der Dämon lachte wieder. „Zwar habe ich mich nicht an seinen Teil der Abmachung gehalten, doch den Preis wollte ich trotzdem. Um meine eigene Armee zu bilden. Um meinem Herren eine große Freude zu machen. Weißt du, wie mein Ansehen in der Hölle gestiegen ist, als ich fast eine ganze Stadt dargeboten habe? Ein wundervolles Gefühl. Nur noch deine Seele, dann werden meine verlorenen Kinder diese Welt stürmen und dem großen Herren viel Freude bereiten.“ Schluchzend hatte Mai die Erklärung des Dämons zugehört. „Aber warum? Laut Robin tauche immer mehr verlorene Kinder auf, die Menschen in den Tod reißen.“ Des Dämons Lachen erstarb. „Es sind nicht meine verlorenen Kinder. Meine sind an dich und diese Stadt gebunden. Sobald du auch ein verlorenes Kind bist, wird sich das ändern.“ Mai lachte kurz auf. „Hast du nicht etwas vergessen? Um ein verlorenes Kind zu werden, bin ich etwas zu alt.“ Der Dämon bewegte sich scharrend zur Seite, während er sprach: „Ja, das stimmt. Mai ist zu alt. Aber Chloe nicht.“ Hinter ihm erkannte man etwas Schwebendes. Es dauerte bis Mai es erkannt hatte, doch kaum war der Groschen gefallen, drehte sie sich um und versuchte zu entkommen.
 

In einem Kreis aus flammenartigem Licht schwebte ein lebloser Körper. Der Körper eines 7 oder auch 8 jährigen Mädchens mit schwarzen Haaren. Es war Chloe.

Mai oder Chloe?

Mai oder Chloe?
 

Die Männer rannten durch die Flure der Schule in Richtung Keller. Immer wieder begegnete ihnen sie den Helfern des Dämons, denen sie schnell mit geübten Schlägen und Hieben zu Leibe rückten. Stan drehte sich mehrmals um und schoss mit seiner Waffe, wobei er jeden Gegner vernichtete. „Das nimmt echt kein Ende… Aber wenn unser Prinzchen Hayley nicht auf unsere Seite gezogen hätte, sähe es jetzt noch schlechter aus.“ Mit einer fließenden Bewegung köpfte Robin einen Helfer, der sofort zu Staub zerfiel. „Hey, das war keine Kunst. Sie will trotz der 20 Jahre im Höllenfeuer immer noch ihre Tochter beschützen. Und allem Anschein nach ist Mai die Wiedergeburt von Chloe. Da ist es doch nahe liegend, dass man einen Handel zum Wohl von Mai mit ihr abschließt.“ Joe mischt sich ein. „Ehrlich, Robin… Das ist NICHT nahe liegend. Ich wäre selbst in 100 Jahren nicht auf diese Idee gekommen.“ Nach diesen Worten schwiegen alle und bahnten sich ihren Weg zum Keller.
 

Mai hämmerte gegen die Flügeltür, die sie vom Rest der Schule trennte. Sie sah schrecklich aus. Kreidebleich, nass geschwitzt und entkräftet suchte sie einen Weg aus ihrer Lage. Mit jeder Sekunde schien es ihr schlechter zu gehen. Hinter ihr lachte der Dämon. „Deine Mühe ist vergeblich. Du spürst es ganz deutlich, nicht wahr? Wie deine Seele aus deinem jetzigen Körper gesogen wird. Wie der andere Körper dich anzieht. Wehr dich nicht. Es hat keinen Sinn. Deine Seele gehört mir.“ Mais Widerstand brach ab, sie ließ sich kraftlos zu Boden sinken und rang nach Luft. „Nein… Meine Seele gehört mir. Niemand hat das Recht, über sie zu bestimmen.“ presste sie hervor. „Du dummes Menschenkind. Glaubst du etwa immer noch an das heilige Fegefeuer? Tja, wo ist es? Ich sehe es nirgends.“ Das Lachen des Dämons wurde immer schneidender.
 

Stan und Joe warfen sich gegen die Flügeltür im Keller, während sich Robin um die Helfer des Dämons kümmerte. Es brauchte mehrere Anläufe, bis die Türe nachgab. Endlich im Kellerraum bot sich ihnen ein seltsames Bild. Überall lachte ihnen ein schwarzhaariges Mädchen entgegen. Von den Wänden, der Decke und vom Boden. Mittendrin lag Mai zusammengekauert auf dem Boden und rührte sich nicht. Der Dämon hatte sich einer Feuersäule zugewandt und beachtete die Jäger nicht. Robin eilte zu Mais Körper und befühlte ihren Puls. Erschrocken richtete er sich auf und sah die anderen panisch an. „Verdammt! Ihr Puls ist sehr schwach…“ Alle drei wandten sich dem Dämon zu. Dieser schenkte ihnen noch immer keine Beachtung. „Es ist zu spät. Ihr könnt mich nicht aufhalten. Chloes Seele gehört mir. Und daran wird sich nichts ändern.“ Stan richtete seine Waffe auf den Dämon und drückte ab. Bevor die Kugel den Dämon erreichen konnte, gerieten die Schatten in Bewegung und ein Helfer sprang in die Schussbahn. Kaum traf ihn die Kugel, zerfiel er zu Staub. Langsam und bedrohlich drehte sich der Dämon um. „Es wird euch nicht helfen. Ihr werdet hier den Tod finden. Genau wie eure kleine Freundin, die ihr freundlicherweise zu mir gebracht habt.“ Noch während er sprach, nahm die Intensität des Feuers hinter ihm stark ab. Die Feuersäule schrumpfte und erstarb völlig. Zurück blieben in den Boden eingebrannte Zeichen und ein Körper, der zu Boden sank und liegen blieb.
 

Die Männer starrten ungläubig auf den Körper hinter dem Dämon, der sich stöhnend zu regen begann. Langsam richtete sich das schwarzhaarige Mädchen auf und hielt sich dabei den Kopf. „Au…“ murmelte eine leise Kinderstimme. Der Dämon lachte wieder ein Lachen und sprang hinter das Mädchen. „Endlich! Endlich kommt der Tag, an dem der Pakt vollendet wird und meine Armee die Welt unsicher machen wird!“ Ein kleines Fläschchen mit einer klaren Flüssigkeit erschien vor dem Mädchen. „Trink! Trink das und du wirst auf ewig mit deinen Freunden zusammen sein.“ Das Mädchen blickte verwirrt auf das Fläschchen. Joe wagte etwas zu sagen. „Nicht, Chloe!“ Chloe hob den Kopf und blickte die Männer an. Ihr Blick war trüb, so als könnte sie nicht wirklich etwas sehen, was vor ihr war. „Chloe, hör nicht auf ihn. Dieser Mann will dich verwirren.“ Wieder blickte Chloe zum Fläschchen und nahm es in die Hand. „Ja! Ja, trink, gutes Kind!“ Chloe stand mühsam auf und versuchte auf wackligen Beinen stehen zu bleiben. „Chloe… Oder Mai. Oder wer auch immer du sein magst. Ist jetzt auch egal! Du darfst das nicht trinken! Wie viele sollen denn noch sterben?“ Stan war mit geladener Waffe einen Schritt auf sie zugekommen.
 

Mit einem Mal wurden die Augen klar und der teilnahmslose Gesichtsausdruck wich einem entschlossen. Bevor jemand reagieren konnte, drehte sie sich um und warf das Fläschchen dem Dämon entgegen. „Ich werde das nicht trinken und unschuldige Menschen in den Tod ziehen!“ schrie sie dabei. Der Dämon wich mit einem Sprung aus und zischte wütend. „Dummes Gör! Das wirst du büssen.“ Mit diesen Worten verschwand er in den Schatten. Chloe drehte sich um und lief zu Mais Körper. Sofort war auch Robin da und befühlte wieder Mais Puls. „Verdammt, was ist mit ihr passiert? Sie hat so gut wie keinen Puls mehr!“ Chloe blickte traurig auf. „Meine Seele wurde in diesen Körper gezogen. Jetzt bin ich Chloe… Jetzt bin ich die größte Gefahr für Euch. Los! Nehmt den Körper und flieht!“ Eindringlich sah sie zu den Männern auf. „Spinnst du, Kleine? Wir sind wahrscheinlich deine einzige Rettung!“ Stan herrschte sie wütend an, doch Chloe schüttelte nur den Kopf. „Nein. Ich würde Euch nur den Tod bringen. Bitte! Nehmt den Körper und übergebt ihn Mais Eltern! Dann haben sie wenigstens etwas, das sie beerdigen können.“ Chloe stand auf und drehte sich weg. „Wer bist du? Bist du wirklich Chloe, oder bist du Mai, die glaubt, Chloe zu sein?“ Joe ergriff ihren Arm und drehte sie zu sich um. Chloe blickte ihn nur entschlossen. „Geht jetzt! Der Dämon wird sicherlich gleich wiederkommen. Und dann sind seine Helfer das kleinere Übel.“ Joe ließ sie los und schluckte. Im nächsten Moment drehte er sich um und hob Mais Körper vom Boden auf.
 

Joe war schon an der Tür, als die beiden anderen aus ihrer Erstarrung erwachten. „Joe, was soll das?“ Robin rannte ihm nach. „Sie hat Recht. Der Dämon wird sicherlich das Höllenfeuer rufen, um noch schlimmeren Kreaturen das Tor zu öffnen. Wenn wir hier bleiben, dann sind wir so oder so tot.“ Stan eilte ihm wütend hinterher und versperrte ihm den Weg. „Soll das etwa heißen, du gibst schon auf, ohne es überhaupt versucht zu haben?“ Joes Augen funkelten wütend. „Glaubst du, mir gefällt das? Es bleibt uns keine andere Wahl! Wenn wir aus der Stadt sind, haben wir überhaupt eine kleine Chance zu überleben.“ Stan wich immer noch nicht zur Seite. „Du lässt sie im Stich?“ Dabei zeigte er auf Chloe. Robin meldete sich wieder. „STAN!!!!! Beruhig dich! Mir passt das auch nicht, aber wir müssen uns zurückziehen! Nur so können wir ihr helfen.“ Bevor Stan etwas erwidern konnte, mischte sich Chloe ein. „Geht! Das hier ist mein Kampf! Ich werde nicht verlieren. Aber wenn ihr hier bleibt, dann wird es nur euren Tod bedeuten. Außerdem KANN man mich nicht retten! Ich bin schon tot!“ Ernst und eindringlich sah sie Stan an. Dieser blickte hilflos zurück und machte Joe Platz.
 

Die Männer hatten gerade das Erdgeschoss erreicht, als der Dämon im Keller wieder auftauchte. Doch er kam nicht allein. Mitten im Raum brach der Boden weg und Flammen schossen hoch. Chloe wich in eine Ecke zurück. Aus dem Zentrum der Flammen kam der Dämon wieder in den Keller. „Da bin ich wieder. Hast du mich vermisst, kleines Mädchen? Und ich komme nicht alleine.“ Hinter ihm erschien ein Skelettartiges Wesen und machte einen Schritt auf Chloe zu. Diese versuchte zur Flügeltür zu gelangen, doch die Schatten geritten wieder in Bewegung. Die Tür wurde zugeknallt und schnitt so ihren Fluchtweg ab. „Du kannst nicht fliehen, kleine Chloe! Deine Seele gehört mir!“ Langsam drehte sich Chloe zum Dämon um. „Ich habe Neuigkeit für dich, du Stelzenheini!“ Ihre Augen glänzten entschlossen, während sie sprach. „Ich bin nicht Chloe, auch wenn das ihr Körper ist. Ich bin MAI! Und meine Seele gehört immer noch mir! Egal, wer sie dir versprochen haben mag.“ Beide Dämonen wichen zurück. „Das kann nicht sein! Du müsstest das Bewusstsein von Chloe haben! Irgendwas muss schief gelaufen sein!“

Feuer

Feuer
 

Die drei Jäger rannten so schnell sie konnten, den Weg, über den sie gekommen waren. Die Schatten geritten in Bewegung und des Dämons Helfer griffen an. Robin und Stan hatten alle Hände voll damit zu tun, ihnen auszuweichen und zu verhindern, dass sie zu Joe gelangten. Joe, der Mais leblosen Körper in seinen Armen trug, musste immer wieder zurückweichen. Ein weiteres Problem zeigte sich. Aus den Häusern drangen die Schatten der Geister auf sie zu und versuchten sich ihnen in den Weg zu stellen. „Verdammt! Jetzt, wo sie fast am Ziel sind, kommen sie alle wieder zum Vorschein!“ stöhnte Stan, der zwei Helfern mit nur einer Kugel in Staub verwandelte. Robin schnitt einen Geist in zwei Hälften, bevor dieser sich mit einem geisterhaften Schrei auflöste. „Es liegt an Mai. Wo sie noch ihre Seele hatte, hatten sie Angst vor ihr, weil sie mit den verlorenen Kindern in Verbindung stand. Jetzt, wo wir nur den Körper haben, kommen sie aus ihren Verstecken.“ Joe warf Mais Körper über seine Schulter, um so eine Hand frei zu haben. Mit der freien Hand zog er seine Waffe und köpfte einen Helfer, der genau auf ihn zugesprungen kam. „Könntet ihr das bitte ausdiskutieren, wenn wir hier heil draußen sind?“ herrschte er beide an.
 

Im Kellerraum wütete das Höllenfeuer und versuchte Chloe zu erreichen. Diese hatte sich in die tiefste Ecke gezwängt und sah sich fieberhaft um. „Wo ist dein Mut geblieben, Mai? Eben warst du doch noch so entschlossen gewesen. Gefällt dir das Feuerchen nicht, welches wir extra für dich entfacht haben, etwa nicht?“ Der Dämon lachte zischend. Er stand im Zentrum des Feuers und beobachtete jede einzelne Bewegung von Chloe. Neben ihm stand ein Dämon, der eher teilnahmslos alles verfolgte. Er war groß und besaß ein menschliches Skelett, allerdings waren seine Arme und Beine sehr lang und schienen nicht zum Rumpf zu passen. Chloe versuchte an der Wand entlang zur anderen Ecke zu gelangen, doch die Höllenfeuer schlugen höher, dass sie zurückweichen musste.
 

„Verdammt! So kommen wir hier nie raus!“ fluchte Stan, der einem Geist direkt in den Kopf schoss. Robin nickte. „Ich gebe dir Recht. Die Hilfe eines verlorenen Kindes wäre jetzt hilfreich.“ Stan erschoss wieder einen Geist. „Spinnst du? Es würde uns sofort mit seinem Schrei töten! Und wie willst du es überhaupt um Hilfe bitten? Etwa so: Bitte, liebe Heather! Wir brauchen deine Hilfe! Bitte erscheine, aber töte uns nicht mit deinem Schrei?!“ „Ach, du meine Güte… Könntet ihr mal aufhören? Das hilft uns jetzt auch nicht weiter!“ wies Joe sie zurecht. Robin lies sich nicht beirren. „Wieso? Man kann es wenigstens versuchen! Sterben würden wir sonst so oder so.“ Plötzlich ging ein Schrei durch die Geister und Helfer. Überrascht blieben die drei stehen und blickten sich um. Ein Kinderlachen war zu hören. Den Männern klappten die Kinnladen runter. Vor ihnen stand Heather und lachte, als habe man ihr einen guten Witz erzählt. Die Geister und Helfer wichen schreiend vor ihrer flackernden Erscheinung zurück und suchten das Weite.
 

„Ihr seid so witzig. Ich kann verstehen, warum Chloe euch so mag.“ Die Männer sahen sie erstaunt an. Joe fand als erster die Sprache wieder. „Kneif mich mal bitte jemand… Wir kämpfen hier um unser Leben und du findest uns witzig… Da versteh einer den Sinn dahinter…“ murmelte er fassungslos. Heather lächelte und hob die Hand, um in Richtung Brücke zu zeigen. „Beeilt Euch. Egal, wie der Kampf um Chloes Seele ausgehen mag, hier wird kein Stein auf dem anderen bleiben.“ Joe nickte. „Danke.“ Schon rannte er zum Ausgang. Robin und Stan zögerten. „Bitte entschuldige, aber du hörst dich gar nicht wie eine 8-Jährige an.“ Heather grinste breit. „In den letzten 20 Jahren habe ich nicht nur in dieser Stadt gehaust.“ Robin nickte. „Ich hab doch bloss einen Witz gemacht… Ist das wirkliche Hilfe, oder ein Hinterhalt?“ Stan schüttelte verwirrt den Kopf. Heather senkte den Blick. „Chloe war meine beste Freundin. Die jetzige Chloe kenne ich zwar nicht, aber das, was ich beobachten konnte, zeigt mir, dass sie wie sie ist. Ich weiß, dass sie da unten für mich kämpft. Es geht ihr nicht um ihre Seele, sondern um meine, um alle Seelen von uns verlorenen. Um die Leben, die wir unrechtmäßig genommen haben. Ich möchte ihr helfen. Und dies kann ich, indem ich Euch helfe. Also geht! Bevor es zu spät ist. Bevor der Dämon merkt, dass ich euch helfe.“ Stan schluckte. „Danke, Heather.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und rannte Joe hinterher. “Danke, Heather. Ich bin mir sicher, Mai hat die Macht, Euch zu retten.“ Auch Robin drehte sich um und rannte zur Brücke. Heather blickte ihnen weinend nach, bevor sie verschwand.
 

Im Kellerraum atmete Chloe schwer. An mehreren Stellen war ihre Haut verbrannt und verätzt. „Tut es weh? Komm, kleine Chloe. Trink einfach die Flüssigkeit aus dem Fläschchen und jeder Schmerz wird vergehen.“ Vor ihren Füssen erschien ein Fläschchen, welches sie in die Richtung des Dämons trat. Dieser wich springend aus. „Ich bin nicht Chloe, wie oft den noch? Ihr könnt mir noch so viele dieser Fläschchen anbieten, ich werde es niemals trinken!“ schrie sie wütend. „Wie du willst…“ Das Höllenfeuer wurde etwas kleiner, doch das auch nur, um den Schatten mehr Platz zu lassen. Diese bewegten sich und bekamen Chloes Handgelenke zu fassen. Diese schrie und versuchte sich zu befreien. Doch immer mehr Schatten griffen nach ihr und hielten sie fest. Sie schrie aus Leibeskräften. „Ja, schrei nur. Umso leichter wird es sein, dir die Flüssigkeit einzuflössen…“ lachte der Dämon. Chloe hörte augenblicklich auf zu schreien. „Was immer du auch versuchst, meine Seele und auch die der anderen Kinder gehören dir nicht!“ „Ach… Aber wo ist dann das heilige Fegefeuer? Das hätte mich doch sicherlich schon gerichtet, wenn ich keinen Anspruch hätte.“ lachte der Dämon weiter. Chloe biss verbissen die Zähne zusammen. Dann holte sie tief Luft und schrie so laut sie konnte:
 

„Heather! Michael! Ihr alle!“ Der Dämon wich irritiert zurück. „Was soll das? Sie werden dir auch nicht helfen können!“ Mit einem Mal waren alle verlorenen Kinder der Stadt im Kellerraum. Es waren 16 an der Zahl und sie standen um Chloe und den Dämonen herum. Die Schatten wichen zurück, als hätten sie Angst vor ihnen. Chloe fiel zu Boden, wo sie stöhnend liegen blieb. Die verlorenen Kinder flackerten sehr stark und blickten ernst und traurig zugleich. Heather trat eine Schritt auf Chloe zu. „Eine von uns.“ Mit diesen Worten legte sie den Kopf in den Nacken und ballte die Hände zu Fäusten. Dann schrie sie und die anderen Kinder taten es ihr gleich. Das Höllenfeuer reagierte darauf und schlug deutlich höher. Chloe schrie vor Schmerz auf und auch die Dämonen zuckten und zischten, als hätten sie Schmerzen. Chloe schrie immer weiter, während sich ihr Körper aufzulösen begann. Stück für Stück zerfiel sie zu Staub, während der Keller ganz vom Höllenfeuer erfüllt war. Die Kinder hatten inzwischen aufgehört zu schreien, doch war die Wirkung noch im vollen Gange. Immer mehr zerfiel Chloes Körper und zurück blieb ein schemenhaftes Leuchten. Das Höllenfeuer zog sich zurück. Mit einem Mal war es dunkel im Kellerraum. Das einzige Licht ging von den verlorenen Kindern aus. Der letzte Rest von Chloes Körper wurde zu Staub und verlor sich in einer Druckwelle, die aus dem dumpf leuchtenden Schemel ein Abbild der älteren Mai werden ließ. Die Druckwelle erfasste die Dämonen und riss sie zu Boden. Beide zischten wütend und sprangen auf.
 

„Tja, jetzt ist dein Körper tot. Ja und? Jetzt kann ich mir einfach deine Seele nehmen. Du entkommst mir dieses Mal nicht! Hörst du Chloe?!“ Mais Seele begann sich zu regen. „Ich bin Mai… Immer noch. Wann verstehst du das endlich?“ Mais Umrisse flackerten wie die von den verlorenen Kindern, doch war sie anders. Die Kinder leuchteten in einen bläulichen Ton, während Mai ein helles, weißliches Leuchten war. Mit einem Mal stand sie und blickte unsicher zu den Kindern. „Deine Seele gehört MIR!“ schrie der Dämon. Mai wandte sich ihm zu. „Dann hol sie dir, wenn du kannst.“ Mai stand einfach nur da und wartete, als der Dämon sich ihr näherte. Dieser kam mit großen, entschlossen Schritten näher. „Endlich erfüllt sich nach 20 Jahren mein Plan! Das Warten hat ein Ende!“ Bei Mai angekommen, stand er erst einen Augenblick nur da und blickte ihr in die Augen. Mai erwiderte diesen Blick ohne Angst und mit großer Entschlossenheit. Dann griff der Dämon nach ihr. Mai zuckte weder zusammen, noch lies sie sich etwas anmerken. Die verlorenen Kinder hatten den Atem angehalten und starrten gebannt auf beide. „Siehst du! Deine Seele gehört mir!“ lachte der Dämon, als Mais weißes Leuchten an der Stelle, an der der Dämon sie berührte, bläulich wurde. Sie wurde langsam zu einem verlorenen Kind. Mai verzog noch immer keine Miene.
 

„Nein. Meine Seele gehört mir. Weder du, noch sonst wer, hat Anspruch darauf.“ Mit einem Mal war es, als ging ein kräftiger Windstoß durch den Raum. Mais Haare wurden von diesem unsichtbaren Windstoß nach hinten gerissen. Ein Grollen erfüllte die Luft. Mai wandte sich zu den verlorenen Kindern. „Ihr alle, hört mir zu. In den letzten 20 Jahren habt ihr in dem Glauben gelebt, dass der Schuldirektor unsere Seelen an diesen Dämon verkauft hat. Doch das stimmt nicht. Nur wir haben die Macht und das Recht über unsere eigenen Seelen zu entscheiden! Also holt Euch eure Freiheit wieder! Heißt das heilige Fegefeuer willkommen!“ Mit einem Mal war Mai von grünlichen-blauen Flammen umgeben, die sie sanft umschlangen. Der Dämon schrie und versuchte zurückzuweichen, doch er konnte sich nicht von Mais Seele losreißen. Das heilige Fegefeuer erfasste ihn und begann sofort ihn aufzufressen. „Aber was ist mit denen, deren Leben wir genommen haben? Damit haben wir etwas Böses getan…“ Heathers Stimme war angsterfüllt. Mai lächelte. „Vergebt Euch. Nur, wenn ihr Euch vergebt, können sie gerettet werden.“ Mai schloss die Augen. Auch die verlorenen Kinder schlossen die Augen und wurden prompt von dem heiligen Fegefeuer erfasst. Der andere Dämon, der bisher teilnahmslos dagestanden hatte, versuchte zu entkommen. In seinen Augen sah man deutlich die Angst. Doch er kam nicht weit, weil auch ihn das heilige Fegefeuer umschloss. Der Dämon, der den Fluch der verlorenen Kinder zu verantworten hatte, war inzwischen vom Feuer verbrannt worden und zerfiel zu Staub. Mais bläuliche Stelle wurde wieder durch ein helles Leuchten ersetzt. Auch bei den anderen Kindern ging eine Veränderung vor. Das Bläuliche Leuchten verschwand immer mehr und am Ende blieb dasselbe helle, weißliche Leuchten wie bei Mai zurück. Der große Dämon veränderte sich am meisten. Seine Umrisse begannen sich zu verformen. Sie zogen sich auseinander und wieder zusammen, immer wieder im Wechsel. Bis irgendwann ein Leuchten zu sehen war. Mit einem Mal gab es eine Art Explosion und der Raum war erfüllt von zahlreichen weiß leuchtenden Seelen. Das einzige, was vom Dämon übrig blieb, war die angekettete Seele eines älteren Mannes.

Engelschreck

Engelschreck
 

Die drei Jäger standen hinter der Absperrung und schauten über die Brücke zur immer noch hell erleuchteten Stadt. Am Horizont dämmerte der Morgen. Joe hielt den leblosen Körper von Mai in seinen Armen. Sein Gesicht war eine Maske aus Trauer und Schmerz. Auch die Gesichter seiner Mitstreiter, Stan und Robin, sahen nicht anders aus. Schweigend schienen sie auf etwas zu warten. Oder aber auch auf jemanden…
 

Das heilige Fegefeuer war erloschen. Zurück blieben unzählige leuchtende Seelen, die sich einander ansahen. Die ehemaligen verlorenen Kinder schienen das Geschehene nicht wirklich begreifen zu können. 16 ungläubige Gesichter sahen Mai an, doch diese hatte nur Augen für die alte, gramgebeugte Seele, die schwere Ketten trug. „Sehen sie sich an. Was hat ihnen der Pakt gebracht?“ Aus ihren Augen sprach eine Traurigkeit, die den Mann erstaunt aufblicken ließ. Dann senkte er kraftlos den Kopf. „Ich hab es nicht anders verdient. Ich war zu schwach, um meiner eigenen Gier zu widerstehen. Das, was ich eigentlich beherrschen wollte, habe ich zerstört. Und das, was ich schützen und leiten sollte, habe ich auf schändlichste Art verraten und betrogen. Ich verdiene keine andere Strafe als diese.“ Mai lächelte schwach. „Ich hoffe, sie können sich eines Tages selbst vergeben.“ Der alte Mann, der einst der Schuldirektor gewesen war, lächelte schwach. „Dies hoffe ich auch, kleine Chloe. Nein, große Mai, muss ich wohl eher sagen.“ Mit diesem schwachen Lächeln leuchtete er einmal kurz auf und verschwand. Mai blickte erstaunt auf die Stelle, an der er eben noch gewesen war.
 

„Er hat seinen Platz in den Höllenfeuern eingenommen, um zu büssen.“ erklärte eine sanfte, männliche Stimme hinter Mai. In ihrer geistigen Verfassung reichte ein Gedanke und sie hatte sich bereits umgedreht. Vor ihr stand Gavin, der seine Tochter Heather in seine Arme schloss. Diese strahlte überglücklich und war in Tränen ausgebrochen. „Papa! Ich bin so froh!“ Gavin lachte. „Ich wusste gar nicht, dass Geister weinen können.“ meinte er vergnügt. Mai sah sich um. Überall umarmten sich die Geister und lachten vergnügt. Hier und da blinzelten Freudentränen auf. Mai lächelte. „Es ist schön, dass es vorbei ist und alle wieder glücklich sind.“ murmelte sie mehr zu sich selbst. „Das ist dein Verdienst. Hättest du nicht so stark an das heilige Fegefeuer geglaubt, hätte der Dämon gewonnen.“ Gavin hatte sie gehört. Mai schüttelte den Kopf. „Ich hab nichts gemacht.“ meinte sie leicht verlegen. Gavin lachte. „Doch, sogar sehr viel. Normalerweise hätte das Fegefeuer den Dämon schon lange verbrennen müssen, doch er hat irgendwie eine Möglichkeit gefunden, es zu umgehen. Hättest du nicht so beharrlich an das Fegefeuer geglaubt, dann hätte es wohl niemals das Unrecht beseitigen können.“
 

Stille lag über das Städtchen, zu dem die drei Männer starrten. Mit einem Mal erfüllte ein dumpfes Grollen die Luft, welches sehr schnell anschwoll. Dem Grollen folgte ein Zittern der Erde, das schnell zu einem starken Erdbeben heranwuchs. Die Männer gingen zu Boden und legten sich flach hin. Die Erde hob und senkte sich unter der Stadt und es war ein Geräusch zu hören, dass an einen lang gezogenen Schrei erinnerte. Es dauerte, bis sich die Erde beruhigte. Die drei blieben noch etwas liegen, bevor sie sich langsam aufrichteten und den Staub von ihren Kleidern klopften. „Zum Glück haben wir Mai ins Auto gelegt, bevor…“ Stan stockte der Atem, als er über die Brücke zur Stadt sah. Auch Joe und Robin schauten schockiert hinüber. „Ich … fass … es … nicht…“ brachte Joe nach einigen schweigsamen Momenten heraus.
 

Noch immer lag eine große Staubwolke über dem Städtchen, doch konnte man schon schemenhaft erkennen, was passiert war. Das Städtchen, in dem sie vor kurzem noch gewesen waren, gab es nicht mehr. Der Boden hatte überall nachgeben und kein Haus, keine Mauer verschont. „Tja, das war ganze Arbeit.“ meinte eine fremde männliche Stimme hinter den dreien. Erschrocken drehten sie sich um. Ein Mann mittleren Alters stand neben dem Auto. Stan drehte den Kopf zur Seite, um zu verhindern, dass er laut loslachte. Robin und Joe sahen sich an. Ihre Mienen waren eine Mischung aus Unglaube und Belustigung. Der Mann hatte die Arme verschränkt und tippt ungeduldig mit dem Fuss. „Ja ja, lacht ihr nur…! Mit einem Engel kann man das ja machen.“ Seine Stimme klang leicht säuerlich. Stan blickte immer noch zur Seite. „Was denn? Wenn du ein Engel bist, warum… Warum um alles in der Welt kreuzt du hier in einem PINKEN Morgenmantel auf??? Willst du auf ein Treffen der Witzfiguren?“ Nun konnten sich auch Joe und Robin nicht mehr halten und lachten laut los. Stan lachte über seinen eigenen Witz am lautesten. Der Mann knirschte mit den Zähnen. „Natürlich! Aber ich bin schon da. Wie ich sehe, habt ihr es nicht geschafft, eure Freundin zu retten. Was seid ihr doch für Witzfiguren.“ Während er sprach, hatte er zum Auto gezeigt.
 

Nun begann er leicht zu schimmern. Mit einem Mal brach ein Paar Flügel aus seinem Rücken hervor. Auch die Kleidung veränderte sich. Der pinke Morgenmantel verschwand mit dem Schimmern und zurück blieb ein Gewand, welches an eine lange Robe erinnerte. Aus hellem Stoff war diese Robe und war mit goldenen Stickereien verziert. Die drei Jäger hatten inzwischen aufgehört zu lachen und blickten Zähne knirschend zu Boden. „Was denn? Warum auf einmal so ernst?“ Joe hob den Blick. „Warum bist du hier?“ „Ich wollte gucken, warum in meinem Gebiet das heilige Fegefeuer ausgebrochen ist.“ Stan blickte ihn empört an. „Gucken, warum das heilige Fegefeuer ausgebrochen ist? Hallo?! Mai hat diese Stadt und ihre Bewohner von einem schrecklichen Fluch befreit!!!“ Der Engel zuckte ungerührt mit den Schultern. „Kommt immer wieder mal vor, dass ein Jäger jemanden rettet und dabei draufgehen.“ Seine Stimme war von solcher Gleichgültigkeit, dass die Gesichter der drei rot vor Wut anliefen. „Hey, Mai war keine Jägerin! Sie hat sich für diese Stadt und die Menschen geopfert! Das einzige, was wir noch von ihr haben, ist ihr Körper.“ fuhr Joe den Engel wütend an. „Seid froh. So braucht ihr keinen leeren Sarg zu Grabe zu tragen.“ Stan verlor die Nerven. „Du Arsch! Ich töte dich!“ Er ging auf den Engel los, doch sowohl Joe, als auch Robin hielten ihn fest. „Nicht, Stan! Das bringt nichts! Beruhige dich!“ redete Joe auf ihn ein. Robin sprach kein Wort, doch ließ er Stan nicht los. Dieser beruhigte sich schnell wieder. Aufatmend ließen ihn seine Freunde los. „Schade. Es hat schon lange keiner mehr versucht, mich zu töten.“ grinste der Engel. „Verschwinde! Du wolltest gucken, warum das heilige Fegefeuer hier ausgebrochen ist. Bitte. Jetzt weißt du’s. Mai hat es irgendwie geschafft, diese Stadt zu retten. Also verpiss dich und hör auf uns noch weiter zu quälen.“ Joe sprach ruhig und beherrscht, doch sah man ihn an, dass er eigentlich mehr hatte sagen wollen. Der Engel zeigte sich ungerührt.
 

„Was denn? Kein Bitten und Betteln? Normalerweise fleht man mich an, den Verstorbenen zurückzuholen.“ Bevor Joe oder Stan etwas erwidern konnten, brach Robin sein Schweigen. „Warum sollten wir das tun? Sie hat ihre Schuldigkeit gegenüber Dir erfüllt. Du hast schon genug für sie getan. Also geht.“ Alle sahen ihn an und zum ersten Mal war der Engel sprachlos. „Wovon redest du da, Grünschnabel?“ Robin zuckte nur mit den Schultern. „Ist doch egal. Du weißt doch, Engel helfen nur, wenn es zu ihren Plänen passt. Mai hat ihre Rolle in einem dieser Pläne bereits erledigt. Sie ist nun nutzlos.“ Der Engel verzog beleidigt das Gesicht. „Das stimmt doch gar nicht! Eure Freundin war nie Teil irgendwelcher Pläne!“ Robin sah ihn nur skeptisch an. „Wirklich? Mai hat mir da etwas erzählt. Ist es nicht seltsam, dass ihre Schwester sie auf einmal hasst, obwohl sie sich so gut verstanden haben? Außerdem… Warum nennst du Mai nicht bei ihrem Namen? Etwa, weil du sie als Chloe kennst?“ Der Engel schluckte merklich.
 

Alle Seelen schwebten um Mai herum und bedankten sich bei ihr, bevor sie verschwanden. Am Ende standen noch Gavin mit Heather und Michael mit seiner Familie noch da. Mai sah sich suchend um. „Was ist los?“ fragte Gavin. Mai sah ihn traurig an. „Ich fragte mich gerade, was mit Hayley und Dina ist…“ Sie senkte den Kopf. Heather kam zu ihr und nahm ihr Hand. „Mach dir keine Gedanken. Alles wird gut.“ sagte sie mit einem Lächeln.
 

„Mai erzählte mir, dass Dina Stimmen hörte. Erst dachte ich, dass es seien die Stimmen der Dämonen, aber jetzt wird mir einiges klar. Sie hörte deine Stimme. Du hast ihr eingeredet, Mais Seele hätte die Seele des kleinen Bruders, der eigentlich hätte geboren werden sollen, verdrängt.“ Robin sah den Engel ernst an. Dieser schüttelte den Kopf. „Nein, wie kämen ich den dazu?“ Robin legte den Kopf ein wenig schief. „Das kann ich dir ganz einfach erklären. Chloe wurde vor 20 Jahren von ihrer Mutter getötet. Mai, die nachweislich Chloes Wiedergeburt ist, ist aber erst 15. Wo war sie die 5 bzw. 4 Jahre dann, wenn die Dämonen verzweifelt versucht haben, sie zurückzuholen? Ich sag es dir. Ihre Seele war in deiner Obhut. Du hast sie beschützt, damit sie ihre Aufgabe, die du ihr zugedacht hattest, erfüllen konnte. Aber du brauchtest nicht irgendeine Familie, in der Chloe wiedergeboren werden sollte. Es sollte eine sein, in der es ein starkes Medium gab, das dich hören konnte und das du manipulieren konntest, um der wiedergeborenen Chloe später den Dämonen auf den Hals zu hetzen. Damit er sie findet und sie damit ihre eigentliche Aufgabe erfüllen konnte. Sag mal, waren wir auch Teil deines Plans? Hast du uns zu Mais Unterstützung geholt?“
 

Der Engel ließ merklich den Kopf sinken. Stan und Joe starrten Robin mit offenem Mund an. „Nein, das alles war nicht mein Plan. Und ihr kamt gar nicht darin vor. Als ihr plötzlich auf der Bildfläche erschient, sah es so aus, als wäre alles umsonst gewesen. Aber ihr habt sie immer wieder gerettet und ihr ihren Weg gezeigt. Und jetzt hat sie es geschafft. Sie hat den Dämon besiegt und die Seelen können endlich in Frieden ruhen, bis sie wiedergeboren werden.“ Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Engels. Joe schaltete sich ein.
 

„Ach, nun da es vorbei ist, lässt du sie hier zurück? Nachdem sie soviel erdulden musste? Sie einfach für deine oder wessen auch immer Pläne missbrauchen und dann einfach so tun, als wäre es nie so gewesen? Ihr Engel seid so widerwärtig. Und ihr sollt Gottes Wort verkünden? Das ich nicht lache!“ In seinem Gesicht hatte sich wieder die Zornesröte ausgebreitet. Der Engel wich zurück. „Äh… Aber, aber… Immer mit der Ruhe. Ihr wisst doch, die Wege des Herren sind unergründlich…“ stammelte er. Stan grinste hämisch. „Soll ich dir was sagen, Engel?! Gott schuf den Menschen nach seinem Ebenbild. Das heißt, wir alle sind nicht nur seine Kinder, wir sind auch wie er. All das, was wir sind, haben wir von ihm. Angefangen bei unseren Gedanken, bis hin zu unseren Taten, kann alles, was wir tun, auch sein Handeln sein. Denk mal darüber nach, wenn du das nächste Mal einen solchen Plan ausheckst oder ausführst. Jeder von uns könnte dein Gott sein.“ Die Kinnlade des Engels klappte nach unten und in seinem Gesicht spiegelte sich Erstaunen und Unglaube wider. „Das… das ist Gotteslästerung…“ meinte er. Stan zuckte die Schulter. „Könnte sein. Ja, und?! Es ist aber die Wahrheit und dieses Mal kannst du sie nicht verdrehen. Du hast Mai benutzt und zum Dank lässt du sie so im Stich. Oder sollte ich besser ihr sagen? Bist ja schließlich nicht der einzige Engel.“ „Das Gott, das einfach so gut heißt? Ich bin skeptisch. ICH heiße es nicht gut.“ schob Robin noch nach. „WIR sind darüber empört und wir müssen es als Ebenbilder Gottes ja wissen…“ Mit verschränkten Armen stand Joe da und sah den Engel herausfordernd an. Dieser hatte sich ganz klein gemacht. „Äh… Ich kann eure Wut verstehen, aber mir sind die Hände gebunden. Chloe befindet sich an einem Ort, wo meine Macht nicht hinreicht. Was aber nichts Schlechtes bedeutet.“ warf er schnell ein.
 

Mai war alleine. Gavin, Heather und Michael mit seiner Familie hatten sich bedankt und waren verschwunden. Nun schwebte Mai unsicher in der Dunkelheit. „Hayley!“ Sie sprach den Namen laut aus und mit einem Mal war sie an einem anderen Ort. Vor ihr bot sich ein Bild des Grauens. Überall schlugen die Flammen hoch und hatten alles verbrannt. Doch was Mai den Atem verschlagen ließ, war Hayley. Sie war wie im Klassenraum angekettet und unter ihr schlugen die Flammen hoch und verbrannten sie. Ihre Schreie hallten grell durch die Unendlichkeit der Hölle. Mai trieb dieser Anblick die Tränen in die Augen. „Hayley…“ Die angekettete Frau reagierte auf die Stimme des Mädchens. „Chloe..?!“ Sie blickte auf. Mai schüttelte den Kopf. „Nein, einst war ich sie, doch jetzt bin ich Mai. Bitte, Hayley! Vergib dir.“ Hayley schüttelte den Kopf. „Ich habe dich getötet. Ich habe gewaltsam dein Leben beendet.“ Mai lächelte und stand mit einem Mal genau vor Hayley. Die Flammen machten ihr nichts aus. Ganz im Gegenteil, sie wichen sogar vor Mai zurück. „Du hast Chloe gerettet. Sie hat dich dafür nie verurteilt. Jetzt bist du dran. Bitte.“ Mit diesen Worten umarmte sie die halbverbrannte Frau.
 

Mit einem Mal flüsterte Mai ihr ins Ohr: „Mama, bitte komm lach wieder! Ich mag dein Lachen so. Dann geht immer die Sonne auf.“ In Hayleys Augen sammelten sich Tränen. Mit einem Lächeln gab sie nach. „Meine kleine Chloe! Daran erinnerst du dich noch…“ Mai löste die Umarmung und wich zurück. Sie sah verwirrt aus. Währenddessen lösten sich die Ketten, die Hayley gefangen hielten. Auch die Flammen gingen zurück und erloschen ganz. Eine Kette nach der anderen fiel und Hayley wurde von einem Leuchten umgeben. Dann blickte sie auf. „Danke, Mai.“ sagte sie. Dann war sie verschwunden und auch die Umgebung veränderte sich wieder. Es herrschte wieder Dunkelheit. „Mai!“ Ein überraschter Ausruf ließ Mai erschrocken umdrehen. Vor ihr schwebte Dinas Seele. Ungläubig starrte diese ihre ältere Schwester an. „Dina… Was ist passiert?“ Dina lächelte. „Chloe hat durch dich zu ihrer Mutter gesprochen. Hayley ist endlich aus ihrer Flammenhölle befreit. Dank dir.“ Mai sah ihre Schwester an, doch im nächsten Moment überfiel sie Dina mit einer tränenreichen Umarmung. „Dina, bitte vergib mir! Ich hätte dich damals im Keller retten müssen! Es ist meine Schuld, dass du tot bist.“ Dina erwiderte die Umarmung mit einem warmen Lächeln. „Nein, es ist schon in Ordnung. Es war nicht deine Schuld. Aber es ist Zeit.“ Verwirrt löste Mai die Umarmung. „Wie meinst du das?“ Dina lachte vergnügt. „Typisch, kleine Mai. Versteht wie immer rein gar nichts. Aber du wirst es noch erfahren, keine Sorge. Jetzt aber schnell. Es gibt da welche, die sich riesig darüber freuen würden, dich in ihre Arme zu schließen.“ Mai verstand noch immer nicht, was ihre Schwester damit meinte. Doch diese lächelte nur und gab Mai einen Kuss auf die Stirn. „Ich hab dich lieb, kleine Schwester.“ flüsterte sie, als sie den Kuss löste. Bevor Mai reagieren konnte, fielen ihre Geisteraugen zu.
 

Schweigend saßen die drei Jäger im Auto und hingen ihren Gedanken nach, während Joe sein Auto steuerte. Stan saß neben ihm auf dem Beifahrersitz und Robin hintern auf der Rückbank, wobei er Mais Kopf auf seinem Schoss gebettet hatte. Traurig blickte er aus dem Fenster, doch seine Finger strichen gedankenverloren durch ihr Haar. Stan brach die Stille. „Mann, was sind wir für Trauerklötze. Wir haben zum ersten Mal in der Geschichte einen Engel fertig gemacht und jetzt sitzen wir hier und überlegen uns, wie wir Mais Eltern den Tod von zwei ihrer Töchter erklären. Das hätte uns dieser Geflügelheini ruhig abnehmen können.“ Robin nickte gedankenverloren. „Ja, das wäre kein schlechter Zug von ihm gewesen. Am schlimmsten finde ich allerdings den Gedanken, Mai zu beerdigen. Ich kannte sie zwar nur kurz, aber sie ist mir richtig ans Herz gewachsen.“ Stan konnte es mal wieder nicht lassen und setzte gleich einen nach. „Oh, unser Prinzchen hat sich verliebt. Tja, nur blöd, dass…“ „Stan!!“ unterbrach Joe ihn wirsch. Er versuchte seine Tränen schnell wegzublinzeln, doch Stan hatte sie bereits gesehen. „Entschuldigung!“ murmelte er und blickte hinaus zur vorbeiziehenden Landschaft. Mit einem Mal zuckte Robin zusammen und schrie vor Schreck kurz auf. Joe trat sofort auf die Bremse. Stan drehte sich mit seinem Revolver in der Hand um. Doch Robin hatte keine Augen für ihn. Er starrte mit großen Augen auf Mai. Dann ging alles ganz schnell. Bevor der Wagen richtig zum Stehen kam, war Mai mit einem verzweifelten Japsen hochgekommen. Robin packte ihren Oberkörper und klopfte ihr auf den Rücken. „Ganz ruhig, Mai! Atme ruhig. Keine Panik! Hörst du! Joe, Stan, schnell! Wir brauchen alles, was wärmt. Decken, Jacken, alles!“ Mai hatte sich inzwischen beruhigt, doch zitterte sie Espenlaub. Die Heizung im Wagen wurde voll aufgedreht und sämtliche Sachen der Männer dienten nun als Decke für die frierende Mai. Robin flösste ihr Wasser und warmen Tee ein, den Joe und Stan an einem kleinen Feuerchen warm gemacht hatten. Als es Mai besser ging und ihr Körper langsam, aber sicher wieder normale Temperatur annahm, fuhren sie weiter. Die Männer sahen müde und erschöpft aus, doch wirkten sie glücklich und befreit. Robin sah mit einem warmen Lächeln neben sich. Mai, die noch immer in Decken gehüllt war, hatte sich an ihn gelehnt und war eingeschlafen. Dann drehte er den Kopf und blickte aus dem Fenster. Stan sprach aus, was sie alle zu denken schienen: „Danke, Gott. Du hast was gut bei uns.“

Epilog

Epilog
 

Ein Auto stand vor einer Absperrung, hinter der eine Brücke begann. Die Sonne stand hoch am Himmel und kein Wölkchen war zu sehen. Auf der anderen Seite erkannte man eingestürzte Häuser und kaputte Straßen. Hier und da standen Bagger und hatten große Löcher in die Erde gebaggert. Vor der Absperrung standen drei Männer. Ein Mann um die 50, einer im 30 bis 40 Bereich und der dritte schien der jüngste zu sein. Man sah ihm an, dass er Mitte 20 war. Niemand sagte ein Wort. Plötzlich lachte eine weibliche Stimme hinter ihnen und die drei drehten sich erschrocken um. „Na, ihr Engelschreck! Alles klar bei Euch?“ Die Gesichter der Männer hellten sich schlagartig auf. „Mai! Du siehst gut aus!“ Joe nahm die junge Frau in seine Arme. Mai erwiderte die Umarmung glücklich. „Joe, du alter Hase! Wie ich sehe, geht’s dir blendend, du alter Jägerveteran!“ lachte sie. „Aber natürlich! Du weißt doch, Unkraut vergeht nicht!“ zwinkerte er ihr zu. Stan schnaubte. „Der alte Opa hat gut reden. Hallo?! Ich bin auch noch da!“ Mai lachte. „Stan, wie ich sehe, ist das Bad immer noch nicht dein bester Freund. Siehst aber trotzdem klasse aus.“ Auch ihn umarmte sie. „Da kannst du lange warten. Ich hab’s ehrlich versucht, aber die Dusche mag mich nicht. Entweder will mich das Wasser verbrühen, oder einfrieren.“ Mai lachte. „Glaube ich gerne. Aber du, man kann beides mischen. Solltest du mal ausprobieren. Funktioniert bei mir jedes Mal.“ neckte sie ihn. Dieser drehte sich beleidigt weg. „Hey, hältst du mich für blöd?“ Mai lachte noch mehr. „Nein, natürlich nicht. Entschuldige, bitte.“ Sie wandte sich zu Robin um. Dieser lächelte.
 

„Schön, dich so vergnügt und munter zu sehen.“ Er küsste sie auf die Wange. „Warum sollte ich Trübsal blasen, wenn ich meine Lehrer und gute Freunde wieder treffe?“ Robin grinste. „Stimmt. Und? Warst du bei deinen Eltern?“ „Korrektur: Bei Sara. Ja, war ich. Es geht ihr gut. Sie hat mir allerhand erzählt. Was alles passiert ist, nachdem ich mit 17 wütend abgehauen bin.“ „Und? Welche Tränenreiche Ereignisse waren es?“ fragte Stan. Mai lächelte. „Keine Tränen. Aber eine, na ja, freudige Nachricht?“ Joe runzelte die Stirn. „Was bedeutet das?“ „Meine Eltern nehmen ihre Tätigkeit als Jäger wieder auf. Und sie haben begonnen, Sara zu unterrichten. Sie ist allerdings nicht gerade begeistert. Sie will lieber ihre eigene Modeboutique eröffnen. Danach war ich an Dinas Grab. Ein seltsames Gefühl. Aber ich bin froh, dass ich hingegangen bin.“ Robin nickte. „Es ist jetzt 5 Jahre her. Sieh dich an: Du bist gerade mal 20, doch hast du dir als Jägerin in Sachen verlorene Kinder einen Namen gemacht. Man nennt dich in der Branche die ‚Fegefeuerlady’. Das muss man erst mal schaffen…“ Mai lachte und hielt sich den Bauch.
 

„Die Fegefeuerlady… Wer ist auf diesen Schwachsinn gekommen?“ Stan zuckte mit den Schultern. „Ich bin dieses Mal unschuldig. Ich hätte dir einen besseren Namen verpasst. Fegefeuerlady… Das hört sich an, als seiest du bereits eine 50-jährige Oma…“ Mai grinst. „Tja, wäre nicht schlecht. Mit den 30 Jahren hätte ich Erfahrung ohne Ende…“ Joe lachte. „Glaub mir, Mai. Wenn du in mein Alter kommst, wünschst du dir weiter 30 Jahre.“ „Was? Willst du mich vorzeitig ins Grab bringen? Die letzten 5 Jahre waren ja schon eine Qual, wie soll ich dann die nächsten 30 überleben?“ Joe funkelte Stan schelmisch an. „Indem du dich endlich mal vernünftig wäschst.“ Stan zog eine Grimasse, während sich Mai und Robin vor Lachen kugelten. Mai wischte sich eine Träne aus den Augenwinkeln. „Es tut wirklich gut, Euch wieder zu sehen. Ich bin so froh, dass ihr vor 5 Jahren bei mir ward. Sonst hätte ich das niemals überlebt.“ Die drei grinsten. „Wir sind froh, dass wir dich kennen. Sonst wäre unser Leben um einiges trister. Und wir hätten uns die Köpfe eingeschlagen.“ bemerkte Joe. Robin schüttelte den Kopf. „Stimmt. Auch wenn wir wieder getrennte Wege gegangen sind, unsere Zusammenarbeit ist legendär. Und unsere Diskussion mit dem Engel sowieso.“
 

Es war Abend geworden. Die Jäger waren zurückgefahren und Mai hatte sie begleitet. In einem Motel waren sie untergekommen und saßen nun zusammen in einer Kneipe und tranken Bier. „Also ist das, was die Kinder da trinken, das Blut des Dämons, der sie erschafft?“ fragte Stan gerade Mai. Diese nickte. „Ja, durch das Blut wird das heilige Fegefeuer umgangen. Ich weiß noch nicht, wie genau das funktioniert, aber das krieg ich auch noch raus.“ Stan pfiff anerkennend. „Ich bin beeindruckt. Du hast in den letzten 2 Jahren mehr über die verlorenen Kinder raus gefunden, als andere in den letzten 20 Jahren. Aber das sollte mich wohl nicht verwundern…“ Mai grinste. „Danke. Es tut gut, von einem meiner Lehrer ein solches Kompliment zu bekommen.“ Stan nickte. Joe lehnte sich zurück. „Ich muss immer noch mit einem Schmunzeln daran denken, wie du vor drei Jahren bei mir aufgetaucht bist. Mit ein wenig Geld und Sachen zum Wechseln. Und der Bitte, dich zur Jägerin auszubilden.“ Mai blickte gedankenverloren auf ihr Bier. „Was soll ich sonst machen? Nach der Sache mit Chloe konnte ich nicht einfach zur Uni gehen und Anwältin oder Ärztin werden. Noch heute wache ich schweißgebadet aus Alpträumen auf. Sehe Dina sterben. Oder Hayley in den Höllenfeuern schreien. Aber ich bereue nichts. Weder das ich meinen Eltern erzählt habe, was wirklich passiert ist, noch das ich gegangen bin, um Jägerin zu werden.“ Robin nahm ihre Hand und drückte diese. Mai blickte auf und lächelte. „Es ist gut, dass du mit dir selbst im Reinen bist. Hast du den schon Heather oder jemand anderen getroffen?“ Mai grinste noch breiter.
 

„Ja. Heather und Michael sind jetzt Geschwister. Sie ist 4 und er ist gerade 2 geworden. Sie sind so putzig! Ich habe sie sofort erkannt, als ich sie sah. Schon seltsam…“ Robin schüttelte den Kopf. „Nein, finde ich nicht. Ihr seid durch ein untrennbares Band miteinander verbunden. Hayley und Gavin wirst du eines Tages auch begegnen. Da bin ich mir sicher.“ Mai lächelte sanft und nickte. Stan und Joe erhoben sich. „Dann lassen wir euch beiden Turteltauben mal alleine. Ihr kennt ja sicherlich den Weg zu unseren Zimmern, oder?“ Joe grinste. Robin und Mai sahen sich ertappt an und eine verräterische Röte brachte ihre Wangen zu glühen. Stan klopfte Robin auf die Schulter. „Also, wenn dann der Storch Euch die Kinder gebracht hat, denkt dann bloß nicht an mich! Die Mischung aus Euch beiden ist tödlich. Und mich als Babysitter ist keine gute Idee…“ Mai hob belustigt die Augenbrauen. „Aber warum denn, Onkel Stan? Bei dir ist es immer so lustig! Bei dir müssen wir uns nicht waschen und du lässt überall deine Waffen liegen, mit denen man so gut spielen kann!“ Joe und Robin lachten los, während Stan das Gesicht erzog. „Eben deshalb ja. Ich hab keine Lust, Euch später erklären zu müssen, warum sich eure Brut gegenseitig abgeknallt hat.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und ging. Mai schüttelte grinsend den Kopf. Joe hob den Arm zum Gruß und ging lachend hinter Stan her. Robin sah ihn nach, bevor er sich Mai zuwandte. „Ob es überhaupt soweit kommen wird?“ Mai zuckte mit den Schultern. „Dies ist mir im Moment egal. Ich möchte in dem Hier und Jetzt leben. Und egal, was die Zukunft bringt, ich möchte nichts bereuen.“ Mit diesen Worten küsste sie ihn.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu dieser Fanfic (18)
[1] [2]
/ 2

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von: abgemeldet
2011-11-16T21:40:51+00:00 16.11.2011 22:40
Nooin. Es ist vorbei. Warum? Ich fand deine Fanfic so toll.

Lass dir ein paar Grüßen da.

Gallianora
Von: abgemeldet
2011-11-15T17:26:18+00:00 15.11.2011 18:26
Mir gefällt es^^. So schön^^.
Von: abgemeldet
2011-11-15T16:55:26+00:00 15.11.2011 17:55
Echt cool, dass diese Kapitel direkt an meinem Geburtstag rauskam xD. Hast du das mit Absicht gemacht? xD. Wow ich finde deine Fanfic echt schön=). Mach weiter so.
Von: abgemeldet
2011-11-10T15:04:36+00:00 10.11.2011 16:04
Ich mag deine Fanfic. (*Wiederholungsmodus aus*) Wow,...wow wo...rictig gelungen deine Fanfic. Sie hat mich wirklich gefesselt. Wollen wir sehen wie es weiter geht. Freu mich schon aufs nächste Kapitel.

Liebe Grüße

Gallianora
Von: abgemeldet
2011-11-08T19:50:25+00:00 08.11.2011 20:50
Ohh, jetzt kann ich nicht mehr weiterlesen. Dabei ist es gerade so spannend... Ich mag deine Fanfic wirklich, wirklich toll. Bitte lass mich nicht all zu lange auf das nächste Kapitel warten <3.
Von: abgemeldet
2011-11-08T19:39:53+00:00 08.11.2011 20:39
Was kommt jetzt? Was kommt jetzt? Ich denke, ich lasse mich überraschen^^. Ich mag deine FF voll (jaja Wiederholungsalarm xD). Uhhh tollig, tollig, tollig und soo schön spannend^^.

Liebe Grüße
Gallianora
Von: abgemeldet
2011-11-06T20:57:55+00:00 06.11.2011 21:57
Cool. Ich weiß nicht was ich sonst schreiben soll. Nur finde ich, dass ich etwas schreiben soll. Deine Fanfic wird immer spannender und das Liebe ich so an ihr. Mach weiter so <3.
Von: abgemeldet
2011-11-05T23:51:18+00:00 06.11.2011 00:51
Ich mag deine Fanfic immer mehr^^. Mach weiter so. Ich werde wohl morgen, bzw. heute weiterlesen. Ich werde nun ins Bett gehen. Gute Nach <3.
Von: abgemeldet
2011-11-05T23:38:13+00:00 06.11.2011 00:38
Schönes Kapitelchen. Ich gehe gleich vielleicht zum nächsten übergehen. Liebe Grüße <3
Von: abgemeldet
2011-11-05T23:28:23+00:00 06.11.2011 00:28
Wow, ich bin sprachlos. Bin gespannt wie es weiter geht. Mach weiter so <3.


Zurück