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Dunkler Stoff spannte über massiven Muskeln. Breite Schultern, kurzgeschorener Nacken, stabiler Torso. Rohe Kraft in einen Anzug gedrängt. Wo das Jackett auseinanderklaffte, wurde ein weißes Tanktop sichtbar. Darunter gebräunte Haut und angedeutete Schatten. Ausläufer eines Tattoos, das sich von den Schultern aus über den gesamten Rücken spannte. Ein Tiger mit ausgefahrenen Krallen, bereit zum Sprung. Ebenso bereit wie Makoto. Seine Augen huschten von Shisu zu den drei Männern ihm gegenüber und wieder zurück. Beim ersten Anzeichen von Ärger würde er zuschlagen. Das war seine Aufgabe.
 

„Also …“ begann Shisu, seine näselnde Stimme wie das Kratzen eines falsch gehaltenen Kreidestücks auf einer Schiefertafel. „Mir wurde zugetragen, ihr hättet da etwas, das uns gehört.“

 

Der vorderste der drei, der Anführer, wenn Makoto es richtig einschätzte, räusperte sich.

 

„Habt ihr das Geld?“

 

Für einen Moment dehnte sich die Stille zwischen den zwei ungleichen Gruppen bis in die Unendlichkeit. Wasser tropfte von den Rohren irgendwo oberhalb des Hinterhofs. Dämpfe einer nahen Garküche waberten als traniger Nebel durch die Luft. Es stank nach Fett, vergammeltem Fisch und Katzenpisse. Ratten quietschten zwischen den überquellenden Müllkübeln. Makoto konnte das Schaben ihrer kleinen Krallen hören. Das Nagen ihrer scharfen Zähne. Die Gier in ihren Augen auf sich fühlen. Für sie waren er und die anderen hier nicht mehr als ein paar saftige Leckerbissen, die sich noch nicht dazu entschlossen hatten zu sterben. Vielleicht würden sie nicht warten, bis es soweit war.

 

„Natürlich.“

 

Shisu schnippte mit den Fingern. Das Zeichen für Makoto, den Koffer zu bringen, den er in Händen hielt. Darin befand sich Geld. Bündelweise bunt bedruckte Scheine. Genug um Makoto den Rest seines Lebens einen angenehmen Ruhestand zu ermöglichen, und doch nicht mehr als ein Staubkorn am Fuß des Vermögens von Sasori Kodama. Wäre das, wegen dem sie hier waren, nicht so wichtig gewesen, hätte der Mann vermutlich nicht einmal mit der Wimper gezuckt, um den Betrag zu entbehren. Doch das, was sie wollten, war wichtig, und Makoto würde alles Notwendige tun, um sicherzustellen, dass sein Boss erhielt, was ihm zustand.

 

„Aufmachen.“

 

Der Anführer der Dreiergruppe hatte anscheinend seine Eier wiedergefunden. Makoto rührte sich nicht. Er starrte den schlaksigen Bozo nur an und reagierte erst, als Shisu ihm ein Zeichen gab. Mit einem Zucken im Mundwinkel trat er zurück und senkte den Koffer. Der Bozo sah irritiert aus. Shisu lächelte.
 

„Nicht so schnell“, säuselte er und erinnerte Makoto daran, warum er selbst so oft den Drang verspürte, dem schmierigen Lackaffen den Hals umzudrehen. Aber Shisu stand über ihm und niemand, der sich nicht am nächsten Morgen auf dem Grund des Flusses wiederfinden wollte, missachtete diese Ordnung. Sasori Kodama war, was das betraf, außerordentlich gewissenhaft, und die Folterknechte und Henker, die er beschäftigte, engagiert und grausam. Deswegen hielt Makoto die Füße still und tat, was immer Shisu ihm auftrug. Immer schon, seit genau fünf Jahren. Wie ein Uhrwerk.

 

„Wir wollen zuerst sehen, ob ihr auch habt, weswegen wir gekommen sind.“

 

Shisu hatte leise gesprochen und freundlich, trotzdem breitete sich Unruhe unter den drei Möchtegerngaunern aus. Makoto konnte sehen, dass sie alle ausgemergelt waren. Ihre dünnen Körper gezeichnet von Armut und Alkohol. Die freie Brust unter den lässig getragenen Mänteln und Westen zeigte ihre Rippen, alle von ihnen hatten Tattoos. Einzelne Schriftzeichen, Kanji, Blumen, Blätter, Fächer. Einige kunstvoll, andere sahen aus wie selbstgemacht. Bei dem einen konnte Makoto eine lang gezogene Narbe quer über dem Bauch erkennen. Sie war wulstig und rot.

Vermutlich hatte er kein Geld für einen Arzt gehabt und sich von einem der vielen Quacksalber zusammenflicken lassen. Er hatte Glück, dass er noch lebte.

 

„Yoshi. Geh.“

 

Der Anführer ruckte mit dem Kopf und einer der anderen zwei entfernte sich. Er verschwand hinter einer Tür, der Makoto zuvor keine Beachtung geschenkt hatte, und kam kurz darauf mit einem Sack zurück. Unsanft ließ er seine Fracht zu Boden plumpsen. Das Gebilde fiel in sich zusammen und bildete eine Form, die Makoto vage als menschlich identifizierte. Konnte es sein …?

 

„Aufmachen“, kommandierte Shisu. Der Bozo gehorchte, das Band, das den Sack hielt, wurde gelöst und …

 

„Was zum Teufel?“

 

Das, was ihnen vor die Füße kullerte, war klein, dreckig und stank zum Himmel. Geronnenes Blut aus einer Platzwunde am Hinterkopf verklebte Büschel silberblonder Strähnen, die ehemals makellose Haut war mit dunklen Flecken und zornigen Striemen übersät. Eine Wolke aus Schweiß- und Uringeruch stieg Makoto in die Nase. Süßlich, stechend, abstoßend. Hinter sich konnte er die Ratten quieken hören.
 

„Was ist das?“, fragte Shisu aufgebracht. Es war offensichtlich, dass er das hier nicht erwartet hatte. Seine ganze jämmerliche Gestalt zitterte vor Zorn.
 

„Ich hatte gesagt, ich brauche ihn lebend.“
 

Der Anführer der Dreiergruppe hob verächtlich die Oberlippe.
 

„Er lebt.“

 

Mit dem Fuß trat er gegen die Gestalt, die daraufhin ein Wimmern von sich gab. Hoch und schmerzerfüllt prallte es von den Wänden wieder und verlor sich in der kühlen Nachtluft. Zu schwach. Zu hilflos. Kein Echo.

 

„Ja, gerade noch so“, schnappte Shisu. Sein Unterkiefer bebte, wie alles an ihm. Selbst der alberne Spitzbart zitterte. Er erinnerte Makoto an die Ratten.

 

Shisu gab sich einen Ruck. Er richtete sich auf, strich den hellen Sommeranzug glatt und nahm Haltung an.

 

„Damit wäre das wohl geklärt“, sagte er kühl. „Mako, wenn du so freundlich wärst?“

 

Makoto zögerte nicht. Mit der freien Hand griff er nach seiner Waffe, richtete sie auf die Bozos und drückte ab. Dreimal krachte ein Schuss, dreimal traf er. Drei Körper fielen leblos zu Boden, jeder von ihnen mit einem Loch in der Stirn. Makoto steckte die Waffe wieder ein. Er wusste, er würde sie nicht mehr brauchen.

 

Shisu hatte derweil sein Handy gezückt und machte Fotos von dem Ding am Boden. Es regte sich nicht. Als er fertig war, schnippte er erneut mit dem Finger.

 

„Na los, pack ihn ein und dann nichts wie weg. Ich hasse es hier.“

 

Makoto widersprach nicht. Die Slums waren kein Ort, an dem man sich gerne aufhielt, auch wenn sie einst sein Zuhause gewesen waren. Das Bedürfnis, sich zu waschen und seine Kleidung zu verbrennen, kam und ging wieder. Er hob die Hand mit dem Koffer.
 

„Nimmst du das Geld?“

 

Shisu sah ihn an, als hätte Makoto verlangt, dass er seine Schuhsohlen ableckte.
 

„Du wirst ja wohl beides schaffen“, stichelte er, bevor er sich auf dem Absatz herumdrehte und aus der Gasse stürmte. Makoto blieb zurück mit dem Geld und dem stinkenden Bündel am Boden. Und drei Leichen. Eine Ratte steckte witternd ihre Schnauze hinter einer Mülltonne hervor. Für sie war der Tisch jetzt reich gedeckt.
 

„Bedient euch ruhig“, brummte Makoto, bevor er sich bückte, den jämmerlichen Überrest eines Menschen aufhob und ihn sich wie einen Sack über die Schulter warf. Wenn das hier vorbei war, würde er dringend ein Bad benötigen. Und einen Drink.

 

Makotos Finger lagen auf dem Lenkrad des Wagens, während er wartete. Die Leute flanierten an ihm vorbei. Es war ein warmer, sonniger Tag. Die spiegelnden Fassaden der Hochhäuser um ihn herum eine einzige Demonstration von Macht, Einfluss und Geld. Viel Geld. Makoto wusste, wie wichtig es war. Es war Droge, Drohung und Erlösung zugleich. Wer es hatte, konnte sich alles kaufen. Alles, was er wollte. Sogar Makoto.

 

Du denkst zu viel.

 

Mit einem Knurren festigte er seinen Griff. Der lederbezogene Kunststoff knackte unter der rohen Behandlung, aber er hielt. Makoto war stark, jedoch nicht so stark, dass er diesen Teil der fast drei Millionen Yen teuren Luxuskarosse einfach abreißen konnte. Trotzdem hätte er es gerade gerne getan. Oder wenigstens die jungen Frauen dort draußen angeblafft, damit sie aufhörten, sich hinter vorgehaltener Hand Dinge über ihn oder vielmehr den Besitzer des Wagens zuzuflüstern. Er wusste, dass sie ihn nicht sehen konnten. Die Scheiben waren getönt. Undurchsichtig. Blickdicht. Aber ebenso wie Shisu es hasste, sich im Gewirr der von Müll und Obdachlosen gesäumten Straßen zu bewegen, hasste Makoto es, vor dem protzigen Gebäude auf dem Präsentierteller zu stehen. Er fühlte sich nackt und unbehaglich. Warum kam Shisu nicht wieder?

 

Das gefällt mir nicht.

 

Mal abgesehen davon, dass immer noch dieses stinkende Bündel in seinem Kofferraum lag, konnte Shisus langes Fortbleiben nur eines bedeuten. Ärger. Und wenn Shisu welchen hatte, würde es nicht lange dauern, bis Makoto ebenfalls einen Teil davon abbekam. Es war eines der Dinge, die Makoto an dem Halbkoreaner nicht leiden konnte, und die Liste war lang.

 

Komm schon. Mach endlich.

 

Nicht, dass Makoto es nicht gewohnt war zu warten. Im Gegenteil. Shisu hatte die Angewohnheit, sich bei seinen Geschäften Zeit zu lassen. Viel Zeit. Manchmal die ganze Nacht lang. Und er vertraute darauf, dass Makoto dann, wenn er betrunken, mit offenem Hemdkragen und ohne auch nur eine einzige Münze in der Tasche wieder auftauchte, da war, um ihn hinzubringen, wo auch immer er hinwollte. Manchmal kam sich Makoto weniger wie ein Fahrer, sondern mehr wie ein Babysitter vor. Aber Shisu hatte einen Vorteil, den er nicht hatte. Er hatte einen Stein beim Boss im Brett und niemand, nicht einmal die Ito-Brüder, wagten es, ihm dumm zu kommen. Denn wenn Shisu wollte, konnte er zubeißen. Wie eine Schlange. Genauso unerwartet und ebenso tödlich. Makoto hatte schon einige, die das nicht ernst genug genommen hatten, verschwinden und nie wieder auftauchen sehen. Jetzt jedoch hätte er es wirklich begrüßt, wenn Shisu …

 

Ah. Endlich.

 

Schon von Weitem konnte Makoto die affektierte Gestalt in dem weißen Anzug die Treppen hinunterkommen sehen. Shisu hatte es, wie immer, nicht besonders eilig. In der einen Hand trug er eine große, ausgebeulte Tasche. Sie erinnerte Makoto an einen dieser Arztkoffer, die man oben auseinanderklappte, um den Inhalt freizulegen. Mit der anderen hielt er sich das Handy ans Ohr. Er telefonierte.
 

„Ja. Ja, natürlich. Ja, ich weiß. Ja. Ja, ich dich auch. Bis dann.“

 

Als Shisu auflegte, wirkte er fahrig. Schweiß stand auf seiner Stirn. Er zog das Einstecktuch heraus, um ihn abzutupfen. Aus seinem Mund kam ein weinerliches Greinen.
 

„Makoto, du musst mir helfen.“

 

Makotos Hand glitt zum Wagengriff.
 

„Wo soll es hingehen?“

 

Immerhin befanden sie sich hier in einem der belebtesten Viertel der Stadt, mitten auf einem großen Platz mit Flaggen und Springbrunnen und allem. Inmitten dieses Szenarios würde Shisu ihn wohl kaum anweisen, das Ding aus seinem Kofferraum zu holen, um es irgendwo abzuliefern. So langsam wurde es jedoch Zeit dafür, wenn sie nicht riskieren wollten, dass ihr Fang doch noch zu den Ahnen ging.

 

Shisu murmelte vor sich hin. Makoto konnte nicht verstehen, was er sagte, aber das war auch nicht seine Aufgabe. Seine Aufgabe war zu tun, was immer Shisu von ihm verlangte. Meist war das kein Problem, doch als sich Shisus stechender Blick jetzt auf ihn legte, wollte irgendetwas in Makoto zurückweichen.

 

„Ich hab’s“, sagte Shisu und das Grinsen, dass er dabei im Gesicht hatte, hätte kleine Kinder zum Weinen gebracht.
 

Du wirst dich um den kleinen Pisser kümmern.“

 

Makoto musste nicht fragen, wer damit gemeint war.
 

„Aber Shi …“

 

„Ah-ah-ah-ah“, wiegelte Shisu ihn ab und wedelte mit der Hand vor Makotos Gesicht herum.

 

„Keine Widerrede. Der Boss will, dass wir uns um die kleine Blume kümmern. Aber ich kann nicht. Ich habe eine wichtige Verabredung. Doch du, Makoto. Du hast Zeit.“

 

Es war keine Frage. Mehr eine Feststellung. Eine Feststellung, die Makoto nicht gefiel, auch wenn sie den Tatsachen entsprach. Da war niemand, der auf ihn wartete. Nur ein einzelnes leeres Zimmer und eine Flasche Shōchū mit seinem Namen darauf.

 

„Was willst du?“

 

Er wusste, dass er so eigentlich nicht mit Shisu sprechen konnte. Seine Position erlaubte es ihm nicht. Der andere schien jedoch so abgelenkt von der diebischen Freude über seine eigene Idee, dass ihm die Respektlosigkeit offenbar entging. Shisu brabbelte vor sich hin.
 

„Aber wo … wo … wo könntest du … ? Ah, ich hab’s. Warte, ich werde es dir aufschreiben.“

 

Shisu kramte einen Zettel hervor, fand einen Stift in der Innentasche seine Sakkos und kritzelte einige Zahlen und Buchstaben auf den Fetzen Papier. Mit einem triumphierenden Funkeln reichte er ihn Makoto.

 

„Hier. Das ist die Adresse einer Hütte, die ich … gelegentlich nutze. Für Ausflüge, wenn du verstehst, was ich meine. Man ist dort vollkommen ungestört. Niemand kann euch hören.“

 

Makoto sah zunächst den Zettel an, dann Shisu, dann wieder den Zettel. Der Name des Ortes sagte ihm nichts, ebenso wenig wie die Andeutungen, die Shisu da machte. Was sollte das heißen 'ungestört'? Sollte er etwa …?

 

„Ich soll mit ihm dorthin fahren?“

 

Allein die Idee erschien Makoto vollkommen absurd.

 

„Und dann?“

 

„Dann wirst du dich um ihn kümmern“, erwiderte Shisu begeistert. „Hier, nimm das. Da sind seine Sachen drin. Alles, was du brauchst, um den Kleinen zu beschäftigen.“
 

Immer noch lächelnd drückte Shisu ihm die Tasche gegen die Brust und Makoto schloss die Arme darum, bevor sie zu Boden fallen konnte. Im Inneren der Tasche schepperte es.
 

„Aber ich …“

 

„Na los, geh schon“, unterbrach Shisu ihn. „Du willst dem kleinen Streuner doch nicht zumuten, noch länger da hinten rumzuliegen. Außerdem pinkelt er dir, wenn du Pech hast, sonst noch den Kofferraum voll. Also los, hopp. Mach dich auf.“

 

Makoto wusste immer noch nicht, wie ihm geschah. Shisu hatte die Hand auf seinen Rücken gelegt und schob ihn mitsamt der Tasche in Richtung Wagen. Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte ihm die Tür geöffnet. Dabei redete er ununterbrochen auf Makoto ein.
 

„Und vergiss nicht, ihn zweimal am Tag zu füttern. Wenn er Medizin braucht oder du einkaufen gehst, nimm die Kreditkarte. Kodama-sama ist wirklich außerordentlich daran interessiert, seinen kleinen Lieblings bald wieder gesund und munter wiederzusehen. Also sieh zu, dass er ordentlich isst und zu Kräften kommt. Spiel ein bisschen mit ihm. Du weißt schon. Aber nimm ihn nicht zu hart ran. Nicht, dass mir Klagen kommen. In einer Woche hole ich euch wieder ab.“

 

Makotos linke Augenbraue zuckte. Er war sich sicher, dass irgendwo in Shisus Gestammel ein ganz gewaltiger Denkfehler lag, aber er kam nicht dazu, den anderen darauf hinzuweisen. Der hatte nämlich inzwischen beschlossen, die Beine in die Hand zu nehmen und sich, so schnell er konnte, von Makoto, dem Wagen und der eigenartigen Tasche wegzubewegen. Ach und natürlich von dem dreckigen Bündel Mensch, das da immer noch im Kofferraum lag. Shisu winkte Makoto noch einmal zu und Makoto winkte nicht zurück. Er sah hinab auf den Zettel in seiner Hand. Das würde eine lange Fahrt werden. Eine sehr, sehr lange Fahrt.

 

Die Hütte lag am Rand eines kleinen Waldstücks inmitten einer idyllischen Berglandschaft. Intensives Grün wechselte zu felsgespicktem Braun, als die Reifen des Wagens knirschend auf dem kleinen Vorplatz zum Stehen kamen. Wobei klein relativ war. Auf der von Sand und Steinen bedeckten Fläche, hätten mindestens drei Busse parken und ein weiterer wenden können. Baumstämme lagen aufgestapelt am Rand der Freifläche. Möglicherweise ein Bauplatz für eine weitere Hütte. Oder ein Schwimmbad. Obwohl sich Makoto nicht vorstellen konnte, wer so weit hätte rausfahren sollen, nur um schwimmen zu gehen.

 

Verdammter Shisu.

 

Makoto ließ den Kopf von rechts nach links kreisen. In seinem Nacken knackte es. Die mehr als drei Stunden Fahrt hatten ihre Spuren hinterlassen. Angehalten hatte er nur einmal kurz vor dem Ziel, um Vorräte einzukaufen. Wasser, Instantnudeln und – nach einigem Zögern – auch eine Tüte Fruchtbonbons lagen jetzt auf dem Rücksitz. Im Fußraum neben ihm noch ein Sixpack. Makoto konnte die Wassertropfen sehen, die sich auf den gekühlten Dosen gebildet hatten. Unbewusst leckte er sich über die Lippen. Seine Kehle war ausgedörrt und in seiner Vorstellung er bereits das Prickeln der herben Flüssigkeit daran hinabrinnen spüren. Wie gerne hätte er sich jetzt mit einem Bier in die Wanne gelegt, die Augen geschlossen, halb dösend den Nachrichten im Fernsehen lauschend, bis das Wasser zu kalt war, um noch weiter darin auszuharren.

 

Später, nahm er sich vor. Zuerst musste er sich noch um seinen „Gast“ kümmern.

 

Makoto stieg aus, streckte sich und atmete tief ein. Die Sonne brannte vom Himmel, die Luft schwanger mit den verschiedensten Aromen. Sand, Gras, feuchte Erde und Blauregen. Ein Baum mit violetten Blütenständen nahe des Hauses. Seine Zweige wehten im Wind.

 

Makoto erstarrte. Schweiß trat auf seine Stirn und sein Atem stockte, während die Bilder auf ihn einstürmten. Er lief einen Gang entlang, öffnete eine Tür. Eine Frau mit langen, dunklen Haaren halb von ihrem Futon gerutscht. Auf dem Boden schaumiges Erbrochenes, in ihrer Hand ein welker Blütenzweig. Eine Fliege krabbelte über ihr Gesicht und in der Luft lag ein erstickend süßer Geruch. Wie Gift. Makoto fühlte noch einmal den Schwindel von damals in sich aufsteigen. Den Drang, sich zu übergeben, obwohl sein Magen leer war. Der Anblick seiner toten Mutter, die er nicht gewagt hatte zu berühren.

 

„Zwei Mäuler weniger zu stopfen“, hatte sein Vater gesagt, als sie sie und das Kind unter ihrem Herzen auf dem Platz gleich neben seiner kleinen Schwester begraben hatten. Fünf Jahre später hatte Makoto allein vor dem flachen Stein gestanden. Ein anderes Gift, ein anderer Tod. Das Ganze lag mittlerweile fast zwei Jahrzehnte zurück und trotzdem ließ ihn diese Erinnerung immer noch nicht los.
 

Schluss jetzt. Es ist nicht die Zeit dafür.

 

Makoto schüttelte den Kopf. Er brauchte wirklich dringend etwas zu trinken. Je hochprozentiger, desto besser. Zuerst einmal musste er jedoch das Ding in seinem Kofferraum versorgen.
 

Entschlossen ging Makoto um den Wagen herum und öffnete die schwarzglänzende Haube. Eine Wolke sehr menschlichen Geruchs stieg auf und vertrieb für einen Moment die saubere Bergluft. Makoto verzog das Gesicht. Dieser Bursche stank wirklich zum Steinerweichen.

 

Vielleicht hätte ich ihm einen Duftbaum umhängen sollen.

 

Makoto hob die Oberlippe zu einem freudlosen Lächeln, bevor er die Hand nach dem geschundenen Körper ausstreckte. Routiniert fanden seine Finger einen schwachen Puls. Ein wenig zu flache, aber gleichmäßige Atemzüge ließen darauf schließen, dass der Bursche schlief. Oder vor Erschöpfung ohnmächtig geworden war.
 

Gut. Dann macht er wenigstens keinen Unsinn.

 

Ohne den Kofferraum wieder zu schließen, ging Makoto zurück nach vorn. Die Schlüssel zum Haus lag noch unter dem Armaturenbrett und das Bier …

 

Ein dumpfes Poltern ließ ihn auffahren. Es wurde gefolgt von einem Zischen und dem Geräusch von Schritten, die sich schnell entfernten.
 

„Was zum …?“

 

Er haut ab!

 

Makoto überlegte nicht lange. Eilig ließ er alles fallen, was er gerade noch aus dem Fußraum geklaubt hatte, und hetzte hinter dem Flüchtigen her. Der Junge strauchelte und taumelte. Seine nackten Füße im Kampf mit dem steinigen Untergrund. Trotzdem war er flinker, als Makoto ihm zugetraut hätte. Viel fehlte nicht, und er hätte den Waldrand erreicht. Oder die Straße. Es gab nur eine Lösung.
 

„Hab ich dich.“

 

Makoto sprang und riss seine Beute im Fallen zu Boden. Mit einem Schmerzenslaut landete der Flüchtige unter ihm. Sein Kinn küsste den Asphalt. Er schrie, versuchte herumzurollen. Trat um sich, spuckte und fauchte. Makoto fletschte grollend die Zähne.

 

„Halt still!“, knurrte er, während er versuchte, den sich Windenden unter Kontrolle zu kriegen. Die Steine, die wild umherspritzten, mussten den Untergrund in ein Nagelbett verwandeln, aber Makoto kümmerte sich nicht darum. Er schnappte sich den Arm des Jungen, riss ihn herum und fixierte ihn, während er den Rest seines Körpers mit seinem vollen Gewicht nach unten presste. Doch der Junge gab nicht auf. Er kämpfte und tobte. Versuchte sich zu befreien.

 

„Halt endlich still oder ich brech dir den Arm!“

 

Die Drohung wirkte. Die Bewegungen des Jungen erlahmten. Geschlagen ließ er den Kopf sinken. Sein Atem ging stoßweise. Er wirbelte kleine Staubfahnen auf und atmete sie keuchend wieder ein. Auch Makoto rang nach Luft. Das hier war anstrengender, als er erwartet hatte. Verärgert drückte er noch einmal zu.
 

„Was sollte das werden?“, schnauzte er. „Wolltest du fliehen? Hier? Mitten im Nirgendwo?“
 

Der Junge antwortete nicht. Makoto konnte seine Lippen zucken sehen. Das Zittern seines Kiefers. Er musste Schmerzen haben. Bekam keine Luft. Makoto wog immerhin an die 180 Pfund, während der Bursche unter ihm wahrscheinlich gerade mal die Hälfte auf die Waage brachte. Wenn er sich Mühe gegeben hätte, hätte Makoto wohl seine Rippen zählen können. Das Handgelenk in seinen Fingern wie die Zweige einer jungen Weide. Makoto widerstand dem Drang, noch einmal daran zu reißen. Immerhin hatte er die Aufgabe bekommen, den Burschen zusammenzuflicken, nicht, ihn endgültig zu erledigen. Das wiederum hätte ihn wohl kaum mehr Kraft als das Öffnen einer Bierdose gekostet. Der Knabe war so schmal. So fragil.
 

Lass dich nicht täuschen. Das Früchtchen hat es faustdick hinter den Ohren.

 

Die Erkenntnis kam so plötzlich, dass Makoto beinahe gelacht hätte. Kein Wunder, dass Shisu ihm den Kleinen überlassen hatte. Der Bursche bedeutete Ärger.
 

„Na schön“, knurrte Makoto und fasste noch einmal nach. „Wir werden jetzt reingehen und du wirst keine Mätzchen machen. Verstanden?“

 

Als er keine Antwort bekam, drückte er den Arm des Jungen etwas weiter nach oben. Ein gequälter Laut drang an sein Ohr.
 

„Ich fragte, ob du verstanden hast.“

 

Immer noch keine Reaktion. Dann endlich ein schwaches Nicken. Es ließ die Haare des Jungen zur Seite rutschen und entblößte ein schmales, schwarzes Halsband. Es war neben den ebenfalls schwarzen, enganliegenden Shorts das Einzige, was er am Leib trug.
 

„Na bitte. Geht doch“, grollte Makoto, lehnte sich zurück, kam auf die Füße und zog seine lädierte Fracht ohne große Mühe mit sich nach oben.
 

„Los“, kommandierte er noch und schob den Jungen nach vorn Richtung Haus, ohne seinen Griff zu lockern. Der Bursche stolperte und taumelte. Brach ein paar Mal fast in die Knie. Er wimmerte und zischte. Zog den Fuß nach und schien große Schmerzen zu haben. Makoto schnaubte unwillig.
 

„Was denn?“, wollte er wissen. „Gerade noch bist du hier herumgesprungen wie ein junges Reh und jetzt kannst du auf einmal nicht mehr laufen?“

 

Vielleicht hat er sich verletzt.

 

Die Möglichkeit bestand und wenn Makoto ihn jetzt noch weiter trieb …

 

Mit einem Seufzen blieb er stehen. Dieser Auftrag wurde mit jedem Moment mühsamer.

 

„Na schön. Lass mal sehen.“

 

Makoto wollte sich herunterbeugen – den Schaden begutachten, den er und die Steine an den zarten Füßen des Kleinen angerichtet hatten – doch er kam nicht mehr dazu. In dem Moment, in dem er seinen Griff lockerte, fuhr der Junge auch schon zu ihm herum. Sein Knie raste auf Makotos Kopf zu und seine Fingernägel bohrten sich schmerzhaft in dessen Nacken. Instinktiv wich Makoto zurück und schrie im nächsten Moment auf, als ihm die Wildkatze mit den Klauen mitten durch das Gesicht fuhr. Ohne zu überlegen schlug Makoto zu. Seine Faust traf die Brust des Jungen, der aufschrie und rückwärts taumelte. Sofort setzte Makoto ihm nach, wischte seine Beine mit dem Fuß weg und brachte ihn zu Fall. Im nächsten Moment war er über ihm.
 

„Halt still!“, fauchte er und versuchte, das zappelnde Bündel irgendwie zu fassen zu kriegen. Nur eine Sekunde später brüllte er vor Schmerz, als ihm der Junge in die Hand biss. Mit aller Kraft riss er das malträtierte Körperteil zurück und versetzte dem Jungen so eine Ohrfeige, dass sein Kopf zur Seite flog. Bevor er sich noch berappelt hatte, hatte Makoto ihn erneut bäuchlings festgesetzt, das Knie auf seinem Steiß, die Arme auf dem Rücken verschränkt. Die Kopfwunde des Jungen hatte erneut angefangen zu bluten. Die Luft um sie herum flimmerte vor Staub.

 

„Du verdammtes Aas!“

 

Etwas Besseres fiel Makoto gerade nicht ein. Wütend betrachtete er die roten Bissspuren auf seiner Hand. Seine Rippen schmerzten dort, wo ihn der fehlgegangene Tritt getroffen hatte. Das alles musste jedoch nichts im Vergleich zu den Schmerzen sein, die der Junge gerade hatte. Makoto fluchte innerlich.
 

Ich muss ihn unter Kontrolle bekommen.

 

„Halt still“, knurrte er, hielt die Arme des Jungen mit einer Hand und begann, das Halsband zu lösen. Sofort kam Leben in den Jungen. Er versuchte, von Makoto wegzukommen, drehte den Kopf, heulte und jaulte.

 

„Halt still“, wiederholte Makoto jedoch nur. Er hatte die Schnalle geöffnet und zog das schmale Lederband unter dem Jungen hervor. Die Zähne aufeinandergepresst wickelte er es um die schmalen Unterarme und zog sie derart zusammen, dass ihr Besitzer sich nicht mehr rühren konnte. Da das Band an der fraglichen Stelle kein Loch hatte, bohrte Makoto kurzerhand eines. Danach richtete er sich auf. Sein Blick fiel auf seine linke Hand, an der deutlich die Zahnabdrücke des Jungen zu sehen waren. Er hatte die Haut nicht geritzt, aber viel hätte nicht gefehlt.

 

„Dir werd ich helfen,“ brummte Makoto und machte sich daran, seine Schuhbänder zu lösen. Nochmal würde dieses Biest ihn nicht beißen. Dafür würde er sorgen.

„Schau mich nicht so an“, brummte Makoto an das zusammengeschnürte Bündel auf dem Fußboden gerichtet. „Das hier hast du dir selbst zuzuschreiben. Wenn du nicht versucht hättest zu fliehen …“
 

Während er das sagte, prüfte er mit der Hand die Wassertemperatur der Brause. Die Bissspuren auf ihrem Rücken waren inzwischen ein wenig verblasst, aber immer noch deutlich sichtbar. Nicht umsonst steckte daher jetzt einer seiner Strümpfe im Mund des Gefangenen, während er den anderen dazu benutzt hatte, den behelfsmäßigen Knebel an dessen Hinterkopf festzubinden. Dass er auch noch dessen Füße hatte fesseln müssen, lag daran, dass der Bursche beim Versuch, ihn ins Badezimmer zu bugsieren, eine Vase heruntergetreten hatte. Um diese war es, soweit Makoto das beurteilen konnte, zwar nicht schade, aber er selbst hatte nicht vor, sich einen erneuten Tritt einzufangen oder auch noch den Spiegel ersetzen zu müssen, der an der Wand des kleinen Raumes hing. Also hatte Makoto auch noch seine Schuhbänder geopfert, um seinen „Gast“ am Weglaufen zu hindern. Eine Ladung Scherben reichte für heute.
 

„So“, sagte Makoto und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Seine Gestalt verdunkelte Teile der Deckenbeleuchtung und warf einen Schatten auf den Gefangenen.

 

„Wir werden dich jetzt säubern. Du stinkst und deine Wunden müssen versorgt werden. Das heißt, dass du dich jetzt entweder benimmst, dann sollten wir schnell damit durch sein. Oder aber du entschließt dich, wieder Ärger zu machen. In dem Fall wird das hier keine besonders angenehme Angelegenheit. Also, was wählst du? Die Entscheidung liegt bei dir.“
 

Einen Augenblick lang wartete Makoto ab. Es erfolgte … keine Reaktion. Der Junge lag einfach nur da, die Augen auf die kleinflächigen, weißen Fließen gerichtet. Eigentlich hatte Makoto erwartet, dass er sich wehren würde. Ihn aus wütenden Augen anfunkeln oder ihn anknurren. Aber nichts. Sein Blick war wie tot und er gab keinen Laut von sich. Als wäre er eine Puppe.
 

Makoto schnaubte. Auf diesen Trick war er schon einmal hereingefallen. Dieses Mal würde er sich nicht so leicht übertölpeln lassen. Mit einer entschlossenen Geste griff er in seine Tasche.
 

„Gut, dann eben so“, sagte er und ließ das Messer aufschnappen. Im gleichen Moment kam Bewegung in den Gefangenen. Sein Kopf ruckte herum, sein Blick fixierte die glänzende Klinge. Makoto hörte ihn heftig atmen, das Scharren der gebundenen Füße, die versuchten, sich weiter von Makoto wegzuschieben. Aber da war kein Raum. Keine Fluchtmöglichkeit. Er lag bereits mit dem Rücken zur Wand. Es gab kein Entkommen.
 

„Halt still“, sagte Makoto nur und beugte sich zu dem Gefangenen hinunter. Der wimmerte, drehte sich weg, riss an den Fesseln. Versuchte trotz der Ausweglosigkeit, Makotos Griff zu entgehen. Makoto knurrte.
 

„Wenn du zappelst, werde ich dich schneiden.“
 

Diese Ansage wirkte. Sofort verharrte der Gefangene regungslos, nur sein Brustkorb hob und senkte sich noch unter seinen panischen Atemzügen. Ein leichtes Zittern lief durch die angespannten Muskeln, so sehr verkrampfte er sich. Aber er lag ruhig und das war die Hauptsache.
 

„Ist gleich vorbei“, murmelte Makoto, mehr um sich selbst zu beruhigen. Das Messer bewegte sich abwärts und näherte sich dem letzten Kleidungsstück, das der Junge noch am Leib trug. Der schwarze Fetzen stank mehr als alles andere. Makoto schob seine Finger unter das Bündchen, hob es an und durchtrennte einem schnellen Schnitt den dünnen Stoff. Die Aktion legte mehr der hellen Haut frei. Neue Rundungen. Makoto schnaufte.
 

„Umdrehen“, kommandierte er und half im gleichen Moment mit der Hand nach. Der Gefangene rollte herum, lag jetzt mit dem Rücken zu ihm. Makoto beachtete ihn nicht. Mit einem weiteren Reißen durchtrennte er auch die zweite Seitennaht der verdreckten Unterwäsche. Danach zog er das Stoffstück kurzerhand zwischen den Beinen des Jungen hervor und warf es in eine Ecke.
 

So. Das wäre geschafft.
 

Makoto klappte das Messer ein und verstaute es wieder in seiner Hosentasche. Danach griff er erneut nach der Brause und zog den kleinen Schemel heran, der dem zu Waschenden als Sitzplatz dienen sollte. Der Junge reagierte nicht. Regungslos lag er vor der Badewanne am Boden und starrte die Wand an. Makoto grollte.
 

„Na los. Hoch mit dir!“
 

Es passierte nichts. Makotos Finger schlossen sich fester um die Halterung der Dusche. Wenn dieser Bursche so weitermachte, würde Makoto ihn bald draußen im Garten anbinden und abspritzen wie einen Hund. Da er allerdings bezweifelte, dass ihn das Ergebnis dieser Behandlung zufriedenstellen würde …
 

„Ich sagte, du sollst aufstehen. Wird’s bald?“
 

Mit ein wenig mehr Schwung, als notwendig gewesen wäre, versetzte er dem Jungen einen Stoß mit dem Fuß. Der zuckte zusammen und versuchte, sich noch kleiner zu machen. Er zog die Beine an und vergrub das Gesicht zwischen den Knien. Das wiederum führte dazu, dass er Makoto seinen Hintern entgegenstreckte. Und zwischen seinen Beinen … Makotos Augen wurden schmal.
 

„Zeig mir das!“, herrschte er den Jungen an, packte ihn, drehte ihn herum und zwang seine Knie auseinander. Im nächsten Moment prallte er zurück.
 

„Was zum…?“ machte Makoto und starrte auf das kleine Plastikteil im Schritt des Jungen. Ein rosafarbener Ring umschloss seine Hoden, während eine Art Schale sein Glied im Zaum hielt. Es sah aus wie ein kleiner Käfig, an der Oberseite mit einem Schloss gesichert. Makoto war klar, was das bedeutete. Trotzdem ließ er seinen Blick hoch zum Gesicht des Jungen wandern. Er runzelte die Stirn.
 

„Ich … nehme nicht an, dass du den Schlüssel dafür hast?“
 

Der Junge starrte ihn an. Halb auf dem Rücken liegend, die Beine immer noch auf obszöne Weise gespreizt, lag er da. Vollkommen nackt, bis auf den Käfig. In seinen Augen ein wilder Mix aus Zorn, Angst und Scham. Seine Nasenflügel bebten.
 

„Und?“, wiederholte Makoto, ohne sich um die Absurdität des Ganzen zu kümmern. „Hast du den ihn?“
 

Er erhielt keine Antwort. Was hätte der Junge auch sagen sollen? Es war offensichtlich, dass er nichts weiter bei sich trug. Keinen Schlüssel, kein Geld, keine Papiere. Alles, was er besaß, befand sich in der Tasche, die Shisu ihm mitgegeben hatte. Für einen Moment zog Makoto in Erwägung, dort nach dem Schlüssel zu suchen, aber dann verwarf er den Gedanken wieder. Er wusste, dass er ihn dort nicht finden würde. Wer auch immer den Käfig angebracht hatte, wollte verhindern, dass der Junge oder sonst jemand ihn öffnete. Es war ein Zeichen seiner Macht, seiner Dominanz. Etwas, das nur ihm allein gehörte und das er mit niemandem teilen würde.

 

Und ich habe nicht vor, es ihm streitig zu machen.
 

Erneut sah Makoto dem Jungen ins Gesicht. Auf dessen Wangen hatte sich ein leichter Rotschimmer gebildet. Ein zartes Rosé, das ihn ein wenig lebendiger wirken ließ. Nicht viel, aber es half.
 

Makoto atmete tief durch.
 

„Hast du … Schmerzen?“
 

Er wusste, dass die Frage dumm war. Natürlich hatte der Junge Schmerzen. Immerhin war sein gesamter Körper von blauen Flecken, Kratzern und Schürfwunden bedeckt. Makoto war sich jedoch recht sicher, dass er verstand, das Makoto wissen wollte, ob ihm dort etwas wehtat. Wenigstens dachte er das, bis der Junge wortlos den Kopf abwandte. Makoto presste die Kiefer aufeinander.

 

„Wenn es dir wehtut, kann ich es entfernen.“

 

Mit welchem Werkzeug auch immer. Er konnte schließlich an dieser Stelle schlecht mit einer Zange oder einem Bolzenschneider zu Werke gehen. Ja selbst eine Schere …

 

Ein Kopfschütteln unterbrach seine Überlegungen. Makoto atmete innerlich auf. Eine Verletzung dort unten hätte jede Menge Scherereien bedeuten können. Er hätte Shisu anrufen müssen, einen Arzt konsultieren … Im Grunde war es ihm also ganz recht, dass der Junge das Ding behalten wollte. Aus welchen Gründen auch immer.

 

Vielleicht hat er Angst vor seinem Herren.

 

Der Gedanke kam und ging wieder, bevor Makoto ihn richtig fassen konnte. Im Grunde konnte ihm auch egal sein, warum der Junge den Käfig weiter tragen wollte. Er würde sich nur darum kümmern müssen, dass er trotz allem sauber wurde. Entschlossen fasste Makoto die Brause fester.
 

„Na schön, dann … setz dich auf den Stuhl. Ich werde dir helfen.“
 

In diesem Moment blickte der Junge auf. Seine hellen, fast schon bernsteinfarbenen Augen musterten Makoto derart intensiv, das ihm für einen Moment der Atem stockte. Es war, als streckten sich unsichtbare Fühler nach ihm aus. Tasteten ihn ab. Prüften ihn. Makoto hielt ganz still, wagte nicht zu blinzeln.
 

Dann, im nächsten Augenblick, war es vorbei. Der Junge senkte den Kopf, zog schamvoll die Beine an, rollte sich in sich zusammen. Ein Anblick, der Makoto seltsam berührte. Er wusste nur nicht, warum.
 

Egal. Reiß dich zusammen. Du hast eine Aufgabe.
 

„Komm jetzt“, sagte Makoto noch einmal und griff nach dem Arm des Jungen. „Wir müssen dich waschen.“
 

Widerstandslos ließ der Junge sich von Makoto hochziehen und auf den Stuhl setzen. Er zuckte erst, als Makoto das Wasser anschaltete. Für einen Moment sah es aus, als wolle er sich losreißen und die Flucht ergreifen. Wie von selbst gab Makoto ein beruhigendes Geräusch von sich, während er seinen Griff verstärkte.
 

„Keine Angst“, sagte er und näherte sich mit der Brause. „Das ist nur Wasser.“

Wasser. Makoto spürte, wie es warm über seine Finger lief. Wie es streichelte. Beruhigte. Ihn hielt und auffing. Ein Moment der Schwerelosigkeit. Des völligen Losgelöstseins. Wenn die Geräusche der Welt dumpf wurden und er allein war mit sich und seinem Atem. Seinem Herzschlag. Wenn alles zerfloss und nur noch Stille zurückblieb. Stille und Wasser.

 

„Er wird später sicher mal Bademeister“, hatte seine Mutter oft gescherzt, wenn sie ihn mal wieder nur unter maximalem Protest aus dem nahen Sentō bekommen hatte. Wenn es nach Makoto gegangen wäre, hätten sie den ganzen Tag im Badehaus zubringen können. Nur er und seine Mutter. Sie war dort immer so fröhlich gewesen. So entspannt. Weit weg von den Sorgen des Alltags. Der Frage, wie sie es schaffen sollte, genug Essen für alle auf den Tisch zu bringen. Mit der Geburt der Schwester war es anders geworden. Sie hatte sich eine Arbeit gesucht. In einer Wäscherei. Makoto hatte noch den Geruch der heißen Baumwolle in der Nase. Den Klang der Maschinen in seinem Ohr. Das Zischen und Klappern. Die unendlichen Reihen gewaschener Textilien, fein säuberlich aufgereiht wie in einem Kaufhaus. Er hatte diesen Anblick immer geliebt. War stundenlang zwischen Laken und frisch gebügelter Bettwäsche herumgelaufen wie in einem Wald voller weißer, weicher Bäume. Doch dann war die Schwester krank geworden, die Mutter hatte die Arbeit verloren. Sie hatte sich um ihr Kind kümmern müssen. Kein Geld für den Arzt gehabt. Irgendwann war die Schwester gestorben und ein Teil von Makotos Mutter war mit ihr fortgegangen.

 

„Hoffentlich wird er mal etwas Anständiges“, hatte sie von dem Tag an gesagt und Makoto hatte gewusst, was sie damit gemeint hatte. Er sollte sich eine Arbeit suchen, bei der man viel Geld verdiente. Genug, um zu essen. Genug, um zum Arzt zu gehen. Genug, damit sie nie wieder so leiden musste.

 

Und jetzt sieh, was aus mir geworden ist, dachte Makoto bei sich und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Bündel Mensch, das dort vor ihm auf dem Hocker saß. Gefesselt und blau geprügelt. Verletzt. Sein Leben in Makotos Hand.

 

Das ist sicher nicht das, was deine Mutter gewollt hätte.

 

Aber es half nichts. Das Leben verlief nicht immer in geraden Bahnen und Makoto musste froh sein über das, was er hatte.
 

„Sch“, machte er noch einmal, als der erste Wasserstrahl die Haut des Gefangenen berührte und der zusammenzuckte, als hätte Makoto ihn geschlagen. „Es ist nur Wasser.“

 

Wie, um ihn zu beruhigen, trat Makoto näher. Seine Hand fiel auf die schmale Schulter, während das Wasser in langen Kaskaden über den restlichen Körper hinwegströmte. Den Dreck fortwusch. Und die Erinnerungen.
 

„Ich werde mich zuerst m deinen Kopf kümmern.“
 

Er wusste nicht, warum er das ankündigte. Vielleicht, damit der Junge nicht wieder erschreckte. Damit er stillhielt, während Makoto anfing, das Blut aus seinen Haaren zu waschen. Wie fein und seidig es sich anfühlte, bevor das Wasser es benetzte. Makoto bemühte sich, die verklebten Brocken zunächst aufzuweichen und dann erst herauszuziehen, aber es war mühselig und er spürte, wie der Junge ein ums andere Mal zusammenzuckte.
 

„Ist gleich vorbei“, murmelte Makoto und hoffte, dass die Wunde nicht erneut anfing zu bluten. Er wusste natürlich, dass Treffer am Kopf oft schlimmer aussahen, als sie in Wirklichkeit waren. Als es ihn mal an der Augenbraue erwischt hatte, hatte er ausgesehen wie aus einem Horrorfilm. Am Ende hatten ein paar Stiche gereicht, um die Wunde zu schließen. Zurückgeblieben war nur eine kleine Narbe. Ein feiner, heller Strich, der die dunkle Haarlinie seiner linken Braue unterbrach. Nichts, was ihn entstellte. Nur ein Andenken an eine unangenehme Begegnung. Dem Jungen würde es ebenso ergehen und irgendwann würde er vergessen.

 

„So, geschafft“, verkündete Makoto. Er hatte nicht alles Blut entfernen können, ohne zu nahe an die eigentlich Verletzung heranzukommen. Trotzdem konnte er jetzt erkennen, dass die Wunde zwar lang, aber weder besonders breit noch besonders tief war. Der Himmel wusste, woher sie stammte und warum sie so stark geblutet hatte.

 

Vielleicht waren das die drei Bozos.

 

Mit einem Griff unterbrach Makoto den Wasserstrahl und legte die Brause zur Seite. Danach langte er nach einem der Spender, die auf dem Regal an der Wand standen. Die Flasche mit dem schwarzen Etikett versprach eine herbe Duftnote. Makoto gab etwas davon auf seine Hand, bevor er sich wieder dem Gefangenen zuwendete. Der saß immer noch auf dem kleinen, weißen Hocker wie eine Statue. Makoto atmete tief ein.
 

Also dann.

 

Er verrieb das nach Sandelhoz und Zeder duftende Gel zunächst zwischen seinen Fingern, bevor er mit beiden Händen gleichzeitig erneut nach den Schultern des Jungen griff. Wieder lief ein fast unmerkliches Schauern durch den gefesselten Körper. Makoto versuchte es zu ignorieren, aber er schaffte es nicht.
 

„Keine Angst. Ich will dich nur waschen.“

 

Als wenn es das besser machen würde. Er wusste, dass das hier nicht normal war. Nichts, was er sagen würde, konnte es dazu machen. Und doch wollte er es versuchen. Er wusste nur nicht warum.

 

„Ist gleich vorbei.“

 

Nicht, dass das stimmte. Im Gegenteil. Die Fesseln, die Kopfwunde, das Ding zwischen seinen Beinen. All das würde die Prozedur nur komplizieren. Und doch gab Makoto diesen Nonsens von sich. Er schüttelte über sich selbst den Kopf.
 

„Halt einfach still.“
 

Während er das sagte und begann, seine Hände zu bewegen, fragte er sich unwillkürlich, wie oft der Junge diesen Satz wohl schon zu hören bekommen hatte.

 

'Halt einfach still.'

'Es ist gleich vorbei.'

'Du willst es doch auch.'

 

Makotos Bewegungen wurden langsamer, als ihm klar wurde, was er gerade gedacht hatte. Er wusste, dass er keine Alternative hatte. Er hatte die Aufgabe, sich um den Jungen zu kümmern, und ihn in dem Zustand zu belassen, in dem er hergekommen war, war keine Option. Aber machte es das in irgendeiner Weise besser?

 

'Ich tue das hier nur für dich.'

 

Er hätte es sagen können, aber es wäre ebenso eine Lüge gewesen wie jedes Mal, wenn sein Vater den Gürtel abgenommen hatte. Makoto wollte nicht lügen.

 

Dann sag eben gar nichts, herrschte er sich selbst an und fuhr damit fort, den Jungen einzuseifen. Seine Hände glitten über den schmalen Körper, über seine Schultern, seine Arme, die Brust und tiefer. Er fühlte die Bauchdecke unter seinen Berührungen zittern. Die Anspannung darunter in Erwartung von etwas, das Makoto nicht vorhatte zu tun. Ob er das dem Jungen sagen sollte?

 

Quatsch! Er wird es schon merken.

 

Makoto zog seine Hände zurück. Verteilte erneut Seife darauf und rieb sie dem Jungen unter die Achseln. Die Fesseln ließ er, wo sie waren. Er konnte nicht riskieren, dass er sich befreite. Aber er musste sauber werden. Überall. Wieder richtete Makoto sich auf.

 

„Dreh dich herum.“

 

Der Junge reagierte nicht. Makoto wusste, dass er ihn gehört haben musste. Sie waren schließlich allein, das Bad war nicht groß. Gerade so, dass Makoto sich ungehindert darin bewegen konnte. Es wäre also möglich gewesen, dass er einfach um den Jungen herumging. Aber er wollte nicht. Der Bursche sollte sich gefälligst umdrehen.
 

„Hey! Hast du nicht gehört? Dreh dich um!“

 

Dieses Mal erhielt Makoto eine Reaktion. Der Junge hob den Kopf. Wasser tropfte aus seinen Haaren, die jetzt dunkler als zuvor um seinem Kopf lagen. Eine feine Gänsehaut hatte seinen Körper überzogen und Makoto verstand, dass ihm kalt sein musste. Der Raum war immerhin nicht geheizt – wie auch, sie waren ja gerade erst angekommen – und das Wasser tat sicher sein Übriges. Makoto griff noch einmal zur Brause.
 

„So eine Verschwendung“, brummmelte er, drehte aber trotzdem das warme Wasser auf. Der Junge zuckte zusammen, als es ihn berührte.
 

Vielleicht tue ich ihm weh.

 

Makoto hatte gesppürt, dass einige der Striemen rau und erhaben waren. Winzige Wunden, in denen die Seife jetzt stach und juckte. Dazu das heiße Wasser …

 

Makoto regelte die Temperatur etwas herunter. Wasserdampf füllte mittlerweile die Luft. Vielleicht hatte er es mit der Wärme etwas übertrieben.
 

„Besser?“, fragte er und biss sich im nächsten Moment auf die Zunge. Er sollte solche Dinge nicht fragen. Es erleichterte ihn trotzdem, dass der Junge nickte.

 

„Du hättest sagen können, dass es zu heiß ist“, murmelte Makoto und bemühte sich, die Seifenreste schnell abzuspülen. Er hörte, wie der Junge schnaufte. Nun gut, mit dem Knebel im Mund war es vielleicht etwas schwierig, sich zu beschweren, aber er hätte es … zeigen können.
 

„Jetzt noch die Füße. Dreh dich herum.“

 

Dieses Mal gehorchte der Junge. Er rutschte auf dem Schemel herum, die gebundenen Beine als Stütze benutzend. Erst, als er mit dem Gesicht Makoto zugewandt war, hielt er an. Ein Blick von unten herauf traf Makoto. Fragend. Interessiert. Viel wacher als zuvor. Neugierig. Makoto wandte den Kopf ab.

 

„Guck nicht so dumm. Wir müssen dich waschen.“

 

Mit zusammengepressten Kiefern griff er erneut nach der Seife. Er vermied es, den Jungen anzusehen, obwohl er dessen Blick immer noch auf sich fühlen konnte. Ungeachtet der Tatsache, dass der Boden nass war, kniete er sich hin, griff nach dem Füßen des Jungen und zog sie zu sich heran.
 

„Halt still“, knurrte er, während er anfing, die Seife zunächst auf dem Spann und um die Knöchel herum zu verteilen. Als er damit fertig war, rutschte er ein Stück zurück und stellte die Füße auf, sodass er auch die Sohlen erreichen konnte. Sie waren dunkel vor Dreck. Makoto rümpfte die Nase.
 

„Ich hoffe, du bist nicht kitzlig“, brummte er, während er nach der Bürste griff. Kaum hatten die ersten Borsten jedoch die Haut des Jungen berührt, verkrampfte sich seine Haltung. Makoto merkte es und hob den Blick.

 

„Doch kitzelig?“, fragte er. Der Junge sah ihn einen Augenblick lang an, dann nickte er. In seinem Blick eine leise Furcht. Makoto holte tief Luft.
 

„Dann beiß die Zähne zusammen“, knurrte er, fasste den Fuß des Jungen fester und begann zu schrubben.
 

Er konzentrierte sich auf die Bewegung. Versuchte das angestrengte Atmen über sich zu ignorieren. Das Winden und Wimmern. Die Anspannung der sehnigen Muskeln unter seinen Fingern. Die gekrümmten Zehen, hilflos gefangen in seinem eisernen Griff. Ein seltsames Kribbeln erfasste ihn, während er die Fußsohlen bearbeitete. Immer wieder mit den harten Borsten darüber strich und sie so zum Glühen brachte.

 

Nur noch ein bisschen.

 

Ein hohes, flehendes Geräusch ließ ihn innehalten. Makoto hob den Kopf und sah, dass das Gesicht des Jungen gerötet war. Seine Augen glänzten feucht und er atmete so heftig, dass Makoto befürchtete, er würde gleich ohnmächtig werden. Sofort ließ er die Bürste sinken. Das Herz klopfte ihm in der Brust.

 

„Ich …“

 

Er brach ab. Wusste nicht, was er sagen sollte. In seiner Hand immer noch die schmale Fessel des Jungen. Seine Füße, lang und elegant. Passend zu seinen Beinen. Makotos Blick verfing sich darin. Blieb hängen an den Bahnen aus feiner, makelloser Haut. Es war, als könne er etwas sehen, das eigentlich nicht existierte. Denn in Wirklichkeit waren da Kratzer und Schnitte. Blaue Flecken und Abschürfungen. Aber darunter … darunter lag Schönheit. Rein und unverfälscht. Makoto spürte sich selbst zucken. Eine Hitzewelle, die ihn durchströmte. Vollkommen unerwartet. Und unerwünscht.
 

„Das … deine Füße sind jetzt sauber“, sagte er, seine Stimme brüchig. Vorsichtig, so als hielte er etwas Kostbares, stellte er den Fuß des Jungen wieder zu Boden. Nicht jedoch, ohne ein letztes Mal über die empfindlichen Fußsohlen zu streichen. Er erntete einen Schauer und ein erneutes Zucken. Bei sich selbst.

 

Trottel!

 

„Ich … w-werde dich jetzt abspülen. Und die Wunde desinfizieren.“

 

So schnell er konnte, erhob sich Makoto. Seine zitternden Finger fanden den Griff der Brause. Den Knopf, der das Wasser anstellte. Mit einem Zischen erwachte der warme Strahl zum Leben. Makoto richtete ihn auf den Jungen, ging um ihn herum. Spülte Seifenreste ab, die nicht da waren. Alles nur, um ihn nicht ansehen zu müssen. In seinem Inneren rumorte es.

 

Es ist nichts. Nur ein Versehen. Nichts, was dich beunruhigen müsste.

 

Als er endlich alles, selbst sein Herzklopfen, weggewaschen hatte, schaltete Makoto das Wasser wieder ab. Er griff nach dem bereitgelegten Handtuch, wickelte den Jungen hinein.
 

„Warte hier“, befahl er und drehte sich herum, um der Tür zuzustreben. „Ich hole das Verbandszeug.“

Außerhalb des Badezimmers war die Luft kühler und weniger feucht. Makoto spürte es, während er nach nebenan in den Waschraum ging und dort den Spiegelschrank öffnete. Darin alles, was er brauchte. Neben diversen Fläschchen, Pillen und Döschen gab es Mullbinden, Kompressen und Heftpflaster. Makoto griff danach, als er draußen ein Geräusch hörte. Es klang wie …

 

Scheiße.

 

Die Utensilien fielen klirrend und raschelnd ins Waschbecken. Makoto stürzte in den Flur. Das Bild, das sich ihm dort bot, war schlimmer, als er befürchtet hatte. Viel, viel schlimmer.

 

Der Gefangene auf dem Boden, die Fliesen um ihn herum blutverschmiert und voller Scherben. Er rührte sich nicht. Erschien wie tot.
 

Scheiße!
 

„Hey!“, bellte Makoto und war mit einem Schritt bei dem Jungen. Der lag auf der Seite, die Augen geschlossen. Hatte er sich beim Sturz erneut den Kopf angeschlagen? Woher kam das Blut?

 

„Hey! Hörst du mich? Antworte!“

 

Noch einmal schossen ihm die Geräusche durch den Kopf. Das gedämpfte Platschen von nackten Füßen. Rhythmisch mit längeren Pausen. Als wäre er gehüpft. Danach ein Knirschen und Klirren. Lautes Klatschen und Rumpeln gefolgt von einem dumpfen Schmerzenslaut. Und dann nichts mehr. Gar nichts. Und jetzt lag dieser Idiot hier und rührte sich nicht.

 

Scheiße, scheiße, scheiße, fuck! Na los, komm schon. Wach auf!

 

Makoto gab ihm einen Schlag auf die Wange. Nicht fest genug, um ihn zu verletzen. Er sollte nur aufwachen. Zu sich kommen. Seine Finger hinterließen blutige Abdrücke.

 

„Hey, Kleiner. Los, sag was!“

 

Die Augenlider des Jungen flatterten. Langsam, so langsam, dass Makoto schreien wollte, hoben sie sich wieder. Getrübter Bernstein unter langen, dunklen Wimpern. Er hatte schöne Augen.
 

„Fuck“, fluchte Makoto und verzog das Gesicht zu einer wütenden Grimasse. „Bist du wahnsinnig geworden? Was fällt dir ein? Wolltest du fliehen? Hier? So?“

 

Seine ausholende Geste schloss alles mit ein. Den immer noch feuchten und reichlich unbekleideten Körper, die Einsamkeit der Waldhütte und nicht zuletzt den Scherbenhaufen, der dem Jungen zum Verhängnis geworden war. Er musste in eine der scharfen Spitzen hineingetreten und dann ausgerutscht sein. Wer tat so etwas?

 

Jemand, der sehr verzweifelt ist.

 

Der Gedanke drängte sich förmlich auf, aber Makoto schob ihn zurück in die Ecke, aus der er gekommen war. So etwas konnte er jetzt nicht brauchen. Er musste den Jungen versorgen. Die Blutung finden und stoppen.

 

„Idiot“, murmelte er noch einmal, bevor er sich vom Anblick der seltsamen Augen losriss und begann, den Körper des Jungen nach Verletzungen abzusuchen. Wenigstens war er glücklich gefallen und nicht mitten in den Überresten der Vase gelandet. Lediglich in seinem Fuß entdeckte Makoto eine Scherbe. Das Porzellanstück stak mitten im weichen, gebogenen Teil der Sohle. Die Haut drumherum rot verschmiert. Als er sich bewegte, quoll mehr Blut aus der Wunde, rann herab und tropfte zu Boden. Makoto presste die Lippen aufeinander.
 

„Bleib liegen“, befahl er und stand auf, um nun endlich das Verbandszeug zu holen. Als er zurückkam, hatte der Junge sich aufgerichtet. Sein Oberkörper lehnte an der Wand, während er die Beine in Makotos Richtung ausgestreckt hatte. Auch sie waren mittlerweile blutverschmiert. Es stieß Makoto ab und gleichzeitig war da eine seltsame Ästhetik, der er sich nicht vollkommen entziehen konnte. Helle Haut, schwarzes Leder, rotes Blut. Die Kombination ließ Makoto für einen Moment schwindeln.

 

„Du bist wirklich zu dumm“, murmelte er und war sich nicht sicher, ob er damit den Jungen meinte oder sich selbst.

 

Ich brauche dringend etwas zu trinken.
 

„Warte hier“, knurrte er noch einmal, dieses Mal deutlich an den Jungen gewandt, und ging, um die Verbandsmaterialien in den Raum mit der Wanne zu bringen. Danach holte er den Gefangenen.
 

„Du schuldest mir ein Hemd“, erklärte er, bevor er den Jungen kurzerhand packte und ihn in seine Arme hob. Den Kopf mit der Schulter stützend, den anderen Arm in seinen Kniekehlen, trug er seine Fracht zurück zu dem kleinen Hocker, setzte ihn vorsichtig darauf und griff erneut nach der Brause.

 

Auf ein Neues, dachte er, bevor er den warmen Wasserstrahl anstellte und anfing, die Spuren des Unfalls wegzuwaschen. Dabei konzentrierte er sich darauf, seinen Blick nur auf das zu richten, was er tat. Obwohl er spürte, dass der Junge ihn beobachtete. Ganz genau. Wie eine Katze.
 

„Jetzt der Fuß“, befahl er und bedeutete dem Jungen, die Beine auszustrecken. Wieder wusch er die ebenmäßigen Schenkel, die leicht knochigen Knie, die wohlgeformten Waden. Er stockte kurz, als er die Knöchel erreichte. Seine improvisierten Fesseln hatten dort mittlerweile rote Striemen hinterlassen. Es wurde Zeit, dass er sich etwas anderes einfallen ließ, um den Jungen am Weglaufen zu hindern. Etwas, das effektiver und weniger schmerzhaft war.

 

Später, beschloss er und wandte sich zunächst dem verletzten Fuß zu. Die Scherbe steckte immer noch darin, das Blut mischte sich mit dem Wasser zu einem leicht rosafarbenen Rinnsal. Makoto schnaufte und drehte das Wasser ab.
 

„Das wird jetzt wehtun“, verkündete er und wollte schon nach der Scherbe greifen, als der Junge zurückzuckte. Dabei hatte Makoto ihn kaum berührt.
 

„Halt still“, knurrte er und griff nach dem Fuß des Jungen. Schon wieder. Makotos Mund wurde trocken.
 

„Stillhalten!“, schnauzte er erneut und war sich dieses Mal sicher, dass er nicht nur mit dem Jungen sprach. Da waren Dinge in der Dunkelheit, die sich bewegten. Ihren Kopf hoben und witterten. Dabei gab es hier nichts für sie. Nichts und niemanden.

 

Makoto atmete tief durch. Er wusste, dass er kräftig würde ziehen müssen. Und hoffen, dass nichts in der Wunde zurückblieb. Außerdem schnell die Blutung stillen, wenn er nicht riskieren wollte, dass der Kleine ihm zusammenklappte.

 

Er braucht etwas zu essen. Zu trinken. Und Kleidung. Wenn das hier vorbei ist, hole ich erst mal seine Tasche. Und dann …

 

Ruck.

 

Makoto hörte den Schrei. Das Entsetzen. Die Pein. Es ließ etwas in ihm hochbrodeln. Den Willen zuzuschlagen. Die Stimme zum Schweigen zu bringen. Solange darauf einzuprügeln, bis es sich nicht mehr bewegte. Hass.

 

„Verdammt!“, herrschte er den Jungen an. Die Scherbe klirrte zu Boden, rotes Blut schoss hinterher. Makoto fletschte die Zähne.

 

„Hör auf zu heulen. Sie ist raus.“

 

Ihre Blicke trafen sich. Der Junge atmete schwer, die Augen voller Tränen. Makoto ebenso erregt, wenngleich auch aus anderen Gründen. Es hätte nur ein Streichholz gebraucht, einen Funken, der Raum wäre explodiert.

 

Aber er kam nicht. Und die Wut verging.

 

Makoto schluckte.

 

„Ich … die Scherbe ist raus.“
 

Er wandte den Blick ab. Die Binde, das Verbandszeug. Er musste sich darum kümmern. Der Junge würde sonst verbluten.
 

„Ist gleich vorbei“, murmelte er, während er weißen Stoff gegen die Fußsohle presste. Erst danach fiel ihm auf, dass er sie noch hätte desinfizieren sollen.

 

Egal. Das Blut wird den Dreck ausgewaschen haben.

 

Ohne noch einmal innezuhalten griff er nach einem der Verbandsröllchen. Öffnete es. Begann, die lange weiße Bahn in ordentlichen Schlaufen um den Fuß zu winden. Rauf und runter. Immer herum. Er blickte nicht nach oben. Nicht rechts, nicht links. Nur nicht ablenken lassen. Immer weiter wickeln.

 

Als die Gaze endete, endete auch Makotos Bewegung. Er starrte auf das, was er getan hatte. Ein ordentlicher Verband. Er bedeckte den Fuß und einen Teil des Knöchels. Die Zehen waren frei geblieben. Fünf perfekte, kleine Gliedmaßen eingebettet in makellosen, weißen Stoff. Makoto konnte nicht aufhören, sie anzusehen. Sich vorzustellen, wie es wäre, wenn …

 

Mit einem Ruck riss Makoto seinen Blick los. Sein Herz pochte und da war eine Erregung in ihm, die seine Finger zittern ließ. Oder zittern hätte lassen, wenn er sie nicht zur Faust geballt hätte. Mit der anderen Hand beherrschte er sich. Die hielt immer noch den Fuß des Jungen. Er musste sich zusammenreißen.

 

Vollkommen unangebracht.

 

Das hier war ein Junge. Ein Mann. Verletzt obendrein. Und in seiner Gewalt. Es gab tausend Gründe, die gegen das sprachen, was Makoto fühlte. Und trotzdem hatte sich der Anblick, der sich ihm gerade geboten hatte, in ihn eingebrannt. Das war falsch. Absolut falsch.

 

„Ich werde jetzt nach deinem Kopf sehen.“
 

Seine Stimme war rau, seine Hände immer noch zittrig, als er dieses Mal zuerst nach dem Jod und dann nach dem Verband griff. Er desinfizierte den Riss, gab etwas von der braunroten Flüssigkeit darauf und verschloss das kleine Fläschchen mit der gläsernen Pipette sorgfältig, bevor er eine Kompresse nahm und sie auf die Wunde drückte. Wieder begann er, weißen Stoff abzuwickeln. Immer rundherum. Ihm war klar, dass er dem Jungen zuerst die Haare hätte trocknen müssen. Der Verband würde durchweichen, die Wunde vielleicht erneut anfangen zu bluten. Aber darauf konnte Makoto jetzt keine Rücksicht nehmen. Er musste dafür sorgen, dass sie endlich aus diesem Bad herauskamen. Essen, Trinken, Kleidung. Sein Verstand verbiss sich darin. Er musste es dorthin schaffen. Er musste.
 

„Fertig.“

 

Der Verband war nicht gut. Zu locker, zu schief, zu unregelmäßig. Er hätte ihn unter dem Kinn fixieren müssen, aber da war noch der Knebel. Die Socken. Auch sie würden weichen müssen. Das hier war einfach nur … Makoto fand keine Worte dafür. Etwas, das er gerne losgeworden, ja am besten nie getroffen hätte. Wann war er falsch abgebogen?
 

Egal. Du schaffst das. Reiß dich zusammen!

 

„Ich hole das Handtuch.“

 

Äußerlich ruhig ging er los und fischte das fragliche Stück Stoff aus dem Hausflur. Dort draußen herrschte immer noch Chaos. Noch etwas, das Makoto würde beseitigen müssen. Aber zuerst der Junge.

 

„Kannst du aufstehen?“

 

Makoto wartete die Antwort auf seine Frage nicht ab. Er hüllte in das Handtuch, was er nicht zu sehen wünschte, und setzte dann an, den Jungen hochzuheben. In diesem Moment war er froh darum, dass der sich nicht bewegen konnte. Er war nur … ein Ding. Etwas, das Makoto auf- und wieder abladen konnte. Nicht mehr und nicht weniger.
 

„Ich werde dich … bringen“, murmelte er, nicht wirklich sicher, wohin jetzt mit seiner Fracht. Er kannte sich hier nicht aus. Der offene Wohnbereich mit den vielen Fenstern schien ihm weniger geeignet. Vielleicht in die Küche?

 

Nein. Er muss zuerst etwas anziehen.

 

„Das Schlafzimmer“, entschlüpfte es ihm, als er eine halb geöffnete Schiebetür erspähte. Die äußere Optik des Raumes ahmte das Muster traditioneller Reispapiertüren nach, doch in seinem Inneren befanden sich keine Tatamimatten oder Futons. Stattdessen ein breites Bett im westlichen Stil aus dunklem Holz mit passenden Tischchen an beiden Seiten. Dazu ein in die Wand eingelassener Schrank aus dem gleichen Material. Makoto ging in den Raum hinein.

 

Dort, beschloss er und trat auf das Bett zu. Die üppige, weiße Bettwäsche wurde von einer weiteren, ebenfalls weißen Tagesdecke geschützt. Ein Relief aus Blumen und Kreuzen gab ihr ein altmodisches aber gemütliches Aussehen. Makoto konnte die erhabenen Strukturen fühlen, als er den Jungen darauf ablegte.

 

„Warte hier“, befahl er und setzte nach einigem Zögern noch ein „aber dieses Mal wirklich“ hinzu, bevor er sich umdrehte, um die Tasche aus dem Auto zu holen. Seine Schuhe schlappten lose um seine bloßen Füße, als er draußen über den Parkplatz ging. Trotzdem beeilte er sich.

 

Wer weiß, was er sonst noch anstellt.

 

Als er wieder ins Haus kam, lauschte er. Es war alles ruhig, kein Laut war zu hören. Makoto war sich nicht sicher, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. So schnell er konnte, streifte er seine Schuhe ab und lief auf nackten Füßen zum Schlafzimmer zurück.

 

Ich hätte Pantoffeln mitbringen sollen, schoss es ihm dabei durch den Kopf, aber wer hatte ahnen können, dass er heute hier landen würde. Oder dass es keine Hausschuhe in seiner Größe gab. Noch einmal verwünschte er Shisu, dann bog er um die Ecke und sah den Jungen.
 

Er saß immer noch dort, wo Makoto ihn zurückgelassen hatte. Eine zusammengesunkene Gestalt, in ein großes, braunes Handtuch gewickelt, um Kopf und Fuß einen weißen Verband. Die Beine gefesselt mit Makotos Schnürsenkeln und in seinem Mund ein Knebel. Makoto beschloss, dass der als Nächstes weichen würde. Doch zuerst würde er dem Jungen etwas anziehen.

 

Fest entschlossen, auch diese Unannehmlichkeit hinter sich zu bringen, hob Makoto die Tasche, ließ den Verschluss aufschnappen, klappte sie auf und erstarrte.

Die Dinge, die Makoto in der Tasche erblickte, waren … nicht das, was er erwartet hatte. Obwohl er es, rückblickend, vielleicht hätte müssen. War es das, was Shisu gemeint hatte, als er sagte, Makoto solle mit dem Jungen „spielen“?

 

Ein freudloses Lachen formte sich in Makotos Kehle und blieb darin stecken. Das hier war keine Reisetasche, wie er sie kannte. Es war ein Arsenal an Dingen, die Makoto zu einem anderen Zeitpunkt und in einem anderen Zusammenhang vielleicht interessiert, abgestoßen oder – wäre er jünger und leichter zu beeindrucken gewesen – zum Erröten gebracht hätten. Denn natürlich hatte er schon Phallusnachbildungen aus Gummi, Silikon oder anderen Materialien gesehen. Er musste jedoch zugeben, dass sich einige von diesen hier in ihrer Farbe, Form und vor allem Größe von dem unterschieden, was er kannte. Da war zum Beispiel der mit dem glitzernden, blaugrünen Farbverlauf und einer Form, die ihn im ersten Moment an ein Pferd denken ließ, im zweiten, bei dem ihm die geschuppte Textur auffiel, an einen Fisch. Ein weiterer präsentierte sich in einer Mischung aus metallischem Grau, Rosa und Kupfer und ließ Makoto beim Anblick von Umfang und ausgeprägter Struktur mit einer Mischung aus Unbehagen und morbider Faszination zurück. Dagegen erschienen ihm die kleineren Kugelketten und konisch geformten Plugs fast schon unscheinbar, wenn man von dem absah, an den eine Art puscheliger Schwanz angeheftet war. Daneben gab es allerlei Bänder, Ketten und Klemmen, sowie etwas, das Makoto zunächst für Handschellen in verschiedenen Größen hielt, bis ihm klar wurde, dass ein Paar davon für die Beine gedacht waren. Die Tasche enthielt außerdem ein weiteres Halsband, eine Leine und verschiedene Arten von Knebeln mit und ohne Öffnung. Es war im Prinzip genau das, was er von Anfang an benötigt hätte und was ihn jetzt, da er es in Händen hielt, fassungslos zurückließ.

 

Was hat Shisu sich nur dabei gedacht?

 

Immer noch leicht zögernd – unter den Dingen in der Tasche befanden sich auch einige, dessen Zweck sich ihm nicht sofort offenbarte. Wozu brauchte man beispielsweise diese durchsichtigen Röhrchen mit dem Schraubgewinde? – schob Makoto die Sachen ein wenig hin und her. Es klapperte und klimperte, aber etwas zum Anziehen ließ sich beim besten Willen nicht entdecken. Es gab lediglich eine Augenmaske, die Makoto in einer Seitentasche entdeckte, und ein knapp zwei Daumen breites Stück halbtransparenten Stoff, den man mit den daran befestigten, rosafarbenen Schnüren offenbar zu einer Art Minislip umfunktionieren konnte. Makoto bezweifelte jedoch, dass sich damit ein nennenswerter Teil des Körpers verdecken ließ. Es wunderte ihn noch nicht einmal mehr, dass viele der Dinge in der Tasche rosa waren. Da gab es Glöckchen, Schleifen und glitzernde Steine, die hier und dort auf dem schwarzen Leder angebracht waren. Was es nicht gab war ein verdammtes, zusammenhängendes Stück Kleidung.

 

Makoto atmete tief ein und hörbar wieder aus.
 

„Ich nehme nicht an, dass hier auch etwas zum Anziehen drin ist“, sagte er halb an den Jungen gewandt. Der musterte ihn, schien zu überlegen und legte dann den Kopf ein wenig schief. Eine Antwort war das nicht, aber auch kein Nein. Makoto gab sich einen Ruck.

 

„Na schön“, murmelte er, ging zum Bett hinüber, stellte die Tasche ab und streckte die Hände nach dem Jungen aus. Sofort wollte dieser ihm ausweichen, aber Makoto war schneller.

 

„Nun hab dich nicht so“, murrte er und begann an dem Knoten herumzufummeln, den er selbst vor einiger Zeit gemacht hatte. „Es wird Zeit, dass du das da loswirst.“
 

Er warf einen Blick zu dem Jungen hinunter.
 

„Aber nicht wieder beißen, verstanden?“

 

Ein furchtsamer Blick und dann ein leichtes Nicken antworteten ihm. Makoto registrierte es und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Knoten zu. Das dumme Ding hatte sich durch die Feuchtigkeit nur noch enger gezogen und bewegte sich keinen Zentimeter. Irgendwann verlor Makoto die Geduld und zerrte die widerspenstige Socke kurzerhand nach unten. Mit einem weiteren Griff entfernte er ihr Gegenstück aus dem Mund des Jungen. Der Stoff war feucht und roch übel. Makoto beförderte ihn in eine Ecke. Er würde heute viel zu entsorgen haben. Dann trat er einen Schritt zurück und musterte seinen Gefangenen. Der ausgeleierte Strumpf, der ihm immer noch um den Hals hing, trug nicht unbedingt dazu bei, ihm ein würdevolles Erscheinungsbild zu geben. Trotzdem sah er irgendwie … zufrieden aus. Makoto war sich sicher, dass er sich mit dieser Einschätzung irren musste. Ärgerlich wies er auf die Tasche.
 

„Und? Sind da nun Klamotten drin?“

 

Der Junge antwortete nicht. Makoto wollte schon auffahren, als der Bursche schließlich doch mit der Sprache herausrückte.

 

„In der äußeren Tasche sind vielleicht Socken.“

 

Socken. Ausgerechnet Socken. Makoto wusste nicht, ob er weinen oder lachen sollte. Er entschied sich, lieber einfach nachzusehen.
 

„Wo? Hier?“
 

Er fingerte an einem Reißverschluss herum, den er zuvor übersehen hatte. Mit einem Ratschen glitt er zur Seite, Makoto griff hinein und fühlte etwas Weiches, Flauschiges mit einem festen Gestell.

 

Das sind aber keine Socken, dachte er und zog das Ertastete kurzerhand heraus.

 

In seiner Hand lag ein Haarreif, an dem zwei spitze, weiße Ohren mit schwarzen Flecken befestigt waren. Verblüfft sah Makoto zu dem Jungen, der ihn aus bernsteinfarbenen Augen unergründlich ansah.

 

Für einen Moment hatte Makoto das Gefühl, dass ihm das etwas sagen, ihn an etwas erinnern sollte. Etwas, das er gehört oder gelesen hatte. Zufällig aufgeschnappt und nicht für ihn bestimmt. Doch noch bevor er den Gedanken richtig greifen konnte, bewegte sich der Junge. Er blinzelte.
 

„Und?“, fragte er mit weit geöffneten Augen. „Sind die Socken da?“

 

Makoto zögerte. Das Gefühl, gerade etwas Wichtiges verpasst zu haben, blieb, aber die einschmeichelnde Stimme des Jungen, die höher und weniger rau war, als Makoto erwartet hatte, ließ ihn das Problem vorerst beiseite schieben.
 

„Ich sehe nach“, brummte er, legte den Haarreif vorsichtig beiseite, bevor er erneut in die Tasche griff und dieses Mal tatsächlich etwas zu fassen bekam, das tragbar schien. Als er es jedoch herausholte, verhärtete sich seine Miene.
 

„Was ist das?“, fragte er und starrte mit gerunzelter Stirn auf die rosafarbenen Silikontupfen in seinen Händen. Dass sie an langen, weißen Strümpfen befestigt waren, war zwar nicht unbedingt das Schlechteste, aber es täuschte kaum über die Tatsache hinweg, dass es sich hierbei um überlebensgroße Nachbildungen von Katzenpfoten handelte. Makoto war fassungslos.
 

Die willst du anziehen?“, fragte er, ohne darüber nachzudenken. Der Junge schlug die Augen nieder.
 

„Es tut mir leid. Ich dachte, die geringelten wären auch dort drin.“

 

Makoto schloss für einen Moment die Augen. Das hier war so unsinnig, dass es schon fast wieder komisch war. Allerdings nur fast. Mit einem grimmigen Gesichtsausdruck griff er noch einmal in die Seitentasche, aber die war bis auf Weiteres leer. Die versprochenen Strümpfe waren nicht darin.
 

„Nein, tut mir leid“, fauchte er aufgebrachter, als er wollte. „Hier sind keine geringelten.“
 

Der Junge ließ den Kopf sinken. Er schien ehrlich getroffen von dem, was Makoto gesagt hatte. Oder wie es gesagt hatte. Makoto fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.
 

„Na schön. Gut. Dann … werde ich sehen, ob ich woanders was zum Anziehen für dich finde. Wie ich Shisu kenne, hat er bestimmt etwas hier vergessen.“

 

Makoto warf den Haarreif und die freakigen Socken auf das Bett und ging zum Schrank. Hinter der Schiebetür erwartete ihn … gähnende Leere. Lediglich auf einem Bügel hing etwas, das eine Yukata hätte sein können, wenn es dafür nicht viel zu kurz gewesen wäre. Die untere Hälfte fehlte, obwohl die rosafarbene Abschlussblende zeigte, dass das in diesem Fall wohl Absicht war. Makotos Blick brannte fast ein Loch in den schwarzglänzenden Stoff mit dem bunten Blütenmuster. Wenn er gekonnt hätte, hätte er Shisu gerne mit der großen, rosafarbenen Schleife, die einen Witz von einem Obi darstellte, erwürgt. Warum in aller Ahnen Namen hatte er unbedingt so etwas hier vergessen müssen? Warum nicht ein Paar Hosen? Strümpfe? Unterwäsche? Irgendetwas, das Makoto davor bewahrte, den Jungen in dieses eindeutig nicht für Männer gemachte Ding zu stecken.

 

Ich werde ihm etwas von meinen Sachen geben, beschloss Makoto. Das ist besser.
 

Er wollte sich schon umdrehen und dem Jungen mitteilen, dass er gleich wieder da war, als ihm auffiel, wie blass der Junge war. Seine Wangen waren eingefallen und unter seinen Augen lagen tiefe Schatten. Er sah nicht gut aus.

 

Makoto sah noch einmal zu der Yukata. Es war nicht die beste Wahl, aber es würde gehen. Fürs Erste.
 

„Hier. Zieh das an.“

 

Makoto riss den blütenverzierten Stoff geradezu von seinem Bügel und warf ihn neben dem Jungen aufs Bett. Der sah das Kleidungsstück an und dann zu Makoto auf. Da war ein Zögern in seinem Blick.
 

„Na los. Anziehen“, blaffte Makoto und hätte sich im nächsten Moment am liebsten selbst geohrfeigt. Die Fesseln! Er hatte die Fesseln vergessen!
 

„Warte“, knurrte er und streifte dem Jungen das Handtuch von den Schultern. „Ich mache dich los.“
 

Wieder kämpften Makotos Finger mit den Folgen der Feuchtigkeit. Das lederne Halsband war glitschig, die Schnalle nicht leicht zu öffnen. Als er es endlich geschafft hatte, lehnte Makoto sich zurück und wollte das durchweichte Ding schon zu dem ruinierten Socken werfen, als der Junge den Kopf hob.
 

„Du wirst es mir nicht wieder anlegen?“

 

Makoto sah von dem Jungen zum Halsband und wieder zurück. Der Gedanke, dem Jungen das Teil umzubinden, war vollkommen verrückt. Und doch schien der das zu erwarten.
 

„Nein, warum sollte ich?“, sagte Makoto. Er hatte nicht vor bei, was immer das hier war, mitzuspielen. Er nicht!

 

„Kodama-sama hat es mir gegeben. Es bedeutet, dass ich ihm gehöre.“

 

Makoto öffnete den Mund. Ihm lag auf der Zunge, dem Jungen zu sagen, dass das Unsinn war und dass niemand jemand anderem gehörte. Doch dann klappte er den Mund wieder zu und presste die Lippen aufeinander. Mal abgesehen davon, dass man wohl durchaus davon sprechen konnte, dass Kadori Kodama Menschen besaß, schien es dem Jungen wichtig zu sein, dass er das Halsband zurückerhielt. Makotos Blick glitt zu der Tasche auf dem Bett.

 

„Dort drin ist noch ein Halsband. Wir könnten das nehmen.“

 

Er wusste nicht genau, warum er das vorschlug. Vielleicht, weil er sich schuldig fühlte, den letzten Besitz des Jungen ruiniert zu haben. Dabei war es doch nur ein albernes Halsband!
 

Der Junge drehte den Kopf ein wenig. Er hatte mittlerweile die Arme heruntergenommen und auf seinen Schoss gelegt. Makoto war sich sicher, dass sie kribbeln oder gar brennen mussten, aber der Junge verzog keine Miene.
 

„Das ist mein Ausgeh-Geschirr. Ich weiß nicht, ob ich es einfach so tragen darf.“

 

Makoto glaubte, sich verhört zu haben. Ausgeh-Geschirr? Und warum war das überhaupt so wichtig? Hatte der Junge keine anderen Probleme?

 

Makoto atmete noch einmal tief durch.

 

„Kodama-sama ist nicht hier“, sagte er mit fester Stimme. „Aber er hat mir die Aufgabe übertragen, mich um dich zu kümmern. Also entscheide ich jetzt, was du darfst oder nicht.“

 

Insgeheim zog Makoto bei dem Gedanken eine Grimasse. Immerhin war Shisu derjenige, der diesen Burschen eigentlich hätte versorgen müssen. Aber der hatte sich ja aus dem Staub gemacht und es Makoto überlassen, das hier zu übernehmen. Also würde Makoto das jetzt auch tun. Egal wie unsinnig es ihm erschien.

 

„Hier“, sagt er, ging zu der Tasche und fischte das Halsband aus dem merkwürdigen Sammelsurium heraus. Es war ein wenig schmaler als das andere und hatte neben einem kleinen, silbernen Ring und einer ähnlichen Schnalle eine Reihe von eingelassenen Ziersteinen. Sie waren – wie sollte es anders sein – rosa.

 

Ist vielleicht seine Lieblingsfarbe, dachte Makoto ein wenig verächtlich, bevor er dem Jungen das Halsband hinhielt.

 

„Zieh es an, wenn du willst. Und dann die Yukata.“

 

Der Junge gehorchte. Mit ungelenken Bewegungen nahm er das ihm anbefohlene Kleidungsstück schlüpfte zunächst in den einen, dann in den anderen Ärmel. Ohne Makoto anzusehen, schloss er die Yukata und begann, den Obi zu binden. Er brauchte eine Weile, doch irgendwann zierte eine große Schleife seinen Bauch. Danach griff er nach dem Halsband. Erneut zögerte er, doch dann hob er das lederne Band an seinen Hals und verschloss es mit einer Schnalle in seinem Nacken. Mit gesenktem Kopf wandte er sich Makoto zu.
 

„Ich bin fertig.“

 

Makoto nickte unwillkürlich, bevor er in die Tasche und nach seinem Messer griff. Als er es herauszog, bemerkte er wieder ein Zucken.
 

„Stillhalten“, befahl er, kniete sich hin und durchtrennte mit einem gezielten Schnitt die Schnürsenkel. Sie fielen auf die Füße des Jungen. Der machte keine Anstalten, sich zu bewegen.
 

„Na los, du bist frei“, meinte Makoto und wurde sich im nächsten Moment seiner Formulierung bewusst. Er hätte sie nicht ungünstiger wählen können.
 

„Also … nicht frei“, berichtigte er sich. „Du musst immer noch hierbleiben, aber …“

 

Makoto rang mit den Worten und gleichzeitig überlegte er, ob es wirklich eine gute Idee war, den Jungen einfach so frei im Haus herumlaufen zu lassen. Sicher, er war geschwächt, halbnackt und obendrein verletzt. Trotzdem behagte Makoto der Gedanke nicht. Daran änderte auch das Halsband nichts.

 

Er hat getan, was ich ihm gesagt habe. Das ist ein Anfang.

 

Makotos sah noch einmal zum Bett. Darauf stand immer noch die Tasche und darin …

 

Warum eigentlich nicht? Wenn sie schon mal da sind.

 

Makoto griff erneut in die Tasche. Seine Finger streiften einen der Dildos. Makoto konnte ein Schauern nicht komplett unterdrücken. Schnell griff er nach den Handschellen.
 

„Die hier wirst du tragen“, erklärte er entschlossen. „Damit du nicht vergisst, wo du hingehörst.“

 

Ergeben senkte der Junge den Kopf noch ein Stück tiefer.
 

„Wie Ihr wünscht, Gebieter.“

 

Er drehte sich herum, streckte die Arme nach hinten und hielt sie Makoto hin. Der starrte den Jungen an wie eine Erscheinung. Hatte er ihn gerade wirklich so genannt? Und was sollte diese plötzliche Folgsamkeit?

 

Trottel. Doch nicht so, wollte er ihn gerade anfahren, als ihm auffiel, dass die Kette zwischen den ledernen Manschetten durchaus als Waffe taugte. Wie aus dem Nichts stellte er sich vor, dass der Junge ihn von hinten ansprang, die Kette um seinen Hals legte und anfing, ihn zu würgen. Das Bild war albern und erschreckend zugleich. Makoto hatte keine Ahnung, wo es herkam, aber er hatte gelernt, seinem Gefühl zu vertrauen. Und sein Gefühl gebot ihm mit einem Mal, vorsichtig zu sein. Sehr vorsichtig.

 

Vertrauen ist ein Gewässer, in dem man nur allzu leicht ertrinkt.

 

„Nicht so“, sagte er trotzdem, trat zu dem Jungen und drehte ihn grob zu sich herum.
 

„Gib her“, kommandierte er und griff nach dem ersten Handgelenk. Es war schlank, beinahe dünn unter seinen Fingern. Die Haut des Jungen war kalt.
 

„Frierst du?“, fragte er und fuhr unbeirrt fort, die erste Fessel anzulegen. Als der Junge nicht antwortete, wurde er ungehalten.
 

„Ich will wissen, ob du frierst.“
 

Ein Blick von unten herauf.
 

„Ein wenig, Gebieter.“

 

Makoto stieß ein Knurren aus.
 

„Hör auf, mich so zu nennen. Mein Name ist Omura. Makoto Omura.“
 

Sofort senkte der Junge sein Haupt.
 

„Es ist mir eine Ehre Euch kennenzulernen, Omura-sama.“

 

Makoto verzog das Gesicht. Es war lange her, dass ihn jemand so genannt hatte. Eigentlich hatte ihn noch nie jemand so genannt. Shisu zum Beispiel benutzte seit je her nur seinen Namen oder gar eine Abkürzung davon. Wahrscheinlich, weil es ihm gefiel, Makoto damit zu zeigen, dass er es nicht wert war, ihm irgendeine Art von Respekt zu zollen. Deswegen war er seit Jahren nur noch „Makoto“. Dieser Junge jedoch …

 

„Makoto reicht völlig“, knurrte Makoto und begann, die zweite Manschette am Handgelenk des Jungen zu befestigen. Er sah dabei nicht auf, aber er spürte wieder den Blick des Jungen auf sich. Als er fertig war, richtete er sich auf und betrachtete den Burschen, der in seiner viel zu kurzen Yukata, den Handschellen und den Verbänden um Kopf und Fuß hätte lächerlich wirken müssen. Grotesk. Aber er tat es nicht. Er wirkte … als wäre er genau dort, wo er hingewollt hatte. Das gefiel Makoto nicht.

 

„Und du?“, knurrte er, mehr um die Situation zu beenden. „Hast du auch einen Namen?“

 

Die Lippen des Jungen bewegten sich sie kräuselten sich, zuckten und verformten sich schließlich zu einem leichten Lächeln. Es wirkte wie ein Sonnenaufgang an einem Nebeltag.

 

„Aki“, sagte er leise. „Du kannst mich Aki nennen.“

Aki.

 

Makoto runzelte für einen Moment die Stirn. War das nicht eher ein Name für ein Mädchen? Aber andererseits: Was wusste er schon? Und so, wie der Junge geantwortet hatte, war das vielleicht nicht einmal sein richtiger Name.
 

„Na schön, Aki“, knurrte Makoto und lies dabei keinen Zweifel daran, dass er dem Jungen kein Wort glaubte. „Dann wird es jetzt Zeit, für etwas zu essen.“

 

Makoto wies mit dem Kopf in Richtung Tür. Aki schlug die Augen nieder.
 

„Wie du wünschst“, sagte er und machte Anstalten, an Makoto vorbeizugehen. Still, tugendhaft und sittsam. Als könnte er kein Wässerchen trüben. Makoto wurde noch misstrauischer.
 

„Halt!“, befahl er streng und war fast ein wenig erstaunt, als der Junge sofort in der Bewegung erstarrte. Den Fuß bereits zum nächsten Schritt erhoben stand er da, als wäre er eingefroren. Wie eine Primaballerina. Die Zehenspitzen nur Millimeter vom rettenden Halt entfernt. Aber er bewegte sich nicht. Er stand nur da. Stumm, steif und elegant.

 

Makoto riss sich von dem Anblick los und presste die Kiefer aufeinander. Das Spiel gefiel ihm immer weniger. Nicht, dass er es je gemocht hätte.
 

„Sieh mich an.“
 

Sein Befehl hatte sofortigen Gehorsam zur Folge. Aki wirbelte herum, nahm eine gerade Haltung ein, die Füße genau nebeneinander, die Hände auf den Oberschenkeln, die Kette zwischen den Handschellen straff gespannt. Er hatte den Blick auf Makoto gerichtet, die volle Aufmerksamkeit, alles. Es war Makoto unangenehm, so im Fokus zu stehen, aber er beherrschte sich.
 

„Wenn du irgendwelche Mätzchen machst“, knurrte er und sah Aki dabei genau in die Augen, „dann schwöre ich dir, dass du dich schneller als du 'Es tut mir leid' sagen kannst, wieder zu einem Paket verschnürt in meinem Kofferraum wiederfindest. Ist mir egal, dass das Ding dann stinkt wie eine Jauchegrube. Ich lasse mich von dir nicht verarschen, klar?“
 

Aki antwortete nicht. Makoto grollte.
 

„Ich fragte, ob das klar ist. Antworte!“
 

Akis Kopf ruckte nach unten. Er nickte.
 

„Ja, Geb… Makoto.“

 

Makoto schnaubte innerlich. Das hier war definitiv nicht seine Welt.

 

„Gut. Dann warte jetzt hier. Ich hole dir Hausschuhe, damit du dich nicht wieder verletzt.“

 

Aki reagierte nicht darauf und Makoto fragte sich, warum er das eigentlich gesagt hatte. Und ob Aki sich wohl wirklich daran halten würde, nur weil er es gesagt hatte. Die letzten Male hatte das nicht funktioniert. Oder wenn doch, dann nur, weil der Junge nicht in der Lage gewesen war, sich zu widersetzen. Womöglich war das ein Zustand, den er aufrecht erhalten musste. Makotos Blick fiel auf die Tasche.

 

Vielleicht wird einiges davon doch noch nützlich werden, dachte er düster und wollte schon an Aki vorbeigehen, als dieser den Kopf hob.
 

„Makoto?“, fragte er leise. Makoto atmete tief ein.
 

„Ja?“, fragte er zurück. Aki wandte den Blick ab, seine langen Wimpern verbargen bernsteinfarbene Monde.
 

„Dürfte ich … vielleicht die Strümpfe anziehen? Mir ist etwas kühl.“

 

Makoto zögerte. Es war eine harmlose Bitte. Nichts, womit er Aki etwas in die Hand gab, mit dem dieser sich befreien oder sonst einen Vorteil verschaffen konnte. Es würde nur seinem Wohlbefinden dienen. Außerdem würde es helfen ihn zu … bedecken. Als Kleidung konnte man diese Dinger nun wirklich nicht bezeichnen.
 

Langsam nickte er.
 

„Ja. Sicher. Tu, was du willst. Solange es hier drin ist.“

 

Aki senkte den Kopf.
 

„Danke … Makoto.“
 

Die Verbeugung wurde noch ein wenig tiefer, doch anstatt sich wieder zu erheben, verharrte Aki in dieser Position. Makoto bemerkte es und unterdrückte ein Schnauben. Dieser … Idiot! Er würde das hier noch zu einem sehr, sehr anstrengenden Aufenthalt machen. Aber Makoto würde sich nicht von ihm ködern lassen. Er nicht.
 

„Also. Zieh dich an, ich hole die Schuhe. Anschließend gehen wir in die Küche.

 

Mit diesen Worten verließ er den Raum, stieg vorsichtig über den Scherbenhaufen, der immer noch den Flur blockierte und wandte sich dem kleinen Regal zu, das neben dem Eingang stand. Darin befanden sich Pantoffeln in verschiedenen Größen. Keine davon passten ihm, aber Makoto war sich sicher, dass es ein Paar gab, das für Aki geeignet war.

 

Diese dort.

 

Mit einem gezielten Griff nahm er ein Paar dunkelblaue Pantoffeln mit einem weißen Spiralmuster heraus, die genau die richtige Größe hatten. Makoto musste sich nicht fragen, woher er das wusste. Mit der Zeit entwickelte man wohl ein gewisses Augenmaß. Trotzdem war es ihm fast ein wenig peinlich. Immerhin war dies immer noch nicht angemessen. Und doch …

 

Egal. Du hast Schuhe für ihn. Das allein zählt.

 

Mit einem festen Griff um den gepolsterten Stoff machte Makoto sich wieder auf den Rückweg. Als er an der Tür des Schlafzimmers ankam, saß Aki auf dem Bett und war gerade dabei, den zweiten Strumpf zusammenzunehmen, um dann seinen Fuß hineinzuschieben. Er tat das äußerst geschickt, als sei er es gewohnt, diese Art Kleidungsstück zu tragen. Fasziniert beobachtete Makoto, wie er das feine Gewebe zunächst über die Zehen und den Spann zog, die Ferse umrundete und schließlich begann, mit den Fingern sein Bein entlangzustreichen. Wo sie vorbeikamen, hinterließen sie eine weiche, weiße Spur, die irgendwann oberhalb des Knies endete. Schlanke Finger zupften den Saum zurecht, platzierten den Übergang von Stoff zu nackter Haut noch ein wenig höher und fuhren anschließend noch einmal über die gesamte Länge des Beines. Als sie am Ende die Füße erreichten, musste Makoto schlucken. Das war … nicht gut.
 

„Hier“, knurrte er und erreichte damit, dass Aki aufsah. „Die Schuhe.“

 

Makoto warf die Pantoffeln in Akis Richtung. Sie landeten mit einem gedämpften Klatschen auf dem Boden, kullerten umeinander und blieben in einem wirren Haufen liegen. Aki sah sie an und dann wiederum fragend zu Makoto auf.
 

„Habe ich etwas falsch gemacht?“

 

Makoto presste die Zähne aufeinander.
 

„Nein“, brachte er heraus und schaffte es, kein Loch in die Wand neben sich zu schlagen. „Du sollst dich nur beeilen. Und bring die Fußschellen mit.“

 

Aki gehorchte. Bedächtiger zwar, als Makoto es sich gewünscht hätte, erhob er sich, wandte den Kopf zu der Tasche und machte einen Schritt auf sie zu. Er schien den Inhalt zu betrachten – so lange, dass Makoto ihn fast angeschnauzt hätte – bevor er endlich die Hand, beide Hände, ausstreckte, um nach dem Gewünschten zu greifen. Als er es hielt, drehte er sich zu Makoto um. Sein Blick streifte Makoto, so als wolle er sich versichern, dass noch alles nach dessen Vorstellungen lief, bevor er sich vorsichtig humpelnd auf die Schuhe zubewegte. Bei ihnen angekommen blieb er stehen, sah noch einmal zu Makoto, bevor er sich bückte, um die Pantoffeln aufzuheben und wieder ordentlich nebeneinander zustellen. Makoto beobachtete ihn dabei, wie er sich mit lang gestreckten Beinen herabbeugte. Er ging nicht in die Knie, nein, sondern neigte lediglich seinen Rumpf, während der Rest von ihm aufrecht stehenblieb. Die langen Beine. Makoto sah, wie der Stoff der Yukata an ihrer Rückseite nach oben rutschte, den Streifen nackter Haut zwischen Strümpfen und rosafarbenem Saum ein Stück verbreiterte. Entblößte, was eigentlich verdeckt war. Nur für einen Augenblick. Ein flüchtiges Aufblitzen, das für Makotos Geschmack jedoch viel zu lange dauerte. Das Assoziationen weckte. Er fühlte sich selbst zucken.

 

Verdammt. Ruhig!

 

„Bist du fertig?“
 

Die polternde Frage diente lediglich dazu, die Spannung im Raum zu zerschlagen. Von der Aki vermutlich nicht einmal mitbekommen hatte, dass es sie gab. Makoto schalt sich selbst einen Narren und setzte ein grimmiges Gesicht auf.
 

„Ja“, antwortete Aki, obwohl Makoto selbst sehen konnte, dass es so war. Die Yukata wieder an ihren Platz gerutscht war. Die fein bestrumpften Füße steckten in den blauen Pantoffeln. Mit mehr Schwung, als notwendig war, riss Makoto dem Jungen das zweite Paar Schellen aus der Hand.
 

„Geh“, herrschte er ihn an. „Nach links.“

 

Aki gehorchte. Mit kleinen, vorsichtigen Schritten ging er an Makoto vorbei und in Richtung Wohnzimmer. Der Raum war groß und nahezu quadratisch. Bodentiefe Fenster überall gaben Ausblick auf die grüne Waldlandschaft. In der Ecke dazwischen ein verglaster Kamin, davor ein weißer Pelzteppich. Eine graue Couchlandschaft nahm den Rest des Raumes ein und drapierte sich um einen geschmackvollen Glastisch.
 

„Hier lang“, befahl Makoto und gab seinem Schützling einen kleinen Stoß, der ihn in Richtung Küchenecke lenkte. Diese war mit einem Tresen vom Rest des Raumes abgetrennt worden, an welchem hohe Stühle standen. Makoto wies auf einen von ihnen.
 

„Dort. Hinsetzen.“
 

Wieder tat Aki, was er verlangt hatte. Er kletterte auf einen der mit dünnen Kissen ausgestatteten Sitzmöbel und ließ sich mit angespanntem Gesicht darauf nieder. Er war blass und auf seiner Stirn glänzten Schweißtropfen. Makoto konnte nur mutmaßen, dass das Hinaufsteigen an den hölzernen Streben ihm Schmerzen bereitet hatte.

 

Selbst schuld, dachte er grimmig und packte die Fußschellen fester.
 

„Gib mir dein Bein.“

 

Ungeachtet dessen, in was für eine Position ihn das brachte, beugte Makoto sich herab. Er befestigte, ohne sich um das Kribbeln in seinem Nacken, wo Akis Blick ihn treffen musste, zu kümmern, die erste Schelle. Als der Junge ihm jedoch den zweiten Fuß reichen wollte, wehrte er ab.
 

„Nein“, brummte er. „Den brauch ich nicht.“

 

Immer noch ohne aufzusehen schlang er das schmucksteinbesetzte Leder stattdessen um das Stuhlbein, schloss sorgsam die Schnalle und richtete sich erst wieder auf, als diese Aki fest mit dem Stuhl verband. Sein Blick richtete sich auf den Jungen, der – jetzt wieder an Händen und Füßen gefesselt – es wohl kaum wagen würde, noch einmal einen Fluchtversuch zu unternehmen. Und wenn doch, würde er den Stuhl mitnehmen müssen.
 

„Bleib hier“, befahl Makoto trotzdem. „Ich hole die restlichen Sachen aus dem Auto.“

 

Er spürte, wie der Junge ihm nachsah, als er erneut durch den Flur in Richtung Eingangstür ging. Es fühlte sich an, als würden die bernsteinfarbenen Augen winzige Löcher in seine Haut stechen. Wie Nadeln. Makoto straffte den Rücken.

 

Verdammter Bengel, dachte er grimmig, bevor er mit bloßen Füßen in seine Schuhe stieg. Der Junge machte wirklich nichts als Ärger und Makoto war sich sicher, dass sie diesbezüglich noch nicht am Ende der Fahnenstange angekommen waren.

„Hier.“
 

Die Flasche noch in der Hand schob Makoto Aki ein Glas mit Wasser über den Tresen. Die Augen des Jungen wurden ein wenig größer. Unbewusst leckte er sich über die Lippen, während er mit beiden Händen nach dem Glas griff und den Inhalt hinunterstürzte. Schluckgeräusche füllten den Raum, dann war das Wasser leer. Makoto furchte die Brauen.
 

„Mehr?“, fragte er und Aki nickte. Noch einmal füllte Makoto das Trinkgefäß bis zum Rand. Der Junge zog es heran, dieses Mal langsamer, um nichts zu verschütten. Sein Blick glitt kurz zu Makoto, der ihn genau beobachtete, doch dann konzentrierte er sich wieder auf das lebenswichtige Nass. Er trank, bis auch dieses Glas halbleer war. Danach setzte er es vorsichtig auf dem Tresen ab. Wieder sah er zu Makoto hinüber.

 

„Vielen Dank für das Getränk“, sagte er und neigte den Kopf. Makoto knurrte unwillig.
 

„Wenn du nicht so ein sturer Esel wärst, hättest du längst etwas bekommen. Das sollte dir klar sein.“

 

Mit diesen Worten verschloss Makoto die Flasche wieder und stellte sie auf den Tresen gleich neben eine große, leere Schale. Makoto nahm an, dass sie für Obst oder ähnliches gedacht war. Nun, er hatte kein Obst gekauft. Nur Bonbons.

 

Es wird reichen, dachte er bei sich und bückte sich, um zwei der weißen Plastikbecher aus der Tüte zu fischen. Er stellte sie auf die Arbeitsfläche und griff dann nach dem Kessel, um Wasser aufzusetzen. Während er das tat, fühlte er wieder die stechenden Blicke auf sich. Er versuchte, sie zu ignorieren.

 

„Möchtest du Miso oder Sojasoße?“, fragte er stattdessen, während das Wasser, das er in den Kessel gefüllt hatte, leise zu simmern begann. „Ich habe auch noch Curry, 5 Gewürze und Ente.“
 

Das Summen des Wasser wurde lauter. Makoto griff nach dem ersten Becher, drehte sich zum Tresen herum und wurde mit zwei bernsteingelben Augen konfrontiert, die ihn unbeirrt anstarrten. Makotos Griff wurde fester.
 

„Also, was willst du?“

 

Aki rührte sich nicht. Das Glas zwischen seinen Fingern war inzwischen leer. Trotzdem hatte er es nicht losgelassen. Er hielt es fest wie einen Anker. Oder eine Waffe.

 

Hinter Makoto blubberte es. Das Wasser im Kessel kochte. Weißer Dampf stieg in die Höhe. Es wurde Zeit, den Herd abzudrehen, aber Makoto konnte den Blick nicht abwenden von diesen gelben Augen und den Finger, die auf dem Glas lagen.
 

Schließlich blinzelte er.

 

„Dann nehme ich eben Miso“, erklärte er grummelnd. Mit einem Ruck, fast schon mit Gewalt, drehte er sich wieder herum. Mehr Dampf war aufgestiegen und Makoto schaltete schnell das Gas ab, bevor nicht mehr genug Wasser im Kessel war für die Nudeln. Er öffnete die Becher, goss das Wasser hinein, und verschloss sie wieder. Dann, als wäre nichts gewesen, drehte er sich erneut zu Aki um.
 

„So. Dauert noch einen Moment.“

 

Der Junge, der immer noch kein Wort gesagt hatte, saß immer noch mit dem Glas in der Hand da. Er hielt es fest, doch im Gegensatz zu gerade wirkte er nicht im Geringsten gefährlich. Eher schüchtern. Und andächtig.

 

Dein Gehirn spielt dir Streiche.

 

Makoto widerstand dem Drang, seinen Kopf zu schütteln, und griff stattdessen noch einmal nach unten. Als er sich wieder erhob, hielt er eine Bierdose in der Hand. Es knackte und zischte, als er die Verschlusslasche nach oben zog. Kleine Tropfen trafen seine Haut, die sie gierig aufzulecken schien. Es wurde wirklich Zeit für einen kräftigen Schluck.

 

Ah, das tut gut.

 

Besser, als er es erwartet hätte – wenngleich auch wärmer, als ihm angenehm gewesen wäre – rann das Bier seine Kehle hinab. Makoto trank und schluckte, als wäre ihm selbst gerade erst aufgefallen, wie durstig er war. Als er die Dose absetzte, war sie bereits mehr halb leer.

 

Wie bei ihm, dachte Makoto und sah unbewusst in die Richtung seine Gefangenen. Wieder trafen sich ihre Blicke. Dieses Mal jedoch sah Aki interessiert aus. Makoto grinste.
 

„Was? Willst du auch eins?“
 

Sein Grinsen wurde breiter.

 

„Bist du dafür denn überhaupt schon alt genug?“

 

Akis Mundwinkel zuckte ein wenig. Makoto bemerkte es trotzdem.
 

„Ich bin 21“, sagte er und Makoto glaubte fast, sich verhört zu haben. So alt? Er hätte ihn deutlich jünger geschätzt. Andererseits hatte er nicht viel Umgang mit jungen Leuten. Was wusste er schon?

 

Mit gleichgültigem Gesicht wandte er sich ab. Die Dose in seiner Hand gab ihm Halt. Er nahm noch einen Schluck, bevor er sie zerdrückte und in den Abfall warf.
 

„Lass uns essen.“

 

 

Die Nudeln waren heiß, würzig und gut. Makoto hatte das Gesicht tief über den Becher gesenkt, während er Portion um Portion in sich hinein schlürfte. Neben sich hörte er Aki das Gleiche tun. In der Küche hatten keine Stühle gestanden, als hatte Makoto kurzerhand an seiner Seite Platz genommen. Eine Tatsache, die ihm bewusster war, als sie sein sollte. Die ganze Lage war eigenartig. Er hatte keine Ahnung, was er jetzt tun sollte.

 

Normalerweise müsste ich ihn wohl einsperren. Er ist immerhin ein Gefangener. Aber ich kann ihn nicht ins Bad sperren und ansonten verfügt keiner der Räume über einen Schlüssel. Bleibt nur noch, ihn für die Nacht anzuketten. Vielleicht am Bett. Oder an der Couch? Aber wenn jemand vorbeikommt und ihn sieht, wird er die Polizei rufen. Also doch lieber im Schlafzimmer.
 

Der Gedanke, so logisch er war, brachte Makoto zu der Frage zurück, wo er schlafen würde. Offenbar auf der Couch, denn ein zweites Bett gab es nicht. Das würde sicher hart werden.

 

„Makoto?“
 

Akis Stimme riss Makoto aus seinen Überlegungen.

 

„Was?“, fuhr er auf. Die ganze Aktion und der wenige Schlaf hatten auch an ihm Spuren hinterlassen. Er sehnte sich nach einem heißen Bad.

 

Aber ich kann nicht baden. Ich muss auf den Jungen aufpassen.

 

Wütend über sich und über dieses Tatsache entfuhr ihm ein Knurren.
 

„Was willst du?“

 

Akis Augen wurden noch größer als ohnehin schon. Er zog die Schultern hoch und den Kopf dazwischen zurück.

 

„Ich … ich wollte fragen, ob ich noch etwas zu trinken bekommen kann. Die Misosuppe ist ziemlich salzig.“

 

Makoto blinzelte. Und blinzelte gleich noch einmal, als ihm klar wurde, dass er dem Jungen die falsche Suppe gegeben hatte. Er hatte es nicht mal gemerkt.

 

Verdammter Bengel, grollte er innerlich und war drauf und dran, ihn anzufauchen, dass er sich gefälligst selbst nehmen sollte, als ihm auffiel, dass er das nicht konnte. Die Flasche stand außerhalb seiner Reichweite.

 

Makoto knirschte mit den Zähnen.

 

Verdammter Shisu.
 

Wenn er zurück war, würde er mit dem Kerl definitiv ein Hühnchen rupfen. Es war eine Sache, wenn er von Makoto niedere Arbeiten verlangte, ihn die ganze Nacht warten ließ oder gar verlangte, dass er jemanden umbrachte. Aber ihm diesen Jungen ans Bein zu binden vollkommen ohne irgendwelche Anweisungen, das war … zu viel. Es war einfach zu viel.

 

Und während er all das dachte, wartete Aki immer noch geduldig ab, dass Makoto ihm Wasser nachschenkte.

 

Makoto knurrte.

 

„Iss auf“, sagte er, während Aki sich bemühte, noch die letzten Nudeln zu erhaschen. Makoto selbst hätte zu diesem Zeitpunkt die Reste einfach nur noch heruntergeschüttet, aber Aki fischte jede einzelne Nudel aus seinem Becher, als würde sie ihm sonst verloren gehen. Auf Makotos Aufforderung hin, legte er jedoch schnell die Stäbchen beiseite und trank die restliche Brühe mit einem Schluck. Makoto sah ihm dabei zu, wie er sich beeilte. Das versprochene Wasser vollkommen vergessen. Makoto knurrte erneut.
 

„Wenn du fertig bist, kannst du ins Bad gehen. Danach werde ich dich ins Schlafzimmer bringen.“

 

Mit diesen Worten erhob er sich, nahm die beiden Becher und brachte sie zum Mülleimer. Der Drang, auf etwas einzuschlagen, wurde mit jedme Moment größer, aber Makoto beherrschte sich. Er schloss die Tür des Küchenschranks leise und vorsichtig, bevor er sich aufrichtete und wieder mit diesen verdammten, gelben Augen konfrontiert wurde. Sie beobachteten jeden seiner Schritte, jede Bewegung, jeden Handschlag. Ein Grollen formte sich in Makotos Kehle, aber er hielt es zurück. Der Junge konnte ja nichts dafür, dass er hier war.

 

„Hör auf, mich anzustarren“, blaffte er trotzdem, während er sich daran machte, die Fußfesseln zu lösen. Sofort verspannte sich der Fuß in seiner Hand, wurde steif und unbeweglich. Makoto schnaubte und riss nur noch grober an den Schnallen.

 

„Los“, schnappte er, als er die Fesseln endlich gelöst hatte. Ins Bad. Aber pass mit den Scherben auf.“

 

Aki gehorchte. Mit gesenktem Kopf und kleinen, Schnellen schritten, die fast sein Humpeln verbargen, machte er sich auf in Richtung Flur. Der Boden war immer noch ein Minenfeld und voller Blutflecken. Makoto konnte hören, wie es unter Akis Füßen knirschte und knackte.

 

Dummer Junge.

 

Den Kopf voller dunkler Gedanken und wenig schmeichelhaften Bezeichnungen sowohl für Aki wie auch für Shisu, machte Makoto sich daran, die Bescherung zusammenzukehren. Der dreieckige Besen wirkte dabei in seinen Händen wie ein Spielzeug. Viel hätte nicht gefehlt, und Makoto hätte ihn in zwei Hälften zerbrochen.

 

Gerade, als er sich nach Handfeger und Schaufel bücken wollte, öffnete sich die Badtür. Aki trat heraus. Als er sah, was Makoto tat, fiel er förmlich zu dessen Füßen.

 

„Lass mich das machen.“

 

Schweigend sah Makoto zu, wie der Junge auslas, was er mehr schlecht als recht zusammengekehrt hatte. Der junge Rücken gebeugt, gekrümmt, willig zu dienen. Makoto wusste nicht so recht, was er davon halten sollte.

 

Er hat es verursacht. Es ist nur gerecht, dass er putzt, meinte die eine Seite in seinem Kopf.

 

Aber er ist krank. Verletzt. Er muss Schmerzen haben, wand die andere ein.

 

Unfähig, sich für eine zu entscheiden, sah Makoto weiter nur zu, wie Aki, nachdem er die Scherben aufgelesen hatte, humpelnd in Richtung Küche verschwand. Makoto hörte, wie er den Mülleimer öffnete und die Scherben entsorgte. Anschließend kam er zurück, den Kopf gesenkt, mit kleinen, vorsichtigen Schritten. Die Schuhe passten wie angegossen.
 

„Es tut mir leid“, sagte er noch einmal, ohne aufzusehen. Makoto merkte, wie der Ärger, der gerade noch in ihm gebrodelt hatte, von ihm abfiel. Er würde immer noch wischen müssen, aber der größte Schaden war beseitigt.
 

Makoto räusperte sich.
 

„Schon gut“, meinte er noch wesentlich gelassener, als er sich eigentlich fühlte. „Den Rest erledige ich morgen. Jetzt gehen wir ins Schlafzimmer.“

 

Er trat auf Aki zu, der plötzlich stocksteif wurde. Makoto, der eigentlich die Hand nach ihm hatte ausstrecken wollen, gefror ebenfalls in der Bewegung.

 

Was? Was ist los? Was ist passiert?

 

„Was ist los?“, fragte er und sprach damit aus, was ihm durch den Kopf ging. Aki schüttelte sich und wandte den Kopf ab.
 

„Nichts“, sagte er leise. „Es ist nichts. Ich habe mich nur gefragt, ob …“

 

Er sprach nicht aus, woran er gedacht hatte. Und Makoto hatte keine Lust auf Ratespiele.
 

„Gut, dann frag dich das im Schlafzimmer weiter“, grollte er, griff nach Akis Arm und schob den Jungen in Richtung der halb geöffneten Schiebetür. „Dort wirst du jede Menge Gelegenheit dazu haben.“

 

Wieder im Schlafzimmer räumte er zunächst die Tasche vom Bett auf die Kommode. Danach nahm er den Inhalt in Augenschein.

 

Verdammt. Es ist nichts darin, mit dem ich ihn sicher anbinden kann. Nur das Seil, aber was, wenn er die Knoten löst? Ist das sicher genug?

 

Während er zwischen den Utensilien herumkramte, hörte er hinter sich ein Rascheln. Er beachtete es zunächst nicht, doch als noch ein klirrendes Geräusch dazu kam, drehte er sich doch um.
 

Vor ihm saß Aki auf dem Bett. Er hatte sich, soweit es ihm möglich war, von der Yukata befreit. Das Gewand bildete eine seidige Kulisse für seine Hüfte und bedeckte noch seine Unterarme, wo er aufgrund der Handschellen nicht weitergekommen war. Der Rest von ihm war vollkommen nackt, wenn man mal von den bestrumpften Beinen absah. Makoto riss die Augen auf.
 

„Was zum … was tust du da?“

 

Sag mir jetzt nicht, dass du so schlafen willst, du Perverser!

 

Akis Kopf hob sich ein Stück, sein Blick traf Makoto von unten heraus.

 

„Ist es nicht das, was du willst?“, fragte er leise. Makotos linke Augenbraue begann zu zucken.
 

„Was ich … will? Kami, nein! Wie kommst du darauf? Ich will dich nur anbinden, damit du mir nicht abhaust.“

 

Akis seltsame Augen musterten ihn. Er schien abzuwägen, ob Makoto die Wahrheit sagte. Makotos Herz pochte in seiner Brust.
 

„Glaub mir, ich … will dir nichts tun. Ich mache mir nichts aus Männern.“

 

Makoto wusste nicht, warum er das sagte. Vielleicht um Aki zu beruhigen. Obwohl es die Wahrheit war. Nur, weil er bemerkte, dass manche von ihnen besser aussahen als andere, hieß das ja nicht …

 

Aki krauste die Nase.
 

„Versprichst du es?“

 

Die Frag verwirrte Makoto, aber schon im nächsten Moment nickte er.
 

„Ja. Ich verspreche es. Ich werde mich nicht an dir vergreifen.“

 

Einen Moment lang starrte Aki ihn noch an. Makoto hatte keine Ahnung, worüber er nachdachte, aber am Ende seiner Überlegungen senkte er den Kopf.
 

„Gut“, sagte er und Makoto sah, dass er die Beine enger zusammenzog. „Dann entschuldige ich mich für meine unangemessene Annahme.“

 

Makoto atmete aus. Seine Brust fühlte sich an, als habe jemand einen Stein davon heruntergerollt. Er versuchte ein Lächeln.
 

„Nicht schlimm“, sagte er und griff nach dem Seil. „Wollen wir dich dann für die Nacht fertig machen?“

 

Aki hob den Blick. Für einen Moment blitzte wieder etwas darin auf, das Makoto nicht zu deuten wusste, aber ebenso schnell wie es gekommen war, war es auch schon wieder verschwunden.
 

„Gerne“, sagte er und hielt Makoto seine ausgestreckten Hände hin. „Ich bin ganz dein.“

'Ich bin ganz dein.'

 

Die Worte hallten in Makotos Kopf wider, während er nichts anderes tun konnte, als Akis gebundene Hände anzustarren. Die langen, schmalen Finger, die sich ihm entgegenstreckten. Unterwürfig. Willig. Ganz und gar dem ausgeliefert, was immer er mit ihnen zu tun gedachte. Eine merkwürdige Vorstellung. Vor allem, weil sie einen entscheidenden Fehler hatte.

 

Mit ein bisschen Geschick bekommt er die Fesseln doch ganz leicht auf.

 

Makoto gaffte die schwarzen Bänder, die sich um Akis Handgelenke wanden, an und konnte nicht glauben, dass ihm das nicht schon früher aufgefallen war. Immerhin hatten die Manschetten im Gegensatz zu anderen Dingen, über die er lieber nicht so genau nachdachte, keinen Schlüssel. Es waren lediglich zwei gepolsterte Lederriemen, die mit Schnallen zusammen gehalten wurden. Keine klassischen Handschellen. Wenn Aki es darauf anlegte, wäre er die Dinger in Nullkommanichts los.

 

Es sei denn, ich verhindere das.
 

Wieder wanderte Makotos Blick zu dem Seil in seinen Händen. Offenbar würde er es anders gebrauchen müssen als ursprünglich angenommen. Aber wie am besten? Er war kein Meister im Knotenmachen, ganz zu schweigen von der hohen Kunst des Shibari, für die das Seil vermutlich gedacht war. Das, was er damit anzustellen vermochte, war mit Sicherheit wenig meisterhaft. Eher plump und unästhetisch. Allenfalls Straßenniveau. Außerdem bestand die Gefahr, dass er Aki damit weitere Verletzungen zufügte. Was also sollte er tun?

 

Noch während Makoto nachdachte, vernahm er ein Räuspern.
 

„Kann ich helfen?“

 

Makoto hob den Kopf und begegnete gelben Augen, die ihn unverwandt musterten. Wieder fühlte er sich an eine Katze erinnert. Eine sehr große Katze.

 

Aki ließ die Hände ein wenig sinken.

 

„Du könntest das Fesselkreuz benutzen.“

 

Makoto blinzelte. Er hatte keine Ahnung, worum es ging. Eine Tatsache, die man ihm offenbar an der Nasenspitze ablesen konnte, denn Akis Mundwinkel wanderten ein winziges Stück nach oben. Er sah hinüber zu der Tasche, die immer noch auf der Kommode stand.
 

„Du kennst dich mit diesen Dingen nicht besonders gut aus, oder?“, wollte er wissen und sah im nächsten Moment wieder zu Makoto auf. „Soll ich es dir zeigen?“

 

Makoto schluckte. Feine Schweißtropfen bildeten sich auf seiner Stirn. Er wusste, dass er auf gar keinen Fall Ja sagen durfte. Wenn er zugab, dass er die Situation nicht unter Kontrolle hatte, konnte wer weiß was passieren. Er musste stark sein. Unnahbar. Ein Fels. Und gleichzeitig wünschte er sich, Hilfe zu bekommen. Hilfe, von jemandem, der sich hiermit auskannte. Jemandem wie Aki.

 

Aki, der jetzt nicht mehr abwartete, ob er eine Antwort bekam, sondern einfach aufstand, um dann – ganz nah – an Makoto vorbei zur Kommode zu gehen. Er schob den Inhalt der Tasche ein wenig hin und her, fand offenbar, was er suchte, und ging – wieder gefährlich nahe – an Makoto vorbei zum Bett zurück. Statt sich jedoch erneut zu setzen, bückte er sich, streckte die Arme nach unten und stieg, die Yukata immer noch locker um seine Hüften liegend, über die Fesseln an seinen Händen. Makoto konnte erkennen, dass er zusätzlich zu den schwarzen Manschetten noch etwas in der Hand hielt. Er kam jedoch nicht dazu, es zu betrachten, denn Aki überwand jetzt die letzte Entfernung zum Bett. Auf Knien rutschte er so weit auf der Tagesdecke nach vorn, dass seine Füße ebenfalls auf dem Bett lagen. Danach drehte er den Kopf zu Makoto herum

 

„Du musst mir die Fußfesseln anlegen“, wies er ihn über die Schulter hinweg an.

 

Makoto zuckte zusammen. Die Fesseln in seiner Hand gaben ein klingelndes Rasseln von sich. Er hatte sie ganz vergessen.
 

„Ja. Ja, sofort.“

 

So schnell er konnte, trat Makoto ebenfalls an das Bett. Sein Blick glitt von Akis Gesicht über dessen unbedeckten Rücken, die gefesselten Hände und die locker um sein Hüfte liegende Yukata, bis hin zu den rosa Pfotenabdrücken. Der Anblick war seltsam bizarr und doch konnte Makoto nicht aufhören, sie anzustarren. Das war doch … verrückt!

 

Aki bewegte sich.
 

„Soll ich die Strümpfe lieber ausziehen?“
 

Die Vorstellung, was dadurch zum Vorschein kommen würde, beflügelte Makotos Fantasie. Immerhin hatte er die weichen Sohlen bereits berührt. Die eleganten Zehen und wie perfekt sie sich in seine Hand geschmiegt hatten. Sie jetzt vor sich liegen zu sehen auf der weißen Bettdecke, rein, gepflegt und makellos. Die Aussicht darauf, sie erneut anzufassen, zu streicheln, zu liebkosen und vielleicht sogar … mehr, war mehr, als Makoto aushalten konnte. Dann doch lieber die Katzensocken.

 

„Nein“, versicherte er daher schnell, fast schon hastig. „Behalt sie an. Und zieh die Yukata über. Du wirst dich verkühlen.“

 

Makoto war bewusst, dass er sich lächerlich anhörte. Nicht einmal seine Großmutter hätte solchen Unsinn von sich gegeben. Andererseits war sie auch ein mürrisches, altes Weib gewesen, das kaum ein gutes Haar an jemandem gelassen hatte. Am wenigsten an ihrem Sohn, der es in ihren Augen zu nichts gebracht hatte. Nach dem Tod seines Vaters, hatte sie Makoto die Tür vor der Nase zugemacht mit der Begründung, nicht noch so einen Fehlschlag durchfüttern zu wollen. Danach hatte er sie nie wieder gesehen. Er hatte sich nur manchmal vorgestellt, dass sie ihre Meinung vielleicht geändert hätte, nachdem er die Arbeit seines Vaters in der Gießerei übernommen hatte. Wenn sie gesehen hätte, dass er sein Geld sparte, statt es für Alkohol auszugeben oder in Pachinko-Automaten zu versenken. Dann hätte sie vielleicht …

 

Makoto schüttelte entschieden den Kopf. Dieser Abschnitt seines Lebens lag hinter ihm. Er musste sich auf den konzentrieren, der ihm momentan Probleme bereitete. Davon gab es immerhin reichlich.

 

Ohne sich um die Blicke zu kümmern, die schon wieder seine Haut durchbohrten, legte Makoto die Fußschellen beiseite und griff nach dem geblümten Stoff um Akis Hüften. Er fühlte, wie der erschauerte, als er dabei seine Haut streifte. Makoto presste die Kiefer aufeinander. Beherzt zog er die Yukata nach oben und legte sie Aki um die Schultern.

 

„So“, brummte er. „Das ist besser.“

 

Aki, der während der Prozedur stillgehalten hatte, senkte ein wenig das Haupt.
 

„Ich kann sie nicht schließen“, sagte er leise. „Meine Hände …“
 

Wie von selbst wanderte Makotos Blick hinab. Da Akis Arme jetzt hinter dem Rücken verschränkt waren, kam er natürlich nicht an den Obi heran. Makoto würde den seidenen Gürtel für ihn schließen müssen. Die Vorahnung, was er dabei zu sehen bekommen würde, behagte ihm nicht.

 

Besser ich tue es schnell und von hier aus.

 

„Halt still“, knurrte er, legte die Fesseln beiseite und griff nach der rosafarbenen Stoffbinde. Mit einem Knie lehnte er sich auf das Bett, rückte nahe an Aki heran und griff mit beiden Armen um ihn herum.

 

„So gut?“, fragte er, nachdem er die beiden Seiten der Yukata übereinander gelegt und den Obi darüber verknotet hatte. Sein Atem streifte Akis Ohr. Sein Mund war entrückend nahe. Er hätte sein Kinn auf Akis Schulter legen können, wenn er gewollt hätte. Seinen Geruch einatmen. Die herbe Note des edlen Duschgels an ihm wahrnehmen und ihn festhalten können, bis aus zwei Körpern einer wurde. Aber er tat es nicht. Er vergewisserte sich nur, das er den Obi fest genug gebunden hatte. Nichts weiter.

 

Aki nickte leicht. Sein Haar kitzelte Makotos Wange.
 

„Ja, danke. Es ist genau richtig.“

 

Makoto hörte, wie seine Stimme dabei zitterte. Ein leises Klirren von irgendwo her. Er spürte eine Bewegung. Eine Berührung. Akis Hände, die sich auf seine Oberschenkel legten. Im inneren Drittel. Ganz kurz unter dem Punkt, an dem sie sich oben zusammenfanden. Dem Bereich, den schon viel zu lange niemand mehr angefasst hatte. Vor allem keine Frau. Es war zu lange her und Makoto zögerte. Für einen winzigen Augenblick zögerte er, bevor er den Obi losließ. Er wich vor den warmen Händen zurück, deren Berührung anzudauern schien. Makotos Haut kribbelte. Sie brannte. Wie Feuer. Wie Eis.
 

„Das …“ begann Makoto und stoppte sich im gleichen Moment. Sein Herz klopfte, aber sein Verstand wehrte sich. Das, was passiert war, war sicherlich nur ein Zufall gewesen. Keine Absicht. Ein simples Versehen. Kein Grund, Aki in Verlegenheit zu bringen, indem er es ansprach. Es hatte nichts zu bedeuten.

 

Natürlich hat es das nicht. Es lag nur daran, dass du dich so ungeschickt angestellt hast. Du bist so ein Dummkopf!

 

Makoto presste erneut die Kiefer aufeinander. Er war wirklich ein Dummkopf. Und er brauchte schon viel zu lange für diese simple Aufgabe. Viel zu lange!
 

„Na los. Füße zusammen“, herrschte er Aki an. Der gehorchte sofort und Makoto machte sich daran, ihm nun endlich die Fesseln anzulegen. Immer wieder entglitten die Schnallen dabei seinen störrischen Finger, aber er zwang sich weiterzumachen Irgendwann schloss er die letzte von ihnen und konnte gerade noch verhindern, hörbar aufzuatmen. Mit zusammengepresstem Kiefer ballte er die Hand zur Faust.
 

„Fertig. Was jetzt?“

 

Aki wandte den Kopf ein wenig. Nicht so weit wie zuvor. Makoto konnte sein Gesicht nicht sehen. Nur die seitlichen Konturen. Seine Augen lagen im Schatten.

 

„Das Fesselkreuz“, sagte er und seine Lippen formten die Wort sorgfältig. „Du musst die Ösen, die sich daran befinden, mit den Laschen an den Fesseln verbinden. Oben und unten.“

 

Makoto sah sich um. Das Kreuz, oder was Makoto dafür hielt, lag neben Aki auf dem Bett. Es musste ihm irgendwann entglitten sein, während er …

 

Egal!

 

Makoto griff nach dem Ding und drehte es in der Hand. Zwei überkreuzte Lederriemen mit den erwähnten Ösen daran. Nichts, was irgendwie auffällig aussah. Bis Makoto sich vorstellte, wie es sein würde, wenn er die Fesseln damit verband. Er runzelte die Stirn.

 

„Wenn ich das tue, wirst du dich nicht mehr bewegen können. Geschweige denn bequem liegen oder gar schlafen.“

 

Wieder nahm Schweigen den Raum zwischen ihnen ein. Bei Makoto selbst war es Ratlosigkeit und die Frage, wie er das Problem nun lösen sollte, nachdem die angebotene Hilfestellung sich als unbrauchbar erwiesen hatte. Und bei Aki?
 

Der Junge wandte den Kopf ab.
 

„Du kannst unbesorgt sein“, meinte er, die Stimme seltsam neutral und ganz anders als zuvor. „Ich bin es gewohnt, mehrere Stunden so zu verbringen. Das macht mir nichts aus.“

 

Makoto schloss die Finger, die das Fesselkreuz hielten, fester. Er fühlte die Nähte, die Kühle der metallenen Haken. Dinge, die beruhigend sein konnte. Eine Grenze bilden, an der man sich orientieren konnte. Eine Verbindung erschaffen. Doch das war es nicht, wovon Aki gesprochen hatte. Makoto wusste es, auch wenn er nicht hätte sagen können, woher. Das, von dem Aki gesprochen hatte, war Folter. Bestrafung. Folgen für Ungehorsam und nicht beachtete Befehle. Schmerzen um des Schmerzens willen. Dinge, die dazu gedacht waren, sein Gegenüber zu erniedrigen und zu brechen. Es war vermutlich genau das, von Sasori Kodama erwartete, das Makoto es tat. Und es war das Einzige, was Makoto sich standhaft weigern würde zu tun. Er war nicht grausam.

 

Als er den Kopf hob, bemerkte er, dass Aki seine Position verändert hatte. Er saß jetzt zu einer Seite gelehnt da, die Hände immer noch hinter dem Rücken, die Beine angewinkelt vor sich auf dem Bett. Dabei hatte er den Mund leicht geöffnet und sah Makoto aus großen Augen an.

 

„Ist etwas nicht in Ordnung?“ fragte er. Makoto hätte beinahe gelacht.
 

„Natürlich ist etwas nicht in Ordnung“, äffte er den Ton des Jungen nach. „Ich werde mir an dir nämlich nicht die Hände schmutzig machen. Wenn du dich misshandeln lassen willst, musst du dir dafür jemand anderen suchen.“

 

Ohne Akis Antwort abzuwarten, fasste Makoto das Seil fester. Er hatte eine Idee, wie er den Jungen ans Bett binden konnte, ohne auf abstruse Fesselspielchen zurückgreifen zu müssen. Immerhin musste er lediglich verhindern, dass er an die Schnallen herankam. Der Rest ergab sich dann von selbst.

 

„Los, rutsch dort rüber. Hände nach vorn.“

 

Makoto sah, dass Akis, wohl in Erwartung einer Strafe, die weißbestrumpften Zehen krümmte. Er machte sich jedoch nicht die Mühe, ihn zu beruhigen. Stattdessen wiederholte er seinen Befehl.

 

Gehorsam ließ Aki sich auf den Rücken sinken. Er bog die Wirbelsäule durch, führte die Hände unter seinem Gesäß hervor und ließ sich dann wieder darauf nieder. Danach krümmte und streckte er die Beine, sodass er schließlich die Handschellen wieder vor dem Bauch hatte … und die Yukata total verrutscht war. Makoto grollte.

 

Morgen bekommt er etwas anderes an, schwor er sich und scheuchte die Bilder weg, die Akis akrobatische Übung ihm in den Kopf gezaubert hatte. Die eleganten, geschmeidigen Bewegungen, die Kraft und Anmut. Der Anblick gespannter Muskeln und das peinliche Aufblitzen von Rosa zwischen seinen Beinen. Makoto spürte einen Anflug von Wärme auf seinem Gesicht. Ärgerlich griff er nach dem Seil, ging um das Bett herum und schlang es um einen der Bettpfosten. Als er damit fertig war, wandte er sich an Aki.

 

„Hände“, spuckte er ihm entgegen und der Junge gehorchte. Mit stoischer Miene machte Makoto sich daran, das Seil um die Fesseln zu winden und sie so eng aneinander zu schnüren. Am Schluss sicherte er das Ganze mit einem Knoten, den Aki unmöglich aufbekommen konnte. Nicht, ohne eine Schere zu benutzen. Erst dann wagte Makoto einen erneuten Blick auf seinen gefangenen.
 

„Sei vorsichtig. Wenn du dich im Schlaf erdrosselst, ergeht es uns beiden schlecht.“

 

Aki antwortete nicht. Er sah nur zu, wie Makoto noch einmal an dem Seil ruckte, um sicherzugehen, dass es hielt. Danach ließ er es über sich ergehen, dass er erneut die Yukata richtete. Er zog sich ans Kopfende des Bettes zurück, damit Makoto die Decke zurückschlagen konnte, und rutschte danach gehorsam wieder an seinen vorherigen Platz zurück. Erst, als Makoto ihn schließlich zudeckte, sah er zu ihm auf.
 

„Warum tust du das?“, wollte er wissen. Makoto presste die Kiefer aufeinander. Er wollte nicht auf diese Frage antworten.
 

„Weil ich es muss“, sagte er trotzdem und ohne Aki anzusehen. „Je eher du gesund bist, desto schneller kann ich wieder von hier verschwinden.“

 

Aki musterte ihn von unten herauf.
 

„Ich verstehe“, sagte er leise und senkte den Kopf. „Dann wünsche ich dir einen gute Nacht, Omura-sama. Ich werde dich nicht weiter belästigen.“

 

Makoto biss sich auf die Zunge. Es brannte ihm darauf, Aki zu sagen, dass er, wenn er etwas brauchte, nach ihm rufen sollte. Aber er schwieg. Stattdessen drehte er sich abrupt um und stampfte zur Tür.

 

So ein dummer Junge, dachte er noch, bevor er die Tür hinter sich zuschob und Akis Anblick sowie den waidwunden Ausdruck in seinen Augen endgültig aussperrte.

Makoto konnte nicht schlafen. Immer wieder drehte er sich auf seinem improvisierten Nachtlager in eine andere Position, aber das erlösende Wegdämmern blieb aus. Dabei hatte er dem Prozess schon mit zwei weiteren Dosen Bier nachgeholfen. Aber es half nichts. Der Schlaf wollte nicht kommen. Schnaufend rollte Makoto sich auf den Rücken und öffnete die Augen.

 

Verdammter Shisu.

 

Dieser Satz fasste so ziemlich alles zusammen, was Makoto gerade umtrieb. Angefangen von dem Tag, an dem dieser Kerl damals in die Gießerei geschlendert gekommen war um zu verkünden, dass sein Boss sich entschlossen hatte, sie zu schließen. Wie ein aufgeblasener Gockel war er durch die Reihen gegangen und hatte immer wieder mit dem Finger auf Leute gezeigt.

 

„Du. Du. Du. Du. Du auch. Und du. Du. Du. Und du“, hatte es geheißen. Danach war er wieder vor die versammelte Mannschaft getreten und hatte mit einem hochnäsigen Lächeln verkündet, dass der Rest von ihnen nach Hause gehen konnte. Makoto selbst hatte in der letzten Reihe gestanden. Er war nicht unter den Auserwählten gewesen. Für sie, so hatte es geheißen, würde es auch in Zukunft noch Arbeit geben. Die anderen sollten zusehen, wo sie unterkamen. Sie wurden nicht mehr gebraucht.

 

„Hey! Hey du! Sitzt du auf deinen Ohren? Du sollst gehen. Los! Verschwinde.“

 

Makoto erinnerte sich, wie Shisu vor ihm gestanden hatte in seinem lächerlichen, weißen Anzug und wie er einen Augenblick lang darüber nachgedacht hatte, einen Schwinger auf dessen Nase zu platzieren. Nur ganz kurz hatte sich seine Hand zur Faust geballt, doch es hatte ausgereicht, um Shisus Aufmerksamkeit zu erregen. Wie einen interessanten Käfer hatte er Makoto gemustert.
 

„Du bist groß“, hatte er festgestellt. „Auch stark?“

 

Makoto hatte das Kinn gereckt.

 

„Wenn es etwas zu heben gibt, holen sie mich.“

 

Shisu hatte eine Schnute gezogen. Dann hatte er angefangen zu grinsen.
 

„Weißt du was? Du gefällst mir. Ja wirklich. Du bist nicht schön oder schlau, aber die Leute haben Respekt, wenn sie dich sehen. Das könnte nützlich sein. Kannst du Auto fahren?“

 

Makoto hatte genickt. Er hatte damals noch keinen Führerschein besessen, aber er hatte gewusst, was man machen musste. Zudem war ihm klar gewesen, dass der Mann, der da vor ihm stand, seine einzige Chance war, weiterhin eine Anstellung zu haben. Einen Job, der es ihm ermöglichte, Rechnungen zu bezahlen, etwas zu Essen zu kaufen und seine Wohnung zu behalten. Makoto hatte nicht auf der Straße enden wollen wie so viele, die nur von der Hand in den Mund lebten und manchmal nicht einmal mehr das hatten. Er hatte Arbeit gewollt. Egal was. Egal von wem.
 

„Ich tue alles“, hatte er hervorgestoßen und Shisu hatte erneut gelächelt.
 

„Ich denke, ich behalte dich. Kodama-sama wird mir sicherlich zustimmen, dass du eine gute Wahl bist, und solange du tust, was ich dir sage, werden wir beide keine Schwierigkeiten miteinander bekommen.“
 

Seit dem folgte Makoto Shisu, tat, was der ihm auftrug, ertrug, was immer er ihm an den Kopf warf. Bis jetzt. Bis heute. Bis er ihm diesen Jungen ans Bein gebunden hatte in der Annahme, Makoto wisse, was mit ihm zu tun sei. Dabei hatte Makoto keine Ahnung. Er hatte keine Ahnung!

 

Verdammter Aki!

 

Immerhin wäre das alles nicht passiert, wenn dieser Bengel nicht weggelaufen wäre. Soweit hatte Makoto sich die Geschichte inzwischen immerhin zusammengereimt. Denn dass diese Bozos, die Lösegeld für Aki verlangt hatten, es zuvor gewagt hatten, bei Sasori Kodama einzubrechen, daran glaubte Makoto nicht. Auch bezweifelte er, dass der Junge in einem der Clubs arbeitete, die seinem Boss gehörten. Wäre es so gewesen, wäre Makoto jetzt nicht hier, um ihn zu bewachen. Vielmehr gehörte er wohl zu den Unternehmungen und Kreisen, aus denen Shisu Makoto wohlweislich raushielt. Er war ein zu kleines Rädchen, um dort Zugang zu erhalten. Umso mehr erstaunte es ihn, dass er jetzt mit dieser Aufgabe betreut worden war.

 

Vielleicht weil ich so unwichtig bin.

 

Makoto hatte wenig mit dem zu schaffen, was Sasori Kodama so trieb. Er war Shisu unterstellt. Shisu allein entschied, was Makoto tat oder ließ. Im Gegenzug genoss Makoto einige Freiheiten, Privilegien und finanzielle Vorteile. Wenn Shisu wollte, konnte er sehr großzügig sein, und Makoto musste wohl zugeben, dass er sich inzwischen an diese Annehmlichkeiten gewöhnt hatte. An eine schöne Wohnung, gepflegte Kleidung, gutes Essen, ein warmes Bad jeden Abend. Über das, was es ihn kostete, dachte er lieber nicht so genau nach. Als Shisu ihm das erste Mal eine Pistole in die Hand gedrückt hatte, hatte Makoto sie fast wieder fallen lassen.
 

„Nimm sie!“, hatte Shisu ihn angeherrscht. „Wenn mich jemand angreift, musst du mich schützen können. Ansonsten kann ich dich nicht brauchen.“

 

Danach hatte Makoto nicht weiter gezögert. Er hatte die Waffe genommen und als Shisu ihm gesagt hatte, dass er sie benutzen sollte, hatte er es getan. Ohne zu zögern. An diesem Abend hatte er die Erinnerung an das Geräusch, mit dem der tote Körper auf dem Boden aufgeschlagen war, in einer Flasche Shōchū ertränkt. Der ersten von vielen. Er hielt sich stets daran, es nicht zu übertreiben, aber manchmal, wenn die Nacht dunkel und einsam war …

 

Makoto hob die Hand und fuhr sich über das Gesicht. Allein über den Shōchū nachzudenken, hatte in ihm das Verlangen geweckt, sich noch ein Bier aufzumachen. Oder etwas Stärkeres. Obwohl er natürlich wusste, dass es besser war, sich zurückzuhalten. Er war sich zwar eigentlich relativ sicher, dass die Fesseln halten und der Junge die nächsten Stunden wie ein Stein schlafen würde, aber was, wenn nicht? Was, wenn er erneut versuchte zu fliehen? Oder seine Wunden wieder anfingen zu bluten. Dass er vergessen hatte, den Verband zu erneuern, war Makoto bereits während des ersten Biers aufgefallen, aber er hatte es nicht über sich bringen können, noch einmal zurückzugehen, um seinen Fehler zu korrigieren. Stattdessen hatte er versucht, seine Zweifel mit einer weiteren Dose zu betäuben. Ohne Erfolg.

 

Ich werde nach ihm sehen.

 

Schwerfällig erhob sich Makoto und sah sich um. Das Mondlicht malte bleiche Rechtecke auf den Boden neben der Couch. Der weiße Teppich schien im Dunkeln zu leuchten. Er sah herrlich weich aus. Flauschig. Behaglich. Allein der Gedanke, was Shisu wohl schon auf diesem Teppich getrieben haben mochte, ließ Makoto das Gesicht verziehen. Wussten die Götter, warum dieser Kerl ihn ausgerechnet in sein geheimes Liebesnest geschickt hatte. Dass es so war, hatte Makoto aus dem Inhalt des Badezimmerschranks geschlossen. Wenn Shisu hierherkam, war er vermutlich in der Regel nicht allein. Wahrscheinlich begleitete ihn dabei nicht nur eine, sondern gleich mehrere Damen. Makoto wusste, dass Shisu sich gerne bedienen ließ. Er stand darauf, wenn die Frauen keusch taten. Unwillig. Wenn er sie mit seinem Charme und seinen Fähigkeiten als Liebhaber so aus der Reserve locken konnte, dass sie schließlich nicht anders konnten, als sich ihm hinzugeben. Makoto wusste das, weil Shisu ihm Filmaufnahmen davon gezeigt hatte. Und Makoto hatte sie sich ansehen müssen, ob er wollte oder nicht. Einen Teil von ihm hatte es erregt. Der, der schon viel zu lange alleine war. Frauen interessierten sich nicht für ihn. Nicht mehr.

 

Makoto seufzte.

 

Einmal, als er noch jünger gewesen war, hatte es jemanden in seinem Leben gegeben. Oder vielmehr jemanden, den er gerne in seinem Leben gehabt hätte. Miko war wunderschön gewesen. Klug, anmutig, elegant. Er hatte sie verehrt, wenngleich auch nur aus der Ferne, denn sie war die Tochter eines reichen Mannes gewesen. Keine Chance, dass der Makoto als seinen Schwiegersohn akzeptiert hätte. Und doch war er Miko eines Tages begegnet. Bei einem Spaziergang im Park war sie ihrer Aufpasserin entkommen und ziemlich buchstäblich über Makoto gestolpert. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen, wie er gedacht hatte. Die Erinnerung an die folgende Zeit und besonders die Nächte, in denen Miko ihn zu sich eingeladen hatte – heimlich und im Schutz der Dunkelheit – war ihm stets im Gedächtnis geblieben. Sie hatte ihm gezeigt, was sie wollte. Wie und wo er sie anfassen musste, um ihr Lust zu bereiten. Sie hatte genommen und gegeben und Makoto hatte sich wie im siebten Himmel gefühlt.

 

Bis er ihr irgendwann seine Liebe gestanden hatte.

 

Diese besondere Nacht war das letzte Mal, dass er Miko in seinen Armen gehalten hatte. Wohin sie verschwunden oder ob sie ihm danach einfach nur aus dem Weg gegangen war, wusste er nicht. Irgendwann hatte er angenommen, dass ihre Familie etwas von der Affäre mitbekommen und sie in einer anderen Stadt untergebracht hatte. Bis er sie Wochen darauf wiedergesehen hatte. Im Park. Mit einem anderen, jungen Mann, der ihr aufhalf, weil sie über seine Füße gestolpert war. In dem Moment war ihm klar geworden, dass sie ihn benutzt hatte. Zu ihrem eigenen Vergnügen. Doch Makoto hatte keine Reue darüber empfunden. Im Gegenteil. Er hatte sie bewundert und er war dankbar gewesen. Und traurig, weil sie ihn nie wieder sehen wollte. Seit Miko hatte es niemanden mehr gegeben, mit dem Makoto sein Leben hätte teilen wollen. Er war immer allein. Nicht einmal ein Haustier hatte er. Und jetzt war da Aki.

 

Der noch nutzloser ist als ein Haustier.
 

Das lief wenigstens nicht weg, wenn man es fütterte und nicht allzu oft nach ihm trat. Aber dieser Junge? Makoto schüttelte den Kopf. Er wusste natürlich – oder ahnte zumindest – zu welchem Zweck Sasori Kodama den Jungen besaß. Der Inhalt der Tasche hatte daran keine Zweifel gelassen. Möglicherweise bezahlte er Aki sogar dafür, dass er seinen Körper zur Verfügung stellte. Makoto schloss die Augen bei dem Gedanken.

 

Denk nicht so viel nach, dann lebst du länger.

 

Das und ähnliches hatte Shisu schon oft zu ihm gesagt und bisher war Makoto gut damit gefahren, sich nicht in Dinge einzumischen, die er ohnehin nicht ändern konnte. Aber jetzt? Jetzt hatte er diesen Bengel am Hals und musste dafür sorgen, dass er wieder gesund wurde. Wie auch immer er das anstellen sollte.

 

Mit einem erneuten Seufzen erhob sich Makoto endlich und tappte in den Raum hinein. Der Holzboden fühlte sich warm an unter seinen Füßen. Er hatte die Heizung angestellt, sodass er selbst in der kurzen Hose und dem Unterhemd, das er jetzt trug, nicht fror. Ein Pyjama war nicht in der Tasche gewesen, die sich wie immer im Kofferraum seines Wagens befunden hatte. Nur normale Ersatzkleidung für den Fall, dass er sich im Zuge seiner Tätigkeit beschmutzte und umziehen musste. Nicht in jedem Etablissement konnte man erwarten, dass Blut- oder andere Flecken unentdeckt – und unkommentiert – blieben. Deswegen war Makoto vorbereitet gewesen. Hatte er wenigstens gedacht. Bis auf dieses Abenteuer. Das hatte ihn kalt erwischt.

 

 

Makoto erreichte das Schlafzimmer. Vorsichtig schob er die Schiebetür, die er noch Stunden zuvor so rüde geschlossen hatte, ein Stück zur Seite und lauschte. Von drinnen drang kein einziger Laut an sein Ohr. Aki schien tief und fest zu schlafen. Makoto wollte die Tür gerade wieder schließen, als er doch etwas hörte. Es klang wie ein leises Stöhnen. Oder Wimmern. Makoto runzelte die Stirn. Er legte die Hand auf das Holz und beugte sich vor, aber das Geräusch wiederholte sich nicht. Alles blieb ruhig.

 

Ob ich nachschauen sollte?

 

Immerhin bestand die Möglichkeit, dass Akis Zustand sich trotz der anfänglichen Erholung wieder verschlechtert hatte. Vielleicht hatte er Fieber. Oder Schmerzen.

 

Ich gehe, beschloss Makoto und öffnete die Tür so weit, dass er hindurchpasste.

 

Drinnen war es dunkler als im restlichen Haus. Makoto brauchte einen Augenblick, bis er sich an die veränderten Lichtverhältnisse gewöhnt hatte. Das Bett mit der weißen Wäsche trat deutlich aus dem Dunkel hervor. Vorsichtig machte Makoto einen Schritt darauf zu und horchte erneut. Er hörte jedoch nichts außer seinem eigenen Atem und dem Klopfen seines verräterischen Herzens, dessen Takt schneller geworden war, seit er den Raum betreten hatte.

 

Ob er noch lebt?
 

Die Frage war unsinnig. Immerhin hatte Makoto ja gerade gehört, dass er das tat. Und doch. Er musste sicher sein.
 

Behutsam, um ja kein Geräusch zu verursachen, ging Makoto um das Bett herum und neigte seinen Kopf in Richtung des Kissens. Immer noch vernahm er nicht das Geringste. Was eigenartig war und eigentlich auch unmöglich, es sei denn …

 

Makoto drehte den Kopf und blickte direkt in Akis weit geöffnete Augen.

Makoto schreckte zurück. Wie gebannt starrte er auf die Gestalt in dem weißen Bett. Im trüben Licht konnte er lediglich schemenhafte Konturen erkennen. Einzig der feuchte Glanz der Augäpfel sagte ihm, das Aki wach sein musste. Und ihn anblickte.

 

Makoto schluckte. Er wusste, wie das hier aussah. Immerhin stand er, nur mit Unterwäsche bekleidet, am Bett des Jungen. Mitten in der Nacht. Er hatte sich an ihn herangeschlichen, sich ihm genähert, während er vollkommen wehrlos war. Noch wehrloser als ohnehin schon. Dabei hatte er doch gar nicht …

 

Sag etwas. Erklär dich.

 

„Ich … ich dachte, ich hätte etwas gehört“, stammelte Makoto. „Deswegen wollte ich nach dir sehen.“

 

Noch immer reagierte Aki nicht. Konnte es sein, dass er schlief? Mit offenen Augen? Makoto kam sich mehr und mehr fehl am Platz vor.

 

„Ich, also … ich würde dann wieder gehen. Oder brauchst du noch etwas? Ein Glas Wasser? Oder eine Tablette? Gegen die Schmerzen?“

 

Wieder passierte nichts und Makoto hätte sich selbst ohrfeigen können. Der Junge hatte nicht gesagt, dass ihm etwas wehtat, obwohl das nicht schwer zu erraten war. Doch selbst wenn, hätte er vermutlich nichts gesagt. 'Ich werde dich nicht mehr belästigen.' Das waren seine letzte Worte gewesen. Und jetzt stand Makoto hier und machte sich lächerlich.

 

Mit einem tiefen Atemzug richtete er sich auf. Sein Brustkorb spannte unter dem gerippten Stoff.
 

„Schön“, schnappte er. „Wenn du nichts brauchst, dann gehe ich wieder.“
 

Damit wollte er sich gerade umdrehen, als endlich Bewegung in die Gestalt auf dem Bett kam. Der Junge zog die Beine an – Makoto konnte das Rascheln unter der Bettdecke hören – und wandte den Kopf ab.

 

„Es tut mir leid. Ich … ich hätte gern etwas zu trinken. Und eine Tablette.“

 

Makoto schnaufte.
 

„Na bitte, geht doch“, brummte er und drehte sich nun doch um, um das Zimmer zu verlassen. Er riss die Schmerztabletten förmlich aus dem Schrank, in dem er sie gefunden hatte, drückte eine von ihnen aus dem Blister und stopfte die Packung anschließend wieder zurück. Danach holte er noch ein Glas Wasser. Als er so beladen ins Schlafzimmer zurückkam, saß Aki bereits aufrecht. Sein Blick folgte Makoto, während der um das Bett herumging. Auf der anderen Seite angekommen, hielt er ihm das Glas und die kleine, weiße Tablette hin.
 

„Hier. Ist nur Aspirin. Wenn du etwas Stärkeres brauchst, musst du es mir sagen.“

 

Makoto konnte Akis Nicken erkennen. Die gefesselten Hände, die sich nach ihm ausstreckten. Finger, die seine berührten. Nur ganz zart. Flüchtig. Makoto zuckte zusammen. Die Tablette fiel. Er konnte hören, wie sie auf dem Boden aufschlug und in die Dunkelheit davonrollte. Irgendwo unter das Bett. Makotos Herz setzte einen Schlag aus. Aki hob den Kopf.
 

„Entschuldigung, ich …“

 

Makoto wartete nicht, bis er den Satz beendet hatte.

 

„Ich hole eine neue.“
 

Schnell stellte er das Glas auf den Nachtisch und verließ erneut das Zimmer. Mit eiligen Schritten strebte er dem Bad zu und versuchte zu ignorieren, was ihm dabei durch den Kopf ging. Dass er es gewesen war, der die Tablette hatte fallen lassen. Weil Aki ihn nervös machte. Nervöser, als er zugeben wollte. Nervöser, als angemessen war.

 

Licht flammte auf und setzte den kleinen Raum in Brand. Makoto blinzelte gegen die plötzliche Helligkeit an. Gegen sein Spiegelbild, das ihm blass und unrasiert entgegen prangte. Ringe unter seinen Augen sagten ihm, dass er dringend Schlaf brauchte. Und doch war daran nicht zu denken. Denn er musste wieder zu Aki. Ob er wollte oder nicht.
 

Trottel!

 

Angewidert wandte er sich ab, drückte eine weitere Tablette in seine Hand und löschte das Licht. Zögernder als bei ersten Mal schlich Makoto sich wieder zurück zum Schlafzimmer. Das Mondlicht war inzwischen so weit um das Haus herumgewandert, dass er jetzt mehr Einzelheiten erkennen konnte. Sein Schatten fiel vor ihm auf den Boden.

 

Aki saß immer noch auf dem Bett. Makoto konnte sehen, dass er gewartet hatte. Jetzt jedoch war Makoto zurückgekehrt und mit ihm das rettende Schmerzmittel. Er musste es Aki nur noch geben, dann würde er zu seinem „Bett“ zurückkehren. Mit einem entschlossen Schritt trat Makoto ein. Aki drehte den Kopf.

 

„Ich habe … eine neue gebracht.“

 

Der Anblick der gelben Augen, die auf ihn gerichtet waren, hatte Makoto vergessen lassen, was er sich vorgenommen hatte. Statt entschlossen und mutig klang er hilflos und schwach. Wie von selbst schloss sich seine Hand enger um die Tablette.

 

Haltung bewahren. Haltung!

 

Aki musterte ihn. Im Halbdunkel konnte Makoto es nicht gut erkennen, aber der Junge schien abzuwägen, was vor sich ging. Als er zu einem Entschluss gekommen war, senkte er den Kopf.

 

„Und … wirst du sie mir diese Mal auch geben?“

 

Die Frage, deren Wortlaut so leicht ein kaum verhohlener Spott, eine Kritik, ein Von-oben-herab hätten sein können, eine Anspielung auf Makotos Unbeholfenheit und die Tatsache, dass er die Tablette hatten fallen lassen, war eben dieses nicht. Es war … etwas anderes. Makoto fühlte ein Kribbeln seine Wirbelsäule entlanglaufen. Unbewusst trat er näher. Aki hob den Blick und sah zu ihm auf.

 

„Bitte.“

 

Seine Stimme war nicht mehr als ein Hauch, ein Flüstern, ein atemloses Betteln, das sich Makotos bemächtigte und ihn vorwärts trieb. Wie von selbst nahm er die Tablette zwischen Daumen und Zeigefinder. Hielt sie hoch, damit Aki sie sehen konnte. Sein Mund wurde trocken und er begann zu schwitzen.

 

„Hier“, sagte er und konnte kaum glauben, was folgte. „Ich werde sie dir auf die Zunge legen. Und du wirst nicht zubeißen. Hast du verstanden?

 

Aki nickte leicht. Es brauchte jedoch nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie sein Mund sich verzog, um Worte zu formen. Worte der Bestätigung. Worte der Unterwerfung. Es stieß Makoto ab und ließ ihn nicht los. Langsam streckte er die Hand aus. Je näher er kam, desto weiter öffnete Aki seinen Mund. Er tat es ganz selbstverständlich. Ohne Scheu. So als wäre er gewohnt. Die Erkenntnis trieb Makoto das Blut ins Gesicht.

 

Schon spürte er Akis Atem auf seiner Haut. Die feuchte Wärme seines Mundes ganz nahe, bereit, ihn zu empfangen. Sich um ihn zu legen wie ein Mantel, ein Futteral, ein verruchter Kokon. Das Gefühl peitschte Erinnerungen in Makoto hoch. An dasselbe Empfinden an einer ganz anderen Stelle. Die Art, wie Miko ihn dabei angesehen hatte. Voller Gier und Wollen. War es das, was er suchte?

 

Du kannst jetzt nicht mehr zurück.

 

Wenn er das tat, würde Aki ihn verachten. Er würde das kleine bisschen Vertrauen verlieren, dass er inzwischen erlangt hatte. Die Sicherheit. Und doch wusste Makoto, dass er die Situation nicht ausnutzen durfte. Nicht ausnutzen wollte. Er war so nicht.

 

Ein Schauer überkam ihn. Seine Hand begann zu zittern.

 

„Hier“, sagte er erneut, dieses Mal jedoch leise und schwankend. Vorsichtig, so sacht, wie er nur konnte, platzierte er die Tablette ganz vorn in Akis Mund.

 

„Verschluck dich nicht.“

 

Das Glas Wasser fand seinen Weg in Akis Hand. Makoto überließ es ihm selbst, davon zu trinken. Auch wenn Aki ihn mit Sicherheit auch das hätte tun lassen. Makoto wusste, dass er es nicht verdient hatte. Dass es nicht an ihm lag, dass Aki diese Behandlung zuließ. Am meisten jedoch entsetzte ihn, dass er sich für einen Moment gewünscht hatte, dass es so gewesen wäre.

 

Du bist ein Idiot.

 

Aki trank. Langsam und doch so stetig, dass Makoto instinktiv wusste, dass er Durst gehabt haben musste. Und trotzdem hatte er geschwiegen, weil er Makoto nicht hatte wecken oder verärgern wollen. Es war Makotos Schuld, dass es so weit gekommen war. Das Gewicht auf seinen Schultern wurde schwerer. Bis das Glas schließlich leer war. Makoto nahm es zurück. Kleine Tropfen klebten am Rand. Sie funkelten im Licht des Mondes.

 

„Möchtest du … noch mehr?“

 

Oder etwas anderes? Irgendwas? Sag es mir und ich werde es dir bringen. Oder es wenigstens versuchen. Ich habe so viel gutzumachen.

 

Aki hielt den Kopf gesenkt. Makoto wusste nicht, was das bedeutete. Ob da tatsächlich noch etwas war, das er wollte oder brauchte. Vielleicht zur Toilette gehen? Das wäre mit Aufwand verbunden gewesen, aber natürlich hätte Makoto ihn gelassen. Alles andere wäre undenkbar grausam gewesen. Und doch …

 

Aki atmete hörbar aus. Makoto konnte die Spannung, die von ihm ausging, förmlich fühlen. Hatte er Schmerzen? Angst? Gab es etwas das ihn bedrückte? Oder war es gar Makoto selbst, von dem er sich bedroht fühlte?

 

Unwillkürlich wich Makoto ein Stück zurück. Er hatte das nicht gewollt.
 

„Ich … sollte dann gehen. Du kommst zurecht?“
 

Am liebsten hätte Makoto seine Worte zurückgeholt. Sie waren so furchtbar unpassend.

 

Es liegt an ihm. Alles an ihm. Ich muss …

 

Aki hob den Kopf. Sein Blick traf Makoto, der am liebsten noch weiter zurückgewichen wäre. Doch dann wäre er gegen den Schrank gelaufen und das …
 

„Würdest du bei mir bleiben?“

 

Makotos Denken setzte aus. Die Frage traf ihn vollkommen unvorbereitet. Nicht im Traum hätte er daran gedacht, dass …
 

„Bei dir … bleiben?“, wiederholte er bruchstückhaft. Seine Stimme rau und ungläubig. Aki hingegen schien sich vollkommen sicher.
 

„Ja“, sagte er und sah Makoto an. „Ich bin es zwar gewohnt, allein zu sein, aber jetzt gerade wäre es schön ein wenig … Gesellschaft zu haben.“

 

Gesellschaft. Makoto hätte beinahe gelacht. Es war … wie spät? Zwei Uhr nachts? Mit Sicherheit also kein Zeitpunkt, um sich in Gesellschaft zu befinden. Schon gar nicht in so einer schlechten.

 

„Das wäre nicht angemessen.“
 

Diese Tatsache, so weit hergeholt sie bei allem, was bereits passiert war, scheinen mochte, war doch das Erste, was Makoto in den Sinn kam. Es war nicht angemessen. Eigentlich sogar in höchstem Maße unangemessen. Vielleicht sogar gefährlich. Und doch war es das, was Aki von ihm verlangte. Nicht mehr und nicht weniger. Langsam ließ Makoto das Glas in seinen Händen sinken.

 

„Aber wenn du darauf bestehst …“

 

Er wusste, dass das nicht richtig war. Er sollte nicht bleiben. Er konnte nicht bleiben.

 

„Bitte.“

 

Dieses eine Wort war alles, was er brauchte, um Makotos Widerstand zu brechen. Die Mauern zum Einsturz brachte, die er so mühsam zu errichten versucht hatte. Aki hatte sie alle hinweggefegt.
 

„Na gut. Ich … bleibe“

 

Erst nachdem es ausgesprochen hatte, wurde Makoto bewusst, dass das einzige Möbelstück, auf dem er sich niederlassen konnte, das Bett war. Eben jenes Bett, in dem Aki saß. Er hätte sich natürlich einen Stuhl holen können, aber …

 

„Möchtest du, dass ich auf dem Boden schlafe?“

 

Aki sah zu ihm auf. Er schien das Angebot vollkommen ernst zu meinen, doch Makoto schüttelte nur den Kopf.
 

„Nein“, sagte er zögernd, die Gedanken immer noch viel zu langsam für all das hier. „Du kannst bleiben.“
 

Wie, um seinen Standpunkt zu unterstreichen, trat jetzt auch Makoto an das Bett. Diese Seite war noch unberührt, die Decken und das Kissen weiß wie frisch gefallener Schnee.
 

Immer noch zweifelnd ließ Makoto sich darauf sinken. Das Bett war wirklich sehr viel weicher als die Couch. Sehr viel … bequemer. Für einen Moment vergaß er, dass Aki noch immer neben ihm saß, kaum eine Armlänge entfernt. Sich hier hinzulegen war wirklich entspannend. Oder wäre es gewesen, wenn ihm nicht noch gerade rechtzeitig eingefallen wäre, dass er nicht allein war. Mit einem unterdrückten Seufzen riss Makoto sich zusammen. Er nahm das Kissen, legte es gegen die Kopfstütze des Bettes und sich selbst dagegen. Ja, so konnte es bleiben. Im blassen Mondlicht konnte er Aki sitzen sehen.

 

„Willst du dich nicht hinlegen?“
 

Aki gehorchte. Wie schon zuvor legte er seinen Kopf auf das Kissen, den Blick in Richtung des Schranks weisend. Makoto wurde klar, dass es ihm vermutlich gar nicht möglich war, sich umzudrehen. Das Seil, mit dem er ihn an den Bettpfosten gebunden hatte, hinderten ihn daran.

 

Der Verband ist nicht gut.

 

Jetzt, da er ihn noch einmal richtig betrachtete, wurde Makoto noch einmal bewusst, dass er mehr als schlechte Arbeit geleistet hatte. Er würde das Ganze morgen erneuern müssen. Bis dahin allerdings …
 

„Wie ist das passiert?“

 

Die Stille, die sich mittlerweile ausgebreitet hatte, war eigentlich zu lang gewesen, als das man noch mit einem Gespräch hätte rechnen können. Und doch reagierte Aki sofort.
 

„Was meinst du?“, fragte er und drehte sich dabei leicht in Makotos Richtung. Nicht so weit, dass er ihn ansehen konnte. Nur so, dass er ihn besser hörte.
 

„Das mit deinem Kopf.“

 

Akis Bettdecke raschelte. Makoto selbst lag immer noch auf seiner. Kein Gedanke an Schlaf.
 

„Ich habe mich gestoßen. An einer Eisenstange.“

 

Makoto machte ein missbilligendes Geräusch.
 

„Gestoßen und wurdest du damit geschlagen?“

 

Dieses Mal war es an Akis zu schnauben.

 

„Wenn ich geschlagen worden wäre, wäre ich wohl nicht mehr hier.“

 

Die Feststellung, so erschreckend sie auch war, kam vollkommen mitleidslos über Akis Lippen. Makoto musste zugeben, dass er recht hatte. Wenn ihn wirklich jemand mit einer Eisenstange verprügelt hätte, hätte er wohl ins Krankenhaus gemusst. Oder in eine Leichenschauhalle.
 

„Und wie kam es dazu?“

 

Jetzt, wo sie einmal angefangen hatten darüber zu reden, war es ganz leicht. Von Shisu hatte Makoto nicht viel erfahren. Nur, dass sie ein Lösegeld abliefern sollten und dieses Lösegeld auch wieder mit zurücknehmen würden. Vorzugweise zusammen mit dem Entführten. Mehr hatte er damals nicht wissen müssen, doch jetzt … jetzt wollte er erfahren, was passiert war.
 

Wieder bewegte sich Aki. Offenbar versuchte er, eine bequeme Position zu finden. Erneut überkam Makoto das schlechte Gewissen, doch er wartete ab. Als Aki endlich zur Ruhe gekommen war, konnte Makoto förmlich hören, wie er nach einer Antwort suchte.

 

„Ich bin gestürzt“, sagte er irgendwann, als Makoto schon nicht mehr damit gerechnet hatte. „Es war dunkel und hat geregnet und ich … habe nicht aufgepasst, wo ich hintrete.“

 

Makoto spürte, dass sich hinter den Worten mehr verbarg, als Aki zugeben wollte. Unwillkürlich stellte Makoto es sich vor. Aki, der, ausgehend von dem, was Makoto über ihn wusste, vermutlich nur spärlich bekleidet gewesen war, rannte eine dunkle Gasse entlang. Auf seinen Fersen die drei Bozos. Sie kamen immer näher, während Aki versuchte, ihnen zu entkommen. Dann schließlich ein Blick zurück, ein falscher Schritt, der ihm zu Verhängnis wurde. Er fiel, stürzte und schlug sich den Kopf an. Vielleicht, weil er versucht hatte, eine Feuertreppe hinaufzukommen, die nass und glitschig war. Halb benommen lag er da, während seine Häscher wie bedrohliche Schatten vor ihm aufragten. Eine hämische Stimme, die, während sich sich zu ihm herunterbeugte, zischte: 'Sieh an, was wir da haben. Du bist ja ein ganz hübsches Vögelchen.' Als Nächstes Schwärze und dann …

 

„Haben sie dich angefasst?“

 

Makoto konnte das Grollen hören, dass seine Stimme dabei untermalte. Aki atmete neben ihm.
 

„Sie wollten. Aber als sie mitbekamen, dass ich kein Mädchen bin, haben sie mich in Ruhe gelassen.“
 

Die Eröffnung nahm Makoto vollkommen den Wind aus den Segeln. Ein Mädchen? Warum sollten sie …?

 

„Ich hatte ein Kleid an. Ich dachte, so würde man mich nicht so leicht erkennen. Außerdem war es ein hübsches Kleid. Ich mochte es.“

 

Makoto schluckte. Noch einmal spielte sich der Film vor seinem inneren Auge an. Dieses Mal jedoch trug Aki darin ein geblümtes Sommerkleid. Makoto wusste nicht, warum er ausgerechnet dieses Kleidungsstück ausgewählt hatte. Vielleicht, weil es auf vollkommen verdrehte Weise zu Aki passte. Es machte die Sache nur unglaublich viel komplizierter.
 

„Und dann?“, fragte er heiser. „Was ist danach passiert?“

 

Aki stieß einen Laut aus, den Makoto nur als frustriert identifizieren konnte.
 

„Danach habe ich ihnen gesagt, dass sie ihre Finger von mir lassen sollten, weil Sasori Kodama sie ihnen sonst persönlich abschneiden würde.“

 

Er schwieg kurz, bevor er hinzusetzte: „Ich glaube, das war ein Fehler.“
 

Makoto wagte kaum zu atmen. Seine Hände waren feucht vom Schweiß.
 

„Ja“, bestätigte er matt. „Ja, das glaube ich auch.“

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Makoto erwachte. Greller Sonnenschein flutete das Zimmer und trieb scharfe, spitze Nägel in seinen pochenden Schädel. Gleichzeitig kamen das schlechte Gewissen und die Erkenntnis darüber, was heute Nacht geschehen war. Makoto stöhnte.

 

Was hab ich getan?

 

Natürlich wusste er, dass das alles nur ein Traum gewesen war. Ein Hirngespinst. Diese Erkenntnis war ihm bereits in dem Moment gekommen, als er zum ersten Mal aus dem Schlaf geschreckt war. Früh am Morgen war es gewesen, die Zeit des Zwielichts. Die Augen noch dick geschwollen hatte er sich aus dem Bett gequält und seine besudelte Kleidung tief im Bauch der Waschmaschine versteckt. Danach hatte er sich gesäubert und umgezogen, bevor er, immer noch vollkommen erschlagen, zum Sofa zurückgewankt war, um den Rest seines Rausches auszuschlafen. Jetzt jedoch war er wach und konnte sich fragen, wie es so weit hatte kommen können.

 

Es ist meine Schuld.

 

Das ungute Gefühl – einen Gedanken wollte er es nicht einmal nennen – dass das Ganze etwas mit Aki zu tun haben könnte, schob er weit von sich weg. Er begehrte den Jungen nicht. Es war wahrscheinlich einfach nur zu lange her, dass er mit einer Frau zusammen gewesen war. Kein Wunder also, dass sich seine Manneskraft da einen Weg gebahnt hatte. Er war schließlich noch nicht alt. Gerade richtig, um Kinder zu zeugen.

 

Und doch hast du ihn gewählt.
 

Der Gedanke kam, während er sich seine Hose anzog. Sicher war sicher. Wozu er diese Sicherheit brauchte? Makoto wusste es nicht und wollte es auch nicht wissen. Seine Fantasie hatte ihm einen Streich gespielt und ihm etwas vorgegaukelt, das es nicht gab. Nicht geben konnte und niemals geben würde. Also Schluss damit.

 

Er darf es nie erfahren.

 

Mit diesem letzten Versprechen an sich selbst, machte Makoto sich auf, um den Jungen zu wecken. Ein neuer Tag begann.

 

 

Langsam schob Makoto die Tür des Schlafzimmers zur Seite. Drinnen war es dunkel. Nur ein schmaler Lichtstreifen erhellte den Raum. Es gab keine Fenster. Eine Tatsache, die sich vielleicht nutzen ließ, wenn er es schaffte, die Öffnung zu verbarrikadieren. Dann müsste er Aki nicht mehr fesseln.

 

Und er könnte vielleicht etwas lesen. So wie heute Nacht.

 

Makotos Fingernägel kratzten über das dunkle Holz. Er musste sich endlich zusammenreißen. Aki durfte nicht wissen, was er getan hatte. Auch wenn es nur ein Traum gewesen war.

 

Abstand. Ich brauche Abstand.
 

Der Einsicht zum Trotz schob Makoto die Tür noch weiter auf. Er musste Aki losmachen, für sein Frühstück sorgen und dafür, dass er das Bad benutzen konnte. Dafür jedoch würde er mit dem Jungen interagieren müssen. Und sich dabei normal verhalten. Normal!

 

Mit einem letzten, tiefen Atemzug trat Makoto ein. Er ging um das Bett herum, wie schon die Nacht zuvor. Nur, dass er dieses mal vollständig bekleidet war. Und darauf vorbereitet war, dass Aki ihn wach und aufmerksam anblickte, als er schließlich vor ihn stand. Stumm blickte Makoto auf ihn herab.

 

Ich sollte etwas sagen.

 

Doch selbst ein einfaches „Guten Morgen“ wollte ihm nicht gelingen. Zu frisch waren noch die Erinnerungen, zu tief saß die Scham über das, was er getan hatte. Oder vielmehr … geträumt. Wenn er sich das oft genug sagte, würde er es vielleicht irgendwann selber glauben. So wie alles andere.

 

„Ich mache dich los.“

 

Kaum hatte er das gesagt, hätte Makoto sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Er redete Schwachsinn. Plapperte, nur um etwas von sich zu geben. Dabei wäre es ihm am liebsten gewesen, von jetzt an nur noch zu schweigen. Alles, um nicht die Flut loszutreten, die in seinem Inneren lauerte. Es ging niemanden etwas an.

 

„Ich hoffe, du kamst zurecht.“
 

Wieder ein sinnloser Satz, wieder erneutes Geplapper. Man hätte meinen können, er legte es darauf an, mit Aki zu reden. Dabei beobachtete der Junge ihn doch eh schon die ganze Zeit. Was wollte er denn noch?

 

„Danke, ich … habe geschlafen.“

 

Da war etwas in Akis Stimme, das Makoto beinahe aufblicken ließ. Ihn den Blick von den Knoten heben, die sich mehr als störrisch erwiesen, um in diese großen, gelben Augen zu schauen, die ihn gerade so prüfend anschauten.

 

Ich würde es ihm so gerne erklären.

 

Aber das ging nicht. Der Junge durfte nicht wissen, was passiert war. Niemals.

 

„Gut.“

 

Makoto nickte knapp, um zu signalisieren, dass er verstanden hatte. Mehr konnte er Aki nicht geben. Er durfte nicht. Ansonsten würde er vielleicht …
 

„Du musst noch die Fußfesseln lösen.“

 

Makoto erstarrte. Er wusste, dass er etwas vergessen hatte. Das Gefühl, auf gezuckerten Glasscherben zu gehen, stieg, als Aki sich bewegte. Er streckte die Füße unter der Decke hervor. Die gefesselten Füße in den langen, weißen Katzensocken. Die, die Makoto letzte Nacht … Er unterbrach den Gedanken. Es war nicht real. Nichts davon!
 

„Mach es selbst.“

 

Ohne sich weiter zu erklären, griff Makoto nach Akis Händen. Er löste die Schnallen der einen Fessel. Danach ließ er sie wieder los. Akis Hand fiel zurück auf das Bett. Makoto konnte die roten Ringe daran erkennen.

 

„Den Rest schaffst du allein. Beeil dich damit. Wir wollen frühstücken.“

 

Damit drehte er sich um und verließ den Raum. Er konnte fühlen, dass Aki ihm nachsah, aber er verschloss sein Gesicht und sein Herz. Er durfte nicht nachgeben.

 

 

Aki brauchte lange. Mehr als einmal war Makoto kurz davor nachzusehen, ob er überhaupt noch im Schlafzimmer war. Verstört auf der Bettkante saß und darauf wartete, dass Makoto zurückkam. Aber er beherrschte sich. Knetete stattdessen seine Handflächen und ließ seine Knöchel knacken. Irgendwann öffnete sich die Tür und Aki trat heraus. Ohne Fesseln.

 

„Ich bin fertig.“
 

Während er das sagte, hielt er den Kopf gesenkt. Makoto atmete ein und wieder aus.

 

„Gut. Dann geh jetzt ins Bad. Wasch dich und erledige deine Dinge. Ich werde draußen warten.“

 

Aki nickte leicht. Für einen Moment streifte sein Blick Makoto. Der Ausdruck, der darin lag, war eigenartig, doch noch bevor Makoto dazu kam, sich darüber Gedanken zu machen, war Aki auch schon verschwunden.

 

Du siehst Dinge, schalt Makoto sich und war sich sicher, dass all dies nur an seinem Traum lag. Dementsprechend freundlich begrüßte er Aki auch, als dieser nach einer Weile zurückkam. Er hielt zwei Becher hoch.

 

„Ich habe leider nur Nudeln zum Frühstück. Welche möchtest du?“

 

Aki, dessen Blick immer noch undurchdringlich war, deutete auf eine der Suppen. Makoto nickte, bevor er sich eilig umdrehte, um sich am Herd zu schaffen zu machen. Er brachte das Wasser zum Kochen, goss es in die Becher, verschloss sie, um die Hitze im Inneren zu halten und die Nudeln schneller zum Garen zu bringen. Als er fertig war, griff er nach den Stäbchen.
 

„Es ist …“

 

'Angerichtet', hatte er noch sagen wollen, aber die Worte blieben ihm im Halse stecken. Der Stuhl, auf dem Aki gesessen hatte, war leer. Der Junge war weg.

 

Die Becher mit Instant-Ramen entglitten seinen Händen. Suppe spritze zur Seite, an die Wände, auf Makotos Füße. Makoto beachtete es nicht. Er stürzte aus der Küche. Ein Blick rundherum enthüllte ihm jedoch nur gähnende Leere. Keine kleine Gestalt in einer Yukata. Makoto begann zu rufen.
 

„Aki? AKI!“

 

Aus dem Schlafzimmer kam ein Geräusch. Im nächsten Augenblick erschien der Junge an der Tür. In den Händen hielt er die Hand- und Fußschellen. Seine Augen waren weit aufgerissen.
 

„Aki.“

 

Makoto starrte den Jungen an, als hätte er einen Geist vor sich. Sein Herz hämmerte gegen seine Rippen und ihm wurde klar, dass er wirklich und wahrhaftig riskiert hatte, dass sein Gefangener ihm auskam. Was, wenn er statt ins Schlafzimmer einfach nach draußen gegangen wäre? Womöglich im Wald verschwunden. Oder mit dem Auto weggefahren.

 

Ich muss die Schlüssel verstecken.

 

Eines von vielen Versäumnissen. Makoto versuchte zu atmen.
 

„Was fällt dir ein?“, herrschte er Aki an, der immer noch wie erstarrt in der Tür stand. „Wer hat dir erlaubt aufzustehen?“

 

„Es tut mir leid.“

 

Schneller, als Makoto gucken konnte, war Aki vor ihm auf die Knie gesunken. Die Fesseln hatte er fallen lassen. Stattdessen legte er die Hände dicht vor sich auf den Boden und berührte sie mit seiner Stirn. Seine Stimme klang undeutlich zwischen seinen Armen hervor.

 

„Es tut mir Leid, ich hätte um Erlaubnis fragen sollen. Aber ich wollte doch nur …“

 

Makoto knurrte. Er wollte keine Ausflüchte hören, warum Aki sich unerlaubt von seinem Platz entfernt hatte. Gleichzeitig machte es ihn halb wahnsinnig, dass er nicht selbst daran gedacht hatte, die Fesseln zu benutzen. Er war nachlässig gewesen und das nur wegen eines verdammten Traumes.

 

Scheiße!

 

Immer noch schlug sein Herz viel zu schnell, das Frühstück war ruiniert und er hatte keine Ahnung, was er jetzt tun sollte. Für einen Moment schloss Makoto die Augen.
 

„Geh!“, sagte er und konnte förmlich hören, wie Aki den Kopf hob und ihn fragend ansah.

 

„Du wirst zuerst die Schweinerei in der Küche aufräumen. Dann wirst du neues Frühstück machen. Ich erwarte meine Suppe heiß und in der kürzestmöglichen Zeit. Haben wir uns verstanden?“

 

Makoto öffnete die Augen. Ganz so, wie er gedacht hatte, sah Aki ihn von unten herauf an. Doch wo Makoto Schrecken und Furcht, vielleicht sogar Verwirrung erwartet hatte, fand er etwas völlig anderes. Genugtuung. Makoto wusste nicht, was er davon halten sollte.

 

Makoto starrte in seinen Nudelbecher. Am Boden eine Vielzahl feuchter Krümel umgeben von einer Lache klarer Flüssigkeit. Überreste seiner Mahlzeit. Gewürze. Pfeffer und Paprika, dazu Zimt, Anis und Kardamom. Makoto war sich nicht ganz sicher, ob nicht noch etwas fehlte. Nelken vielleicht? Oder Fenchel? Ingwer? Irgendetwas jedenfalls, dass der Suppe eine tröstende, leicht süßliche Note gegeben hatte. Jetzt war sie alle und er musste sich wieder der Realität stellen. Der Realität, die in Form von Aki neben ihm saß und darauf wartete, dass Makoto ihm Anweisungen gab. Makoto atmete tief ein und räusperte sich.

 

„Bist du fertig?“

 

Aki, der gerade noch vorgegeben hatte, vollkommen in sein Tun vertieft zu sein, blickte auf. Seine gelben Augen taxierten Makoto.
 

„Noch nicht ganz. Möchtest du, dass ich mich beeile?“

 

Die Frage schien harmlos. Eine ganz einfache Bitte um Information. Und doch ahnte Makoto, dass es so einfach nicht war. Nicht mehr. Er grollte.
 

„Ja. Iss auf. Wir müssen uns um deine Verletzungen kümmern.“

 

Aki nickte gehorsam. Senkte den Kopf und schlürfte die letzten Nudeln in sich hinein, bevor er die Stäbchen beiseitelegte und den Becher hob, um die Brühe zu trinken. Makoto sah, wie sein Hals sich dabei bewegte. Die Ansätze seines Schlüsselbeins. Die Yukata, so ordentlich Aki sie auch geschlossen hatte, war verrutscht. Enthüllte mehr, als sie sollte. Makoto presste die Kiefer aufeinander.

 

„Wenn du fertig bist, wirf die Becher in den Müll. Ich hole derweil das Verbandszeug.“

 

Nach dieser Ankündigung stand Makoto auf und versuchte die Stimme in seinem Inneren zu ignorieren, dass er gerade ziemlich viel – vielleicht zu viel – riskierte. Was, wenn Aki beschloss, sich wieder nicht an seine Anweisungen zu halten? Wenn er ihnen nicht Folge leistete oder sogar versuchte zu fliehen?

 

Dann werde ich ihn eben wieder anbinden.
 

Es war eine logische Schlussfolgerung dessen, was passiert war. Und doch wusste Makoto, dass das nur einen Teil seiner Probleme löste. Er würde sich weiter um Aki kümmern müssen und zwar ohne ihm dabei zu nahe zu kommen. Viel zu nahe. Unangebracht nahe.

 

Schluss jetzt. Hör auf, darüber nachzudenken.

 

Immer noch bemüht, seine widersprüchlichen Gefühle unter Kontrolle zu bekommen, öffnete Makoto den Badezimmerschrank, nahm Mullbinden und das Jodfläschchen heraus und machte sich zurück auf den Weg in die Küche. Er fand Aki neben dem Tresen stehend. Der Junge hielt den Kopf gesenkt, seine Finger kerzengerade auf seinen Oberschenkeln.
 

„Ich … ich war mir nicht sicher, ob ich mich wieder setzen soll“, sagte er schnell, bevor Makoto etwas dazu bemerken konnte. Seine Zehen krümmten sich auf dem hölzernen Fußboden. Er hatte die Hausschuhe nicht angezogen, die Makoto ihm gegeben hatte. Makoto wandte den Blick ab.
 

„Ja, du sollst dich setzen“, sagte er und gab sich Mühe, dabei möglichst bestimmt zu klingen. „Ich muss mir deinen Kopf ansehen.“

 

Aki hob den Blick. Für einen winzigen Moment – so kurz, dass Makoto sich nicht einmal sicher war, ob er sich nicht geirrt hatte – blitzte etwas in seinen Augen auf. Es war kein Trotz, sondern vielmehr … Makoto konnte nicht sagen was, aber es gefiel ihm nicht.

 

„Na los! Wird’s bald?“

 

Makotos Schnappen hatte ein schnelles Nicken zur Folge. Wie ein geprügelter Hund schlich Aki an ihm vorbei und nahm erneut auf den Stuhl Platz. Makoto legte die Verbandssachen auf den Tresen. Anschließend machte er sich daran, die Binden vom Vorabend zu lösen. Sie waren verfärbt und hatten unschöne Trockenränder, wo Jod und Körperflüssigkeiten aufgehört hatten, in den Stoff zu steigen. Achtlos ließ Makoto sie fallen und strich das helle Haar zur Seite. Der Riss auf der Kopfhaut glänzte immer noch feucht und rot. Schorfreste klebte daran, aber Makoto konnte keinen unangenehmen Geruch wahrnehmen und die restliche Haut erschien sauber und kühl. Keine Anzeichen einer Entzündung. Sie hatten Glück gehabt.
 

„Sieht gut aus“, erklärte Makoto, während er begann, die Flasche mit dem Iod zu öffnen. „Du musst jetzt stillhalten. Beweg dich nicht.“

 

Sofort versteifte sich Aki unter seinen Händen. Makoto bemerkte es, bemühte sich jedoch, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Er desinfizierte die Wunde noch einmal und griff dann nach einer frischen Wundauflage und einer Mullbinde. Schicht um Schicht des gazeartigen Stoff wickelte er ab, bis schließlich ein formvollendeter, weißer Kreis Akis Kopf zierte. Mit den Zähnen riss Makoto ein Stück Heftpflaster ab und fixierte das Ende der Binde. Danach trat er ein Stück zurück.
 

„So. Fertig.“

 

Aki hob langsam den Kopf. Er hatte die ganze Zeit stillgehalten, doch jetzt, wo Makoto aufgehört hatte, an ihm herumzufummeln, kam wieder Leben in ihn. Sein Blick glitt nach oben.

 

„Wie … sehe ich aus?“

 

Als Makoto nicht sofort antwortete, setzte er hinzu: „Der Verband, meine ich. Ist es … sehr schlimm?“

 

Makoto schnaufte.
 

„Nein. Du siehst nur aus, als hättest du dir den Kopf angestoßen. Nichts weiter.“

 

Die Antwort schien Aki etwas zu beruhigen. Er musterte Makoto noch einen Augenblick lang, bevor er auf dem Stuhl herumrückte und sich leicht auf die Lippen biss.

 

„Was ist mit meinem Fuß? Wirst du ihn dir auch ansehen?“
 

Die Worte, so unschuldig sie waren, ließen Makotos Herz für einen Moment aus dem Takt kommen. Er wusste, dass es besser war, wenn er auch diese Verletzung kontrollierte. Sicherstellte, dass alles in Ordnung war. Er wusste nur auch, was das bedeutete.

 

Makoto schluckte.
 

„Ja, ich … werde ihn mir ansehen.“

 

Makoto spürte, wie sich seine Hände zu Fäusten ballten. Die Erinnerungen der letzten Nacht drängten erneut an die Oberfläche. Makoto tat sein Bestes, um sie zurückzuhalten, aber sie waren überall.
 

„Am besten du … bleibst einfach dort sitzen.“

 

Er wusste, dass es ein Fehler war. Die Position, in der Aki sich befand, ähnelte viel zu sehr des Traums. Und doch konnte Makoto sich nicht dazu bringen, ihn irgendwo anders zu positionieren. Er trat näher.

 

„Ich werde dir jetzt … die Strümpfe ausziehen.“

 

Noch während er das sagte, wusste Makoto bereits, dass er damit die Bresche nur noch tiefer schlug. Er hätte Aki die Strümpfe selbst ausziehen lassen müssen. Ihm sagen, dass es nicht notwendig war, den Verband zu begutachten. Und doch beobachtete er sich selbst dabei, wie er vor den Jungen in die Knie sank und seine Hände nach den Säumen der Strümpfe ausstreckte.

 

Sachte.

 

Mit einem tiefen Atemzug brachte Makoto sich selbst zur Raison. Das hier war lediglich eine Notwendigkeit. Er musste nach Akis Wunde sehen und diese war rein zufällig an seinem Fuß. Es hatte nichts damit zu tun, dass Makoto irgendeine perverse Befriedigung daraus zog, den weißen Stoff langsam von Akis langen, schlanken Beinen zu streifen. Es war nichts besonderes daran, dass er seine Hand um dessen Knöchel legte und ihn zu sich heranzog. Es war kein Problem, dass er den Fuß sorgsam untersuchte um herauszufinden, ob sich dieser heiß und geschwollen war. Dass er mit den Fingern sanft über die geschwungene Sohle strich, die Fesseln, die einzelnen Zehen. Es war … nichts dabei.
 

„Makoto?“

 

Makoto schreckte hoch und sah zu Aki hinauf, der ihn von seinem Stuhl aus beobachtete. Er hatte sein Bein ausgestreckt, bemüht, Makoto allen Zugang zu gewähren, den dieser benötigte. Und obwohl es nichts weiter war als eine medizinische Untersuchung, war da etwas in Akis Blick, das Makoto zucken ließ. Seine Hände begannen zu zittern. Aki lächelte.
 

„Meinst du nicht, dass es besser wäre, wenn wir … ins Schlafzimmer gehen? Ich könnte mich wieder auf das Bett knien. Oder mich auf den Bauch legen. Ganz wie du möchtest. Dann würdest du besser an alles herankommen. An alles, was du gern hättest.“

 

Makoto erstarrte. Heiße und kalte Schauer jagten über seinen Rücken, als ihm klar wurde, dass Aki Bescheid wusste. Er wusste es! Wusste, wie Makoto ihn angesehen hatte. Was er sich angesehen hatte. Er hatte das unmerkliche Zögern bemerkt, die viel zu ausschweifenden Berührungen. Die Dinge, die Makoto begehrte und doch nicht haben konnte. Er wusste davon. Und jetzt wusste Makoto es auch.

 

Makoto schluckte. Ihm war klar, dass er reagieren musste. Das Schiff umlenken, bevor es an den Klippen zerschellte. Aber wie? WIE?

 

„Nein, danke ich … komme zurecht.“

 

Eine glatte Lüge und doch das Einzige, was Makoto noch zwischen sich und das Monster bringen konnte, dass er erschaffen hatte. Plötzlich bereute er, seine Vorräte an Alkohol schon so leichtfertig aufgebraucht zu haben. Ein Schluck oder zwei hätten ihm jetzt sicher Erleichterung verschafft. Vielleicht eine ganze Flasche!
 

„Ich … glaube, der Fuß ist in Ordnung. Du brauchst keinen neuen Verband.“

 

Die Worte kamen nur zögernd aus seinem Mund. Ebenso zögernd, wie er Akis Fuß aus seinem Griff entließ. Aki, der offenbar nicht mit so eine Reaktion gerechnet hatte, hob leicht die Augenbrauen.
 

„Aber … denkst du nicht, dass es besser wäre, mal nachzusehen? Vielleicht reicht ja inzwischen ein Pflaster. Der Schnitt war schließlich nicht tief.“

 

Der Schnitt war nicht tief.

 

Makoto wusste natürlich, dass Aki das wissen musste. Wissen konnte, weil er es ihm gesagt hatte. Und doch reichte die Art und Weise, mit der Aki es aussprach, um Makoto Gewissheit zu geben.

 

Er hat das mit Absicht gemacht.

 

Die Erkenntnis, so offensichtlich sie eigentlich hätte sein müssen, traf Makoto vollkommen unerwartet. Niemals hätte er gedacht, dass der Junge so weit gehen würde. Sich selbst zu verletzen um …

 

Makoto konnte nicht atmen.
 

„Nein“, sagte er und wagte nicht, Aki dabei in die Augen zu blicken. „Ich werde morgen danach sehen. Für heute sind wir hier fertig.“

 

Makoto erhob sich. Erst jetzt wurde ihm bewusst, in welche Position er sich gerade noch gebracht hatte. In welche Position ihn Aki hineinmanövriert hatte. Für Makoto bestand kein Zweifel mehr daran, dass der Junge dies alles sehr, sehr sorgfältig geplant hatte. Und er war zu dumm gewesen, um das zu erkennen.

 

„Geh“, sagte er nahe am Rande seiner Beherrschung. „Auf dem Boden neben dem Sofa liegt eine Tasche. Darin ist Kleidung. Ich will, dass du sie anziehst.“

 

Aki, der ihn immer noch musterte, senkte den Blick. In seinem Mundwinkel saß ein winziges Lächeln. Wie ein süßer Krümel.
 

„Ja, Makoto“, hauchte er, immer noch mit diesem wissenden und irgendwie leicht spöttischen Ausdruck auf dem Gesicht. „Natürlich. Ich tue alles, was du möchtest. Du musst es nur sagen und ich werde gehorchen.“
 

Makoto spürte in sich das Bedürfnis zu schreien.

Aki erhob sich. Noch einmal streifte sein Blick Makoto, bevor er, wie befohlen, hinüber zum Sofa ging und sich nach der Tasche bückte. Er nahm sie, stellte sie auf die Sitzfläche und sah hinein. Suchend glitt seine Hand durch den Inhalt. Makoto wurde übel als ihm klar wurde, dass Aki gerade seine Unterwäsche durchwühlte. Obwohl er ihn ja selbst dazu aufgefordert hatte. Er war so dumm!
 

„Was dauert das so lange?“, schnauzte er. Je schneller sie es hinter sich brachten, desto besser. Aki, der gerade noch sehr konzentriert in die Tasche gesehen hatte, hob den Kopf.
 

„Ich suche noch nach etwas, das mir passen könnte. Die Sachen …“

 

„Gehören mir“, unterbrach Makoto Aki rüde. „Also steh da nicht länger herum. Nimm dir etwas heraus und …“

 

Makotos Gedanken verstummten, als Akis Hände sich hoben und den Gürtel der Yukata lösten. Mit einem Blick, den Makoto nur als glühend beschreiben konnte, ließ Aki den geblümten Stoff von seinen Schultern gleiten. Im nächsten Moment stand er nackt vor Makoto. Wie eine Statue. Ein Krieger. Makoto blieb der Mund offen stehen. Er konnte nicht hinsehen. Aber auch nicht zur Seite. Er war vollkommen gefangen.

 

„Das … so … so war das nicht gemeint“, platzte er irgendwann heraus. Ihm war bewusst, dass er stammelte. Dass man ihm ansah und hörte, wie sehr Akis plötzliche Entkleidung ihn aus dem Konzept gebracht hatte. Dabei war das hier doch nichts anderes, als wenn er sich in einem Badehaus befunden hätte. Auch wenn dort niemand so etwas trug. So etwas wie Aki. Klein und rosa. Und ein Halsband. Makoto schnappte nach Luft.

 

„Ich hatte gesagt, du solltest dich anziehen“, polterte er los, bevor er – endlich – den Blick abwandte. „Also los. Bedecke dich!“

 

Makoto glaubte ein Lachen zu hören. Ein Laut, der nicht wirklich existierte, sondern nur in seinem Kopf. Wie so vieles, was Aki anging.
 

„Sehr wohl, Makoto.“

 

Makoto hörte Stoff rascheln, Akis Hände, die die Seitenwände der Tasche aus schwarzem Nylon touchierten. Der Junge schien trotz seiner Versicherung, sich beeilen zu wollen, lange zu brauchen. Als Makoto einen Blick wagte, stand er, ein wenig zweifelnd und immer noch nackt, mit Makotos Boxershorts in der Hand da.
 

„Ich soll das hier tragen?“, fragte er und sah Makoto halb fragend, halb zweifelnd an. Makoto presste die Kiefer aufeinander.
 

„Ja, das sollst du“, presste er dazwischen hervor. „Ich habe nichts anderes und wenn du nicht weiter nackt herumlaufen willst …“

 

Makoto biss sich auf die Zunge, aber die Worte waren bereits heraus und er konnte sehen, wie es Aki danach verlangte zu fragen, ob das eine Option wäre. Doch dann, ohne jede Vorwarnung, senkte der Junge den Kopf.
 

„Wie du wünschst“, sagte er erneut, dieses Mal wieder mit Demut und Unterwürfigkeit in der Stimme. Ohne Makoto noch einmal anzusehen, machte er sich daran, in die Hosen zu steigen. Die ihm, wie sich kurz darauf herausstellte, viel zu groß waren. Ähnliches galt für das Unterhemd, das er der Tasche entnommen hatte. Es war das gleiche, das Makoto jetzt trug. Ein Dreierpack, günstig, weiß, von mittlerer Qualität. Makoto hatte es gewählt, weil man den Stoff heiß waschen konnte. Er trug so etwas täglich. Aki hingegen …

 

„Es ist etwas lang.“
 

Die Feststellung hätte treffender nicht sein können. Der gerippte Stoff hing nicht nur viel zu lose um Akis Oberkörper, nein, er ging ihm auch beinahe bis zur Hälfte der Oberschenkel. Makoto hatte Frauen gesehen, die kürzere Kleider trugen. Vor allem in seinem Traum. Er schüttelte sich, um den Gedanken loszuwerden.
 

„Steck es rein“, herrschte er Aki an, der sich, seiner bescheidenen Meinung nach, gerade ziemlich dumm anstellte. Und dabei vermutlich nur so tat, um ihn zu verspotten. Makoto gab sich alle Mühe, das zu ignorieren, und schwieg beharrlich, aber als Aki vorgab, selbst für diese einfache Aufgabe mehrere Minuten zu brauchen, platzte ihm der Kragen.
 

„Jetzt stell dich nicht dümmer als du bist“, fauchte er und hatte sich schon in Bewegung gesetzt, bevor er überhaupt willentlich beschlossen hatte, sich einzumischen. Er griff nach der Tasche und zog eine Hose hervor. Mit ausgestrecktem Arm hielt er sie Aki hin.
 

„Anziehen!“, knurrte er. Aki beäugte den braunen Stoff, der viel zu groß und ein ganzes Stück zu lang in Makotos Hand hing. Makoto ahnte bereits, worauf das Ganze hinauslaufen würde, noch bevor Aki danach griff.

 

„Danke“, sagte er und begann, seinen Fuß in eines der Hosenbeine einzuführen. Makoto sah ihm dabei zu und hatte das Gefühl, selten jemanden so ungeschickt eine Hose anziehen gesehen zu haben. Als Aki es endlich geschafft hatte, blickte er zu Makoto auf. Makoto runzelte die Stirn.
 

„Nur weiter“, murrte er und machte eine auffordernde Geste. Aki senkte erneut den Kopf, bevor er sich, wieder unglaublich langsam und umständlich, daran machte, auch das zweite Hosenbein überzustreifen. Als er endlich soweit, war, hätte Makoto ihm die Hose am liebsten bis zu den Ohren gezogen und sie oben zugeschnürt.

 

Ich hätte den Sack behalten sollten, dachte er grimmig und unterdrückte nur mit Mühe den Drang, zuzugreifen und Aki höchstselbst in das Kleidungsstück zu stopfen.
 

„Jetzt zieh sie hoch“, kommandierte er stattdessen. Aki warf ihm wieder einen undurchdringlichen Blick zu, bevor er endlich mit beiden Händen zugriff und die Hose nach oben zog. An seiner Taille angekommen, stoppte er die Bewegung. Er schloss den Knopf, den er ohnehin nie hätte öffnen müssen, und sah Makoto dann hilfesuchend an.

 

„Ich glaube nicht, dass das hält.“

 

Makoto atmete. Natürlich sah auch er auf einen Blick, dass Aki die Hose viel zu weit war. Hätte er sie losgelassen, wäre der Stoff wohl ohne weiteren Zwischenhalt wieder nach unten gerutscht. Zudem schlackerte nicht gerade wenig davon um Akis Knöchel. Man musste kein Genie sein um zu erkennen, dass er damit innerhalb kürzester Zeit stolpern würde. Sie würden die Hosenbeine hochkrempeln müssen. Oder abschneiden, aber das kam selbstverständlich nicht in Frage. Schließlich hatte Makoto nicht so viele Hosen.
 

„Du brauchst einen Gürtel“, stellte er fest und wusste im gleichen Augenblick, dass er damit das nächste Problem auf die Tagesordnung befördert hatte. Er selbst benötigte keinen Gürtel, fand sie unbequem und Zeitverschwendung. Doch selbst wenn Makoto einen getragen hätte, hätte der Aki vermutlich nicht viel genutzt. Er wäre zu lang gewesen.

 

Suchend sah Makoto sich um. Sein Blick fiel auf die Yukata, die unbeachtet am Boden lag. Daneben das rosafarbene Seidenband. Perfekt!

 

„Hier“, sagte er, bückte sich und hob den Gürtel auf. „Nimm den hier. Damit wird die Hose halten.“

 

Aki, der immer noch mit beiden Händen die Hose festhielt, sah ihn mit großen Augen an.

 

„Du meinst, ich soll …“

 

„Das hier als Gürtel benutzen. Ja“, beendete Makoto ungeduldig den Satz. „Also los, mach schon. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.“

 

Wieder blitzte etwas in Akis Augen auf, das Makoto nicht gefiel. Vermutlich ein Widerspruch, eine geistreiche Bemerkung oder sonst etwas, das dazu gedacht war, Makoto zu verunsichern. Aber er hatte nicht vor, das geschehen zu lassen. Er war vorbereitet. Zumindest hatte er das gedacht, bis Aki anfing, den improvisierten Gürtel in die dafür vorgesehenen Schlaufen zu ziehen. Oder eben nicht zu ziehen. Er fummelte lediglich daran herum, als käme die Aufgabe, die Öse zu erwischen, dem Einfädeln eines hauchfeinen Fadens in ein winziges Nadelöhr gleich. Dabei tat er mehrere Male so, als würde ihm die Hose gleich aus den Händen rutschen. Makotos Zähne mahlten einen unbekannten Feind zu Staub.

 

Ich werde nichts sagen. Ich werde nicht reagieren. Ich werde …

 

„Gib her!“

 

Ohne sich um Akis nicht ausgesprochenen Protest zu kümmern, riss Makoto ihm das rosafarbene Band förmlich aus der Hand.

 

Wie glatt und seidig es sich anfühlt. Ganz anders als der grobe Hosenstoff. Viel zarter. Und fein.

 

„Lass mich das machen.“

 

Mit stoischem Gesichtsausdruck und steilen Falten auf der Stirn, begann Makoto, den Seidengürtel durch die Schlaufen zu ziehen. Ihm war bewusst, dass er Aki dabei viel zu nahe kam. Vor allem, als er um ihn herumgriff, um die hinteren Laschen zu erwischen. Obwohl er sich bemühte, nicht zu vorsichtig zu sein und alles schnell hinter sich zu bringen, ähnelte die Prozedur doch einer Umarmung. Ein Umstand, der Aki wohl bewusst war, wenn Makoto den Blick, der ihn von unten traf, richtig deutete. Fast schon kam es ihm vor, als könnte er Akis Atem auf seiner Haut spüren. Die schmalen Hände auf seinem Bauch. Den Abdruck eines Kopfes auf seiner Brust.

 

Makoto erhöhte noch einmal das Tempo. Er musste fertig werden.

 

„So“, sagte er, als er den Gürtel an der Vorderseite mit einer festen Schleife verschlossen hatte und eilig einen Schritt zurücktrat. „Passt doch.“

 

Passt überhaupt nicht.

 

Vermutlich gab es auf diesem Planeten nur wenige Dinge, die Aki noch weniger kleideten als Makotos Hose. Er sah aus, als habe er sich eine übergroße, braune Papiertüte um die Hüften gebunden. Mit einer rosa Schleife. Es war erbärmlich.
 

Auch Aki schien nicht besonders zufrieden. Er sah an sich hinab und Makoto konnte sehen, wie seine Hand zuckte, um an der Schleife zu zupfen. Missbilligend, wie es eine Tante tun würde. Aber er tat es nicht. Und er sagte nichts. Stattdessen senkte er den Kopf. Makoto hätte ihm am liebsten eine Ohrfeige verpasst.

 

Undankbares Gör!
 

„Das ist nur für jetzt“, grollte er. „Wenn ich das nächste Mal einkaufen gehe, besorge ich dir etwas anderes.“
 

Kein Kleid, fügte er in Gedanken hinzu. Im Grunde war er sich nicht einmal sicher, ob er in dem kleinen Markt überhaupt Kleidung finden würde. Im Notfall würde er eben tatsächlich einen Sack besorgen und Löcher hineinschneiden. Sehr groß wäre der Unterschied zu dem, was Aki jetzt trug, nicht.

 

Aki schien ähnlich zu denken. Seine Fingerspitzen strichen über den Hosenstoff. Er versuchte ein Lächeln.
 

„Es ist … ungewohnt“, sagte er leise und vorsichtig, fast so als versuche er, Makoto nicht zu verärgern. Makoto schnaubte.
 

„Was?“, fragte er und zeigte ein paar seiner Zähne. „Eine Hose zu tragen?“

 

Zu seiner Verblüffung nickte Aki. Er hob auch jetzt nicht den Kopf, sondern betrachtete scheinbar interessiert das Sofa.

 

„Als Pet trage ich normalerweise keine Kleidung. Oder wenigstens keine, mit der man sich in der Öffentlichkeit zeigen würde.“

 

Makoto stöhnte innerlich. Die Bilder, die ihm dazu unweigerlich in den Sinn kamen, waren … nicht gut. Sie zeigten Aki mit viel zu wenig an seinem Leib. Das Meiste davon gehörte zum Inhalt der braunen Tasche, die immer noch im Schlafzimmer stand. Ohren, Pfoten, ein Halsband und natürlich der Schwanz. Makoto dachte an dessen Befestigung. Ihm wurde warm.

 

„Obwohl er mich einmal sogar ausgeführt hat“, fuhr Aki unerwarteterweise fort. Die Erinnerung schickte einen Schauer von Emotionen über sein Gesicht.

 

„Ich musste im Auto warten, während er zu Abend aß, aber … er hat mich mitgenommen. Und mir sogar etwas mitgebracht. Ein paar Reste von seinem Teller. Er hatte sie in eine Serviette gehüllt.“

 

Makotos linke Augenbraue zuckte. Er war sich nicht sicher, ob Aki ihm das jetzt erzählte, weil er damit etwas erreichen wollte oder … einfach nur so. Und ob überhaupt etwas Wahres daran war. Immerhin konnte Makoto sich kaum vorstellen, dass Sasori Kodama heimlich ein paar gebratene Garnelen und Hähnchenstreifen in die Tasche steckte, um sie später an sein … Haustier zu verfüttern.

 

Oder ich kann es mir viel zu gut vorstellen.

 

Vor seinem inneren Auge sah Makoto Aki, nur spärlich bekleidet, im Fußraum einer Limousine. Er streckte sich und stellte sich auf die „Hinterbeine“, während Sasori Kodama ihm immer wieder kleine Brocken hinhielt, die er gehorsam aus dessen Hand leckte. Hilflos beobachtete Makoto, wie sich Akis Lippen, glänzend vor Fett, erst ein wenig erstaunt und dann freudig lächelnd öffneten, als Sasori Kodama noch mehr von ihm verlangte als nur Männchen zu machen. Viel zu willig beugte Aki in Makotos Vorstellung das Haupt in den Schoß des mächtigen Mannes, um ihm zu danken. Für die Geschenke, die Leckerbissen, die Aufmerksamkeit. Makoto wurde schlecht bei dem Gedanken. Besonders, als ihm einfiel, dass er fast das Gleiche getan hatte. Gestern Abend. Mit dieser Tablette.
 

Ich muss hier weg.

 

Aber er konnte nicht weg. Er musste bleiben. Und auf Aki aufpassen.

 

Nicht in der Lage, sich noch weiter auf den Beinen zu halten, ließ Makoto sich auf das Sofa sinken. Inzwischen war er sich nicht mehr sicher, ob Aki hier mit ihm eingesperrt war oder vielmehr er mit ihm. Daran änderte auch das Gefühl nichts, dass sich die Polster neben ihm absenkten. Er spürte, wie Aki näherkam. Sich an ihn heranschlich, auf allen Vieren. Makoto wusste, dass er sich erheben musste. Den Jungen nehmen, ins Schlafzimmer sperren und maximal noch zu den Mahlzeiten herauslassen. Vielleicht nicht einmal dann. Sicher war sicher. Aber er schaffte es nicht. Er schaffte es einfach nicht.

Aki war heran. Makoto spürte die Präsenz neben sich. Den zweiten Körper dicht an dem seinen. Blicke, die ihn streiften und dann … eine Berührung. Makoto zuckte zusammen.
 

„Was ist das?“

 

Fingerspitzen strichen, nur ganz leicht, über seine Haut. Berührten Schulter und Nacken. Fuhren die Linien nach, die sie dort fanden. Folgten ihnen bis zum Rand seines Unterhemdes. Makoto wusste, dass man so noch nicht viel erkennen konnte. Die wahre Schönheit des Bildes enthüllte sich erst, wenn man es im Ganzen betrachtete. Was niemand tat, außer ihm selbst.

 

„Ein Tattoo.“

 

Die Antwort, so dürftig sie war, musste genügen. Makoto hatte keine Lust, mit Aki zu reden. Wollte nicht, dass er etwas über ihn erfuhr. Wollte nichts mehr über ihn wissen. Er würde seinen Job machen und das war’s.
 

„Und was … zeigt es?“

 

Aki rutschte noch ein Stück näher. Makoto zog hörbar die Nase hoch.
 

„Einen Tiger.“

 

Als Aki nicht reagierte, fuhr er ein wenig lauter fort.

 

„Einen Tiger, verstehst du? Eine blutrünstige, menschenfressende Bestie, bereit, dich mit seinen Krallen zu zerreißen und in deinem Blut zu baden.“

 

Aki schwieg eine Weile. Dann gluckste er.
 

„Ein Tiger also. Ein großer, gefährlicher, menschenfressender Tiger.“

 

Makoto wusste nicht, was daran so lustig sein sollte. Wieder wurde er berührt.
 

„Zeigst du ihn mir?“

 

Makoto schluckte. Da war ein Trommeln in seiner Brust. Der Impuls, Akis Finger zu nehmen, sie ihm zu brechen und ihn dann wieder zurück ins Schlafzimmer zu schleifen, um ihn dort ans Bett zu ketten und elendig verrotten zu lassen. Gleichzeitig wusste er, dass er das nicht tun durfte. Nicht tun wollte. Es machte ihn wütend. Wahnsinnig.

 

„Nein“, schnappte er. Es klang wie ein Zubeißen. „Es ist mein Tattoo. Es geht dich nichts an.“

 

Wie um seinen Standpunkt zu verdeutlichen, verschränkte Makoto die Arme vor der Brust. Er blickte finster drein, hatte die Kiefer angespannt, die Muskeln, alles.

 

Aki raschelte hinter ihm.
 

„Es … tut mir leid“, tönte er leise. Die Fingerspitzen kehrten zurück. Federleicht strichen sie über Makotos Rücken. Vorsichtig und um Entschuldigung bittend. Makoto bemühte sich, sie nicht wegzuschlagen. Er beruhigte seinen Atem. Seinen Herzschlag. Er grollte.
 

„Du hast keine Ahnung.“
 

Erneut hörte er Aki rascheln. Der Junge kam näher. Makoto spürte einen Luftzug in seinem Nacken. Wie die Fingerspitzen mehr Gewicht bekamen. Aki stützte sich auf ihn.
 

„Dann zeig ihn mir“, wisperte es ganz nahe an seinem Ohr. „Zeig mir den Tiger. Lass ihn heraus zum Spielen.“

 

Makoto konnte nicht verhindern, dass die Worte etwas mit ihm machten. Eine Reaktion hervorriefen, wo er keine haben wollte. Keine haben sollte. Er schüttelte den Kopf
 

„Nein“, sagte er und stand auf. Er spürte, wie Aki von seinem Rücken rutschte. Hörte, wie er auf das Sofa plumpste. Stellte sich vor, wie er ihm verwundert aber auch ein wenig zufrieden nachsah, als Makoto … in die Küche ging. Irgendwo musste er ja hin und es gab sonst keine Möglichkeit, um vor der unangenehmen Unterhaltung zu fliehen. Dachte er zumindest, aber die Unterhaltung folgte ihm.
 

„Warum nicht?“

 

Aki, der wieder einen der Stühle erklommen hatte, betrachtete ihn neugierig. Lauernd. Beinahe so, als wüsste er nicht, ob Makoto jetzt etwas zum Spielen oder zum Fressen war. Oder etwas, vor dem man weglaufen musste. Makoto wollte nichts von all dem sein. Gar nichts!

 

„Weil du nicht mir gehörst.“

 

Möglicherweise wischte das ja endlich dieses arrogante Grinsen aus Akis Gesicht, das Makoto zwar nicht sehen, aber ganz deutlich spüren konnte.

 

„Wenn es nämlich so wäre, hätte ich dich längst übers Knie gelegt und dir den Hintern versohlt, dass du drei Tage lang nicht sitzen könntest.“

 

Ein Lächeln zupfte an Akis Mundwinkeln. Offenbar dachte er immer noch gewinnen zu können.

 

Aber nicht mehr lange.

 

Makoto drehte ihm den Rücken zu.

 

„Aber du gehörst mir nicht“, sagte er über die Schulter hinweg. „Und Kodama-sama wäre sicherlich nicht erbaut, wenn ich mich an seinem Eigentum vergreifen würde. Außerdem habe ich dir schon einmal gesagt, dass ich nicht an Männern interessiert bin. Du kannst also aufhören, dich lächerlich zu machen. Du beschämst dich dabei nur selbst.“

 

Eine Weile war es ruhig hinter ihm. Makoto konnte förmlich hören, wie Aki über das nachdachte, was er gesagt hatte. Ein Stuhl scharrte über den Boden. Leise Schritte waren zu hören und dann …

 

Hat er sich gerade auf das Sofa gesetzt? Wo ist er hingegangen?

 

Ohne weiter darüber nachzudenken, drehte Makoto sich um und sah nach. Tatsächlich saß eine kleine, zusammengekauerte Gestalt am entfernteren Ende der Sitzecke. Aki hatte die Beine angezogen und die Arme um die Knie gelegt. Sein Blick ging ins Leere, sein Gesicht unergründlich.

 

Er spielt nur mit dir. Lass dich nicht einwickeln.

 

Mit einem Knurren, das tatsächlich einem Tiger zu Ehren gereicht hätte, wandte Makoto sich ab. Zu seinen Füßen lag die Tüte aus dem Konbini. Deutlich leerer als noch am Tag zuvor. Spätestens morgen würde er einkaufen gehen müssen. Ein Unterfangen, von dem er noch nicht wusste, wie er es bewerkstelligen sollte. Da war immer noch Aki und …

 

Essen wir eben Bonbons.

 

Makoto zog die bunte Tüte hervor. Sie knisterte. Eine Ecke war eingerissen. Makoto runzelte die Stirn.

 

War sie schon offen, als ich sie gekauft habe?

 

Ein Verdacht kam ihm, der sich prompt bestätigte, als er den Mülleimer öffnete. Dort zwischen leeren Bechern und vergeudeten Nudeln lag ein Papier. Grün und rosa war es, mit einer Erdbeere darauf. Makoto knurrte. Dieser Bursche mochte vielleicht schlau sein, aber besonders geschickt war er nicht.

 

Unwirsch schob Makoto den Mülleimer wieder zu, nahm die Bonbons und ging zurück ins Wohnzimmer. Dort angekommen warf er die Tüte auf den Tisch. Aki zuckte zusammen.

 

„Wenn du schon stiehlst, solltest du wenigstens dafür sorgen, dass du keine Spuren hinterlässt. Dein nächster Aufpasser ist vielleicht nicht so nachsichtig wie ich.“

 

Aki schlug die erschrockenen Augen nieder. Ein zarter Roséton sprang auf seine Wangen. Makotos Worte hatten offenbar einen wunden Punkt getroffen.

 

Oder der Bursche ist besser, als ich dachte.

 

Instinktiv hob Makoto die Fäuste und festigte seinen Stand. Seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen, während er jede von Akis Bewegungen beobachtete.

 

Langsam, fast schon in Zeitlupe, kletterten die Finger des Jungen an seinen Beinen herab. Sie legten sich auf seine Füße, während sein Kopf zwischen seine Knie sank. Dann, als bestünde er aus flüssigem Wachs, schob er die Beine vom Sofa, ließ seinen Körper folgen, ging auf die Knie und lag schließlich vor Makoto am Boden. So, wie er es vorhin schon getan hatte. Sein Atem pustete in den Staub.

 

„Es tut mir leid“, sagte er. Dieses Mal konnte Makoto keinerlei Hintergedanken darin erkennen. „Ich habe … mich zu Unrecht an Eurem Eigentum bedient. Ich hätte fragen müssen, ob ich etwas von den Süßigkeiten bekomme.“

 

Makoto schnaubte. Er knurrte.
 

„Ja, allerdings. Das hättest du.“
 

Dass die Bonbons im Grunde nicht ihm, sondern Sasori Kodama gehörten, verschwieg er lieber. Darauf kam es gerade nicht an.

 

„Von jetzt an will ich, dass du … dich benimmst. Keinerlei Annäherungsversuche mehr und auch sonst keinen Unsinn. Haben wir uns da verstanden?“

 

Ein Nicken, das zur Folge hatte, dass Akis Stirn den Boden berührte, war seine einzige Antwort. Makoto knurrte noch einmal, bevor er die Spannung aus seinem Körper entweichen ließ. Er wusste – oder hoffte zumindest – dass er seinen Standpunkt jetzt ausreichend klar gemacht hatte. Auch wenn es nur für den Moment war. Jetzt hatte er allerdings das Problem, dass Aki immer noch vor ihm auf dem Boden kauerte. Und keine Anstalten machte aufzustehen. Warum stand er nicht auf?

 

„Was lungerst du da noch so herum. Hoch mit dir.“

 

Auf Makotos Gepolter hin beugte Aki den Nacken noch tiefer.
 

„Ich erwarte, dass Ihr mich bestraft.“

 

Makoto blinzelte. Nicht nur, dass der Junge ihn jetzt schon zum zweiten Mal betont höflich ansprach, jetzt erwartete er auch noch eine Bestrafung?

 

Makoto knurrte unwillig.
 

„Eine Bestrafung? Und wie sollte die aussehen? Soll ich dir glühende Nadeln unter die Haut treiben? Dich auspeitschen? Oder dir den kleinen Finger abhacken, so wie man es früher getan hat?“

 

Akis Hände verkrampften sich. Makoto sah, wie er sich bemühte, sie gerade zu halten, aber er schaffte es nicht. Nicht völlig.

 

Makoto atmete ein und wieder aus. Dann setzte er sich.
 

„Ich werde dich nicht bestrafen.“

 

Ohne sich noch weiter um den neben ihm hockenden Aki zu kümmern, griff Makoto nach der Tüte mit den Bonbons. Er zog blind eines der Päckchen heraus, wickelte es aus und steckte es sich in den Mund. Erst, als sich der Geschmack bereits entfaltete, warf er einen Blick auf das Papier. Darauf war eine lachende Kirsche zu sehen.

 

Ob Kirschen wirklich so schmecken?

 

Eine echte Kirsche hatte er nie gegessen. Sie waren immer zu teuer gewesen. Meist hatte es nur für Bananen gereicht. Manchmal auch Äpfel oder Orangen, aber Kirschen hatte Makoto stets nur andere Leute essen sehen. Er hatte sie immer beneidet.

 

Ich sollte mir jetzt Kirschen kaufen.
 

Was nutzte es schließlich, für einen der größten Verbrecher von ganz Japan zu arbeiten, wenn man sich nicht einmal Kirschen leisten konnte? Oder Erdbeeren. Oder sich mit merkwürdigen Jungen herumschlagen musste, die immer noch auf dem Fußboden saßen?

 

Makoto zog erneut die Nase hoch. Er würde sich auf dieses „Spiel“ ganz gewiss nicht einlassen. Wenn Aki dort unten herumkriechen wollte, bitte. Makoto würde ihn nicht daran hindern.

 

Aki bewegte sich. Ganz langsam, so als würde er jeden Moment erwarten, dass Makoto ihn darauf ansprach, schob er seinen Rücken in eine aufrechtere Position. Legte die Hände in seinen Schoß und blickte, unter seinem Pony hervor zu Makoto hinauf. Makoto tat, als bemerke er es nicht.
 

Aki holte tief Luft.

 

„Sasori liebte es, mich zu bestrafen.“ Sein Blick war auf den Boden gerichtet, während er das sagte, aber er wirkte nicht, als würde er wahrnehmen, was dort geschah.
 

„Er liebte es sogar so sehr, dass ich manchmal absichtlich etwas falsch machte, um ihm Gelegenheit dazu zu geben. Er erschien immer sehr glücklich, wenn er mich schlagen oder mir anderweitig … wehtun konnte.“
 

Der Bonbon in Makotos Mund wurde sauer. Es schmeckte ihm nicht, was Aki erzählte. Und wie er es erzählte. So als wäre das ganz normal. Er brummte.

 

„Du hast ihn absichtlich wütend gemacht? Ganz schön mutig von dir. Was hast du angestellt? In seine Schuhe gepisst?“

 

Makoto sah, wie Akis Mundwinkel zuckte. Der Junge warf ihm erneut einen verstohlenen Blick zu.
 

„Das nicht, obwohl ich … mich mal in eine Topfpflanze erleichtert habe. Das war jedoch vor meiner Zeit bei Kodama-sama.“

 

Makoto, der den Wechsel der Anrede bemerkt hatte, wandte den Kopf ab. Er wollte von so etwas nichts hören. Es ging ihn nichts an. Neben ihm fuhr Aki fort.
 

„Ich habe allerdings schon einmal einen Bettvorhang zerrissen, ohne Erlaubnis das Haus verlassen und mich vor seine Füße erbrochen. Und ich habe … ihn vor seinen Freunden beschämt. Es war ein sehr exklusives Abendessen und ich hätte eigentlich im Nebenraum warten sollen, bis er mich ruft. Aber ich wollte nicht warten. Also habe ich …“

 

Akis Stimme war leiser geworden. Makoto, der unbewusst aufgehorcht hatte, kämpfte gegen den Drang an, Aki zu fragen, was geschehen war. Alternativ hätte er den Fernseher anschalten können, aber …
 

„Was hast du gemacht?“
 

Die Frage war heraus, bevor Makoto sie zurückhalten konnte.

 

Aki sah jetzt wieder auf den Boden direkt vor sich. Seine Haare bedeckten sein Gesicht.
 

„Ich bin einfach ins Zimmer gegangen. Ich weiß noch, wie sie mich angesehen haben. Sasori hatte mich herausgeputzt. Ich trug Ohren, Halsband und Schwanz. Dazu einen Harness, den er extra für mich hatte anfertigen lassen. Er verdeckte fast nichts.“

 

Die Art, wie Aki das sagte, ließ Makoto aufhorchen. Es erschien ihm, als läge so etwas wie Stolz darin. Oder Bewunderung.

 

„Und dann?“

 

Eigentlich wollte Makoto nicht hören, was danach passiert war. Allein die Vorstellung von Aki mit Katzenohren und einem Schwanz! Aber irgendwie…

 

Akis Oberlippe hob sich ein wenig. Es wirkte wie ein Lächeln.
 

„Dann bin ich auf den Tisch gesprungen“, sagte er und das merkwürdige Lächeln wuchs in die Breite. „Ich habe mich mitten darauf gelegt. Teller und Schüsseln wurden beiseite geschoben oder umgestoßen. Einige fielen sogar herunter und eine Karaffe mit sündhaft teurem Sake ergoss sich mitten auf den unbezahlbaren Teppich. Es war ein furchtbares Fiasko.“

 

Akis Augen leuchteten. Es war das erste Mal, das Makoto ihn so sah und es war … bezaubernd. Wenn nur der Anlass nicht so verstörend gewesen wäre. Seine Handflächen wurden feucht.
 

„Und dann?“
 

Eigentlich hatte Makoto gar nicht fragen wollen. Dieses Karussell drehte sich viel zu schnell und er wollte aussteigen. Aber er konnte nicht.
 

Aki hob den Kopf. Er lächelte. Dieses Mal wirklich. Es nahm Makoto den Atem.
 

„Dann hat Sasori mich bestraft. Es war wundervoll.“

Wundervoll.

 

Das Wort klang in Makotos Kopf nach und verursachte in ihm gleichermaßen den Impuls, es weit von sich zu stoßen und es im selben Moment heranzuholen und nie wieder loszulassen. Makoto merkte, wie seine Kehle trocken wurde. Er schluckte, um das Gefühl loszuwerden. Jedes Gefühl.

 

„Wundervoll?“, blaffte er, als könne er sich durch die Wiederholung der Wirkung des Gesagten entziehen. „Was war denn so wundervoll? Hat er dich den Sake vom Boden lecken lassen?“
 

Es war etwas, dass Makoto Sasori Kodama absolut zutraute.

 

Aki lächelte. Er grinste geradezu.

 

„Nein“, sagte er und das Aufblitzen in seinen Augen hätte Makoto eine Warnung sein müssen.
 

„Aber er ließ ihn mich von den Füßen einer Dame lecken. Sie hatte etwas davon abbekommen und Sasori verlangte, dass ich Wiedergutmachung leiste. An jedem einzelnen ihrer Zehen.“

 

Makoto schluckte erneut. Er versuchte sich gegen die Bilder zu wehren, die auf seinen Geist einstürmten.

 

„Das war … sicherlich sehr unangenehm. Ihre Füße haben sicher gerochen. Nach Schweiß und anderen Dingen.“

 

Dem Leder ihrer Schuhe. Teurer Fußcreme. Nach exklusivem Puder und Honig. Und natürlich nach Sake. Makoto hätte alles dafür gegeben, an Akis Stelle sein zu können. Wenigstens für einen Moment.

 

Aki lächelte.

 

„Oh, gar nicht“, widersprach er heiter. „Im Gegenteil. Ihre Füße waren sehr gepflegt. Weich und anschmiegsam. Keinerlei Hornhaut. Sie trug roten Nagellack passend zu ihrem Kleid. Es war an der Seite geschlitzt und als sie mir ihren Fuß in den Mund steckte, während ich vor ihr auf dem Boden lag, sah ich, wie der Schlitz sich öffnete. Es fehlte nicht viel und ich hätte einen Blick in das verbotene Reich werfen können. Ihre Weiblichkeit betrachten. Ihren Slip und wie er sich feucht färbte aufgrund ihrer Lust. Jedenfalls könnte ich mir vorstellen, dass es so war, denn kurz darauf sah ich, wie sie sich von einem weiteren Herrn befriedigen ließ. Auch er lutschte an ihren Zehen. Ich glaube, das hat ihr gefallen.“

 

Makoto schloss die Augen. Unwillkürlich stellte er sie sich vor. Die Dame im roten Kleid mit den entzückenden Füßen. Makoto war sich sicher, dass sie jemanden wie ihn nicht einmal mit der Kneifzange angerührt hätte. Aber die Vorstellung, sie zu sehen. Zuzuschauen wie sie … bedient wurde. Makoto konnte nur davon träumen. Er fragte sich, ob sie wohl Strümpfe getragen hatte. Natürlich würde er den Teufel tun und sich bei Aki danach erkundigen, aber … die Möglichkeit allein genügte, um ihn zu erregen. Sehr zu erregen.

 

Und das ist genau das, was er gewollt hat.

 

Makotos Lider schnappten nach oben. Er fixierte Aki, der immer noch vor ihm auf dem Boden saß. Seine Augen funkelten, doch es lag ein neuer Ausdruck darin. Einer, den Makoto als Gier identifizierte.
 

Was soll das? Was will er?

 

Makoto hütete sich, die Frage zu stellen. Das Ganze hier war viel zu schnell außer Kontrolle geraten. Viel zu schnell! Er räusperte sich.

 

„Ich nehme nicht an, dass das alles ist, was du erdulden musstest.“

 

Eigentlich wollte er nichts mehr hören, aber er musste diese Frau aus seinem Kopf bekommen.

 

Akis Blick wanderte zu Boden. Immer noch kräuselte ein Lächeln seine Lippen.
 

„Nein“, sagte er leise. „Ich bin natürlich auch geschlagen worden. Getreten, gezwickt, bespuckt und einer der Gäste ist mir auf die Hand gestiegen. Ich hatte Glück, dass der Teppich so dick war, sonst hätte er mir etwas gebrochen.“

 

Makotos Gesicht verhärtete sich. Das war genau das, was er jetzt brauchte. Und was er sich gedacht hatte.
 

„Du wurdest also misshandelt.“

 

Akis Augen blitzten auf. Mit einem fast schon grimmigen Gesichtsausdruck sah er zu Makoto auf.
 

„Ich wurde bestraft“, stellte er fest. „Für etwas, das ich nicht hätte tun müssen. Ich kannte die Konsequenzen und habe mich entschieden, es trotzdem zu tun. Ich wusste, worauf ich mich einlasse.“

 

Makoto schüttelte innerlich den Kopf. Natürlich konnte er nicht leugnen, dass das, was Aki ihm erzählte, eine morbide Faszination auf ihn ausübte. Doch gleichzeitig war er sich sicher, dass das nur die Spitze des Eisberges war. Angesichts dessen, was er von Aki wusste, seiner Aufmachung und dem Inhalt der Reisetasche war Makoto sich sicher, dass an diesem Abend noch mehr passiert war. Viel mehr. Und tatsächlich teilte schon wieder ein Lächeln Akis Lippen.
 

„Außerdem hatten die Gäste viel Spaß. Nachdem Sasori ihnen erlaubt hatte, mich auf jegliche Art und Weise zu benutzen, die ihnen angenehm erschien, habe ich genau gesehen, wie er es genossen hat, ihnen das anbieten zu können. Er war stolz auf mich, wie gut ich es ertragen habe. Mit Händen überall auf meinem Körper, Dingen und Gliedern in allen meinen Öffnungen. Manchmal mehr als eines. Ich habe all das über mich ergehen lassen, um ihn glücklich zu machen. Und es hat funktioniert.“

 

Makoto wurde kalt. Er war sich sicher, dass an diesem Bild, das Aki da zeichnete, etwas ganz und gar nicht stimmte. Dass es so nicht laufen sollte. Dass ein fundamentaler Teil dessen fehlte, was diese besondere Beziehung ausmachte, von der Aki offenbar ausging, dass er und Sasori Kodama sie hatten. Makoto konnte nur nicht den Finger darauf legen, was es war, und noch bevor er dazu kam, weiter darüber nachzudenken, hatte Aki sich schon bewegt. Seine Augen leuchteten.
 

„Nachdem die Gäste weg waren, hat Sasori mich ins Schlafzimmer gebracht. Es war eine große Ehre, dass er das tat. Schließlich war ich immer noch schmutzig. An mir klebten Blut, Speisereste und diverse andere Dinge. Es wäre sein gutes Recht gewesen, mich von sich zu stoßen und für den Rest der Nacht in meinen Käfig zu sperren. Aber er tat es nicht. Er erlaubte mir, ihm meine Dankbarkeit zu zeigen. Dabei ließ er mich immer wieder wissen, wie gut ich das gemacht hätte und das ich so talentiert sei. Sein bestes Pet. Auf ewig.“

 

Akis letzte Worte brachten Makotos Nackenhaare dazu, sich aufzurichten. Da war etwas in seiner Stimme. Eine Nuance Ein Schatten, der kaum, dass Makoto versuchte, genauer hinzusehen, verschwunden war, als hätte es ihn nie gegeben. Zurück blieb die Erinnerung an ein seltsam mulmiges Gefühl und eine Berührung an seinem Knie. Makoto blickte auf und entdeckte Akis Hand, die dort lag und sich nicht bewegte. Makoto zuckte zurück.
 

„Was … was soll das?“

 

Akis Finger waren durch seine Bewegung von seinem Bein gerutscht. Makoto hatte seine Frage jedoch kaum beendet, da kamen sie bereits wieder zurück. Eine zweite Hand gesellte sich zu ihnen. Auch sie berührte Makotos Bein, wenngleich das andere. Sie war ein Stück höher platziert als die erste. Und sie blieb nicht liegen.

 

Aki antwortete nicht. Er kam lediglich näher. Seine gelben Augen bohrten sich in Makotos, während seine Hände unaufhaltsam höher glitten. Sie stoppten, als sie die Hälfte von Makotos Oberschenkel passiert hatten. Makoto fühlte ihre Wärme durch den Stoff sickern. Akis Augen glühten auf.
 

„Ich bin wirklich gut darin“, sagte er und schien auf eine Reaktion zu warten. Makoto war verwirrt. Immer noch fühlte er Akis Hände auf sich.
 

„Gut wodrin?“

 

Aki lächelte. Seine Zunge glitt zwischen seinen Lippen hervor und befeuchtete sie. Makoto konnte sehen, wie sie glänzten. Sich öffneten.
 

„Darin Männern Freude zu bereiten. Sasori und andere würden dir das sicher bestätigen. Also warum lässt du es mich dir nicht vorführen? Ich bin mir sicher, du würdest es nicht bereuen.“

 

Makoto war sich sehr sicher, dass er es absolut bereuen würde. Gleichzeitig war da Aki, dessen Hände immer höher wanderten. Sein leicht geöffneter Mund, die sündigen Lippen. Sein Kopf zwischen Makotos Beinen. Die Tatsache, dass Makoto genau wusste, wovon er sprach. Er spürte sich selbst anschwellen.

 

Nicht. Ich darf es nicht zulassen.

 

Aki lächelte, als er es bemerkte. Seine Fingerspitzen waren nur noch Zentimeter von Makotos bebendem Fleisch entfernt. Es würde nur noch Sekunden dauern, bevor er zugriff und …

 

„Nein!“

 

Makoto schrie. Seine Hand schnellte vor, bekam Akis zu fassen und drückte brutal zu. Er spürte die zarten Fingerglieder unter der harten Behandlung knacken und beinahe nachgeben. Aber nur beinahe. Er wollte ihn nicht verletzen.
 

„Hör auf!“

 

Mit unbarmherziger Härte griff Makoto zu. Er fixierte Aki, hielt ihn von sich weg. Aki kämpfte dagegen an, lehnte sich nach vorn, versuchte zu ihm zu kommen. So sehr, dass Makoto irgendwann nicht anders konnte, als ihn mit ganzem Körpereinsatz zurückzudrängen.

 

Aki landete hart auf dem Rücken. Sofort war Makoto über ihm und drückte ihn nach unten. Immer noch wehrte der Junge sich. Versuchte, an die Stelle heranzukommen, an der Makoto ihn mit Sicherheit nicht haben wollte. Beruhigenderweise herrschte dort jetzt wieder Normalzustand. Die Lust war Makoto gründlich vergangen.

 

„Hör auf!“, herrschte er Aki noch einmal an. Der fuhr noch einen Moment lang fort, unter Makoto zu zappeln, dann erlahmten seine Bewegungen ebenso plötzlich, wie sie begonnen hatten. Schwer atmend sah er zu Makoto auf. Er wirkte verzweifelt. Hoffnungsvoll. Wütend. Erleichtert. Sein Mund öffnete sich.
 

„Ich … ich kann … dich auch anders bedienen. Mit den Füßen, wenn du das möchtest. Ich weiß, dass du das magst. Ich kann das.“

 

Makoto knurrte. Der Drang, Aki ins Gesicht zu schlagen, kam und verging wieder. Zurück blieb die Scham und etwas, das Makoto nach kurzem Überlegen als Verzweiflung identifizierte. Dieselbe Verzweiflung, die wohl auch Aki dazu brachte, sich jetzt an ihm zu reiben. Seinen Unterleib zu heben und ihn Makoto entgegenzustrecken, während der seine Arme auf dem Tisch festhielt. Das oder er war schlichtweg verrückt.
 

„Hör auf!“

 

Makotos Tonfall machte deutlich, dass er sich nicht noch einmal wiederholen würde. Aki hingegen schien es als neue Herausforderung zu sehen. Da waren plötzlich Füße zwischen Makotos Beinen. Akis Füße. An seinem Schwanz.

 

Nein!

 

Mit einer Brutalität, die er sonst nur selten zeigte, riss Makoto seinen Oberkörper zurück und zog Aki dabei mit sich. Er drehte ihn herum, zwang seine Arme auf seinen Rücken. Er hörte Aki aufjaulen, aber er kümmerte sich nicht darum. Mitleidlos stieß er den Jungen vor sich her. Zerrte ihn in Richtung des Bettes, wo immer noch das Seil am Fußboden lag. Makoto griff es und warf Aki aufs Bett.
 

„Du wirst hierbleiben“, donnerte er, während er das schwarze Nylon um Akis Gelenke wickelte. Fest. Fester. Viel fester als gut und gesund war. Aber es war ihm egal. Absolut egal.
 

„Du wirst hierbleiben und du wirst dich nicht rühren, bis ich es dir sage. Du wirst schweigen. Oder ich knebele dich.“
 

Für einen Moment war Makoto versucht, auch diese Drohung wahrzumachen. Einzig die Vorstellung, dass er sich dann dem Inhalt der Tasche hätte nähern müssen, ließ ihn davor zurückschrecken. Sein Herz hämmerte in seiner Brust, seine Lungen brannten. Fester und immer fester wurden die Fesseln. Bis Aki schließlich verschnürt wie ein Paket vor ihm lag. Erst dann ließ Makoto von ihm ab. Sein Atem ging stoßweise und er hätte am liebsten irgendetwas zerschlagen.
 

„Bleib hier“, herrschte er Aki noch einmal an, bevor er fluchtartig das Schlafzimmer verließ. In seinem Nacken fühlte er Akis Blicke. Er wusste, dass er diese Runde verloren hatte. Er war sich nur nicht sicher, ob es überhaupt einen Gewinner gab.

 

Makoto lief. Er rannte. Seine Füße trugen ihn den Flur hinab, in seine Schuhe und durch die Haustür hinaus. Kies knirschte unter seinen Sohlen und der Duft des Blauregens hüllte ihn ein wie eine Wand. Makoto taumelte. Strauchelte. Die Welt um ihn herum drehte sich.

 

Was hab ich getan?

 

Eigentlich nichts, das wusste er. In seinem Inneren jedoch wirbelten die Gedanken und Eindrücke durcheinander wie ein Blütenregen in einem Frühlingssturm. Das Gefühl von Akis Händen auf seinem Bein. Akis Füße in seinem Schoß. Das Seil zwischen seinen Fingern. Der sich windende Körper, den er mit brutaler Gewalt bezwungen hatte. Die Frau in dem roten Kleid. Aki auf allen Vieren, den Mund weit geöffnet. Eine Hand mit einem Goldring auf seinem silbernen Haar.

 

Makoto schloss die Augen. Er wollte das alles nicht sehen. Nicht wissen. Er wollte fort von hier. Weit, weit fort. Als er die Augen wieder öffnete, erblickte er den Wagen. Wie ein Fremdkörper saß er inmitten der Natur. Er gehörte nicht hierher, ebenso wenig wie Makoto. Was, wenn sie beide flohen? All das hinter sich ließen und nie mehr wiederkamen? Makotos Finger ertasteten warmes Metall und den Schlüssel in seiner Tasche. Er öffnete die Tür, wollte einsteigen.

 

Sie würden mich finden.
 

Die Erkenntnis überkam Makoto so plötzlich, dass er beinahe aufstöhnte. Kraftlos sank er in den Sitz, der Wille zu fliehen erloschen wie eine Kerzenflamme im Wind. Er wusste, dass er hier nicht wegkonnte. Auf seine Weise war er ebenso gefangen wie Aki. Wenn er versuchte zu entkommen, würden sie ihn einfangen und wieder zurückschleifen. Sie würden ihn büßen lassen für seinen Ungehorsam. Ihn foltern oder sogar töten, wenngleich auch erst, nachdem sie ihn hatten leiden lassen. Lange leiden lassen. Makoto wusste, was mit Verrätern geschah. Sasori Kodama war kein nachsichtiger Mann.

 

Makoto atmete. Er versuchte es wenigstens, auch wenn der Griff um seine Brust ihm die Luft abschnürte. Dabei war doch gar nichts passiert. Er hatte nichts falsch gemacht. Hatte er nicht! Und selbst wenn, wäre es doch vertretbar gewesen. Der Junge war immerhin da, um jedwedes Verlangen zu bedienen. Es war seine Aufgabe und er wollte es sogar. Hatte er selbst gesagt. Warum also ließ Makoto es nicht einfach zu? Warum hatte er das Gefühl, sich zu beschmutzen, wenn er es tat? Warum fühlte es sich genauso an, wie wenn er die Waffe gegen jemanden richtete und abdrückte?

 

Noch einmal schloss Makoto die Augen und atmete tief durch. Er durfte diese merkwürdigen Gefühle nicht die Oberhand gewinnen lassen. Er war ein Mann, verdammt. Er würde sich doch von diesem Jungen nicht ins Bockshorn jagen lassen. Denn was sollte der schon tun? Er lag gefesselt auf einem Bett. Makoto hatte die Oberhand. Er bestimmte, was geschah. Er hatte die Macht.

 

Makoto ballte die Hände zur Faust. Er war zu weich geworden, hatte sich einlullen lassen. Damit würde jetzt Schluss sein. Im Grunde genommen hätte Aki es sogar verdient, dass er ihn in all seinem Elend liegen ließ und einfach zum Einkaufen fuhr. Allein die Tatsache, dass Makoto sich nicht sicher war, dass er die Fesseln nicht zu fest gezurrt hatte oder aber zu nachlässig gewesen war, sodass es Aki mit dem Geschick, dass er besaß, vielleicht möglich war zu entkommen, hielten ihn zurück. Ihm war klar, dass er nicht einfach gehen konnte – selbst wenn er vorhatte, später zurückzukommen – aber das hieß nicht, dass er Aki irgendwelche Aufmerksamkeit schenken musste. Sollte der ruhig eine Weile dort versauern und darüber nachdenken, was er getan hatte. Mit Sicherheit würde ihm dann klarwerden, dass es besser war, Makoto zu gehorchen. Und bis es soweit war, würde Makoto …

 

Ein Bad nehmen.
 

Makotos Mundwinkel hoben sich. Ja, das war ein guter Plan. Er mochte keinen Shōchū haben, aber er verfügte über eine Badewanne und das Wasser konnte er später verwenden, um die Wäsche zu waschen. Das war ohnehin notwendig, warum also nicht das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden? Zumal er es sich mehr als verdient hatte.

 

Vielleicht erlaube ich Aki sogar, nachher auch noch die Wanne zu benutzen.

 

Makoto verzog das Gesicht, als ihm klar wurde, dass er schon wieder über den Jungen nachdachte. Er brauchte wirklich eine Pause. Eine sehr, sehr lange Pause.

 

Makoto streckte die Hand nach dem Türgriff aus, als er plötzlich stutzte. Das Gefühl, etwas Wichtiges vergessen zu haben, kratzte am Rand seines Bewusstseins und als sein Blick auf das Handschuhfach fiel, wusste er auch, was es war. Hinter der Klappe lag seine Waffe. Es war ein einfaches Modell. Schwarz und nicht besonders groß. Makoto konnte sie leicht unter seiner Kleidung verstecken, ohne dass es auffiel. Trotzdem tat er es selten, wenn es sich vermeiden ließ. Im Grunde nahm er sie nur an sich, wenn Shisu ihn explizit dazu aufforderte. In der restlichen Zeit bewahrte er sie entweder im Auto auf oder in einem Schuhkarton ganz unten zwischen seinen Kleidern. Es sprach also im Grunde nichts dagegen, die Waffe hier zu lassen, trotzdem behagte Makoto der Gedanke nicht.

 

Ich werde sie im Haus verstecken.

 

Das erschien ihm sicherer, als sie hier draußen zu lassen. Diesen Entschluss im Kopf öffnete Makoto das Fach und nahm die Pistole heraus. Sie fühlte sich klein und leicht an in seiner Hand. Fast wie ein Spielzeug. Ein tödliches Spielzeug.

 

Ich verstaue sie auf dem Küchenschrank und dann nehme ich ein Bad.

 

Es war ein einfacher Plan. Leicht und nachvollziehbar. Makoto mochte es, wenn Dinge nicht zu kompliziert waren. Kompliziert wie Aki.

 

Mit einem Schnauben steckte Makoto die Waffe ein, stieg aus und schloss die Tür des Wagens. Es wurde wirklich Zeit, dass er auf andere Gedanken kam. Ganz andere Gedanken.

 

 

Der Wasserdampf, der aus der Wanne stieg, roch nach Yuzu und Pinie. Makoto hatte extra einen frischen und herben Duft ausgewählt, um auch die letzte Erinnerung an die faulige Süße des Blauregens zu vertreiben. Dazu war die Wanne heiß, geradezu kochend. Er würde lange hier drin bleiben können, ohne sich zu verkühlen oder Wasser nachlaufen zu lassen.

 

Makoto seufzte, als er den ersten Fuß in das Wasser gleiten ließ. Seine Haut prickelte und brannte ein wenig von der derben Behandlung, die er ihr zuvor hatte angedeihen lassen. Bis in die letzte Pore hinein hatte er sich geschrubbt um sicherzugehen, dass kein Schmutz in die Wanne gelangte. Es war befriedigend gewesen, auch wenn er einen kurzen Gedanken an Aki und dessen erste Reinigung durch Makotos Hand nicht hatte unterdrücken können. Jetzt jedoch hatte er nicht vor, sich noch einmal durch irgendwelche Überlegungen von seinem Bad abhalten zu lassen.

 

Langsam ließ Makoto den Rest seines Körpers in das heiße Wasser hinab. Es war immer noch ein wenig unangenehm, aber je länger er ausharrte, desto mehr ebbte der Schmerz ab und wandelte sich in wohlige Wärme. Die ätherischen Öle stiegen ihm in die Nase und schienen, ihn auch von innen heraus zu reinigen. Er atmete tief ein, um sie in sich aufzunehmen, dann griff er nach einem Waschlappen.
 

Es plätscherte, als er das Baumwolltuch in das grünliche Wasser tauchte. Makoto holte ihn wieder heraus, wrang den Stoff aus und legte sich das immer noch feuchte Tuch anschließend auf die Stirn und über die Augen. Wohlig grunzend ließ er seinen Kopf zurück auf den Wannenrand sinken, während der Rest seines Körpers im warmen Wasser verschwand. Ja, das war genau das, was er jetzt brauchte. Kein Aki, kein Shisu und erst recht kein Sasori Kodama. All das konnte er hinter sich lassen, eingehüllt in warme, duftende Flüssigkeit. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte dieser Zustand niemals enden müssen.

 

 

Makoto öffnete die Tür des Baderaums. Dampf wölkte an ihm vorbei und er trat rasch in den Flur und schloss die Tür wieder. Draußen war es nach wie vor ruhig. Aus dem Schlafzimmer kam kein Laut, was vermutlich hieß, dass Aki keinen Unsinn angestellt hatte, während Makoto in der Wanne gewesen war. Es hieß allerdings auch nicht unbedingt, dass es ihm gut ging. Makotos schlechtes Gewissen begann sich zu regen.

 

Ich hätte vor dem Baden noch einmal nach ihm sehen sollen.

 

Aber er hatte es nicht getan und das war nun nicht mehr rückgängig zu machen. Trotzdem war es wohl besser, wenn er jetzt einmal überprüfte, ob wirklich alles in Ordnung war. Und vielleicht wollte Aki ja tatsächlich baden. Nachdem er sich jetzt selbst entspannt hatte, war Makoto durchaus gewillt, dem Jungen dieses Privileg zu gewähren. Vorausgesetzt natürlich, er würde sich benehmen.

 

Vorsichtig schob Makoto die Tür zum Schlafzimmer zur Seite. Drinnen war es, wie üblich, fast schon stockdunkel. Im Licht der Tür war es Makoto trotzdem möglich, die Umrisse der auf dem Bett liegenden Gestalt zu erkennen. Aki hatte sich keinen Zentimeter bewegt, seit Makoto ihn nach ihrem Zusammenstoß zurückgelassen hatte.

 

Leichte Unruhe machte sich in Makoto breit, als er neben das Bett trat und sich zu dem gebundenen Körper herabbeugte. Er verlagerte sein Gewicht, sodass das Licht an ihm vorbeiströmte, und konnte sich im nächsten Moment ein Lächeln nur schwer verkneifen.

 

Aki schlief. Seine wilden, gelben Augen waren geschlossen, seine spitze Nase war tief im Kissen vergraben und sein Atem ging ruhig und gleichmäßig. Angesichts der Tatsache, dass Makoto ihn wirklich sehr eng zusammengeschnürt hatte, wusste er zwar nicht, wie der Junge das fertigbrachte, aber es bestand kein Zweifel. Aki weilte im Land der Träume und würde wohl so bald auch nicht von dort zurückkehren.

 

Makoto spürte ein Gähnen herannahmen. Der Anblick des friedlich Schlafenden, die Dunkelheit und die warme Schwere, die nach dem Baden von seinem Körper Besitz ergriffen hatten, machten es ihm nahezu unmöglich, es zu unterdrücken. Gewichte schienen an seinen Augenlidern zu ziehen und Makoto hatte mit einem Mal den sehnlichen Wunsch, sich ebenfalls niederzulegen. Nur … konnte er das ungestört tun? Die Aussicht, dafür ins hell erleuchtete Wohnzimmer zurückzukehren, erschien ihm nicht besonders attraktiv. Er würde sich die Decke über den Kopf ziehen müssen, um das Licht auszusperren, dann darunter schwitzen, den Stoff wieder vom Gesicht zerren und sich am Ende vermutlich so lange herumwälzen, bis die wohlige Ausgeglichenheit vollkommen dahin war. Hier im Schlafzimmer hingegen war es schön dunkel und kühl. Das Bett war zudem breit genug und Aki schlief ja. Wenn er erwachte und Makoto brauchte, wäre der gleich in der Nähe, und letzten Endes: Was wollte er tun? Sich auf Makoto draufrollen und versuchen, ihn zu ersticken? Wohl kaum.

 

Es wird schon nichts passieren, versuchte Makoto sich selbst zu beruhigen. Er schlüpfte aus der Hose, die er sich nach dem Bad kurzerhand wieder angezogen hatte, legte sie auf den Boden und schloss nur noch mit Unterwäsche bekleidet die Tür. Sofort wurde es um ihn herum tatsächlich so dunkel, dass er kaum noch die Hand vor Augen erkennen konnte. Langsam tastete er sich vorwärts, bis er schließlich das Bett errichte. Behutsam schob er die Tagesdecke zurück, auf der Aki immer noch lag, entfaltete die darunter liegende Bettdecke und ließ sich nur Augenblicke später auf die weiche Matratze sinken. Kaum hatte sein Kopf das Kissen berührt, fühlte er auch schon den Schlaf herannahen.

 

Ich habe mir das verdient, dachte er noch, bevor er endgültig die Augen schloss. Nur kurz darauf begann Makoto zu träumen.

Die Abendgesellschaft war exklusiv. Überall, wo Makoto hinsah, fiel sein Blick auf Männer in teuren Anzügen und Frauen in schicken Abendkleidern. Schmuck glitzerte an ihren Hälsen und ihre Füße steckten in betörenden Absatzschuhen. Ein Mädchen in einem Kimono schwebte vorbei. Sie bot Makoto ein Getränk an. Er nahm es, um nicht unhöflich zu sein, und sah sich weiter um.

 

Die Villa, in der er sich befand, war groß und kostspielig. Dicke Teppiche, dunkles Holz und geschnitzte Ornamente, so weit das Auge reichte. Über den Köpfen der Gäste schwebten Kristalllüster und an den Wänden hingen Porträts und Bilder in goldenen Rahmen. Darüber hinaus schienen sich alle prächtig zu unterhalten. Niemand hielt Makoto auf, der sich mit jedem Schritt sicherer war, dass er nicht hierher gehörte. Auch er trug einen Anzug, den er nie zuvor gesehen hatte. Eine Dame trat auf ihn zu.
 

„Wer sind Sie? Ich habe Sie noch nie zuvor hier gesehen.“

 

Makoto erstarrte. Die Frau vor ihm trug ein rotes Kleid. Er begann zu schwitzen.
 

„Ich … ich suche jemanden“, stotterte er und bemühte sich, nicht auf ihre Füße zu sehen. Er war sich sicher, dass er sie sofort erkennen würde. Die Frau in dem roten Kleid.

 

„Sasori, sieh doch, es hat sich jemand zu uns verirrt.“

 

Makoto erstarrte. Er spürte die Präsenz, die sich in seinem Rücken aufbaute und dann um ihn herumkam, wie ein Hai, der im Wasser seine Kreise zog.
 

„Ah, Makoto. Ich habe dich erwartet.“
 

Vor ihm stand Sasori Kodama. Der Mann mit den ergrauenden Schläfen und dem harten Zug um den Mund ging ihm gerade mal bis zum Kinn. Trotzdem musste Makoto an sich halten, um nicht zurückzuweichen. Da war etwas an seinem Gegenüber, das in ihm den Wunsch weckte, sich entschuldigend zu Boden zu werfen. Nur mit Mühe hielt Makoto sich davon zurück, genau das zu tun. Sasori Kodama lächelte.

 

„Wie ich sehe, hast du schon etwas zu trinken. Champagner. Bist du sicher, dass du nicht etwas Stärkeres möchtest?“

 

Wie von Geisterhand verschwand das Glas aus Makotos Hand und wurde ersetzt durch etwas Schweres, Handfestes. Ein Tumbler und darin eine klare, ölig wirkende Flüssigkeit. Makoto schluckte.
 

„Trink nur. Es ist genug da.“

 

Sasori Kodamas Lächeln wurde breiter. Auf seiner Weste war ein Pfauenmuster.
 

„Komm, mein Freund. Ich werde dich herumführen. Dich einigen Leuten vorstellen. Möchtest du das?“

 

Makoto hätte am liebsten mit dem Kopf geschüttelt, aber er wagte nicht zu widersprechen. Voller dunkler Vorahnungen folgte er Sasori Kodama, der vorausging und ihn in einen Innenhof führte. Inmitten der ausladenden Fläche war ein Garten angelegt worden. Eine geschwungene Brücke spannte sich über einen Teich, in dem groß gewachsene Koikarpfen herumschwammen. Mattgrauer Kies bedeckte die Flächen zwischen den präzise beschnittenen Bäumen und erlesenen Pflanzen. Steinerne Laternen beleuchteten die angelegten Wege. Makoto konnte etwas plätschern hören und entdeckte einen kleinen Wasserlauf, der von einer höher gelegenen Empore herabströmte, zwischen einigen Felsen hindurchlief und schließlich im Teich mündete. Daneben lud eine kleine Pagode zum Verweilen ein. Makoto merkte, wie er begann, freier zu atmen.
 

„Schön, nicht wahr?“

 

Sasori Kodama war stehengeblieben und sah Makoto auffordernd an. Eifrig nickte Makoto.
 

„Ja, es ist ein wirklich schöner Garten. Haben Sie ihn selbst angelegt?“
 

Sasori Kodama verzog den Mund. Seine Augen funkelten.

 

„Glaubst du wirklich, ich würde mir bei solch niederen Tätigkeiten die Hände schmutzig machen?“

 

Makoto schüttelte schnell den Kopf. Natürlich würde ein so wichtiger Mann wie Sasori Kodama das niemals tun. Jemand wie er hatte Personal, das sich um solche Dinge kümmerte. Er hatte Personal für alles.
 

„Allerdings gibt hier es etwas, das ich stets selbst versorge. Ich würde es niemand anderem anvertrauen. Möchtest du es sehen?“
 

Wieder nickte Makoto. Ihm war nicht wohl dabei, aber er wusste, dass er keine Wahl hatte. Es wäre zudem eine Beleidigung gewesen, dieses exklusive Angebot abzulehnen.

 

Sasori Kodama lächelte. Sein Gesicht lag in Falten.
 

„Dann komm mit.“
 

Wieder folgte Makoto dem Mann, dem er noch nie so nahe gewesen war. Er brachte ihn zu einem Gebäudetrakt, der ein wenig abseits vom Rest des Hauses lag. Weiße Wände und kleine Fenster. In seinem Inneren … nichts als Schwärze.
 

„Was ich dir jetzt zeige, hat noch nie jemand zu Gesicht bekommen. Es ist eine große Ehre.“
 

Sasori Kodamas Stimme schwebte vor ihm durch die Dunkelheit. Makoto beeilte sich zu nicken.
 

„Ja. Vielen Dank, Kodama-sama. Ich …“
 

Der Rest seiner Rede blieb Makoto im Hals stecken. Ein Licht war entzündet worden. Es warf einen blendenden Kegel auf ein Gebilde aus stählernen Streben. Ein Käfig und darin …
 

„Wow!“

 

Makoto konnte nicht anders, als das Tier anzustarren, das sich auf der anderen Seite der Abtrennung befand. Sein Blick fiel auf flauschiges, silbergraues Fell mit schwarzen Flecken und Tupfen. Runde Ohren mit schwarzen Spitzen rahmten ein ausdrucksstarkes Gesicht mit gelben Augen und runden Pupillen. Ein massiger, buschiger Schwanz durchpeitschte die Luft und aus der Kehle des Tieres schien ein Grollen zu kommen. Einzig die Gitterstäbe hielten es davon ab, sich auf Makoto zu stürzen. Dass er dabei noch ein ganze Stück vom Käfig entfernt stand, war dabei kein Hindernis. Die kräftigen Beine mit dem breiten Pfoten würden es der Raubkatze mühelos erlauben, diese Distanz aus dem Stand zu überwinden. Mindestens.

 

Hinter sich hörte Makoto Sasori Kodamas Stimme.

 

„Schön, nicht wahr? Ein Schneeleopard. Ich habe ihn selbst gefangen und aufgezogen. Er gehorcht mir aufs Wort.“

 

Wie, um diese Aussage zu unterstreichen, hörte der Leopard auf zu grollen. Seine gelben Augen bohrten sich noch ein letztes Mal in Makotos Blick, bevor er geschlagen den Kopf senkte. Es zerriss Makoto das Herz, obwohl er noch Sekunden zuvor gefürchtet hatte, von den scharfen Zähnen der riesigen Katze zerfleischt zu werden. Das hier war … nicht richtig. Ein solches Tier gehörte in einen Zoo oder noch besser: zurück in die Freiheit. Sein Körper war dafür geschaffen, die höchsten Höhen des Himalayas zu bezwingen, unbeirrt über schneebedeckte Weiten zu wandern oder von zerklüfteten Klippen zu springen. Obwohl sich Makoto der Vorstellung nicht erwehren konnte, dieses wundervolle Tier auch spielen zu sehen. Mit Artgenossen etwa oder einem Beutetier. Oder einfach nur so glücklich herumtollend, einen Hügel hinunterrutschend oder wild durch die Luft springend im sonnenbeschienen Pulverschnee. Einfach weil er es konnte. Das mit anzusehen, musste atemberaubend sein.
 

Doch dieses Exemplar nicht. Dieses Exemplar musste dienen. Makoto hörte ein Lachen.

 

„Ich sehe, du bist beeindruckt. Das war ich auch, als ich ihn zum ersten Mal gesehen habe. Ich wusste sofort, dass ich ihn haben muss. Doch warte nur ab, es wird noch besser.“

 

Ein zweiter Lichtkegel flammte auf. Makotos Kopf ruckte herum zu dem Punkt, wo ein weiterer Käfig aus der Dunkelheit gehoben worden war. Auch er enthielt ein Tier. Fauchend gab es Makoto zu verstehen, dass er nicht erwünscht war. Tiefschwarzes Fell schimmerte über sich bewegenden Muskeln. Ein fleischfarbener Rachen und blitzend weiße Zähne. Dazu ein langer, schlanker Schwanz wie eine züngelnde Schlange. Ein Panther!
 

„Das ist Kurai.“

 

Sasori Kodama trat auf den Käfig zu. Noch immer fauchte der Panther, doch als Sasori Kodama seine Hand an die Gitterstäbe legte, beruhigte er sich sofort. Den Blick nach wie vor auf Makoto gerichtet tappte die Raubkatze zu der Hand, zögerte kurz und schmiegte dann ihren großen Kopf an die Finger, die bereitwillig begannen, sie zu kraulen.
 

„Er ist in jeder Hinsicht herausragend.“

 

Sasori Kodamas ganze Aufmerksamkeit galt jetzt der schwarzen Katze, die kurz davor schien, sich vor ihm auf den Rücken zu werfen. Vollkommen ohne Angst ließ er seine Finger durch das schwarze Fell gleiten, in seinem Gesicht ein Ausdruck der Verzückung. Neben sich hörte Makoto ein gequältes Jaulen.

 

„Ach, Aki, wer wird denn weinen?“, säuselte Sasori Kodama, während er weiter den Panther streichelte. „Du weißt doch, dass das mit uns nicht von Dauer sein konnte. Deswegen habe ich dir doch auch einen Spielkameraden besorgt. Einen, der sich deiner annehmen wird. Auf seine ganz eigene Weise.“

 

Makoto glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen. Hatte Sasori Kodama gerade tatsächlich …?

 

Fassungslos sah Makoto zu, wie Sasori Kodama jetzt wieder zu dem ersten Käfig ging. Der Schneeloepard in seinem Inneren war zurückgewichen. Seine Schnurrhaare bebten, aber kein Laut kam aus seiner Kehle. Er zitterte. Sasori Kodama lächelte breit.
 

„Oh ja, mein Schöner“, sagte er und der Ausdruck in seinen Augen wurde gierig. „Wir werden dafür sorgen, dass du fein herausgeputzt wirst. Kurai wird das Wasser im Munde zusammenlaufen, so hübsch werden wir dich machen. Und dann werde ich zusehen, wie ihr beide euch paart. Immer und immer und immer wieder. Denn du wirst mein hübsches, kleines Mädchen sein. Ja, das wirst du. Und du wirst alles tun, was ich verlange. Alles.“

 

Makoto prallte zurück. Mit weit aufgerissenen Augen beobachtete er, wie Sasori Kodama ein Halsband hervorzog. Es war schwarz mit großen, rosafarbenen Schmucksteinen.
 

„Komm, mein Mädchen, komm. Sei ein braves, kleines Mädchen. Ja, so ist es gut. Du bist schon ganz wild darauf, von Kurai gedeckt zu werden, nicht wahr? Ja, das bist du. Du kannst es kaum noch erwarten. Deine kleine Pussy ist schon ganz nass vor Freude. Aber keine Sorge, bald wirst du unter ihm liegen und er wird dich ficken und dann werdet ihr viele schöne kleine Babys für mich machen, ja? Versprichst du mir das?“

 

Makoto wollte schreien. Sich übergeben. Er wollte machen, dass dieser Wahnsinn aufhörte. Wollte Sasori Kodama das Band entreißen, das er jetzt um den Hals des am Boden kauernden Schneeleoparden legte. Wollte ihm sagen, dass er das nicht durfte.

 

Sasori Kodama drehte sich herum. Sein Gesicht lag zum Teil in den Schatten, aber Makoto konnte das Funkeln in seinen Augen sehen. Es war wie ein Dolch, der sich auf ihn richtete.
 

„Aber Makoto, warum willst du denn schon gehen. Du wirst noch die Show verpassen. Willst du denn nicht sehen, wie Aki von Kurai gefickt wird?“

 

Makoto schrie.
 

„NEIN!“, brüllte er, so laut er konnte. „Nein! Das können Sie nicht tun.“

 

Sasori Kodamas Lächeln wuchs in die Breite. So sehr, dass es die Grenzen des Menschlichen verließ und zu etwas Dunklerem wurde. Etwas Abscheulichem, Verabscheuungswürdigem und absolut Bösem.
 

„Ach, kann ich das nicht?“

 

Makoto hörte ein Kichern.
 

„Ich glaube, da täuschst du dich. Ich kann nämlich alles tun. Alles, was ich will. Denn ich bin Sasori Kodama.“

 

In diesem Moment traf Makoto ein Schlag in den Rücken. Ein reißender Schmerz zerfetzte seine Brust. Er wäre nach vorne getaumelt, wenn er nicht festgesteckt hätte. Zwischen seinen Rippen ragte eine schwarze, gebogene Spitze hervor. Sie glänzte feucht und Makoto wusste, dass es nicht nur sein Blut war, das den Stachel tränkte. Der Skorpion hatte ihn erwischt.
 

„Siehst du?“

 

Sasori Kodamas Stimme hallte von den Wänden des Raumes wieder.

 

„Ich kann alles tun. Alles, was ich will.“

 

Lachen brach über Makoto herein. Ein irres, wahnsinniges Lachen. Makoto wollte sich die Ohren zuhalten. Er wollte rennen, schreien, atmen. Aber nichts davon war möglich. Nichts. Seine Lungen füllten sich mehr und mehr mit Blut. Seine Sicht begann zu schwinden.

 

Makoto brach in die Knie. Seine Beine versagten ihm den Dienst und sein Herz schlug immer langsamer. Die sengende Hitze in seinem Inneren wich bleierner Kälte. Sie nahm von ihm Besitz und umklammerte ihn mit immer festerem Griff. Schon spürte er seine Beine nicht mehr, seine Hände, Arme. In seinem Kopf begann sich alles zu drehen.

 

Aki.

 

Ein letztes Mal bäumte Makoto sich auf. Mit schier unendlicher Kraft hob er den Kopf und suchte den Blick des Schneeleoparden. Das Tier sah ihn an und Makoto wollte ihm sagen, dass alles gut werden würde. Dass er kommen und ihn befreien würde. Dass er in Sicherheit wäre. Aber er konnte es nicht.

 

Makoto starb, bevor er die Worte aussprechen konnte. Als er erwachte, spürte er etwas Schweres auf seiner Brust. Sein Gesicht war nass von seinen eigenen Tränen.

 

 

Ein Schluchzen formte sich in Makotos Kehle, aber er hielt es zurück. Das, was er gerade erlebt hatte, war ein Traum. Eine Vision, nichts weiter. Das Gewicht auf seiner Brust hingegen war real. Es nahm ihm die Luft und fixierte zudem seinen linken Arm. Makoto brauchte einen Moment, bis ihm klar wurde, was es war.

 

Aki!

 

Der Junge musste es, wie auch immer, geschafft haben, sich im Dunkeln an ihn heranzurobben. Da Makoto ausschloss, dass er vorher die Fesseln gelöst hatte, musste er sich dafür gewunden haben wie ein Wurm. Es war ein Wunder, dass Makoto dadurch nicht aufgewacht war.

 

Ich muss tief geschlafen haben.

 

Immer noch benebelt von den Nachwirkungen seines Traums, nutzte Makoto die freie Hand, um sich über die Augen zu wischen. Flüssigkeit netzte seine Haut, bevor er sie an der Bettdecke abstrich. Blieb nur noch den Jungen von sich herunterzubekommen. Schon spürte Makoto, wie die Fingerspitzen seiner linken Hand zu kribbeln begannen. Probehalber bewegte er sie und den Arm gleich mit.
 

„Hey! Hey du! Aufwachen.“

 

Makoto vernahm ein Seufzen. Einen tiefen Atemzug und etwas wie ein verhaltenes Gähnen. Zwar konnte er nichts sehen, aber er war sich sicher, dass Aki gerade blinzelnd die Augen öffnete. Ob er wusste, wo er war? Noch einmal ruckte Makoto an der eingeklemmten Gliedmaße.
 

„Hey!“
 

Dieses Mal hatte er mehr Erfolg. Er spürte, wie Bewegung in Akis Körper kam. Er rutschte von Makotos Brust und sein Kopf landete rücklings auf dessen Arm. Makoto konnte das Seil spüren, das Akis Hände auf seinem Rücken zusammenband. Das Gewicht an seiner Seite war warm und seltsam beruhigend.
 

„Guten Morgen.“

 

Makoto wusste natürlich, dass es nicht Morgen war. Wenn er hätte raten müssen, hätte er vermutet, dass sie sich irgendwo im späten Nachmittag befanden. Er wusste auch, dass er sich eigentlich hätte bewegen müssen. Aki vollkommen von sich runter rollen und vor allem dem Jungen endlich die Fesseln abnehmen. Trotzdem blieb er liegen. Nur noch einen Moment.

 

„Hast du gut geschlafen?“

 

Auch diese Frage war eigentlich fehl am Platz. Vielmehr hätte Makoto fragen müssen, was Aki einfiel, ihn einfach so als Kopfkissen zu missbrauchen. Er hätte toben müssen, weil der Junge keinen Abstand gehalten und ihn ohne Erlaubnis berührt hatte. Doch etwas ließ ihn zögern, all das zu tun. Stattdessen verharrte er in seiner jetzigen Position, Aki halb in, halb auf seinem Arm, und betrieb höfliche Konversation. Einseitige Konversation, wenn man es genau nahm.
 

Was ist los? Hat es dir jetzt die Sprache verschlagen? Du warst doch vorhin noch so vorlaut. Deine großen Töne sind dir wohl vergangen, was?

 

All das wollte Makoto sagen, doch ebenso wie er Aki nicht körperlich von sich stieß, unterließ er auch die verbale Zurechtweisung. Stattdessen atmete er tief ein und wieder aus. Eine Sache musste er allerdings wissen.
 

„Sind die Fesseln bequem?“

 

Natürlich würde Aki darauf nicht mit einem Ja antworten. Dafür war Makotos Behandlung zu grob, seine Finger zu ungeschickt, sein Tun zu zügellos gewesen. Allein die Tatsache, dass Aki trotz allem geschlafen hatte, war vielleicht ein Hinweis darauf, dass er es nicht zu arg getrieben hatte. Entweder das oder Aki war vollkommen erschöpft gewesen. Makoto wartete, aber es kam keine Antwort. Noch einmal holte er tief Luft.

 

„Es tut mir leid.“
 

Das auszusprechen war leicht und doch bereute Makoto es im selben Augenblick. Er wusste, er sollte es nicht tun, denn es bestand die Gefahr, dass Aki daraus die falschen Schlüsse zog. Also setzte Makoto hinzu:
 

„Ich habe die Beherrschung verloren. Das hätte nicht passieren dürfen.“

 

Immer noch schwieg Aki und so langsam hatte Makoto das Gefühl, dass er sich lächerlich machte. Obendrein hielt er den Jungen immer noch im Arm. Es wurde höchste Zeit, dass …

 

„Ist okay.“

 

Makoto hätte sich beinahe verschluckt. Akis Stimme zu hören, war eine Überraschung. Besonders, da er noch nicht fertig war.

 

„Ich … ich bin auch … zu weit gegangen. Ich hatte eine Strafe verdient.“

 

An dieser Stelle hätte es wohl gut sein können, aber Aki sprach einfach weiter.
 

„Es ist nur so, dass … ich doch nichts anderes kann. Und du warst so nett zu mir, Makoto, dass ich dir … ich wollte dir danken, verstehst du? Es war … dumm von mir zu denken, dass es dir gefallen könnte. Dafür muss ich mich bei dir entschuldigen. Ich hoffe, du kannst mir verzeihen.“

 

Etwas in Makotos Brust zog sich zusammen. Vor seinem inneren Auge sah er den Käfig aus seinem Traum. Die gefangene Katze mit ihren gelben Augen. Augen, die waren wie Akis. Makoto hatte sie an sich drücken wollen, obwohl er wusste, dass das sicherlich nicht gut gegangen wäre. Der Schneeleopard war immer noch ein Raubtier. Aber da war Aki. In seinem Arm. Ihn konnte er …

 

Nein.

 

Gerade noch rechtzeitig hielt Makoto sich zurück. Er durfte das nicht tun. Nicht ausnutzen, was immer es hier auszunutzen gab. Außerdem war Aki immer noch gefesselt. Es wurde Zeit, dass Makoto das beendete.

 

„Komm. Roll dich mal rüber. Ich mache dich los.“

 

Aki gehorchte. Im Dunkeln war es schwierig, ja eigentlich unmöglich, die Knoten zu finden, die Makoto zuerst lösen musste. Irgendwann gab er auf, erhob sich, ging zur Tür und öffnete sie. Nur einen Spalt weit. Draußen herrschte blendende Helligkeit. Makoto ließ etwas davon ins Schlafzimmer und kehrte dann zurück zum Bett. Kniend schob er sich darauf.
 

„Hier. Jetzt geht es besser.“

 

Erneut begann Makoto, sich am Seil zu schaffen zu machen. Er öffnete die Knoten und Schlingen, wickelte die schwarze Schnur ab und befreite Aki so Stück für Stück aus seinem Gefängnis. Der Junge gab sich Mühe, seine Erleichterung nicht zu zeigen, aber im Halbdunkel konnte Makoto sehen, wie er sich die Knöchel rieb, die steif gewordenen Gliedmaßen bewegte und sich unauffällig streckte. Immerhin hatte die Kleidung, die er trug, an den meisten Stellen verhindert, dass das Seil ihn wund scheuerte. Nur auf seinen Armen und Handgelenken waren rötliche Abdrücke zu sehen. Makoto versuchte, nicht so genau hinzusehen. Irgendwann war Aki frei. Makoto nahm das Seil zusammen und richtete sich auf. Sein Blick ruhte auf Aki.
 

„Und?“, wollte er wissen. „Alles okay?“

 

Aki nickte. Er lag auf dem Rücken und sah zu Makoto auf. Unter ihm das zerknüllte Laken. Zeichen einer langen Nacht. Oder vielmehr eines langen Nachmittags. Bald würden sie wieder essen müssen. Sich die Zeit vertreiben, das Badezimmer benutzen und schließlich wieder ins Bett gehen. Vermutlich erst spät, sie waren ja ausgeruht. Makoto fragte sich, wo er wohl schlafen würde. Sicher nicht hier im Bett. Obwohl …

 

„Es war schön.“

 

Akis Worte ließen Makoto blinzeln. Wovon sprach er? Aki lächelte leicht.
 

„Bei dir zu liegen. Ich habe mich … gut gefühlt. Warm und beschützt.“

 

Makotos Mundwinkel zuckte. Er wollte nicht lächeln. Wollte Aki nicht zeigen, dass ihm gefiel, was er gesagt hatte. Wollte nicht, dass Aki wusste, dass er …

 

Makoto räusperte sich.
 

„Das ist gut. Aber bilde dir nicht ein, dass das zur Gewohnheit wird. Ich werde nicht nochmal hier schlafen.“

 

Leider. Das Bett war wirklich bequem.

 

Wieder nickte Aki leicht. Seine Hand bewegte sich und schmale Fingerspitzen streiften Makotos Knie. Es war nur eine ganz zarte Berührung. Eine, die Aki mit den Augen begleitete. Makoto spürte, wie der Blick höher glitt. Dorthin, wo Makoto ihn nicht haben wollte. Und doch hielt er still.
 

„Du solltest … die Hosenbeine hochschlagen, bevor du aufstehst. Sie sind zu lang.“

 

Aki unterbrach seine Betrachtungen, um erneut zu Makoto aufzusehen. Seine Lippen öffneten sich.
 

„Und wenn ich sie ausziehe?“

 

Makoto runzelte die Stirn.
 

„Wie meinst du das?“

 

Aki befeuchtete seine Lippen. Nur einen Moment konnte Makoto seine Zunge sehen, bevor sie wieder verschwand. Aki schluckte, er schien nervös. Sein Blick wich Makotos aus.
 

„Na ja, ich hatte gedacht, dass ich vielleicht … nur mit den Shorts …?“

 

Für einen Augenblick, nur ganz kurz, sah Aki auf, bevor er wieder die Lider senkte. Makoto atmete. Ein und aus.
 

„Und wie willst du sie dazu bringen, an Ort und Stelle zu bleiben?“

 

Akis Blick schnellte nach oben und wieder zur Seite.
 

„Nun, ich dachte, ich könnte vielleicht den Gürtel …“

„Das wird nicht halten.“

„Und wenn ich hier liegen bleibe?“
 

Wieder sah Aki auf. Dieses Mal jedoch hielt er Makotos Blick fest. In seinen Augen lag ein Flehen, ein Wunsch, eine Dringlichkeit, die Makoto nicht verstehen konnte. Nicht, bis Akis Blick sich wieder von seinem löste und tiefer wanderte. So tief, dass Makoto wusste, wo er hinsah. Er widerstand dem Drang, sich zu bedecken.
 

„Und was willst du tun, während du hier liegst?“
 

Die Frage war dumm. Makoto wusste, dass Aki nicht vorhatte, ein Buch zu lesen. Woher hätte er das auch nehmen sollen? Es gab einen Fernseher, aber auch den wollte Aki sicherlich nicht benutzen. Makoto wusste, was er wollte. Aki öffnete den Mund.
 

„Ich will …“
 

Er stockte. Suchte nach Worten, nach einem Ausweg. Seine Augen huschten durch den Raum und blieben schließlich wieder an Makoto hängen. An seinem Schritt. Er schluckte.
 

„Bitte.“
 

Aki flüsterte. Flehte. Es griff nach Makotos Herz. Es klopfte in seiner Brust. Aki sah zu ihm hoch.
 

„Bitte“, wiederholte er und wagte doch nicht, sich zu bewegen. „Bitte, Makoto.“

 

Nimm mich.

 

Aki hatte die Worte nicht ausgesprochen, aber sie standen so deutlich in seinem Blick, dass Makoto sie nicht hören musste, um zu wissen, was Aki wollte. Er wollte, dass Makoto tat, was er nicht tun konnte. Nicht tun wollte. Und doch ließ die Aussicht ihn zucken.

 

Bitte lass ihn das nicht gesehen haben.

 

Makotos Mund wurde trocken, während er sich gegen die Bilder wehrte, die auf ihn einstürmten. Bilder von Aki. Nackt, gebunden, in einem Kleid, ohne das Kleid, vollkommen nackt und tatsächlich erregt. Makoto wusste, dass wenigstens dieses letzte Stück seiner Fantasie entsprang. Es machte es nicht besser. Vorsichtig zog Makoto sich ein Stück weit zurück.
 

„Nein“, sagte er, so fest er konnte. „Ich sagte bereits, dass ich das nicht tun werde. Also hör auf …“

 

„Aber ich brauche das.“
 

Dieses Mal war Akis Stimme mehr Forderung als Flehen. Die Raubkatze schlug mit dem Schwanz. Sie war hungrig.

 

Makoto wich weiter zurück.
 

„Dann weißt du sicher, was du tun musst“, sagte er mit belegter Stimme. „Wenn du möchtest, warte ich draußen.“

 

Ich schalte den Fernseher an. Die Waschmaschine. Alles, was laut ist.

 

Es drängte Makoto, das hinzuzufügen, aber Aki schüttelte bereits den Kopf.
 

„Du musst bleiben. Ich kann nicht …“
 

Wieder unterbrach er sich und Makoto verstand plötzlich. Der Käfig. Aki meinte den Käfig. Dieses Mal nicht den aus Makotos Träumen, sondern den, den Sasori Kodama ihm in Wirklichkeit angelegt hatte. Makoto wusste einfach, dass es so war. Und Aki konnte ihn nicht öffnen.
 

„Aber wie …?“

 

Makote begann die Frage, aber er beendete sie nicht. Er wusste wie und dieses Wissen war der Schlüssel zu dem, was Aki von ihm verlangte. Makoto hätte beinahe gelacht.

 

„Ich werde dich nicht ficken.“
 

Das Wort rutschte über seine Lippen wie schimmliger Froschlaich. Er wollte, dass es Aki anekelte, doch der sah ihn nur weiterhin bittend an.
 

„Es geht auch ganz schnell“, versprach er. „Bitte, Makoto. Ich verspreche dir, dass es schnell geht. Du brauchst auch gar nichts zu tun.“
 

Ein Lachen zerrte an Makotos Stimmbändern. Wollte heraus. Was sollte das heißen, er brauchte nichts zu tun? Wie stellte Aki sich das vor? Sollte Makoto sich einfach unter ihn legen und sich von ihm benutzen lassen wie ein … ein Spielzeug?

 

Makotos Gedanken kamen zu einem Halt. Sein Blick glitt vom Bett hinüber zu der Kommode, auf der immer noch Akis Reisetasche stand. Makoto grollte. Seine Kiefer wurden fest. Mit einem Schritt war er bei der Tasche.

 

„Wenn du etwas brauchst, dass dich befriedigt, dann nimm doch das hier.“

 

Mit diesen Worten warf er die Tasche aufs Bett. Sie landete mit einem dumpfen Plumps, verlor den Halt und kippte um. Wie ein Wasserfall ergoss sich der Inhalt aufs Bett, allem voran der riesige, silbergraurosane Phallus mit der auffällig genoppten Oberfläche. Makoto fletschte die Zähne.
 

„Siehst du? Der da dürfte doch das Richtige sein. Von dem kannst du es dir gerne so richtig besorgen lassen. Ich wünsche viel Vergnügen.“
 

Damit drehte er sich um, stampfte aus der Tür und schob sie hinter sich zu. Erst danach erlaubte er sich aufzustöhnen und mit einem fast schon kläglich klingenden Laut zwischen seine Beine zu greifen. Was er dort fand, war härter, als es sein sollte. Makoto schloss die Augen und drückte zu.

 

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Warmes Holz presste sich gegen Makotos Fußsohlen, während er langsam den Flur entlangging. Ein kurzer Blick zur Haustür verriet, dass diese immer noch geschlossen war. Es machte auch nicht den Eindruck, als wäre vor Kurzem jemand hier vorbeigekommen. Trotzdem spürte Makoto, dass irgendetwas nicht stimmte. Es war … zu ruhig.

 

Vor dem Schlafzimmer hielt Makoto an. Die Stelle, an der er zuvor gestanden hatte, wirkte wie ein Mahnmal. Eine Erinnerung an das, was er getan hatte. Makoto wandte den Kopf ab und sich stattdessen der Tür zu. Lauschend lehnte er sich vor und konnte doch nichts hören. Nicht der geringste Laut drang durch die braun gerahmte Papiernachbildung und Makotos Herzschlag verdoppelte sich. Das, was er wahrnahm, war nicht die Stille eines Ortes, an dem jemand schlief oder reglos im Bett lag, nachdem er sich … verausgabt hatte. Vielmehr empfand er ein Gefühl der Leere. Als wäre der Raum verlassen. Unbewohnt. Zutiefst beunruhigt richtete Makoto sich auf, zögerte noch einen Moment und schob dann entschieden die Tür beiseite.

 

Drinnen herrschte Chaos. Angefangen von dem zerwühlten Bett, den teilweise heruntergerissenen Laken bis hin zu den Spielzeugen und anderen Dingen, die in einem wilden Haufen auf dem Boden verteilt lagen. Die Flasche, die Makoto umgefallen gewähnt hatte, stand aufrecht und ordentlich verschlossen da. Daneben glitzerte, benutzt und vergessen, der merkwürdig geformte, grau-rosa Phallus. Unweit davon eine Lache trübweißer Flüssigkeit. Ein organischer Geruch tränkte die Luft. Offenbar hatte Aki zu Ende gebracht, was er unter Makotos inquisitiven Ohren begonnen hatte. Davon abgesehen war der Raum leer. Aki war weg.

 

Nein!

 

Makoto prallte zurück. Unfähig auf diesen Umstand zu reagieren, stand er einfach nur da. Angst kroch seinen Rücken hinauf. Sein Blick irrte zum Wohnzimmer. Auch dort war niemand. Makoto wusste es, noch bevor er den Spalt bemerkte. Jemand hatte die Terrassentür geöffnet. Die weißen Gardinen bewegten sich im Wind. Daneben ein Weg in die Freiheit. Gerade groß genug, um eine schmale Person durchzulassen. Makoto wurde kalt.

 

Mechanisch, so als müsse er sich zu jeder Bewegung zwingen, wandte er sich vom Schlafzimmer ab und der neu entdeckten Öffnung zu. Wie in Trance wankte er in ihre Richtung. Dabei konnte er den Luftzug auf seinem Gesicht spüren, die zunehmende Kühle des Fußbodens, die Glasscheibe unter seinen Fingern. Er blickte hinaus.
 

Draußen eine kleine Plattform. Ein Tisch mit drei Stühlen. Eine Treppe, die in den Garten hinabführte. Ein Weg in die Wälder. Makoto wusste, dass er jetzt hätte dort hinaus stürmen müssen. Nach Aki suchen, aber irgendetwas hielt ihn zurück. Irgendetwas war … nicht richtig, doch noch bevor er den Finger darauf legen konnte, was es war, hörte er hinter sich ein Klicken. Makoto gefror in der Bewegung.

 

 

Atmen. Es war das Einzige, das Makoto noch zu tun wagte. Vor ihm beschlug die Scheibe. Der kondensierende Dunst ließ die Reflexion, die er darin sah, immer wieder für einige Momente unscharf werden. Trotzdem konnte Makoto deutlich die Gestalt erkennen, die hinter ihm stand. Es war Aki. Der Junge stand neben dem Küchentresen. Er hatte die Arme erhoben und in Makotos Richtung gestreckt. In seiner Hand eine Pistole. Makoto schluckte.
 

„Schließ die Tür.“

 

Makoto blinzelte. Langsam, bemüht, keine hastigen Bewegungen zu machen, streckte er die Hand aus. Er fasste den Griff, der an der Tür angebracht war. Ein dunkler Bogen, mit Schrauben im Holz verankert. Makoto drückte dagegen und schob die Tür in den Rahmen.
 

„Ganz zu.“

 

Wieder gehorchte Makoto. Seine Finger ergriffen den langen Hebel an der Seite der Tür. Er legte ihn um. Es knisterte, als die Konstruktion zurück in die Füllung gedrückt wurde. Ein leises Knirschen war zu hören, als der Hebel einrastete. Danach herrschte erneut Stille. Nur Makotos Atem füllte seine Sinne. Er und der Herzschlag, der durch seinen Körper raste.
 

„Dreh dich um.“

 

Makoto tat, wie ihm geheißen wurde. Die Hände etwa auf Brusthöhe erhoben, drehte er sich langsam zu Aki herum. Was er sah, nahm ihm den Atem.

 

Die schmale Gestalt in dem verknitterten Unterhemd. Der rechte Fuß und der Kopf in weiße Verbände gehüllt, der Rest fleckig, blau, blutig und zerkratzt. Alles an ihm hätte kostbar sein müssen. Zart. Fragil. Und doch war da diese Waffe in seiner Hand und der Ausdruck in seinem Gesicht. Er war es, der Makoto sagte, dass Aki ganz genau wusste, was er tat. In seiner Kehle formte sich ein Klumpen.
 

„Woher hast du …?“

 

Die Frage war dumm. So dumm, dass Makoto es nicht wagte, die Frage zu Ende zu stellen. Denn er kannte die Antwort. Es war seine eigene Schuld.

 

Aki schnaubte. Er bleckte die Zähne.

 

„Glaubst du etwa, du warst leise, als du sie versteckt hast? Noch dazu an einem Ort, an dem ich sie sehen konnte? Glaubst du das wirklich?“

 

Makoto zuckte zusammen. Für einen Moment fragte er sich, wie Aki wohl an den hohen Schrank herangekommen war. Wahrscheinlich hatte er dafür einen der Stühle benutzt. Er hatte ihn genommen, war darauf geklettert, hatte die Waffe geholt und den Stuhl danach wieder zurückgestellt. Alles, ohne dass Makoto auch nur das Geringste davon mitbekommen hatte. Er musste unglaublich schnell gewesen sein. Und präzise. Makoto wurde noch kälter.

 

„Und jetzt?“

 

Erneut eine dumme Frage, die Aki sofort mit einem spöttischen Laut beantwortete. Er hob die Waffe und zielte genauer.

 

„Jetzt wirst du sterben.“ Sein Mundwinkel hob sich ein Stück, bevor er hinzufügte: „Was schade ist, denn eigentlich … mochte ich dich.“

 

Da war ein Zögern in Akis Stimme. Etwas, das Makoto aufmerken ließ und ihn im gleichen Moment an etwas erinnerte. Etwas, das Aki über Sasori Kodama gesagt hatte. Ihm wollte nur einfach nicht einfallen, was es gewesen war. Akis Finger spannte sich über dem Abzug.
 

„Du musst das nicht tun.“

 

Der Satz war hastig hervorgestoßen. Im Grunde nicht mehr, als der verzweifelte Versuch, das Unausweichliche noch ein wenig hinauszuzögern. Und doch drückte Aki nicht ab. Er knurrte.
 

„Und dann was? Erwartest du, das sich mich einfach so wieder einsperren lasse?“

 

Makoto musste plötzlich an seinen Traum denken. Den Schneeleoparden. Er schüttelte den Kopf.
 

„Nein! Natürlich nicht, aber ich … könnte dich gehen lassen.“

 

Ein Teil von ihm wusste, dass er sich gerade vollständig zum Narren machte. Wie oft schon hatte er auf der anderen Seite gestanden. Meist hatten die Leute nicht gebettelt, aber wenn sie es getan hatten, hatte Makoto nur umso schneller abgedrückt. Um es zu beenden. Er hatte keine Wahl gehabt.

 

Aber Aki hat eine Wahl. Ich muss ihn überzeugen.

 

Makoto versuchte seinen Atem zu beruhigen. Seine Stimme.
 

„Du musst das nicht tun“, wiederholte er eindringlich. „Ich … ich schwöre dir, dass ich dich nicht verfolgen werde. Nimm das Auto, mein Handy, das Geld. Alles. Ich verspreche dir, dass ich dich nicht aufhalten werde. Du bist frei.“

 

Gelbe Augen funkelten Makoto herausfordernd an.
 

„All das bekomme ich auch, wenn ich dich töte.“

 

Makoto schluckte. Er wusste natürlich, dass das stimmte. Er war ein Risiko für Aki und doch …

 

„Aber dann würde das Blut eines Menschen an deinen Händen kleben. Ist es wirklich das, was du willst?“

 

Für einen Moment herrschte Stille, dann war plötzliche in leises Lachen zu hören. Aki lachte. Es war ein wunderbarer Laut und gleichzeitig einer, der Makoto das Blut in den Adern gefrieren ließ. Aki legte den Kopf schief.
 

„Glaubst du wirklich, dass mir das etwas ausmachen würde?“

 

Die Frage wurde von einem Aufblitzen begleitet. Etwas, das man leicht für etwas anderes hätte halten können, doch Makoto war sich plötzlich sicher, was es bedeutete. Hoffnung.
 

„Ja“, sagte er langsam und widerstand dem Drang, sich dabei über die trockenen Lippen zu lecken. „Ja, ich denke, das würde es.“

 

Aki klappte den Mund zu. Da war plötzlich ein Flackern in seinem Blick. Eine Unsicherheit, von der Makoto wusste, dass sie ihn noch gefährlicher machte, und die doch seine einzige Chance darstellte.

 

Immer noch hämmerte Makotos Herz in seiner Brust. Er wusste, dass er nichts zu verlieren hatte. Nicht einmal, wenn Aki abdrückte. Aber Aki … ihn konnte er vielleicht noch retten.
 

„Du hast selbst gesagt, dass du mich magst. Warum also willst du mich töten?“

 

Kaum, dass er es ausgesprochen hatte, wurde ihm klar, dass das die vollkommen falsche Richtung war. Trotzdem machte er weiter.
 

„Ich weiß, dass ich … nicht immer nett zu dir war. Ich habe dich zurückgewiesen und du warst enttäuscht. Das tut mir leid. Aber weißt du, ich konnte doch nicht …“

 

„Halt die Klappe!“ Akis Stimme schnappte über und er riss die Waffe wieder nach oben, die er während Makotos Rede um einige Millimeter gesenkt hatte. Seine gelben Augen funkelten vor Zorn.
 

„Halt die Klappe!“, schrie er noch einmal. „Du bist ein elender Feigling. Ein Lügner. Ein Mörder. Du hast diese Männer erschossen, in der Gasse hinter der Garküche, und willst mir jetzt Vorhaltungen machen? Glaubst du etwa, ich könnte das nicht?“
 

Wie, um Makoto das Gegenteil zu beweisen, zielte Aki jetzt auf Makotos Kopf, ebenso wie dieser es bei den drei Bozos getan hatte. Makoto hatte keine Ahnung, woher Aki das wusste, aber es machte auch keinen Unterschied. Aki war wild entschlossen zu schießen, und doch sah Makoto genau, dass seine Unterlippe zitterte. Der Anblick schnitt Makoto ins Herz.
 

„Doch. Doch, ich denke, das könntest du“, versicherte er eilig. „Aber ich glaube, du willst es nicht. Habe ich recht?“

 

Makoto sah, wie Aki die Lippen aufeinander presste. Sein Brustkorb hob und senkte sich unter dem gerippten Stoff. Unsinnigerweise kam Makoto in diesem Moment in den Sinn, dass Aki unter dem Hemd nackt sein musste. Vielleicht sogar wund, immerhin hatte er …

 

Seine Aufmerksamkeit schnappte nach oben, als Aki erneut Anstalten machte, den Abzug zu betätigen. Aki fletschte die Zähne.
 

„Was?“, fauchte er und sein Grinsen wurde bösartig. „Hast du etwas entdeckt, dass dir gefällt. Das du haben willst? Benutzen? So wie alle anderen?“
 

Wie um seine Worte zu unterstreichen, hob Aki den verletzten Fuß. Er streckte ihn vor, richtete ihn auf Makoto und beschrieb dann langsam einen eleganten Kreis. Wie ein Balletttänzer setzte er danach nur die Zehenspitze auf den Boden und zog sie langsam zu sich heran. Seine Augen funkelten, als er Makoto anblaffte.
 

„Das ist es doch, was du willst, oder? Was du schon die ganze Zeit haben wolltest. Und ich hätte es dir geschenkt. Aber du hast mich weggestoßen. Als wäre ich es nicht wert. Als würdest du mich verachten. Dich für etwas besseres halten. Los! Gib es zu, dass es so war. Sag es!“
 

Wütend stieß Aki mit der Pistole in die Luft. Makoto hielt unbewusst den Atem an. Es wäre nicht das erste Mal, dass sich auf diese Weise ein Schuss löste. Makoto hatte Leichen gesehen, die so ihren Tod gefunden hatte. Während eines Streits, einer Schlägerei, bei der plötzlich Waffen im Spiel gewesen waren. Es war immer Makotos größte Angst gewesen, bei so etwas zwischen die Fronten zu geraten. Jetzt war er es, der auf der einen Seite des Streits saß. Die andere hielt eine Pistole.

 

Makoto schluckte.
 

„Ich … verachte dich nicht.“
 

„Ach nein?“, grollte Aki und ließ ein bitteres Lachen hören. „Und doch hast du mich gezwungen, das Halsband zu tragen. Sein Halsband, nachdem er mich …“

 

Akis Stimme versagte. Makoto musste zugeben, dass er inzwischen Schwierigkeiten hatte. Akis Gedankensprüngen zu folgen. Was er jedoch verstand, war, dass Aki jetzt begann, mit einer Hand an dem Halsband zu zerren. Seine Finger kämpften mit dem Verschluss, während er Makoto nicht aus den Augen ließ. Endlich hatte er es geschafft. Das schwarze Leder rutschte von seinem Hals. Wie eine weitere Waffe streckte Aki es in Makotos Richtung.
 

„Du hast mich gezwungen, es zu tragen“, behauptete er noch einmal. Makoto schüttelte den Kopf.
 

„Aber du wolltest es doch. Du hast mich darum gebeten.“

 

„Ich habe WAS?“

 

Akis Stimme kippte endgültig. Er kreischte.
 

„Ich habe niemals darum gebeten, das Zeichen desjenigen zu tragen, der mich so … so …“

 

Makoto wagte kaum Luft zu holen.
 

„So was?“, fragte er, die Nerven bis zum Zerreißen gespannt.
 

„So hintergangen hat.“

 

Akis Atem ging jetzt schnell. Sein Blick funkelte und flackerte. In der einen Hand hatte er immer noch die Pistole, in der anderen das Halsband. Das, von dem Makoto gedacht hatte, dass er es tragen wollte. Der Knoten in seiner Brust wuchs.
 

„Oh Aki, ich … Es tut mir leid. Ich wusste nicht … Ich dachte, du … wolltest das.“
 

Aki sah ihn an. In seinem Gesicht spiegelten sich Wut, Enttäuschung und Trauer. Makoto wusste jetzt, dass er so ziemlich alles falsch gemacht hatte. Von Anfang an. Er hatte gedacht, verstanden zu haben, worum es Aki ging, wie er tickte, doch er hatte sich geirrt. So fatal geirrt.

 

Makoto sank auf die Knie.
 

„Aki“, sagte er leise. Er sah, dass sein Tun den Jungen verwirrte. Nicht auf eine gute Weise, aber Makoto wusste, dass es endlich an der Zeit war, Dinge auszusprechen. Dinge, die er lieber für sich gehalten hätte, aber …

 

„Ich wollte dich.“

 

Makoto wusste nicht genau, warum er damit anfing, aber auf seltsame Weise war ihm bewusst, dass es das war, was Aki hören musste.
 

„Ich wollte dich, aber ich …“
 

„War zu feige.“
 

Aki spuckte ihm die Anschuldigung mitten ins Gesicht. Makoto spürte förmlich, wie sie an ihm herunterrann und von seinem Kinn zu Boden tropfte. Nur mit Mühe widerstand er dem Drang, sie wegzuwischen.
 

„Ja“, gab er zu. „Ja, ich war zu feige, es mir einzugestehen. Ich wollte nicht, dass du es weißt. Aber das ist nicht der einzige Grund.“

 

Aki ließ ein unwilliges Schnauben hören. Seine Augen blitzten wild.
 

„Du hattest Angst vor Sasori. Angst davor, was er mit dir tun würde, wenn du mich nimmst.“

 

Makoto stockte. Das war es, was Aki angenommen hatte? Shisus Worte kamen ihm in den Sinn. Dass er mit Aki spielen sollte. Makoto schüttelte leicht den Kopf.
 

„Nein, das war es nicht. Eigentlich hatte ich sogar die Erlaubnis, ja fast schon den Befehl, mit dir zu tun, was immer ich möchte. Doch das war es nicht, was mich zurückgehalten hat.“

 

Makoto sah, dass seine Worte Dinge mit Aki anstellten. Es war, als würde jedes von ihnen etwas in ihm zum Einsturz bringen. Ein Gebäude aus Lügen, das er errichtet hatte um zu ertragen, was nicht zu ertragen war. Und doch musste Makoto ihm die Wahrheit sagen. Er musste.
 

„Das, was mich zurückgehalten hat, Aki, warst du.“

 

Makoto sah Aki blinzeln. Fragend legte er den Kopf schief.
 

„Ich? Aber ich habe doch …“

 

Makoto ließ ihn nicht ausreden.

 

„Du hast dich bemüht, mich zu verführen, ja. Du hast dumme Dinge getan, schmerzhafte Dinge, Dinge, von denen du annahmst, dass sie mir gefallen würden. Und du hattest recht. Dir zu widerstehen, war das Schwerste, das ich je tun musste. Und eigentlich habe ich es auch nicht geschafft. Du weißt, was ich getan habe. Du weißt, dass du gewonnen hast.“

 

Makoto zögerte kurz, bevor er weiter sprach, denn was jetzt kam, war essentiell, damit Aki verstand.

 

„Aber du hast nicht ein einziges Mal gefragt, was ich möchte, und das nur aus einem Grund. Weil es nicht ich bin, den du willst. Denn tief in deinem Inneren sehnst du dich nur nach einem. Nach ihm.“

 

Bei seinen letzten Worten hatte Makoto mit dem Kopf auf das Halsband gedeutet, das Aki immer noch in seiner Hand hielt. Akis Blick folgte der Geste mit den Augen. Er schluckte.
 

„Du hast auch nie gefragt, was ich möchte.“

 

Makoto sah, wie die schmale Gestalt in sich zusammenfiel. Die Hand mit der Waffe sackte herab, die Schultern wanderten in Richtung Erdboden, der Rücken krümmte sich. Ein winziger Teil von Makoto wollte erwidern, dass er Aki sehr wohl nach Dingen gefragt hatte. Welche Suppe er essen wollte zum Beispiel, oder ob ihm kalt war, doch er verkniff sich diese Spitzfindigkeit. Das, warum es ging, war weit entfernt von Nudeln und Brühe. Es ging darum, was Akis Herz wollte, und das, da war Makoto sich sicher, war nicht er. Es war dieser furchtbare Mann, der Aki auf mehr als alle erdenklichen Weisen wehgetan hatte. Wie genau konnte Makoto nur erahnen, doch irgendwie war er sich sicher, dass es auch keine Rolle spielte. Sasori Kodama hatte Aki betrogen. Deswegen war er geflohen. Weil er es nicht ausgehalten hatte. Doch die Freiheit war nicht das, was Aki wollte. Obwohl es so sein sollte. Er wünschte sich, dass jemand ihn besaß. Ihm Halt gab und Würde und Anerkennung für das, was er zu geben bereit war. Was unglaublich viel war, wenn Makoto bedachte, was der Junge alles angestellt hatte, um ihn herumzukriegen. Doch Sasori Kodama hatte diese Gabe mit Füßen getreten. Er hatte sie zerquetscht, beschmutzt und verdreht, bis Aki schließlich davongelaufen war.

 

Plötzlich wünschte Makoto sich, dass er derjenige hätte sein können, der Aki rettete. Doch er konnte es nicht. Denn Aki wollte nicht ihn. Aki wollte Sasori Kodama. Noch immer.

 

Makoto atmete.
 

„Dann haben wir wohl beide Fehler gemacht“, sagte er leise. Ganz kurz glitt sein Blick zu der Waffe, die Aki immer noch in der Hand hielt. Er wusste, dass er keine Chance hatte, sie zu erreichen, selbst wenn er es versucht hätte. Außerdem wollte er es gar nicht. Sein Schicksal war ohnehin besiegelt.
 

Aki hob langsam den Kopf. Seine Augen schimmerten feucht.
 

„Und jetzt?“, wollte er wissen. Seine Stimme war brüchig. Es war nichts mehr übrig von der stolzen, kämpferischen Fassade, die er gerade noch gezeigt hatte. Geblieben war nur der Schmerz. Die Wunde tief in seinem Herzen die blutete und blutete.

 

Makoto deutete ein Lächeln an.
 

„Ich weiß nicht. Wir könnten … etwas essen. Möchtest du das?“

 

Es war eine Hand, die er Aki entgegenstreckte. Obwohl er wusste, dass es keines ihrer Probleme löste, fiel ihm doch nichts anderes ein, was er Aki hätte anbieten können. Was er hätte anbieten dürfen.

 

Akis Lippen umspielte ein trauriges Lächeln.
 

„Und dann?“, fragte er erneut. Es brach Makoto das Herz, ihn so zu sehen. Noch einmal versuchte er zu lächeln.
 

„Dann … könnten wir fernsehen. Du könntest ein Bad nehmen, wenn du möchtest. Ich lasse dir heißes Wasser ein und dann …“

 

Aki lachte trocken. Es war ein Laut wie zerbrochenes Glas.
 

„Und dann?“, fragte er noch einmal. Makoto schauerte, als er sah, dass die Wut in Akis Blick zurückgekehrt war. Wut und Hoffnungslosigkeit.
 

„Soll ich mich wieder von dir fesseln lassen? Ans Bett binden, damit ich nicht fortlaufe?“

 

Makoto schüttelte schnell den Kopf.
 

„Nein, keine Fesseln. Ich verspreche dir …“
 

„Was?“, schnappte Aki dazwischen. Er lachte. Es klang grausam. „Was versprichst du mir? Dass alles gut werden wird?“

 

Noch einmal lachte er, dieses Mal mit einer Spur von Wahnsinn. Seine Finger krampften sich um die Waffe in seiner Hand.
 

„Denn das wird es nicht. Das wird es nie wieder.“

 

Makoto schluckte. Mit einem Mal hatte er das untrügliche Gefühl, dass Aki ihm etwas Wichtiges verschwiegen hatte. Wieder tauchte das Bild aus seinem Traum vor ihm auf. Die zwei Käfige. In einem Aki, der Schneeleopard, und in dem anderen …

 

„Was hast du getan?“

 

Aki hob den Kopf nicht. Er drehte ihn lediglich so, dass er Makoto ansehen konnte. Die weißen Haare fielen ihm ins Gesicht. Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln.
 

„Das, was ich von Anfang an hätte tun sollen. Ich bin gegangen. Aber zuvor habe ich Sasori noch das weggenommen, was ihm am liebsten auf der Welt war.“

 

Makoto erstarrte. Eiswasser floss plötzlich durch seine Adern und ihm wurde klar, dass er sich schon wieder geirrt hatte. Aki war nicht zart, klein oder zerbrechlich. Er war gefährlich und vollkommen verrückt.
 

„Heißt das, du …“

 

Makoto traute sich nicht, es auszusprechen. Immerhin wusste er nicht, ob in seinem Traum genug Wahrheit steckte, um seine Befürchtung zur Gewissheit zu machen. Und doch …

 

„Ich kann nicht zurück.“

 

Aki sagte diesen Satz so klar, dass Makoto wusste, dass er es ernst meinte. Egal, was der Grund dafür war, Aki würde eher sterben als zurückzugehen. Vermutlich machte es nicht einmal einen Unterschied. So wie Makoto Sasori Kodama kannte, würde er, was auch immer Aki getan hatte, nicht ungesühnt lassen. Er würde ihn bestrafen, vielleicht sogar foltern, und dann … töten. Es führte kein Weg daran vorbei.

 

Makoto atmete ein und wieder aus.
 

„Dann geh“, sagte er leise. Er wusste, was er damit heraufbeschwor, aber es gab keinen anderen Weg.

 

Aki schnaubte.
 

„Und du wirst mir nicht folgen?“

 

Makoto hob den Kopf und blickte Aki geradeheraus ins Gesicht.
 

„Wenn Sasori Kodama herausfindet, was ich getan habe, wird er mich ohnehin umbringen. Du weißt das. Du kennst ihn besser als ich. Wenn ich dich laufen lasse, habe ich mich des gleichen Verbrechens schuldig gemacht wie du. Er wird keine Gnade walten lassen. Nicht dieses Mal.“

 

Aki sah ihn an. Lange sah Aki ihn an, bevor er leise nickte.
 

„Ja“, sagte er. „Du hast recht. Er wird dich töten und das werde ich nicht zulassen.“
 

Mit diesen Worten hob Aki die Waffe und schoss.

 

„Ja. Ja, hab ich verstanden.“

 

Piep.

 

„Nein, ich kümmere mich.“

 

Piep.

 

„Ja, ich bin dran.“

 

Piep.

 

Die Gesprächsfetzen, die an Makotos Ohr drangen, mischten sich mit einem hartnäckigen Piepsen, das in regelmäßigen Abständen zu hören war. Träge versuchte er, die schweren Lider zu heben. Beißende Helligkeit stürmte herein und ließ ihn sie schnell wieder schließen. Wo war er?

 

„Ja sicher ist das wichtig. Hast du was von den Itos gehört?“

 

Piep.

 

Makoto schluckte oder versuchte es wenigstens. Seine Zunge schien Tonnen zu wiegen. Klebte an seinem Gaumen. Davon abgesehen fühlte er sich … gut. Leicht. Eigentlich viel zu leicht. Hatte er Drogen genommen?

 

Piep.

 

Das Piepsen. Noch einmal öffnete Makoto die Augen. Nur ein Stück, um sich gegen das eindringende Licht zu wappnen. Dieses Mal sah er mehr. Einen Monitor direkt neben sich, ein Fenster und davor … einen Mann. Einen, den Makoto kannte. Er trug einen weißen Anzug.

 

Piep.

 

„Oh, ich muss Schluss machen. Hab noch was zu erledigen. Ich melde mich.“

 

Piep.

 

Makoto sah, wie Shisu das Handy einklappte und einsteckte. Danach kam er näher, den Blick fest auf Makoto gerichtet. Um ihn herum ein Krankenhaus. Es roch nach Desinfektionsmitteln.
 

„Ah, sieh an, sieh an! Unsere schlafende Schönheit ist endlich erwacht. Wird aber auch Zeit, findest du nicht. Hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt.“

 

Makoto sah Shisus Augen aufblitzen, als er das sagte. Probeweise versuchte er, seinen Arm zu bewegen. Seine Schulter fühlte sich merkwürdig an. Als würde sie nicht zu ihm gehören. Die Stelle, wo ihn der erste Schuss getroffen hatte, war seltsam taub. Dabei hatte es eigentlich gar nicht wehgetan. Mehr wie ein unfreundlicher Klaps. Ein Schlag mit einer geballten Faust. Er erinnerte sich an das Blut auf seinen Fingern.

 

„Tzz.“ Shisu stieß ein Zischen aus und kam noch näher. „Sieh dich an, da liegst du hier rum und lässt dich zudröhnen, während andere sich um deine Arbeit kümmern. Sind alle ganz schön aus dem Häuschen deswegen. Du hast die kleine Blume entkommen lassen.“

 

Makoto spannte die Kiefer. Er wollte antworten, doch die Dinge, die offenbar in großen Dosen durch die Kanüle in seinem Arm tropften, waren stark. Stärker als er. Sie machten, dass sich das Innere seines Kopfes anfühlte wie Watte. Weiche, süße Zuckerwatte. Makoto lächelte bei dem Gedanken.

 

Shisu entblößte die Vorderzähne.
 

„Grins nicht so blöd. Ich glaube, die geben dir hier ein bisschen zu viel. Warte, das haben wir gleich.“

 

Makoto sah, wie Shisu sich an dem Tropf zu schaffen machte, der neben seinem Bett hing. Kurz darauf merkte er, dass der warme Strom in seinem Blut langsamer wurde. Sein Bein begann zu brennen. Und seine Schulter. Es war, als würde jemand mit einem Schürhaken darin herumbohren. Makoto stöhnte leise.

 

„Ah, jetzt isser bei mir.“
 

Wieder verzogen sich Shisus Lippen, dieses Mal zu einem diebischen Grinsen.
 

„Also, willst du mir jetzt mal erklären, warum ich gerade sämtliche Gefallen der letzten fünf Jahre einfordern muss, um den kleinen Pisser zu finden, auf den du eigentlich aufpassen solltest?“

 

Makoto sah Shisu an. Die Zuckerwatte in seinem Kopf hatte sich mittlerweile in einen zähen Brei verwandelt. Unmöglich dort eine Geschichte herauszufischen, die Shisu glauben würde. Allerdings schien das auch gar nicht notwendig. Shisu fuhr bereits fort.
 

„Weit wird er jedenfalls nicht kommen“, knurrte er. „Sieh dir an, was er mit meinem Auto gemacht hat!“

 

Aufgebracht zerrte Shisu sein Handy wieder hervor. Er tippte darauf herum und hielt Makoto anschließend das Display unter die Nase. Darauf die Schwarz-Weiß-Aufnahme einer Kreuzung. Ein Wagen erschien und rammte, ohne auch nur ein bisschen langsamer zu werden, einen Mast. Fast meinte Makoto das Krachen zu hören, das Bersten von Glas und Metall. Die Lichter an der Rückseite erloschen, dann, ebenso lautlos wie alles andere, öffnete sich die Wagentür. Eine kleine Gestalt stieg aus. Sie trug … ein weißes Unterhemd. Makotos Herzschlag beschleunigte sich.

 

Aki.

 

Der Junge sah sich um. Sein Blick richtete sich genau auf die Kamera und dann auf den Wagen, fast so als wolle er sichergehen, dass sie den Unfall auch gut erfasst hatte. Danach, als wäre nichts gewesen, drehte er sich um und lief aus dem Bild. Zurück blieb das Wrack mit der offenen Tür und dem Kennzeichen, das klar und deutlich in der Mitte des Bildschirm prangte.

 

Die Aufnahme endete, Shisu zog seine Hand zurück.
 

„Siehst du? Total dumm. Keine zehn Minuten, nachdem das passiert war, klingelte mein Telefon. Die Polizei war dran. Sie wollte wissen, ob das mein Wagen sei. Ich hab gesagt Ja und gefragt, wo der Fahrer wäre. Sie sagten, sie wüssten es nicht. Auf deinem Handy nur die Mailbox. Da war mir klar, dass etwas nicht stimmt. Also bin ich hergekommen und was finde ich? Dich. Mit zwei Löchern im Leib, das Vögelchen ausgeflogen, das Haus das reinste Chaos, im Schlafzimmer Spuren eine Orgie. Will ich wissen, was das alles zu bedeuten hat?“

 

Makoto sah zu Shisu auf. Einige der Dinge, die er aufgezählt hatte, ergaben tatsächlich keinen Sinn. Andere taten es, wenngleich auch nicht so, wie Shisu es sich offenbar zusammengereimt hatte. Jedenfalls glaubte Makoto, dass es so war. Er wollte es glauben. Hoffte es.

 

„Du bist also nur wegen des Unfalls gekommen?“

 

Makoto musste es einfach wissen. Er musste sicher sein. Seine Schulter puckerte.

 

Shisu schnaubte.
 

„Natürlich. Hab schließlich angenommen, dass du mit dem kleinen Scheißer zurechtkommst. Ist ja nicht so, dass der gefährlich wäre, oder so.“

 

Während Shisu das sagte, wandte er den Blick ab. Makoto wusste, was das bedeutete. Er wartete, dass die Wut darüber kam, aber da war nichts. Nur Schweigen.
 

„Ich verstehe“, sagte er und merkte, wie seine Kräfte langsam zur Neige gingen. Sein Bein, das, wie er erkennen konnte, dick bandagiert und fixiert worden war, hatte zu schmerzen begonnen. Zu stechen. Irgendetwas war dort definitiv nicht in Ordnung. Makoto erinnerte sich, wie Aki Maß genommen hatte. Gezielt. Ihm in die Augen gesehen.
 

„Leb wohl, Makoto“, hatte er gesagt. „Ich hoffe, du stirbst nicht.“

 

Danach hatte er noch einmal abgedrückt. Dieses Mal hatte Makoto mehr als den Einschlag gespürt. Ein glühendes Reißen, das in eine blinde Taubheit überging. Dazu ein Übelkeit erregendes Knirschen und das Gefühl, mit dem das Projektil ihm die Kniescheibe zerfetzt hatte. Es hatte ihm den Boden unter den Füßen weggezogen. Wortwörtlich. Hilflos hatte er mitansehen müssen, wie Aki die Dinge zusammengesucht hatte, die er brauchte und dann mit einem letzten Blick auf ihn einfach gegangen war. Makoto hatte dagelegen, die Hand auf seine Wunden gepresst in dem verzweifelten Versuch, die Blutungen zu stoppen. Er erinnerte sich, wie er über den Boden gerobbt war, um ein Handtuch zu holen. Irgendetwas, um das Bein abzubinden. Wie ihm schwarz vor Augen geworden war und danach … nichts mehr. Bis jetzt. Bis er in diesem Krankenzimmer aufgewacht war, vor sich einen Shisu, der jetzt, da er Makotos Blick bemerkt hatte, das Gesicht verzog. Seine Augen huschten durch den Raum.
 

„Ach ja. Da ist noch was. Die Ärzte haben gesagt, dass dein Knie hinüber ist. Du wirst wohl nie wieder laufen können. Und wenn, dann garantiert nicht sehr schnell. Du wirst ein Krüppel sein, verstanden?“

 

Makotos Mundwinkel zuckte. Noch so ein Detail, von dem Shisu nicht ahnte, was es zu bedeuten hatte. Sein Herz wurde leichter.
 

„Dann … werde ich wohl auch nicht mehr Auto fahren können. Oder dich beschützen.“
 

Er sagte das, ohne Shisu anzusehen. Der wand sich neben ihm.
 

„Tja, also was das angeht … Ich denk mal, du wirst dir nen neuen Job suchen müssen. Hab schon ein gutes Wort für dich eingelegt, damit sie dich nicht gleich aus deiner Wohnung schmeißen. Und der Boss hat auch zugestimmt. Hast ihm ja immerhin nen Haufen Geld gespart mit dem Lösegeld und so. Und den kleinen Scheißer kriegen wir schon, wart's nur ab. Das kommt wieder in Ordnung.“

 

Makoto unterdrückte ein Grinsen, auch wenn ihm das schwerfiel.
 

„Ja. Natürlich kommt es das“, sagte er mit all der Ernsthaftigkeit, die er anhand der Situation aufbringen konnte.

 

Sein Blick glitt zum Fenster. Draußen waren inzwischen Wolken vor die Sonne gezogen. Bald würde es anfangen zu regnen. Notwendiges Nass, damit die Natur wachsen konnte. Und Aki war irgendwo dort draußen. Vielleicht würde er schwimmen gehen. Oder Ski fahren. Makoto lächelte.

 



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Kommentare zu dieser Fanfic (19)
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Von:  chaos-kao
2024-01-07T03:51:54+00:00 07.01.2024 04:51
Makoto ist aber auch mit einer lebhaften Fantasie "gesegnet". Und so wie Aki mittlerweile mit ihm spielt und ihn scheinbar nur noch bedingt als Gefahr wahr nimmt, wird Aki selbst wohl wirklich langsam zur Gefahr für Makotos bereits angeschlagene, geistige Gesundheit. Ich finde das wirklich sehr spannend!
Antwort von:  Maginisha
07.01.2024 11:11
Segen oder Fluch? Makoto empfindet es vermutlich momentan eher als Letzteres. :D

Stellt sich nur die Frage, welches Spiel die beiden jetzt spielen werden. Katze und Maus? Katze und Katze? Katze und Hund? (*denkt spontan an die Geschichte mit dem Kater, der mitten im Hundbett sitzt, während 60 kg Hund winselnd daneben liegen und sich nicht reintrauen* XD) Wir werden es erfahren. ^^
Von:  chaos-kao
2024-01-07T03:42:23+00:00 07.01.2024 04:42
Aki Ist fies. Schon interessant wie sich gerade die Machtverhältnisse verschieben. Wie Aki so ausgefuchst alles tut um Kontrolle über die Situation zu erlangen und Makoto vor einer harte Prüfung nach der anderen stellt. Bisher glaube ich mein Lieblingskapitel!
Antwort von:  Maginisha
07.01.2024 11:08
Bisschen, oder? Aber Aki handelt halt auch aus einem Selbsterhaltungstrieb heraus. Und objektiv hat Makoto ihn ja immer noch in seiner Gewalt. Andererseits hat er sich jetzt auch verraten. Das dürfte die Dynamik ziemlich ändern.
Von:  chaos-kao
2024-01-07T03:34:47+00:00 07.01.2024 04:34
Es spitzt sich zu. Makoto ist wirklich komplett überfordert. Was in Aki vor sich geht... Keine Ahnung. Wäre aber sehr spannend zu erfahren!
Antwort von:  Maginisha
07.01.2024 11:06
Der kommt noch zu Wort. ^__^
Von:  chaos-kao
2024-01-07T03:28:37+00:00 07.01.2024 04:28
Das war doch mal ein ausgewachsener, feuchter Traum. Vielleicht hat er jetzt zumindest etwas weniger Druck und kann in Akis Gegenwart entspannter sein? Wobei nach diesem Traum vermutlich erst alles so richtig schwierig für ihn werden wird. Ich hoffe, er hat sich unter Kontrolle...
Antwort von:  Maginisha
07.01.2024 11:05
Zielrichtig erkannt, was dieses Kapitel für Lösungen und Probleme birgt. Kontrolle? Na leicht wird es jedenfalls nicht werden. ^^
Von:  chaos-kao
2024-01-07T03:21:07+00:00 07.01.2024 04:21
Makoto wird langsam butterweich und formbar. Aki ist wirklich gut darin zu manipulieren. Muss er vermutlich auch sein um überleben zu können... Dafür, dass Makoto nicht auf Männer steht, geht ihm Aki von Kapitel zu Kapitel mehr unter die Haut.
Antwort von:  Maginisha
07.01.2024 11:04
Aki kommt Makotos Fetisch vermutlich zugute. Außerdem weiß er mit ziemlicher Sicherheit, welche Knöpfe man drücken muss. Aber eben auch deswegen, weil er es muss. Das darf man halt alles nicht vergessen bei dem Ganzen (und war auch ein Grund für die Adult-Einschätzung. Aufgrund dessen, dass es aber noch am Rand tänzelt und eben nicht abstürzt, dachte ich mir, ich lass die mal wegmachen. Bei ff.de hat das ein Operator auch nochmal überprüft und war der gleichen Meinung.)
Von:  chaos-kao
2024-01-07T03:11:45+00:00 07.01.2024 04:11
Das Ende ist irgendwie unheimlich. ^^"

Irgendwie unspektakulär wie Makoto zu seinem jetzigen Job gekommen ist. Dass er trinkt um ihn zu ertragen, ist jedoch akutes andere als gesund. Vor allem wenn es ihn bereits so stark danach gelüstet. Nachvollziehbar, dass er vergessen will. Aber damit nähert er sich auch den schlechten Gewohnheiten seines Vaters an
Antwort von:  Maginisha
07.01.2024 11:02
GRUSEL!

Haha, Spaß. Aber die Vorstellung ist schon ein bisschen erschreckend, oder?

Aber ja, Makoto hatte tatsächlich einfach das Pech, in die falschen Kreise zu geraten. Oder Glück, dass er trotzdem noch einen Job bekommen hat. Ansonsten hätte er vielleicht noch größere Probleme mit dem Trinken, wer weiß.
Von:  chaos-kao
2024-01-07T03:02:15+00:00 07.01.2024 04:02
Raue Schale, weicher(er) Kern... Ich finde es immer spannend, wenn man mehr über Makotos Vergangenheit erfährt. Sein Werdegang, wie er dort gelandet ist wo er jetzt ist. Und wer er ist.
Antwort von:  Maginisha
07.01.2024 11:00
Am Anfang ist mir Makoto sogar noch ein kleines bisschen zu sehr mimimi geraten. Lag aber auch daran, dass Aki (zu) sehr gelitten hat und ich ihn nicht nicht darauf reagieren lassen konnte. So abgebrüht ist er nämlich einfach nicht.
Von:  chaos-kao
2024-01-07T02:52:54+00:00 07.01.2024 03:52
Yay, er ist volljährig :D

Aki ist wirklich reichlich verwirrend. Kein Wunder, dass er Makoto so unter die Haut geht.

Die Geschichte ist wie die letzten wirklich gut geschrieben. Es fällt mir nur schwerer mich auf das Geschehen einzulassen. Aber dein Schreibstil ist super!
Antwort von:  Maginisha
07.01.2024 10:56
Ich kann mir vorstellen, dass die Geschichte nicht jedermanns Sache ist. Das Thema ist halt auch etwas speziell. ^//^
Von:  chaos-kao
2024-01-07T02:44:00+00:00 07.01.2024 03:44
Definitiv Fußfetischist. :D

Ärger wird das mit Sicherheit noch einigen geben. Aki ist zu schnell zu brav geworden. Der plant etwas.
Antwort von:  Maginisha
07.01.2024 10:55
Ach was. Der ist doch ganz lieb und will nur spielen. :D
Von:  chaos-kao
2024-01-07T02:37:35+00:00 07.01.2024 03:37
Okay, das entwickelt sich gleichzeitig ähnlich wie erwartet und doch anders. Ich bin noch nicht so ganz gehooked, aber so langsam bauen sich Wellt und Charaktere auf.
Antwort von:  Maginisha
07.01.2024 10:54
Ich sag ja, die Geschichte ist eine Zwiebel. Ob einem der Inhalt gefällt, der sich nach und nach enthüllt ... tja, keine Ahnung. Ich hoffe. Wenn nicht, dann nächstes Mal vielleicht wieder. :)


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