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Musik 4Y

Diese eine Person, die...
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Hi ho,

Es tut mir so leid, dass das letzte update so lange her ist >___<; Es war viel Los, vor allem Krankheit und Arbeit...

Egal! Es geht weiter -^^- Haut mir eure Kommentare ruhig um die Ohren XD

Viel Spaß beim Lesen

miki Komplett anzeigen

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Komm zu mir

Kapitel 13:
 

Da war es wieder. Das Gefühl in kaltes Wasser getaucht zu werden und zu versinken. Immer weiter. Immer weiter.

Eben noch hatte ich darüber nachgedacht, dass es seltsam war, Blicke zu ernten, wenn Timothy nicht bei mir war. Dass Mädels kicherten, wenn sie zu zweit irgendwo langgingen, hatte ich darauf geschoben, dass ich neben Timothy her ging. Immerhin hatte dieser einen Fanclub und da war das eine berechtigte Annahme. Doch eben hatte ich alleine angestanden, Marvin hinter mir. Wir unterhielten uns normal, machten nicht mal einen Witz. Warum lächelte das Mädel mich an? Hatte ich etwas im Gesicht?
 

Sicherlich bildete ich es mich nur ein. Es war fast so wie damals, als ich selbst noch einen Fanclub hatte. Nervtötend, wenngleich mich heute keiner Ansprach und ein Autogramm wollte. Wahrscheinlich war diese Überempfindlichkeit noch eine Macke von früher, als es verständlich war, dass ich angelächelt wurde. Es war nicht verletzend, aber seltsam. Mir war, als würde ich etwas übersehen. Etwas sehr Wichtiges, nur kam ich nicht drauf.
 

Seufzend stellte ich mein Tablett mit Essen auf den Tisch und ließ mich auf den Stuhl fallen.
 

„Was los?“, fragte Fred, der bereits saß.
 

„Hast du ein neues Parfüm oder dich in einer Vorlesung daneben benommen?“, fragte Marvin, der sich ebenfalls setzte.
 

„Weder noch. Ich kenn die nicht mal“, erklärte ich ernüchternd. „Habe ich irgendwo Klopapier zu hängen?“
 

„Nope, habe nichts gesehen“, sagte Marvin, als hätte er tatsächlich darauf geachtet.
 

Ich lächelte gequält und begann zu essen. Vielleicht wüsste Timothy etwas. Immerhin steckte er seine Nase in alle möglichen Dinge und seine Informationen zu dem, was auf dem Campus vor sich ging, waren erstaunlich genau. Woher auch immer er all das wusste. Manchmal war ich froh über sein Wissen, manchmal seltsam stolz, aber öfter als normal nervte er mich damit. Wenn man nicht aufpasste, stellte er aus Langeweile irgendwas an, was andere ausbaden durften. Nayla teilte diesbezüglich ihr Leid beim letzten Grillen mit mir. Timothys kleine Verschwörungen, Scherze, Aktionen. Ob nun in der Schule, im Heim oder hier im Studium. Niemand schien verschont zu bleiben, selbst Dozenten und Lehrer nicht. Sie hatten mein ehrliches Mitleid und mit einem Seitenblick zu Timothy fragte ich mich damals schon, wann ich mich damit rumschlagen müsste. Laut den anderen, war Timothy erstaunlich ruhig in den letzten Monaten. Fast wie die Ruhe vor einen großen Sturm.
 

Meine Gedanken wurden unterbrochen, als eine Hand auf unseren Tisch geknallt wurde. Fred, Marvin und ich sahen gleichermaßen erstaunt auf. Jasmine stand vor uns und sah erbost zu mir runter. Da hatten wir den Sturm ja schon, dachte ich beiläufig.
 

„Was fällt dir eigentlich ein? Kümmere dich um deine Angelegenheiten und zieh andere nicht mit rein“, fauchte sie mich an.
 

„‘Tschuldige. Wer bist du?“, fragte Fred und erntete einen giftigen Seitenblick, der ihn verstummen ließ. Sein Mut in allen Ehren, aber mit Frauen, wenn sie sauer waren, legte man sich besser nicht an. Eigentlich hatte ich gedacht, wir verstünden uns ganz gut. Bis auf die Sache mit dem Kuss, den sie Timothy gestohlen hatte, wovon aber nur ich wusste. Es wurmte mich im Nachhinein immer noch, aber ich war fest entschlossen, diese Sache zu vergessen. Immerhin hatte sie den Korb und ich Timothy bekommen.
 

„Schon gut“, meinte ich und sah Jasmine ruhig an. Brachte ja nichts auch aus der Haut zu fahren, nicht? „Und was genau soll ich getan haben?“
 

„Mir ist es scheiß egal, ob du ein Insta Account hast oder nicht. Gott, ich hätte dir nicht mal zugetraut zu wissen, wie man damit umgeht. Aber egal. Poste was du willst über dein langweiliges Leben, aber halte Timothy da raus. Er hat größeres vor als du. Er will Sänger werden und muss auf sein Image achten. Stell nicht so unbedarft Fotos von ihm rein, wenn ihr euch nicht mal vertragen könnt.“
 

Ich saß einfach da und fühlte wie meine Finger kalt wurden und sich mein Magen umdrehte. Ihre Verachtung war mir egal, aber diese Anklage, für etwas, dass ich nicht getan hatte, schleuderte mich sofort sechs Jahre zurück. Ich war nicht erwachsener geworden, ich hatte nur vergessen wie schrecklich alles gewesen war. Ein eisiger Schauer rollte mir den Rücken runter. Ich bemerkte nicht mal, dass sie bereits gegangen war. Die Stimmen meiner Kommilitonen drangen nur gedämpft zu mir.
 

„Was will sie?“, fragte Marvin.
 

„Er kann posten, was er will. Wenn Timothy nicht will, dass man ihn sieht, muss er es sagen. Oder gar nicht erst Fotos mit Mik machen“, erwiderte Fred und zuckte mit den Schultern.
 

„Aber was meint sie überhaupt?“, fragte Marvin nach. Eine Frage, die ich mir auch stellte. Es beruhigte mich etwas, dass diese beiden auch nichts wuss-
 

„Das Foto is‘ strunz normal. Nichts womit man sich seine Karriere irgendwie versauen könnte. Eher verwirrend für alle, die die beiden vom Campus kennen“, ergänzte Marvin nachdenklich, aber nicht besorgt. Seine Worte waren wie ein nasser Lappen mitten ins Gesicht. Wie eingefroren saß ich da. Sie… wussten, wovon Jasmine gesprochen hatte?!
 

„Eben. Es sind normale Fotos eines normalen Studenten. Was ist daran schon verwerflich? Oder hast du sie irgendwie verärgert?“, fragte Fred und sah mich fragend an. Ich hob meinen Kopf kaum merklich an und versuchte gefasst zu bleiben.
 

„Ihr wisst, wovon sie redet?“, fragte ich erstaunlich ruhig, dafür, dass ich innerlich fast auseinanderbrach.

„Von deinem Instagram Account“, sagte Marvin, als sei es nicht genug gewesen, dass Jasmine es einmal erwähnt hatte.
 

„Meinem … was?“
 

„…“
 

Ich sah beide an und scheinbar bemerkten sie meine Anspannung. Marvin legte seine Gabel nieder und Fred hob beschwichtigend die Hände, wusste aber nicht, wie er anfangen sollte.
 

Warum sollte ich auf Instagram sein? Ich!!! Ich habe bis vor drei Wochen sogar vehement verneint mit ihnen zum Karaoke zu gehen und oft genug gesagt, dass ich nichts von diesen Medienmist halte.
 

Warum?!
 

„Mik, sorry, wir dachten du hättest deine Meinung geändert“, begann Fred.
 

„Ja, du sagst zwar, dass du die sozialen Medien nicht magst, aber als wir das gesehen haben, haben wir uns nichts bei gedacht“, ergänzte Marvin.
 

„Deine Antworten waren auch wie immer, also…“
 

Meine Antworten? Hieß das, dass sich jemand für mich ausgab? Beim Gedanken daran lief es mir eiskalt den Rücken runter und mein Puls schnellte nach oben.
 

„Wenn es nicht dein Account ist, wurdest du vielleicht gehakt. Sollen wir zur Polizei gehen?“, fragte Fred, aber seine Fürsorge erreichte mich nicht. Ich stand bereits, griff gerade noch so nach meiner Tasche und ließ den Rest stehen.
 

Ich hatte nicht viele Bekanntschaften auf dem Campus. Nicht viele Leute, die ich an mich ranließ und noch weniger, die mich gut genug kannten, um für mich antworten zu können, ohne dass auffallen würde, dass nicht ich es war, der schrieb. Aber … Warum? Warum sollte er etwas derart Mieses und Verräterisches tun? Nein, warte… ich wollte niemanden beschuldigen, ehe ich nicht wirklich wusste, was vor sich ging. Aber … es war so eindeutig! Und es war schwer zwischen all der Panik, der Kälte, der Angst und der Wut, die in mir tobten, einen klaren Gedanken zu fassen. Jetzt, wo ich mich bewegte, wusste ich nicht, wie ich eben noch so ruhig hatte bleiben können. Mein Atem war zu schnell und mir war schlecht. Mein Gang war hektisch. Keine Ahnung, ob andere das seltsam fanden. Es gab immer mal Studenten, die warum auch immer, über den Campus rannten und ich hatte ein klares Ziel vor Augen.
 

Mein erstes Anlaufort war ein Volltreffer. Am Wäldchen angekommen, fand ich Timothy an seinem üblichen Platz. Unbekümmert saß er da und sah auf sein Handy. Ich griff es mir und sah ein Bild von mir. Sicher, ich wusste, dass er Fotos machte. Er war mein Freund, verdammt! Da war mir das egal. Mit schnellen Fingerbewegungen hatte ich das Foto geschlossen und öffnete Instagram auf seinem Handy. Ich wusste, dass er sich auf allen möglichen Seiten rumtrieb. Instagram war eine der weniger dubiosen. Ich sah seinen Account. Alles wie gewohnt. Dann tippte ich etwas weiter rum. Nur weil ich es nicht nutzte, hieß es nicht, dass ich nicht wusste, wie man damit umging. Timothy ließ mich auf sein Handy sehen, wenn wir zu zweit waren. Es sei denn, er plante etwas, dann legte er es schnell weg, oder schloss die Anwendung. Als ich mir einmal meine Fotos in seiner Galerie angesehen hatte, hatte ich bemerkt, dass hoch geladene Fotos einen Extraordner in der Galerie bekamen. Dort sah ich es. Fotos. Viele. Szenen, die ich kannte, die aber nicht im üblichen Ordner waren oder seinen Account.
 

Ich ließ das Handy fallen und ging. Meine Beine kamen mir schwer vor, aber mit jedem Schritt wurde ich schneller. Mein Kopf war leer. Ich wusste nicht, ob ich wütend, verletzt oder traurig war. Mir war übel. Ich kam an meiner Haustür an und öffnete sie. Abwesend ging ich in die Wohnung und blieb dann einfach stehen. Langsam schloss sich die Tür hinter mir und ich sah nach oben, ließ meinen Kopf schwer in den Nacken fallen und hielt meine Tränen zurück. Natürlich war er mir gefolgt. Wie üblich spürte ich seinen Blick auf mir und diesmal brannte er regelrecht.
 

„Mi-“
 

„Warum?“, fragte ich kratzig.
 

„Ich wollt’s dir sagen.“
 

„Hast du aber nicht!“, blaffte ich ihn an und drehte mich zu ihm um. Timothy stand vor mir und sah zum ersten Mal hilflos aus. Aber ich war viel zu wütend, um auf seine Befindlichkeiten zu achten. „Hast du bei Instagram einen Account von mir erstellt?“
 

„…“ Die Antwort zog sich, aber schließlich. „Ja.“
 

Ich schnaufte abfällig und begann unruhig hin und her zu laufen.
 

„Hast du sie noch alle?! Du weißt, wie sehr ich das alles nicht leiden kann. Du weißt, was passiert ist und warum ich das nicht will.“
 

„Eben darum ja. Aber Mik-“
 

„Nichts ‚Aber‘! Ich habe dir gesagt, misch dich da nicht ein! Aber nein, der Herr macht was er will und scheißt auf Regeln und Bitten. Selbst dann, wenn sein Freund ihm sagt, er soll verdammt noch mal die Finger davon lassen!“ Ich wurde immer lauter, aber Timothy blieb ruhig. Warum blieb er so verdammt ruhig?!
 

„Du bist sauer, verständlich, aber lass mich dir erklä-“
 

„Natürlich bin ich ‚sauer‘. Was denkst du denn? Dass ich mich freuen würde, dass man mich wieder in die Öffentlichkeit stellt? Dass ich gerne im Unklaren gelassen werde und mich von dahergelaufenen Idioten beschimpfen lasse?“
 

„Wer beschimpft dich?“, fragte Timothy und seine Augen blitzten kurz auf. Ich schnaufte abfällig auf seine aufblühende, beschützende Art hin.
 

„Interessiert es dich?“, fragte ich höhnisch. „Als ob deine Aktion in irgendeiner Weise anders wäre, als öffentlich beschimpft zu werden. Für Dinge, die nicht ich gemacht habe.“ Ich stöhnte verärgert auf, blieb stehen und fuhr mir durchs Gesicht. „Beende das“, forderte ich.
 

„Nein, Mik, dass ist-“
 

„Ich sagte, beende das!“, wiederholte ich lauter. Frustrierter. Verdammt! Wollte er denn nicht verstehen? Gerade war alles gut, alles heile. Irgendwie. Es war nicht perfekt, sicher, aber es fühlte sich fast so an. Kein Druck, kein Schauspiel, keine Fehler. Timothy als festen Freund, der mir den letzten Nerv raubte und nach dem ich mich zugleich so unendlich sehnte.
 

„Lass es mich doch erst erklären!“, konterte Timothy ebenso laut. Sein Blick und seine Stimme durchsetzt von Frust.
 

Ich holte Luft. Die Wut stieg mir zu Kopf und was ich auf der Zunge hatte, würde ihn verletzen, aber das war mir egal. Ich wollte meine Ruhe, ich wollte nicht singen, kein Star sein. Das alles wusste er und trotzdem tat er sowas! Aber bevor ich Dinge sagen konnte, die mir später definitiv leid getan hätten, klingelte es. Ich stockte. Timothy ebenso. Niemand bewegte sich. Es klingelte erneut. Timothy fing sich als erster und ging zur Tür. Erst nachdem es ein drittes Mal geklingelt hatte, öffnete er die Tür. Marvin und Fred standen mit besorgten Gesichtern davor und wunderten sich Timothy in der Tür zu sehen. Aber dieser hatte die Tür weit genug geöffnet, sodass beide Kommilitonen auch mich sehen konnten.
 

„Ähm … Mikael, wegen eben-“
 

„Raus hier“, sagte ich unnachgiebig. Fred stockte in seinen Versuch sich zu erklären. Einen Schritt in die Wohnung zu tun, traute er sich gar nicht erst. Mein Blick glitt zu Timothy, er sah zurück und hielt mir stand. Trotzdem war er es, der den Blickkontakt abbrach und stumm hinaus ging. Die Tür hinter sich schließend, leise, zu sanft für das, was ich gerade fühlte. Frustriert gaben meine Beine nach und ich saß, wo ich eben gestanden hatte. Die Beine angezogen, die Arme um meinen Kopf gewickelt. Ich wollte schreien, aber das brachte nichts, also versuchte ich mich zusammenzuhalten so fest ich konnte.

Unschlüssig saß ich im Wohnzimmer. Die Spannung von eben ließ langsam nach, mein Herz raste immer noch und drum herum setzte sich gemütlich, wie ein guter, alter Freund, die Schwere. Eine Mischung aus Angst, Furcht und Trauer. Meine Gedanken wurden träge, dann hörten sie gänzlich auf. Ich fühlte mich müde, war aber nicht in der Lage mich von der Stelle zu bewegen. Ich blieb sitzen, stumm, erschüttert, traurig, verletzt.
 

Nach einer Weile, bewegte ich mich doch. Wie ferngesteuert ging ich in Richtung meines Zimmers. Aus den Augenwinkeln sah ich Papiere auf dem Küchentisch liegen. Stimmt, meine Hausarbeit. Ich musste sie Donnerstag abgeben, dachte ich mechanisch. Donnerstag… Ich nahm mein Handy und rief im Sekretariat an. Meine Stimme klang rau und matt. Ich musste mich nicht mal anstrengen Krank zu klingen. Eine Magenverstimmung vorschiebend, meldete ich mich bis Mittwoch ab. Danach machte ich mein Handy komplett aus.
 

Ich tat diese paar Tage wenig. Vor allem dachte ich kaum etwas. Ich fühlte mich wie damals nach dem Interview, in welchem ich die Reporterin geschlagen hatte. Leer und ausgelaugt. Zu nichts mehr gut und nutzlos. Von der Welt vergessen. Meine Chance vertan. Es war erschreckend, wie schnell ich in dieses alte Loch, in dieses Muster zurückgefallen war. Wenngleich mein Kopf auf irgendeine trübselige Weise abgeschaltet hatte, funktionierten die grundlegenden Dinge noch recht gut. Essen, Trinken, Duschen, Toilette, Schlafen. Schuld an dieser Routine war Daniel.
 

Nachdem er mich aufgenommen hatte, war ich wütend auf mich und alles andere. Ich schlug seine Hilfen aus, schrie ihn an und verfluchte alles. Nach ein paar Mal sah er mich ruhig an und sagte: „Wie du magst. Du weißt, wo die Küche und das Bad sind. Bediene dich, du bist hier Gast. Wenn du reden willst, komm zu mir.“ Damit ging er und ich hatte meine Ruhe. Endlich. Doch sein Nachsatz hallte noch Stunden in meinen Kopf wider.
 

„Wenn du hier stirbst, bekomme ich das erst mit, wenn du am verwesen bist.“
 

Zunächst tat ich auch das als bloßes Ärgernis ab. Aber mit der Zeit bekam ich Hunger. Dann Durst. Beides ignorierte ich. Eine Toilette befand sich in der Nähe meines Zimmers, somit musst ich nie weit weg. Aber ohne Nahrung, fiel auch das weniger aus. Ich wurde müder, schwächer und hungriger. Am vierten Tag war mein Hirn so weit, dass ich die Wörter vor meinen Augen tanzen sehen konnte.
 

„Niemand kommt und sieht nach dir.“
 

„Du wirst alleine sterben.“
 

„Erst wenn du ein Skelett bist, findet er dich.“
 

„Er meinte es nur gut.“
 

„Er wird nicht kommen.“
 

„Es ist deine Schuld.“
 

„Niemand kommt.“
 

„Deine Schuld.“
 

„Du musst den ersten Schritt tun.“
 

„Du wirst hier sterben.“
 

Nun, ich war stur und gab ungerne auf. Ich kämpfte mich durch, selbst wenn mein Trotz mich durch den größten Modder führte. Was mich daran am Meisten nervte, waren meine eigenen Gedanken. Irgendwann schrie ich ihnen entgegen, dass ich nicht sterben würde. Dass es nicht nur meine Schuld war. Dass alle verrotten könnten und ich niemanden brauchte. Dass es egal war, wenn niemand kam, ich niemanden interessierte. Dass es mir egal war, dass ich alleine war.
 

Die Unwahrheiten und meinen Trotz ausgesprochen, setzte mein Hirn wieder ein. Ich ging zum Wasserhahn im Bad. Das Leitungswasser tat gut, aber ich war zu hastig und erbrach er fast sofort wieder. Verärgert über meinen unfähigen Körper, griff ich den Zahnputzbecher und füllte ihn mit Wasser. Wenn große Schlucke es nicht taten, dann eben kleine. Ein Mensch brauchte nur genügend Wasser zum Überleben! Zumindest für eine Weile. Ich dachte, wenn ich mit dem Wasser etwas an Stärke gewinnen könnte, schaffte ich es auch in die Küche. Fakt war: Ich wollte nicht sterben und ich würde nicht „so“ sterben. Ich fand meine Motivation weiter zu machen, zu leben und stur zu bleiben. Das Essen wurde täglich mehr und ich bewegte mich öfter durch das große Haus. Am liebsten nachts oder wenn Daniel nicht da war. Ich wollte nicht mit ihm reden oder ihn sehen. Noch sah ich erbärmlich aus und wenn er mich sah, wollte er sicherlich reden. Aber … ich wusste noch nichts. Meinen Willen zum Leben hatte ich gefunden, aber wie es weiter gehen sollte, wie ich ‚leben‘ wollte… davon hatte ich keine Ahnung.
 

Heute war ich schlauer. Ich hatte zumindest den Plan als Architekt ruhig zu leben. Aber war das noch möglich? Egal. Nicht drüber nachdenken. Noch nicht. Erst Donnerstag. Genau. Erst dann…
 

Ich gebe zu, ich war sehr deprimiert und verletzt. Wenngleich ich nicht über das Thema-welches nachdenken wollte, beschäftigte ich mich mit anderen Sachen. Sicherlich, alles lag nah beisammen, aber ich blendete es so gut ich konnte aus. Im Blind-durch-die-Gegend-gehen war ich sehr gut.
 

Die Sache war die… Was Timothy getan hatte, verzieh ich ihm nicht. Es war seine Verantwortung und nicht meine. Vielleicht würde ich es Daniel erzählen, dann konnten sie sich miteinander darum streiten. Ich wollte damit nichts zu tun haben. Somit konzentrierte ich mich auf das Einzige, was nicht korrumpiert war. Mein Studium. Die Hausarbeit musste ich Donnerstag abgeben, sonst fiel ich durch. Ich musste auch bald die Seminare besuchen, damit niemand glaubte, es sei etwas. Seit ‚damals‘ wollte ich niemanden mehr auf der Tasche liegen. Oder besser gesagt, ich scheute es, mir nochmal an einem Tiefpunkt von jemand anderen helfen zu lassen. Es war ein Eingeständnis von Schwäche und als Mann vertrug mein Ego nicht allzu viel davon.
 

Ich kam mit mir überein, dass ich wenigstens so tun wollte, als sei alles ok. Als sei ich stark genug, dass Problem von meiner Schulter zu wischen. Genau genommen, war nichts weiter passiert, außer dass meine Welt zusammengebrochen war. Hah! Das zweite Mal, wohl gemerkt. Also nahm ich einen imaginären Kleber und wickelte ihn um alles, was mich ausmachte. Es war nicht perfekt und tat immer noch weh, aber ich würde weiterleben und lernen können. Wie ich mit Timothy, Marvin, Fred oder sonst jemanden umgehen würde, wusste ich noch nicht. Erstmal wollte ich niemanden sehen, was ich durch meine kleine Krankmeldung geschafft hatte. Dann würde ich mit Scheuklappen vor den Augen raus gehen und schauen was mich erwartete.
 

Woher ich die Motivation dafür nahm? Ich hatte keine. Es war schlicht … die Welt drehte sich weiter. Egal, ob ich im Haus bleiben würde, mich im Bett verkroch, mir das Leben nahm oder eine Bank ausraubte, diese beschissene, beschissene, beschissene Welt würde sich weiterdrehen. Ihr war es egal, ob jemand auf der Straße überfahren wurde, ob Kinder rauchten oder jemand im Park vergewaltigt wurde. Der Welt war es egal. Und mit Welt, meinte ich alles. Die Menschen, die Tiere, diesen sich verdammt nochmal ewig weiterdrehenden Planeten, das soziale Gefüge, alles. Das Schlimmste an niederschmetternden Erfahrungen war, zu sehen wie die Sonne aufging und ein schöner Tag seinen Lauf nahm. Es war wie Ironie, die auf das eigene Leid spukte. Das Gute an solchen Erfahrungen war, dass es irgendwann leichter wurde. Erträglicher und je nachdem, konnte man auch wieder lachen. So war der Lauf der Dinge. Hoch und Runter. Gut und Schlecht. Glück und Pech.
 

Das bedeutete nicht, dass ich wieder ganz war. Dass ich alles vergessen und vergeben hatte. Oh nein. Ich wusste nicht mal, ob ich so etwas überhaupt verzeihen konnte.
 

Der Donnerstag kam. Ich war geduscht, angezogen und sah bis auf ein paar Augenringe ganz ok aus. Ich schaltete mein Handy ein und ließ es auf lautlos. Es kamen einige Nachrichten, die ich weitestgehend ignorierte oder nur eine knappe Antwort auf wichtige Dinge schrieb. Timothy zählte ich nicht dazu.
 

Ordnungsgemäß gab ich die Arbeit ab und hielt meine Ausrede mit der Magenverstimmung aufrecht. Mein Lächeln war schwach. Die Dozentin hatte mir nichts getan. Es wäre nicht fair sie anders als sonst zu behandeln. Durch meine Ausrede würde sie mein Benehmen schlicht auf mein Unwohlsein schieben. Ich wollte nicht riskieren, dass meine schlechte Laune meine Note gefährdete. Wer wusste schon, wie objektiv Dozenten benoteten.
 

Auf dem Weg in meine nächste Vorlesung sah ich flüchtig auf mein Handy. Drei verpasste Anrufe von Daniel. Irgh… den wollte ich ja gar nicht sprechen. Ich verdrehte die Augen, aber just da rief er nochmals an. Also ging ich ran. Besser es gleich hinter mich bringen, als es ewig aufzuschieben. Die Erinnerung, wie ätzend er sein konnte, wenn er schmollte, reichte damit ich ranging.
 

„Hi, Was gibt’s?“, fragte ich, so gut gelaunt wie ich konnte.
 

<Mikael. Warum gehst du nicht gleich ans Telefon?<
 

„Ich war im Gespräch mit meiner Dozentin und es ist auf lautlos“, antwortete ich monoton und ehrlich. Daniel seufzte. Ob erleichtert oder schwer konnte ich nicht sagen.
 

<Ich habe gehört, du warst krank. Ist irgendwas vorgefallen?<
 

Wenn er etwas wusste, warum sagte er es nicht einfach? Eigentlich war es nicht möglich, dass er noch nicht von dem Instagram-Ding gehört hatte. Schließlich achtete er auf jeden Scheiß, der im Internet stand. Wusste er es? Wollte er mich schonen? Glaubte er, ich käme damit nicht klar? Oder schlimmer noch, dass es meine Idee gewesen war?
 

„Nein. Ich hatte nur eine Magenverstimmung.“
 

<So? Wie kam das?<
 

Tss. Wenn er nichts sagte, sagte ich auch nichts. Mir egal. Aber er sollte dieses subtile Aushorchen sein lassen!
 

„Keine Ahnung. Vielleicht das Essen in der Mensa oder das was Timothy mitgebracht hatte. Ist doch auch egal. Ich bin soweit wieder fit.“
 

<Timothy? Der Ashlinejunge?<
 

„Äh … ja wieso?“ Hatte ich ihn bei Daniel noch nicht erwähnt?
 

<Warum gibst du dich mit ihm ab? Eure Studienfächer sind nicht gerade beieinander.<
 

Ich stöhnte innerlich. Natürlich musste er Timothy kennen und natürlich wusste er, welches Studium er belegte. So lange wie ich Daniel kannte, vergaß ich immer wieder, dass er der verdammte Leiter dieser verdammten Uni war!
 

„Wir sitzen in Recht zusammen. Da schwirrt alles rum, egal welcher Studiengang.“
 

<Mikael, ich würde dir empfehlen- <
 

„Hey, sorry, aber ich muss jetzt in die Vorlesung. Erzähl es mir ein anderes Mal, ok?“
 

Es war nicht die feine Art, aber ich legte auf. Wütend starrte ich auf mein Handy. Wollte Daniel mir jetzt wirklich erzählen, dass es besser wäre nicht mit Timothy zusammen zu sein? Mich mit einem Musiker abzugeben. War es das? Gott… ich war Daniel dankbar für alles was er getan hatte, aber es gab Dinge, in die brauchte und durfte er sich einfach nicht einmischen. Ich war keine Fünfzehn mehr, verdammt! Außerdem war es für seine Sorge bereits zu spät.
 

Der Donnerstag verging ruhig. Ich sprach nur das nötigste und ging Marvin und Fred aus dem Weg, als ich sie in der Vorlesung sah. Auf direktem Weg ging es nach Hause und damit war der Tag für mich beendet. Ohne Hausarbeiten hatte ich recht viel Freizeit. Zeit, die ich durchaus gerne mit Timothy verbracht hätte, aber jetzt … Daheim nahm ich mir meinen Rechtsordner und lernte für die Klausur. Mein Handy noch immer lautlos neben mir. Wenn es aufleuchtete, sah ich rauf und ignorierte alles was nicht wichtig war. Selbst Timothys zweite Nachricht mit demselben Text wie Tage zu vor.
 

T: >Können wir reden?< 17:44
 

Wir können, dachte ich. Wir müssen aber nicht. Zudem hatte ich keine große Lust ihn zu sehen. Es reichte doch, wenn wir morgen in Recht nebeneinandersitzen würden.
 

Ich hatte überlegt zu schwänzen, aber wie ich Timothy kannte, würde er nur noch mehr nerven, wenn er mich nicht einmal live gesehen hatte. Er war schließlich das Dramaqueen von uns beiden, mit dem Hang zur Selbstverletzung und ich traute ihm zu, dass er mir zutraute, dumme Sachen zu machen. Tss.
 

Der Freitag kam schneller als mir lieb war. Ich machte die gleiche Routine wie jeden Morgen, aber meine Beine wurden schwerer und langsamer, je näher ich dem Vorlesungssaal kam. Ich war nicht bereit Timothy zu sehen. Meine blanke Wut war zwar verflogen, aber ich war immer noch sauer und verziehen hatte ich ihm auch nicht. Sofern er nicht mit der Nachricht kam, dass er alles gelöscht hatte oder alles nur ein schlechter Prank gewesen war, hatte ich ihm nichts zu sagen.
 

Ich seufzte schwer und ging zu meinem Platz, wobei ich einige Studenten aufscheuchte, ehe ich mich setzen konnte. Timothy war da. Wie immer spürte ich seinen Blick auf mir, musternd, abwartend. Ich sah seinen Stift nervöser als sonst auf sein Blatt tippen, abgesehen davon, sah ich ihn nicht an oder begrüßte ihn. Ich sah auch nicht, wie die beiden Malerinnen hinter uns einen besorgten Blick austauschten. Selbst wenn, wäre es mir egal gewesen.
 

Der Dozent kam, begrüßte alle und begann mit der Vorlesung.
 

Als sie zu Ende war, packte ich schweigend meine Sachen zusammen und trat nach dem neben mir sitzenden Studenten hinaus. Es war mir nicht schwer gefallen ihn zu ignorieren. Ich war immer noch sauer genug. Aber es war schwerer geworden, je länger ich neben ihm gesessen hatte. Ich spürte seine Nähe, seine Blicke und hätte mich zu gerne an ihn gelehnt, aber ich konnte nicht. Timothy hatte Scheiße gebaut und sollte es auch zu spüren bekommen. Als ich den Raum verließ, drehte ich mich nicht um und das allein zog an meinem Herzen.
 

Der Freitag verging so ereignislos wie das Wochenende darauf. Da ich meine Wohnung nicht verließ, hatte ich meine Ruhe. Ich hatte eigentlich mit Marvin und Fred gerechnet. Die beiden konnten es nicht lange ertragen, wenn dicke Luft herrschte. Aber sie kamen nicht. Der Grund war mir egal. Ich stürzte mich in mein Studium, lernte, kochte, probierte aus, was ich da hatte. Da ich nicht rausgehen wollte, aber eigentlich einkaufen musste, hatte ich nicht viel Auswahl. Sonntag schrieb Timothy erneut, dass wir reden sollten, aber ich ließ seine Nachricht, wie die beiden zuvor, ungelesen.
 

Die neue Woche begann, der letzte Junitag verstrich. Dienstag, 1. Juli, Rechtsvorlesung. Die Sonne schien kräftig und heizte den Campus und die Gebäude auf. Jeder der konnte war froh in einem alten, kühlen Vorlesungssaal zu sitzen. Jedoch ahnte ich noch nicht, das mir bald eiskalt sein würde.
 

Da es am Freitag gut gelaufen war, begann ich den Dienstag ebenso. Kurz vor Beginn betrat ich den Raum, scheuchte alle Studenten in der Reihe von meinem Sitz hoch, setzte mich und konzentrierte mich auf die Vorlesung. Ich spürte Timothys Blick. Ich spürte ihn immer. Es war als würde ein Eisblock über meine Haut gleiten und heiße Spuren zurücklassen. Für gewöhnlich mochte ich es, wenn er mich so ansah, genoss das Kribbeln. Für gewöhnlich.
 

Ein paar Minuten nach Beginn wurde Timothy unruhig. Er raschelte mit seiner Kleidung und den Armbändern um sein Handgelenk. Ich hatte gesehen, dass er ein T-Shirt trug und die schwarze Stulpe über seinem rechten Unterarm. Darüber eine Uhr und ein Kettenarmband, aus großen Gliedern bestehend. Hätte ich ihn genau angesehen, wäre ich sicherlich mehr ins Schwärmen gekommen, aber ich war immer noch sauer. Als ich nicht reagierte, schob er seine Hand näher zu mir. Als sie zu nah kam, schob ich sie zurück. Die Berührung war kurz und flüchtig gewesen. Trotzdem kribbelten meine Fingerspitzen. Timothys Hand war kalt. Seine Hand wegzuschieben, reichte leider nicht aus, sie kam wieder. Machte Anstalten etwas in meinen Block schreiben zu wollen oder stupste meine Hand leicht an. Als seine Hand meine berühren wollte, reichte es mir.
 

„Hast du es jetzt mal?!“, fauchte ich ihn an. Der ganze Saal war still. Ehe Timothy etwas hätte erwähnen können, räusperte sich der Dozent.
 

„Porter, Ashline. Ruhe da oben.“
 

Ich brauchte einen Moment. Dummerweise hatte ich Timothy angesehen. Seit einer Woche hatte ich ihn nicht angesehen und im ersten Augenblick wollte mir das Herz aufgehen, ehe ich seinen erschrockenen Blick registrierte. Sicherlich… er musste ja auf seinen Ruf achten, schoss es mir giftig in den Kopf. Besser ich benahm mich artig und fiel nicht auf, wie? Ich sah zum Dozenten und hielt meinen Blick nach vorne gerichtet. Der Gedanke, dass selbst Timothy mich als Last sehen könnte, tat noch mehr weh, als Jasmines Worte. Es drückte mein Herz fest zusammen und es viel mir schwer ruhig zu atmen. Aber… er wusste doch wie ich war. Er kannte mich doch! Oder hatte ich mir das nur eingebildet? Wie war das nochmal mit ihm zu Streiten ohne es ernst zu meinen? Wie waren wir da gewesen? Timothy sagte nichts mehr. Sicher, er musste auf seinen Ruf achten.
 

Scheiße… ich konnte mich nicht mehr auf Recht konzentrieren. Die Worte des Professors hörten sich dumpf und wie unter Wasser gesprochen an. Der Gedanke, dass Timothy denken könnte, dass ich lästig für seine Karriere sein könnte, setzte mir zu. Auch wenn ich bisher nicht über ihn nachgedacht hatte, hatte ich irgendwie angenommen, dass zwischen uns trotzdem alles war wie … naja, davor. Dass er mich schon verstehen würde und so. Dass das, was immer da zwischen uns war, stark genug war und alles zusammenhielt.
 

Sein Blick ging mir nicht aus dem Kopf. War ich vielleicht doch zu unberechenbar, zu ungenau? Hatte ich mich nicht genug auf ihn eingelassen? Aber… nein, ich war doch sauer auf ihn. Er hatte etwas getan, was er für sich rechtfertigte. Warum durfte ich es dann nicht auf dieselbe Weise handhaben?
 

Zunehmende Lautstärke riss mich aus meinen Gedanken. Die Vorlesung war vorbei und ich hatte nichts mitbekommen. Verwirrt blinzelte ich nach vorne, aber der Dozent war bereits gegangen. Die Reihen lichteten sich vor und hinter, sowie neben mir. Besser ich ging, dachte ich. Schweigend packte ich meine Sachen und schulterte meine Tasche. Ich war in keiner Verfassung jetzt mit Timothy ein Beziehungsgespräch zu führen oder generell über irgendwas zu reden. Ich wollte hier nur weg.
 

„Warte“, kam es von hinter mir und ich blieb stehen. Etwas in seiner Stimme zog an meinem Herzen. Er klang geknickt, verletzt. Ein Teil in mir sorgte sich um Timothy. Ich wusste von seinen Neigungen und ich wollte nicht, dass er wegen mir in etwas reinrutschte und sich selbst verletzte. Aber…
 

„Lass uns reden.“
 

Der Großteil von mir wollte einfach nur weglaufen. Wenn er verletzt war, weil ihm seine Aktion leid tat, dann war es nur rechtens. Ich selbst war in keiner Verfassung jemanden zu trösten! Warum konnte ich ihn dann nicht einfach ignorieren?

„Was willst du noch reden? Du hast mir doch schon alles gezeigt.“
 

Woher ich die Kraft nahm ihn anzusehen, wusste ich nicht. Aber ich sah, dass meine Worte ihn trafen. Seine Augenbrauen verengten sich ein wenig und seine Lippen pressten sich mehr aufeinander.
 

„Das verstehst du falsch“, erwiderte Timothy ruhig und sah mich an. „Hör mir zu. Du musst nicht mal was sagen, bi-“
 

„Ich finde, du hast deinen Standpunkt überaus deutlich gemacht!“, fauchte ich ihn an. Leiser als vorhin, aber immer noch verärgert genug.
 

„Welchen Standpunkt?“, fragte Timothy skeptisch nach.
 

„Ich dachte, es wäre ausreichend, sauer auf dich zu sein und dich zu ignorieren. Du hast verdammt noch mal Mist gebaut und ich habe keine Lust deinen ach so tollen Plan dahinter zu verstehen. Und da du es bist, wird es sicherlich einen Plan geben. Aber wenn du mich fertig machen wolltest, hättest du es auch anders haben können. Ich habe jedes Recht sauer zu sein.“
 

„Fertig machen- ...? Warum sollte ich das machen? Mik, verdreh das nicht.“
 

„Ich verdrehe hier gar nichts. Du mischst dich in mein Leben ein und ich habe dir mehr als einmal gesagt, ‚lass das sein‘. Du willst Sänger werden? Gut, mach das, aber zieh mich nicht mit rein. Ich werde artig sein und deinem Ruf nicht im Wege stehen. Benehme mich, wie die Randfigur, die ich bin. Meine Zeit ist lange vorbei, also lass-“
 

„Du stehst nicht im Weg und deine Zeit ist nicht vorbei“, unterbrach er mich. Seine Stimme sanft, bedacht sogar, aber auf so was achtete ich gerade nicht. Mit jedem Wort zog es mehr an dem, was ich die letzten Tage erfolgreich in mir verschlossen hatte. Die Frustration und die Zurückweisung wuchsen. Konnte er das nicht sehen?!
 

„Sie ist es“, zischte ich, „Also lass mich mit deinem Kram in Ruhe.“
 

„Nein, Mik. Ist sie nicht. Du kannst noch mehr und du willst es auch.“ Seine so sacht gewählten Worte taten weh, weil sie stimmten. Leider hatte ich nicht die Kraft mich all dem noch mal zu stellen. Ich war zu ängstlich.
 

„Hör auf damit“, forderte ich leise und ballte meine Hände zu Fäusten.
 

„Dass ich es dir nicht gleich gesagt habe, tut mir leid, aber du kannst mehr.“
 

„Hör auf.“
 

„Deine Wut macht dich blind. Sei nicht wieder so kindisch und mach die Augen auf. Du bist ein sehr guter Sänger. Es ist nicht wie damals. Es ist nichts passiert. Nichts ist vorbei und niemand ist einfach nur eine Randfigur. Dass ich mir wünsche, mit d-“
 

„Hör auf mir deine Wünsche aufzubürden!“, rief ich und meine Faust flog. Der Schlag war dumpf, aber ich spürte ihn brennend auf meinen Knöcheln. Ich sah Timothys zur Seite gedrehtes Gesicht und die Rötung, die auf seiner Wange sichtbar wurde. Ich stockte und sah erschrocken zu Timothy. Unser Umgang war grob miteinander, ja, aber ich hatte ihn nie ernsthaft geschlagen. Nie vorgehabt ihm weh zu tun. Wie konnte mir nur die Hand so dermaßen ausrutschen?
 

Als Timothy seinen Kopf langsam zu mir drehte, waren seine Augen düster und seine Mimik unlesbar. Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken, aber ich konnte mich nicht bewegen. Nicht mal als seine Hand nach meinem Handgelenk griff und meine noch kribbelnde und geschlossene Faust ansah.
 

„Wie du magst. Dann machen wir es eben so.“ Seine Stimme war kalt und unnachgiebig. Seine Hand umfasste mich fester. „Sei sauer, wüte, tobe, schrei, aber benimm dich nicht wie der letzte Trottel. Du bist laut und unfreundlich, gut. Sei wer du bist, zeig den Leuten, was ich kenne und lass alle Filter weg. Zeig ihnen, wie du bist und dann komm zu mir.“
 

Seine letzten Worte waren sanft, jedoch erreichte es nicht seinen Blick. Sein Daumen strich beruhigend über meine Haut, aber meine Faust war zu kalt geworden, als dass ich die Geste hätte fühlen können. Da Timothy nichts mehr sagte, riss ich meine Hand von ihm los und stürmte aus dem Vorlesungssaal. Ich sah mich nicht nochmal um, sah nicht sein sanftes Lächeln, während er sich an die geschlagene Wange fasste oder etwa, dass die Kunstmädels hinter uns noch da waren. Dass sie alles gesehen und gehört hatten und nun besorgte Fragen an Timothy stellten.
 

Ich hatte nicht geglaubt noch tiefer fallen zu können, aber das war ein Irrtum. Auch wenn Timothy ein manipulatives Arschloch war, so war er mein fester Freund. Ich … ich vertraute ihm wie bisher noch keinem und auch wenn er dieses Vertrauen mit seiner Aktion tief erschüttert hatte, so hatte sich an meinen Gefühlen für ihn nichts geändert.
 

Wie hatte ich ihn nur schlagen können? Wie hatte ich mich so vergessen können?
 

Timothy war … er war mir wichtig. Nicht wie die Reporterin damals. Nicht wie Daniel, den ich mehrfach von mir stieß. Timothy war wie fester Boden unter den Füßen zu haben. Und nun stand ich auf einer wackligen Planke. Allein. Mir war kalt und ich hatte mich noch nie so sehr selbst gehasst.
 

Im Flur bemerkte ich erstmals, wie mich fragende Blick verfolgten. Vielleicht, weil wir zum wiederholten Mal aufgefallen waren? Ich beruhigte meinen Schritt und versuchte selbiges mit meiner Atmung. Mein Herz raste immer noch. Erst nachdem ich eine Weile kopflos Richtung Mensa gegangen war, machte es klick.
 

/Sei sauer, wüte, tobe, schrei, aber benimm dich nicht wie der letzte Trottel./
 

Timothys Worte hallten nach und sie brachten mich dazu nachzudenken, klarer zu sehen. Ich wurde langsamer und blieb ein paar Meter vor dem Eingang zur Mensa stehen. Es gab einen Unterschied zwischen den Blicken von Studenten, die an mir vorbei gingen und sich vielleicht fragten: „Warum bleibt der Idiot mitten im Weg stehen“, und denen auf deren Gesicht Interesse, klare Fragen und Neugierde zu sehen waren. Wie hatte ich das nicht sehen können? Fuck, rannte ich von einem Misthaufen in den Nächsten?
 

Ich zwang mich zur Seite zu gehen, verschränkte die Arme und ließ meinen Blick schweifen. Innerlich war ich zum Zerreißen gespannt, aber nach außen gab ich mich betont ruhig. Allein meine Augenbrauen waren tiefergezogen als üblich und meine Fingerknöchel brannten noch etwas. Die Studenten gingen an mir vorbei. Viele beachteten mich nicht. Nur ab und an, fing ich einen Blick auf. Auf zehn Leute gerechnet, waren das vielleicht zwei, was bei der Masse an Studenten quasi nichts war.

Ich beruhigte mich und setzte ich mich Richtung des nächsten Supermarktes in Bewegung. Mein Kühlschrank war nach wie vor leer und ich brauchte mehr frische Luft. In der Mensa waren zu viele Menschen. Eigentlich nichts was mich störte, da ich es gesellig mochte, aber ich brauchte diesen Moment für mich.
 

/Sei wer du bist, zeig den Leuten, was ich kenne und lass alle Filter weg./
 

Seine Worte waren schwer zu verstehen, aber nach der ersten Erkenntnis fügten sich die Teile fast wie von selbst zusammen. Ich wusste noch immer nicht, warum Timothy mir einen Account erstellt hatte, aber dass ich noch immer unwissend war, war meine eigene Schuld. Er hatte mir oft genug angeboten zu reden, einfach zuzuhören, damit er sich erklären konnte. Aber sein augenscheinlicher Verrat hatte mich blind gemacht. Tss. Da brüstete ich mich damit, erwachsen geworden zu sein und machte die gleichen Fehler wie damals. Ich war so verletzt und engstirnig, dass ich nur noch mich sah und nicht zwischen Segen und Fluch unterscheiden konnte.
 

Ich dachte zurück und fragte mich, wie Timothy immer noch so ruhig sein konnte. Zumindest glaubte ich, dass er ruhig gewesen war. Gott, ich war so dumm! Wie hatte ich nur denken können, dass ich eine Last für ihn war?! Es ging um Timothy! Dieser Mistkerl tat nichts ohne Grund. Selbst das Geschirr spülte er nur ab, um mich danach mit seinen Seifenfingern ärgern zu können! Wenn er einen Account erstellt hatte, hatte er etwas vor. Etwas das mir definitiv nicht gefiel, aber von dem nicht gesagt war, ob es Gut oder Schlecht sein würde.
 

/Zeig ihnen wie du bist und dann komm zu mir./
 

Und er hielt immer noch an seinem Plan fest. Das hätte mir bewusst sein sollen! Dieses Insta-Ding lief noch und alle gingen davon aus, ich würde das sein. Ich hatte keine Ahnung was Timothy postete oder ob er derzeit überhaupt etwas hochlud, aber es würde sicherlich einen Knick in der Optik geben, wenn die Posts nicht zu meinem Benehmen in der Öffentlichkeit passten. Ich hasste ihn dafür, mir auf diese Weise die Hände zu binden und meine Freiheit einzuschränken.
 

Schlimmer noch! Ich schlug ihn und er belehrte mich. Gab mir subtile Hinweise, lockte meinen Verstand aus seiner Umnachtung und er hatte Erfolg damit. Ich war so wütend auf ihn, mich, alles! Ich könnte im Boden versinken! Eilig tütete ich den Einkauf ein und ging zurück. Wütender denn je, dass ich mich so einfach von ihm lenken ließ.
 

Daheim angekommen, verstaute ich den Einkauf und ging in mein Zimmer. Die Schachtel Zigaretten lag seit Timothys erster Übernachtung hier. Ich nahm eine Zigarette, stellte mich an mein geöffnetes Fenster und zündete den Glimmstängel an. Der erste Zug tat gut. Der nächste auch. Ich genoss die leicht benebelnde Wirkung vom Nikotin in meinen Kopf. Es beruhigte mich und brachte mich runter. Nach der zweiten Zigarette schloss ich das Fenster und zog die Vorhänge zu. Mit dem Handy in der Hand setzte ich mich auf mein Bett.
 

/Komm zu mir./
 

Noch nicht, aber … so konnte ich es nicht stehen lassen. Ich wählte seine Nummer und wartete. Es klingelte länger, als ich erwartet hatte. Gerade als ich auflegen wollte, wurde der Hörer abgenommen und mich empfing Stille. Keine Begrüßung, kein Vorwurf, keine Stimme… Ich schluckte schwer. Ich konnte ihm nicht verübeln, wenn er sauer wegen des Schlages war. Nur machte diese Stille es mir nicht leichter und lag wie ein Stein auf meinem Herzen.
 

„Tim?“, fragte ich vorsichtig nach. Von der anderen Seite kam ein zustimmendes Brummen. Es erleichterte mich für einen Atemzug, ihn zu hören, ehe meine Anspannung mich wieder hatte. Da er nichts sagte und mich nicht drängte, ließ ich mir Zeit und sammelte mich. Ich wollte die richtigen Worte finden, nachdem ich ihn geschlagen und stehen lassen hatte.
 

„Der Schlag tut mir leid.“
 

<Nicht gerade deine Glanzstunde.< Hörte ich ihn sagen. Sein Ton war dunkel und matt. <Aber auch nicht dein härtester Schlag.< Mit einem winzigen, stichelnden Unterton.
 

Ich atmete erleichtert aus. Ein zustimmendes „Mh“, entkam mir, davon ab, war es still auf beiden Seiten. Ich überlegte, was ich noch sagen könnte, aber bis auf den Schlag war ich noch nicht bereit irgendein Thema anzuschneiden. Timothy sagte auch nichts. Wartete er? Worauf? Sollte ich noch etwas sagen? Auflegen vielleicht? Nein, ich konnte nicht, was hieß, dass er wirklich wartete. Wie lange würde er warten, fragte ich mich und bemerkte, dass die Stille zwischen uns nicht unangenehm war. Ich legte das Handy neben mein Kissen und stellte es auf Laut, ehe ich mich hinlegte und den Bildschirm anstarrte. Es hatte etwas beruhigendes zu wissen, dass er am anderen Ende war.
 

Vielleicht war er das auch nicht. Er könnte die Lust verlieren, das Handy weglegen und irgendwas anderes machen. Aber noch einmal: Es ging um Timothy. Selbst der Teufel würde mit ihm nicht fertig werden, da war ich mir sicher. Wer Videos löschen konnte und sich für andere ausgab, hatte sicher auch genügend Geduld stumm und stoisch-schweigend vor einem Handy zu sitzen.
 

Irgendwann wurden meine Augen schwer. Ich hielt mich wach, aber nach allem was heute und die Tage davor gewesen war, fühlte ich mich wie erschlagen. Wunschweise hätte ich mich gerne an Timothy gelehnt und mir sogar seinen Unsinn angehört. Vorsichtig zog ich das Handy näher. Nur einen Moment die Augen ausruhen und mir dabei vorstellen, er wäre hier, dachte ich und hörte von irgendwoher eine leise Melodie. Ich kannte sie. Etwas daran kam mir bekannt vor, aber mein müder Verstand erfasste nicht von wo.
 

Einmal schreckte ich hoch, da ich beinahe eingeschlafen wäre. Ich suchte nach der Melodie, aber sie war weg. Das Telefonat lief noch, aber … vielleicht sollte ich lieber auflegen? Ich betrachtete den Bildschirm, den Namen und dass bereits eine halbe Stunde vergangen war. Niemand sagte etwas und niemand legte auf. Einen Moment noch. Ich zog das Handy bis vor meinte Brust und schloss abermals die Augen. Die Melodie kehrte zurück und ich war binnen von Sekunden eingeschlafen.



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